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Unausgesprochen

von

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Auf Tuchfühlung

Sharrkan war heißes Klima gewohnt – sowohl durch die trockene Wüstenregion, in der sich seine Heimat befand, als auch durch Sindrias schwülwarme Sommermonate – doch geschlagene acht Stunden in der brütenden Nachmittagshitze brachten selbst ihn allmählich an sein Limit. Die Sonne hatte ihm Nacken und Schultern versengt und das Metall seiner Halskette brannte ihm unerträglich auf der Haut. Mit gekreuzten Beinen saß er auf der Hafenmauer und sehnte sich den Feierabend herbei. Lange konnte es nicht mehr dauern, denn mittlerweile war sein Schatten bis zur gegenüberliegenden Hauswand gekrochen und hoch oben funkelten bereits die ersten Sterne. Die Aussicht auf ein kühles Bad, ein warmes Essen und ein weiches Bett war das einzige, was ihn jetzt noch bei Laune hielt – abgesehen von der Tatsache, dass die Handelsflotte morgen früh wieder ihre Heimreise antreten würde.
 

Seit sie vor drei Tagen in Aktia vor Anker gegangen waren, hatten Sharrkan und seine Männer in wechselnden Schichten die Schiffe bewacht. Das war nicht nur eine schweißtreibende, sondern vor allem sterbenslangweilige Aufgabe. In der ganzen Zeit hatte es weder einen Zwischenfall gegeben, noch war an der Promenade irgendetwas Spannendes passiert. Zu allem Überfluss musste sich die Truppe so weit auseinander positionieren, dass noch nicht mal eine kurze Plauderei möglich war und Sharrkan dachte neidvoll an Masrur, der mit seinen Leuten die Stadtgarde unterstützen und den Handel am Marktplatz überwachen durfte. Er hätte wirklich jeden Job lieber gemacht als seinen. Doch dann stürzte plötzlich Yamraiha mit zerzausten Haaren und abgespannter Miene aus einer der Gassen hervor und machte ihm ein ums andere Mal bewusst: Nein, es hätte ihn noch wesentlich schlimmer erwischen können!
 

Die Magierin schleppte zwei prallgefüllte Einkaufskörbe und hatte sich einen großen Jutesack auf den Rücken gebunden. Ihre beiden Helfer folgten ihr mit zitternden Knien und taumelnd unter ihrer eigenen Last. Sharrkan warf dem Trio einen mitleidigen Blick zu, aber da Yamraiha ihn seit dem Vorfall mit dem Seeungeheuer weiterhin wie Luft behandelte, wusste er, dass er sich ein Hilfsangebot getrost sparen konnte. Mit erhobenem Haupt stolzierte sie an ihm vorbei und über den Steg an Bord des Schiffes. Für heute war es das sechste Mal, dass man sie für Besorgungen losgeschickt hatte und der Erfahrung nach zu urteilen, dürfte es auch nicht das letzte Mal gewesen sein.
 

Der Grund ihres Übels hieß Phillius Havius – ein reicher Geschäftsmann aus Reim, den Sinbad von Aktia nach Sindria eskortieren ließ und für dessen Bewachung Yamraiha und ihre Einheit zuständig war. Dabei unterlag sie dem Befehl, es dem Gast möglichst angenehm zu machen und ihm jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. So sollte sie einen besonders guten Eindruck für die bevorstehenden Verhandlungen erwecken. Doch was auch immer sie unternahm, damit es Phillius an nichts mangelte, sie konnte ihm einfach nichts recht machen. Sharrkan hatte sein Verhalten gestern beim Abendessen miterlebt und war froh, keine weitere Sekunde mit diesem Menschen auf einem Raum verbringen zu müssen. Insgeheim bewunderte er, wie Yamraiha es schaffte so höflich zu bleiben, obwohl es fast an Schikane grenzte, was sie von ihm zu ertragen hatte.
 

Ungeduldig beobachtete Sharrkan, wie die Sonne am rotglühenden Himmel immer tiefer sank, während sich das Getümmel am Hafen legte und Masrur mit seinem Trupp vom Markt zurückkehrte. Nur eine Stunde später war es bereits so stockfinster, dass ringsum die Fackeln und Laternen entzündet wurden und endlich erschien auch die Nachtwache zur Ablösung. Sharrkan machte einen letzten Rundgang, um zu kontrollieren, ob beim Rest seiner Einheit alles ruhig war und schlug dann erschöpft den Weg zum Flaggschiff ein.

Bis auf die Wachposten hatte die Belegschaft längst zu Abend gegessen, weshalb es Sharrkan nicht wunderte, das Deck gespenstisch leer vorzufinden. Die Person, die vorne am Buck einsam in der Dunkelheit stand, fiel ihm erst auf den zweiten Blick auf. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, die Arme auf die Reling gestützt und die Augen verträumt aufs Meer gerichtet. Sharrkan schluckte seine Bedenken hinunter, entschloss sich nach drei erfolglosen Tagen zu einem erneuten Versuch und ging langsam auf Yamraiha zu.
 

„Na, schläft das alte Ekel schon?“, fragte er und sie sah sich überrascht um, rümpfte die Nase, als sie ihn erkannte und drehte sich sofort wieder weg. Er entdeckte eine geöffnete Flasche Wein neben ihr auf der Brüstung, aber es fehlten höchstens ein paar Schlucke und Yamraiha wirkte auch nicht betrunken. Ermutigt davon, dass sie noch nicht gegangen war, kam Sharrkan ein paar Schritte näher und stellte sich schließlich zu ihr.

„Du kannst mich nicht ewig ignorieren“, säuselte er, doch ihr beharrliches Schweigen verriet, dass sie es scheinbar sehr wohl konnte. Stur schaute sie in die Ferne und machte keinerlei Anstalten, die Konversation aufzunehmen. Sharrkan erinnerte sich an Masrurs Rat, biss sich auf die Lippen und sagte mit leiser Stimme: „Hör zu… ich weiß, es war nicht richtig von mir, deinen Brief zu lesen.“

Yamraiha warf ihm einen flüchtigen Seitenblick zu. „Und das… tut mir aufrichtig leid.“
 

„Wieso hast du es dann getan?“ Es waren die ersten Worte, die Yamraiha direkt an ihn richtete und sie klangen unglaublich verletzt.

„Keine Ahnung“, entgegnete er ein wenig hilflos. „Er lag halt da.“

„Und das gibt dir das Recht dazu?!“

„Ich hab mich doch schon entschuldigt. Was soll ich denn noch tun?“

Eine Weile herrschte angespannte Stille zwischen ihnen, die nur durch das Rauschen der Brandung gegen das Hafenbecken übertönt wurde. Sharrkan wünschte, sie hätte weitergeredet, aber Yamraiha hatte ihre Aufmerksamkeit wieder ganz und gar der See gewidmet.

„Hör zu, ich war ein Idiot“, murmelte er.

Bist ein Idiot“, korrigierte sie ihn, „aber red‘ weiter.“

„Ich wollte sagen… unsere Gespräche an diesem Abend… das fand ich wirklich schön.“ Er war froh, dass sie im Halbdunkel sein Gesicht nicht genau erkennen konnte. „Ich dachte, ich würde ein bisschen mehr über dich erfahren. Ich dachte, du würdest mir vertrauen.“ Für den Rest der Wahrheit konnte sich Sharrkan einfach nicht durchringen.
 

„Ich habe noch mit niemandem über den Inhalt des Briefes gesprochen. Warum also ausgerechnet mit dir?“, zürnte Yamraiha. „Und wenn du willst, dass ich dir vertraue, solltest du das nächste Mal besser deine Finger von meiner Post lassen!“

„Es gibt also ein nächstes Mal?“, fragte Sharrkan hoffnungsvoll.

Yamraiha musterte ihn einen Moment abschätzend. „Aber noch ein Fehltritt-“, ermahnte sie ihn und Sharrkan merkte, wie ihm ein riesiger Stein vom Herzen fiel.

„Kein Fehltritt. Ich versprech’s!“

Aber was ist denn nun mit dir und Arik? Die Frage lag ihm auf der Zunge, doch er traute sich nicht, sie zu stellen. Vielleicht wollte er es auch gar nicht so genau wissen. Stattdessen lenkte er den Fokus auf die Weinflasche, die noch immer neben ihr auf dem Geländer stand. „Wofür war die überhaupt gedacht?“

„Ach, die.“ Yamraiha nahm die Flasche in die Hand. „Die sollte ursprünglich gegen den Frust helfen, nachdem Phillius mich beinahe in den Wahnsinn getrieben hat.“

„Und hat es geholfen?“

„Nicht wirklich.“
 

Sharrkan lehnte sich mit dem Rücken gegen die Reling und rutschte dann langsam an ihr zu Boden. „Der Typ ist schon ein echtes Scheusal, was?“

„Das kannst du laut sagen! Mach dies, mach das, mach jenes! So nicht! Das ist falsch!“, äffte Yamraiha den Kaufmann nach und ließ sich dann seufzend neben Sharrkan sinken. „Du kannst dir nicht vorstellen, was ich alles für ihn an Bord schleppen musste: Badeutensilien, Schmuck, Kosmetik, Duftwasser...“

„Viel genützt hat es bei der Visage ja nicht.“

Sie mussten beide lachen und Yamraiha reichte ihm plötzlich den Wein herüber.

„Wenn er schon offen ist, sollten wir ihn auch trinken“, sagte sie. „Morgen schmeckt er ja nicht mehr.“
 

Über Phillius zu lästern machte Spaß und brachte eine Menge fieser Pläne zum Vorschein, die niemals eine Umsetzung erfahren würden. Gemeinsam überlegten sie, welche Methoden sich eigneten, um den Händler am schnellsten zur Weißglut zu treiben, versuchten sich an Gemeinheiten gegenseitig zu übertreffen und scherzten darüber, es Sinbad für die Strapazen heimzuzahlen.

Irgendwann wandte sich das Gespräch allgemeineren Themen zu, während die Nacht unmerklich voranschritt und der Wein immer öfter zwischen ihnen hin und her wechselte. Es war das widerlich-süßeste Zeug, das Sharrkan jemals getrunken hatte und trotzdem war in der Flasche bald kein einziger Tropfen mehr übrig. Sharrkan hatte nicht den Eindruck, sonderlich betrunken zu sein, aber so richtig nüchtern fühlte er sich auch nicht.
 

Die Hitze des vergangenen Tages hing noch immer wie ein schwerer Dunstschleier in der Luft und vermischte sich mit der salzigen Brise, die vom Meer her an die Küste wehte. In gleichmäßigem Trott tanzte das Schiff auf den Wellen, während der Mond den Zenit längst überschritten hatte. Es musste schon spät sein, doch Sharrkans Wohlbefinden überwog seiner Müdigkeit. Er schaute zu Yamraiha, die den Kopf in den Nacken gelegt hatte und stumm in den Himmel emporblickte, bis sie merkte, dass er sie beobachtete.

„Was ist?“, fragte sie sacht.

„Nichts“, gab er zurück und verlor sich gänzlich in dem Paar eisblauer Augen. Zögernd streckte er seine Hand aus, strich über ihre Wange und war mit dem Gesicht ihrem so nah, dass es ein Leichtes gewesen wäre, einander mit der Nasenspitze zu berühren. Dann – ganz sanft – küsste er sie.
 

Ihre Lippen waren weich und zart und die behagliche Wärme in seiner Brust wuchs, als er spürte, wie sie ihm schüchtern entgegenkam. Behutsam legte er seine Arme um sie und vergrub die Finger in ihrem Haar, wobei ihr Hut unbeachtet zu Boden fiel. Die anfängliche Unsicherheit wurde rasch leidenschaftlicher und weckte in Sharrkan ein Verlangen, das Yamraiha zu teilen schien – davon ausgehend, wo sie ihre Hände gelassen hatte. Er versuchte, ihren Gürtel zu öffnen, doch sie wehrte ihn ab und unterbrach den mittlerweile recht stürmischen Kuss.

„Nicht hier!“, flüsterte sie, stand auf und zog Sharrkan mit sich auf die Beine. Das Schiff schaukelte auf einmal heftiger als er erwartet hatte, aber Yamraiha torkelte mindestens genauso wie er. Sie hielt seine Hand fest umschlossen und führte ihn zielstrebig bis in ihre Kajüte.
 

Im Vergleich zu allen anderen Frauen, mit denen sich Sharrkan im Laufe seines Lebens vergnügt hatte, war es noch keiner außer Yamraiha gelungen, eine solche Ekstase in ihm auszulösen. Schon seit ihrer ersten gemeinsamen Nacht, während der Maharaghan, hatte sie den Dreh rausgehabt. Sie wusste, welche Position ihm gefiel, wie sie sich bewegen und an welchen Stellen sie ihn berühren musste, um seine Erregung ins Unermessliche zu steigern. Vor allem aber wusste sie sehr genau, wie sie ihn am effektivsten über den Gipfel trieb. Das alles machte es Sharrkan umso schwerer, sich zurückzuhalten, damit auch sie am Ende auf ihre Kosten kam. Doch schlussendlich war es, als wenn all die Differenzen, die sonst zwischen ihnen herrschten, in diesem einen Akt der Vereinigung plötzlich absolut keine Rolle mehr spielten.
 

Noch lange lagen die beiden hinterher schweigend nebeneinander. Yamraihas Kopf ruhte auf Sharrkans ausgestrecktem Arm und er genoss die Nähe ihres warmen Körpers, lauschte ihrem ruhigen Atem und roch ihren herrlichen Duft. Er liebte es, wie sie sich eine störende Haarsträhne hinters Ohr wischte, ihm einen fesselnden Blick zuwarf und dann verlegen lächelte. Er liebte jede ihrer Gesten, jede ihrer Eigenarten – liebte sie – hatte es schon immer getan, von dem Moment an, als sich ihre Blicke zum ersten Mal in Partevia gekreuzt hatten…

Das Herz hämmerte ihm gegen den Brustkorb, während er mit der Entscheidung rang, einfach auszusprechen, was ihm auf der Seele lag. Er sammelte all seinen Mut, öffnete den Mund und klappte ihn im nächsten Moment gleich wieder zu. Wie sagte man sowas, ohne dass es komisch klang? Was passierte, wenn sie ganz anders empfand als er? Und die Zweifel beschworen ein Szenario herauf, das ihn keinen einzigen Ton mehr über die Lippen bringen ließ.
 

„Sharrkan?“

Sie sah ihn an und in seinem Bauch begannen tausend Gummibälle wie wild auf und ab zu hüpfen. Hatte sie sein Vorhaben etwa durchschaut?

„Weißt du… ich hab in den letzten Wochen viel nachgedacht, aber bisher war ich noch nicht bereit, darüber zu reden“, leitete sie ein und Sharrkan schluckte. „Als ich in Magnostadt war, nachdem… nachdem Mogamett gestorben war… da ging es mir ziemlich schlecht. Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden soll. Ich hab geglaubt, dass mich sowieso niemand versteht. Aber dann hab ich Arik bei den Aufräumarbeiten kennengelernt und irgendwie… ich weiß auch nicht… hat er mich wieder aufgemuntert.“

Sharrkan hatte das Gefühl, als sei sein Innerstes zu Eis erstarrt. Wie sollte er diese Aussage bitte einordnen? Was wollte sie ihm auf diese Weise mitteilen? Dass sie an einen anderen Kerl dachte, während sie mit ihm im Bett lag? Nachdem sie mit ihm geschlafen hatte?
 

„Er war so freundlich und hat mich auf Anhieb verstanden. Deshalb-“

Ruckartig richtete Sharrkan sich auf. „Warum fängst du jetzt davon an?“, schnitt er sie ab und seine Stimme klang aggressiver als beabsichtigt.

Yamraiha wirkte perplex. „Ich dachte – ich wollte“, stammelte sie und wie zu ihrer Verteidigung ergänzte sie: „Du hast dich doch beklagt, dass ich dir nichts anvertraue. Als Freunde-“

„Seit wann sind wir Freunde?“, fragte er hart und sie verstummte. Wortlos erhob sich Sharrkan, griff nach seiner Kleidung und zog sich an. Yamraiha hielt ihn nicht auf und er wagte nicht, sich noch einmal zu ihr umzudrehen. Erst, als er bereits zur Tür hinausgetreten war, blieb er wie versteinert stehen und versuchte die bittere Kälte zu ignorieren, die sich trotz der milden Nacht durch seine Eingeweide und bis tief in sein Herz fraß.



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