Mein neues Ich
Jeder hat die Erfahrung an einem frühen Zeitpunkt seines Lebens schon einmal gemacht, nach seinem späteren Berufswunsch gefragt zu werden. Mir ist noch nie ganz klar gewesen, worin der Sinn dieser Erkundigung besteht. Änderten sich Absichten und Ziele nicht gerade im jungen Alter noch schneller als man überhaupt mit den Fragen hinterherkommen kann?
Meiner Mutter zog mich heute noch mit meiner damaligen Antwort auf, wenn das Thema auch nur im Entferntesten zur Sprache kam. Du willst ja sowieso nur eine zufriedene Braut eines hübschen Mannes werden, sagte sie dann immer mit einem ironischen Grinsen und tätschelte mir kurz den Kopf. Früher fühlte ich mich durch diese Geste irgendwie geborgen, doch mittlerweile störte mich die Herablassung, die dabei mitschwang.
Natürlich hatte ich mich im Laufe der Zeit realistischeren Berufszielen zugewendet, aber ich sah nicht ein, was falsch daran sein sollte, sich eine erfüllte Liebesbeziehung herbeizusehnen. Als ich anfing, mit Puppen zu spielen, stellte ich jedes Mal das Leben eines glücklichen Ehepaars dar. Meine eigene Zukunft hatte ich ähnlich genau geplant. Mit etwa 14 Jahren würde ich meiner ersten Liebe begegnen, mit ihr eine intensive Beziehung führen, mich mit meinen Freundinnen über meine Erfahrungen austauschen und irgendwann, wenn der Schulabschluss näher gerückt war, mich von meinem Freund im Guten trennen. Sogar das klischeehafte, verschüchterte Erröten, die kleinen Liebesbriefchen im Unterricht und das erste Date hatte ich mit eingerechnet.
Wenn ich gewusst hätte, was mich in Wirklichkeit erwartete, wäre ich vermutlich freiwillig ins Kloster gegangen. Oder auf eine einsame Insel gezogen.
Aufgrund der Erlebnisse, die mich noch nach meiner Schulzeit sowohl tagsüber als auch nachts in meinen Träumen verfolgten, schrieb ich mich in der örtlichen Universität mit der festen Absicht ein, dass so etwas nie mehr vorkommen würde. Niemand könnte künftig nahe genug an mich herankommen, um mich wieder derartig zu verletzen.
Von nun an würde ich mich auf meine Arbeit konzentrieren und auf nichts anderes. Der theoretische Stoff würde mir weder schaden noch mich betrügen – im Gegensatz zu meinen Mitmenschen. Das Lernen könnte mir dabei helfen, mich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren, und die Fesseln abzustreifen, die mir meine Gefühle immer auferlegt haben.
Mit diesem neuen Plan im Hinterkopf zog ich still und heimlich die Haustür zu, um meine Eltern nicht aufzuwecken. Die Sonne war noch nicht lange aufgegangen und blendete mich trotzdem, als stünde sie bereits hoch am Himmel, während ich betont aufrecht die Straße hinunterlief, um die nächste Bahn zu erreichen, die mich in die unbekannten Gefilde des Universitätsalltag bringen würde. Ich spürte jetzt schon die sich ankündigende Hitze des Tages, die mir nicht viel später den Schweiß den Rücken hinunterrinnen lassen würde. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn mir meine Haare feucht im Nacken klebten und ich mir ständig mit dem Handrücken über die Stirn wischen musste, doch da es sowieso niemanden mehr gab, den ich mit meinem Äußeren beeindrucken wollte, konnte mir das nun glücklicherweise gänzlich gleichgültig sein. Wie erleichternd das war, nicht immer auf den Eindruck achten zu müssen, den man auf andere machte!
In diesem Zusammenhang warf ich einen Blick an mir herunter. Früher hätte ich mich so nie in die Öffentlichkeit getraut, doch heute trug ich meine kindlich gerüschte Bluse und die weite, braune Stoffhose fast schon mit Stolz.
Du hast dich verändert, dachte ich dumpf, empfand aber zum ersten Mal bei dieser Feststellung kein Unbehagen. Es war genau das, was ich gewollt hatte.
An der Straßenbahnhaltestelle verzichtete ich darauf, neugierig meine Umgebung und Mitfahrer in Augenschein zu nehmen. Eigentlich war es mir zur Gewohnheit geworden, mir auf Basis ihrer Erscheinungen Gedanken über Fremde zu machen, wie zum Beispiel darüber, ob man wohl miteinander auskommen würde oder ob sie sich in einer Beziehung befanden. Doch das passte nicht zu meinem neuen Ich. Abweisend starrte ich zu Boden und nestelte an dem Reißverschluss meines Rucksacks, den ich vor mir abgestellt hatte.
So ist es gut. Lasst mich alle in Ruhe. Ich brauche euch nicht.
Die Bahn fuhr ein und brachte einen scharfen Luftzug mit, der mich trotz der Sommerwärme schaudern ließ.
Diesmal wird alles klappen, wie ich es mir vorgestellt habe. Die Vergangenheit hat keine Macht mehr über mich.