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Tamashii

Von der Quintessenz einer Sache
von

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„Senri no michi mo ippo kara.“


 

„Senri no michi mo ippo kara.“ -

„Eine Reise von tausend Meilen beginnt unter deinem Fuß.“
 

Der Morgen brach an im Lande von Musashi.

Für gewöhnlich war zu dieser Zeit bereits erstes zaghaftes Morgenrot jenseits der Berggipfel auszumachen. Heute jedoch war die Luft kühl und schwer und der Himmel ergraute vielmehr, als dass er den Tagesanbruch verkündete. Dichter Nebel bahnte sich den Weg durch unwegsame Wälder und hing über Bergkuppen, Gewässern, Feldern und Dörfern. Er hatte sich in der Nacht auf dem Meer gebildet und reichte von der Küste bis in das tiefste Tal, verschluckte beinahe vollkommen die melodischen Gesänge der Vögel und nahm jegliche Sicht. Ein Reiter und sein Pferd etwa, die trotz der frühen Stunde seit geraumer Zeit unterwegs waren, kamen vom Weg ab und stürzten unbemerkt jeglichen menschlichen Lebens an einem Abhang zu Tode. Andernorts gebar eine junge Mutter ein Kind, das bereits tot war, noch bevor es die kalte Morgenluft auf seiner Haut hätte spüren können. Das Leben ist grausam, murmelte eine alte Frau, ehe sie der klagenden Mutter das stille Bündel aus den Armen nahm und sich auf in den Nebel machte, es zu entsorgen.
 

In einem kleinen Dorf, gänzlich woanders und unbehelligt dieser Ereignisse, waren ebenfalls schon Menschen auf den Beinen und begannen, ihrem üblichen Tagwerk nachzugehen. Es lag am Rande einer traditionellen Tempelanlage und war umgeben von Gemüse- und Reisfeldern, die der Nebel gänzlich unter sich begrub. Ein schmaler Fluss durchquerte es, dessen Wasser man zum Reisanbau und Fischfang nutzte. Im angrenzenden Wald wachte ein stattlicher, heiliger Baum über die Bewohner des Dorfes und auf einer Lichtung stand ein Brunnen, der kein Wasser hergab und dafür Überreste von Dämonen auf mysteriöse Weise verschwinden ließ.
 

Der Name des Dorfes, so es einmal einen gehabt hatte, war verloren gegangen. Doch da man die alte Miko, die seit über fünfzig Jahren stets Hilfe und Unterstützung gegeben hatte, sehr schätzte und für ihre Weisheit bewunderte, benannte man es irgendwann nach ihr und so hieß es lediglich Kaedes Dorf.
 

Alte und junge Menschen lebten hier in enger Gemeinschaft, und die kleine Siedlung musste wohl gewöhnlich und alteingesessen wirken. Die einfachen Hütten, teils aus Lehm und teils aus Holz gebaut, beherbergten einfache Leute, zumeist Bauern und einige Handwerker und ihre jeweiligen Familien. So mancher niederer Youkai hatte sich von diesem Bild eines wehrlosen Menschendorfes täuschen lassen und war eines Besseren belehrt worden. Denn die Leute dieses Ortes waren durchaus wehrhaft, nicht zuletzt dadurch ermutigt, dass sich ein menschenfreundlicher und kräftiger Hanyou, eine äußerst gute Bogenschützin und Miko, ein intelligenter und mutiger Mönch, sowie eine überaus erfahrene und talentierte Dämonenjägerin bei ihnen niedergelassen hatten. So lag es denn zumeist an dem Mann in scharlachroter Tracht, mit seinen langen, weißen Haaren und abstehenden Hundeohren am Kopf, dass Unscheinbarkeit nicht als angemessenes Attribut für dieses Dorf zutraf. Viel eher galten es und seine Bewohner als sonderbar, da sie die Grenzen der Artentrennung überschritten hatten und Hanyou und Youkai, die friedfertiger Natur waren, bei sich akzeptierten. Schlussendlich hatte auch Inu Yasha, der sich mit nachdenklicher Miene an den Eingang seiner schlichten Hütte lehnte und das erwachende Leben beobachtete, in Kaedes Dorf sein Zuhause gefunden.
 

Etwas entfernt waren einige Männer trotz der schlechten Witterung schwatzend damit beschäftigt, Säcke voll Reis auf einen langen Karren zu hieven, vor den zwei Ochsen gespannt waren. Die beiden Tiere schnaubten in den feuchten Nebel hinein und einer röhrte scheinbar ungeduldig auf. Ein Mädchen von vielleicht drei Jahren, welches der Schlaf nicht länger hatte festhalten können, redete in kindlicher Sprache auf das muskulöse Vieh ein. Seine nackten Füße schienen bedenklich nah an den breiten Hufen, und kurz überlegte der Halbdämon, dessen Sehstärke durch den Nebel kaum beeinträchtigt wurde, ob er das Mädchen von dort wegholte, damit es nicht unter Vieh und Gefährt geriet. Doch ihm wurde diese Aufgabe abgenommen, als eine junge Frau das Mädchen rufend herbeikam. Sie war offensichtlich verärgert, und schimpfte einen der Männer dafür aus, dass er ein unfähiger Vater sei, weil er nicht auf seine Tochter aufpassen könne. Mit dem plappernden Kind unter dem Arm marschierte sie davon und die übrigen Männer lachten unverhohlen über den peinlich berührten Vater, der sie alle sogleich wieder zur Arbeit antrieb, damit das Gespann denn heute auch noch loskäme. Der Reis sollte wohl als Steuerleistung in die nächstgelegene Stadt gebracht und dort an den Lehnsherrn des Dorfes übergeben werden, der angeblich im Vergleich zu anderen Fürsten noch passabel war.
 

Obgleich es Inu Yasha nicht wirklich einleuchtete, sich als ganzes Dorf einem einzigen Mann und dessen Familie unterzuordnen und stets den schmackhaften Reis an diesen abzutreten, mischte er sich nicht weiter in die Belange der Menschen ein. Anscheinend wurde in der menschlichen Sippe bereits so verfahren, noch bevor er das Licht der Welt erblickt hatte und dies lag inzwischen über zweihundert Jahre zurück. Und außerdem hatte er den Großteil seines Lebens ohnehin fernab jeglicher Gesellschaft verbracht, sodass er sich kaum sicher sein konnte, dass unter Youkai nicht ebenso strenge Regeln und Standesverhältnisse herrschten.
 

Insgeheim ebenfalls amüsiert über den frühmorgendlichen Vorfall, gähnte er einmal herzhaft und streckte sich. In letzter Zeit beschäftigten ihn viele Dinge und oft erwischte er sich dabei, dass er innerlich seine Fortschritte in Bezug auf sein Verstehen der menschlichen Rasse überprüfte. Ja, er hatte durchaus das Bedürfnis zu lernen und zu begreifen, was Menschen bewegte und warum sie Entscheidungen so trafen, wie sie sie trafen. Und durch Kagome hatte er täglich die Möglichkeit, zu lernen. Denn sie forderte oft seine ganze Geduld und seine Beherrschung. Nach ihrem gestrigen Gespräch war die junge Frau beinahe sofort an ihn gelehnt eingeschlafen, sodass er die ganze Nacht ausgeharrt hatte, um sie nicht zu wecken. Somit war er selbst einerseits durch die auf Dauer unbequeme Haltung und andererseits durch seine lauten Gedanken nicht zu viel Schlaf gekommen. Was seine körperliche Verfassung nicht allzu sehr beeinträchtigte, seinem Kopf jedoch auch nicht besonders zuträglich gewesen war. Natürlich würde er es vor keinem zugeben, aber er hatte ein wenig Kopfschmerzen und ärgerte sich über sich selbst und seine unausgewogene Art.
 

Während er in den Nebel stierte, packte Kagome gerade die restlichen Dinge für die heute beginnende Reise. Seine Freundin hatte offensichtlich hervorragend geschlafen und war gut ausgeruht, zumindest ließ ihr energischer Tonfall darauf schließen, als sie ihn hinaus geschickt hatte, um den Männern beim Beladen des Ochsenkarrens zu helfen. Selbstverständlich war er nicht auf solch ein Gefährt als Transportmittel angewiesen und da er Kagome stets auf dem Rücken zu tragen pflegte, galt das auch für sie. Aber in einem Anfall von Nächstenliebe hatte die Miko den Bauern zugesichert, dass Inu Yasha und sie das Ochsengespann eskortieren würden, wo sie doch an diesem heutigen Morgen in die gleiche Richtung aufbrechen wollten. Die einfachen Leute fürchteten das Reisen, da es bedeutete, sich zumeist schutzlos einer Überzahl von Youkai, Banditen und skrupellosen Soldaten auszuliefern. Insofern konnte der Hanyou die Erleichterung und die Dankbarkeit der Bauern nachvollziehen. Dennoch nervte ihn die Vorstellung, quälend langsam voran zu kommen, sich mehrere Stunden lang auf dem Karren durchschaukeln zu lassen und vermutlich vergeblich darauf zu warten, dass sie endlich von irgendetwas oder irgendwem angegriffen würden. Kaede hatte trocken konstatiert, dass er einfach schlafen solle, doch Inu Yasha sehnte sich insgeheim danach, einmal wieder einen schwungvollen Kampf auszutragen.
 

Es hatte sich herumgesprochen, dass er derjenige gewesen war, der dem zerstörerischen Naraku den Garaus gemacht hatte. Und dass er inzwischen die Gebiete rund um das Dorf verteidigte und keinen verschonte, der sich den Menschen mit bösen Absichten näherte. So hielten sich die klügeren niederen Youkai in der Regel fern und höhere Youkai verirrten sich erfahrungsgemäß eher selten in von Menschen bewohnte Gebiete (abgesehen von Sesshoumaru, korrigierte sich Inu Yasha innerlich). Es war ihm gleich, ob es das Dämonenblut war, dass durch seine Adern floss und ihn nun mal von Zeit zu Zeit in den Wald lockte, um dort andere Lebensformen aufzuscheuchen, ob es in seiner Natur lag, dass er weniger ereignislose Tage bevorzugte, oder ob er sich oftmals schlichtweg langweilte und sich deshalb wünschte, ein unflätiger Wurmyoukai möge ihm begegnen und er seinem Trieb nachgehen können. Natürlich schätzte er es größtenteils, dass sich Kagome im Dorf so gut aufgehoben und zuhause fühlte und auch er hatte den Eindruck, dass er irgendwie angekommen war, doch er fühlte sich oftmals unausgelastet und unterfordert. Und auch, wenn er sie beschützte, so konnte er sich definitiv nicht für alle Menschen erwärmen.
 

Seine Ohren zuckten aufmerksam und der Halbdämon wurde daran erinnert, dass er von Zeit zu Zeit nicht die geringste Lust verspürte, sich mit einigen Exemplaren der Gattung Mensch abzugeben. So fühlte er sich ungern für einige der Männer dort verantwortlich, die in seinem Empfinden äußerst primitiv daherredeten. Gerade zählten sie dem Vater des kleinen Mädchens auf, welche Gründe dafür sprachen, sich in der Stadt eine neue Frau zu suchen („Deine Alte is' viel zu herrisch, such ' dir lieber eine, die ihre dicken Dinger für sich sprechen lässt und dir nich' ins Wort fällt, sondern nur aufs Bett!“). Inu Yasha war es für einen Augenblick leid, über ein extrem gut ausgeprägtes Gehör zu verfügen, welches ihn diese bahnbrechende Unterhaltung unfreiwillig mitanhören lies. Der gerügte Vater schien ebenso wenig Freude an dem Gespräch zu haben. Fast tat der Mann Inu Yasha leid, aber die ganze Sache war ja eigentlich nicht seine Angelegenheit. Dennoch fand er den gequält dreinblickenden, jungen Ochsentreiber Shinshoku und auch den recht stillen, älteren Bauern Nanbatsu halbwegs in Ordnung. So würde er sich wohl oder übel in sein Schicksal fügen und die Beiden auf dem Weg zur Stadt begleiten, obwohl selbst Kaede angemerkt hatte, dass die Überfälle auf Reisende in der Umgebung stark nachgelassen hatten. Aber er glaubte sowieso, dass es eigentlich eher darum ging, dass Kagome gerne einmal auf herkömmliche und übliche Weise reisen und die Welt, in der sie nun lebte, weiter kennenlernen wollte. Aus dem Grund hatte sie ihre Hilfe angeboten und Inu Yasha wollte ihr diese Erfahrung nicht nehmen. Auch, wenn er einen Ausflug auf dem Ochsenkarren für absolut unspektakulär hielt. Aber sie hatte Recht, sie hatten nun Zeit, da kein Juwelensplitter, Naraku oder sonstwer darauf wartete, von ihnen gejagt zu werden. Und das Ziel ihrer Reise lief ihnen nicht weg, sodass sie es nicht allzu eilig hatten, auch, wenn er dies oftmals behauptete. Allerdings eher, um endlich wieder ein wenig Bewegung in ihr Alltagsleben zu bekommen.
 

So stieß er sich von der Hüttenwand ab, streckte sich erneut und ging auf die arbeitende Gruppe zu.

Gerade hoben Shinshoku und die anderen Männer schwitzend einen anscheinend besonders schweren und großen Sack auf den Karren. Nanbatsu, der bereits etwas gebrechlich wirkte und abseits zusah, begrüßte Inu Yasha mit einem Kopfnicken und einem stillen Lachen. Hierbei offenbarte er eine mehr zahnlose Zahnreihe, Zeugnis irgendeiner Krankheit, die er überlebt hatte, so wurde es Inu Yasha von Kaede erzählt. Dieser nickte dem alten Mann ebenfalls zu, drängte sich zwischen die Männer („Ihr brecht euch sonst noch was!“) und hob den Reissack ohne große Mühe auf den Wagen. Shinshoku wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
 

„Guten Morgen, Inu Yasha, und danke sehr. Der hatte es wirklich in sich...“
 

„Keh!“, gab Inu Yasha lediglich von sich, nahm zwei weitere Säcke auf und hob diese schwungvoll auf den Karren. Binnen weniger Minuten hatte er die gesamte Ladung hinauf verfrachtet und die Männer waren sichtlich erleichtert und begeistert.
 

„Mann, dafür hätten wa' noch ewich gebraucht!“
 

„Der macht das mal eben so und zuckt nichtmal mit'er Wimper!“
 

„Der is' halt kein dürrer Ast, so wie du!“
 

„He, was sagst du da?!“
 

Grölend gingen zwei Männer gespielt aufeinander los und warfen sich raufend ins feuchte Gras.

Drei andere johlten und Shinshoku sprang vom Karren herunter neben Inu Yashas Seite, der die Szene distanziert beobachtete.
 

„Das geht schon den ganzen Morgen so. Ziemliche Kindsköpfe, was? Und bedanken sich nicht mal, obwohl du uns wirklich viel Arbeit abgenommen hast. Aber so sind sie halt. Was will man da machen..“
 

Inu Yasha verschränkte in typischer Manier die Arme und musterte den Mann neben sich.

Shinshoku war ungefähr so alt wie Miroku und hatte ein ebenso kluges Gesicht. Er hatte zwei Kinder, das kleine Mädchen, das wohl die Ochsen mochte und einen älteren Jungen, der sich gerne mit den Zwillingsmädchen von Sango und dem nicht mehr ganz so lüsternen Mönch stritt.
 

„Bei Buddha, als wären sie erst so alt wie ihre Söhne...“
 

„Hey, Shinshoku. Seid ihr dann so weit? Ich will denen nicht den ganzen Morgen zugucken...“
 

Der dunkelhaarige Mann bejahte und wandte sich kopfschüttelnd von seinen Kameraden ab.
 

„Wenn Kagome-sama und du bereit sind, können wir alsbald aufbrechen. Ich denke, Nanbatsu wird die Ochsen noch ein wenig tränken wollen, doch das dauert nicht lang. Hoffentlich löst sich der Nebel auf, der macht die Tiere immer so nervös..“
 

Und ist nicht das angenehmste Wetter, um mit seiner Freundin auf die Reise zu gehen, stimmte Inu Yasha in Gedanken zu und blickte wie Shinshoku in den trüben Himmel, ehe sein Gehör erneut strapaziert wurde.
 

„Werdet ihr Hohlköpfe euch ma' wieder an die Arbeit machen!! Der Sake is' euch wohl endgültich zu Kopf gestiegen! Wird’s wohl!!“, faltete eine kräftige Frau die tollenden Männer zusammen und weckte mit ihrem Gebrüll auch noch den letzten schlafenden Menschen dieses Ortes auf. Mehrere Kinder bestaunten das Spektakel feixend und zwei Jungen begannen ebenfalls, miteinander zu rangeln, sodass einer von ihnen schlussendlich im Fluss landete und sein Vater ihn schimpfend wieder herauszog. Nanbatsu tätschelte liebevoll den breiten Hals des einen Ochsen und lachte zahnlos vor sich hin, Shinshoku werkelte pfeifend am Karren herum. Der übliche Wahnsinn in einem Dorf der Menschen, dachte Inu Yasha. Und dass er noch vorhin geglaubt hatte, dass das hiesige Leben ereignislos sei. Er entschied, Kagome zu holen und machte sich auf in Richtung seiner Hütte.
 

~*~
 

Irgendetwas raschelte. Unaufhörlich. Seine geschlossenen Lider zuckten und vor seinen Augen erschienen helle, diffuse Formen in der Dunkelheit. Er fragte sich unwillkürlich, wer das Rascheln verursachte und stellte bei dem Gedanken fest, dass er wach war. Doch noch war er nicht ganz zurück. Noch bescherte ihm sein Bewusstsein einen weiteren traumlosen Halbschlaf und er rang mit der Bequemlichkeit, einfach wieder in seinen tiefen Schlaf zurückzukehren. Andererseits war da dieses Rascheln. Es begann, ihn unsagbar zu stören. Und ebenso ein unangenehmes Ziehen, dass er jetzt bemerkte, wo er immer mehr aus seinem Zustand zurückkehrte. Ein inneres, hungriges Ziehen in seiner Magengegend. Er musste etwas essen. Augenblicklich. Unbarmherzig zwang er seinen Körper, sich von der erholsamen Starre zu lösen und bewegte knackend seine langen Finger, dann seine knochigen Beine und seinen Nacken. Sein Blick war noch verschwommen, als er seine Augen öffnete, und er rieb sich mit den Handrücken darüber und gähnte ungeniert. Seine Glieder waren steif, und er merkte, dass er Kopfschmerzen hatte, nicht zuletzt, weil ihn dieses Rascheln zutiefst verärgerte. Er war hungrig, und irgendjemand oder irgendetwas hatte ihn geweckt und ihn daran erinnert. Er sah sich um, fahles Licht fiel durch die Spalten der Holzwände, und er spürte das übliche Brennen in seinen Augen, obgleich er tagelang geschlafen hatte. Dennoch entdeckte er sie, Ratten, die sich unbeeindruckt seines Erwachens über einige Töpfe hermachten, in denen er seine Vorräte aufbewahrte. Ruckartig durchfuhr ihn ein belebender Zorn, und er warf sich heiser kreischend auf die Nager und packte zwei von ihnen mit bloßen Händen. Sie waren nicht schnell genug gewesen, hatten sich durch seine vorherige Trägheit in Sicherheit vermutet, und nun hatte er ihnen das Genick gebrochen und sie gegen die spröde Wand seiner Behausung geschmettert. Seine Töpfe waren zu Bruch gegangen und er jaulte auf, als er die böse Bescherung vollkommen begriff. Seine Hände zitterten und in ihm stieg große Übelkeit hervor, ob vor Ärger oder vor Hunger, es war unerheblich, er fühlte sich miserabel und verlangte nach sofortiger Veränderung. Seine Kehle war staubtrocken und er schleppte sich ächzend zu dem Fass, in dem er sich Wasser hielt. Sein Gesicht war furchterregend, eine Fratze, und er versenkte seinen Kopf im Wasser, um sich nicht zusehen zu müssen, und trank, bis er genug von der muffigen Flüssigkeit hatte. Dann wischte er sich mit dem schmutzigen Ärmel über den Mund und machte sich daran, ein mickriges Feuer zu entzünden. Er musste wieder zu Verstand kommen, ermahnte ihn seine Stimme, er war noch zu sehr in der anderen Welt, er durfte nicht weiter auskühlen, er hasste es, zu frieren, ebenso sehr, wie hungrig zu sein. So besänftigte er sich selbst, beruhige dich, es gibt doch zu essen, nimm' mit dem Vorlieb, was zugegen und nicht angefressen und verfault ist. Die Ratten störten sich nicht daran, dass er sich vor sich hin murmelnd nach ihren toten Artgenossen bückte und diese auf einen Ast gesteckt über der Feuerstelle briet. Sie warteten geduldig ab, bis er ganz in seine Tätigkeit verfallen war, bevor sie sich wieder über die zerbrochenen Töpfe her machten. Sie wussten, dass er nur erst essen und zu Kräften kommen musste, und er sich dann ebenso wenig an ihnen störte, wie an den Youkai, die sich außerhalb der Hütte aufhielten und die Luft weitaus mehr verpesteten, als ihre stinkenden und verkohlten Kameraden.
 

~*~
 

Als er die Matte beiseite schob, welche man vor den Eingang hing, um das Innere der Hütte vor Wind und Kälte zu schützen, war Kagome gerade dabei, den Rucksack zuzuschnüren. Sie sah ihn freudig an, als sie ihn bemerkte.
 

„Oh, Inu Yasha! Perfektes Timing! - Kannst du den zumachen? Der ist doch voller geworden, als ich dachte...Aber vorsichtig, nichts zerquetschen!“
 

„Pff, bestimmt macht er das! Er ist immer so unvorsichtig!“
 

Shippo saß neben Kagome und schaute Inu Yasha finster an. Er schien dem Halbdämon dessen gestriges Verhalten noch übel zu nehmen.
 

Der Hanyou nahm ihr die Schnüre aus der Hand, drückte den Rucksack bewusst behutsam noch ein wenig ein und verknotete diesen ohne Mühe.
 

„Keh. Ich hab' doch gesagt, dass du das mit dem Packen übertreibst“, antwortete er Kagome, während er Shippos Verwünschungen ignorierte.
 

„Und was meinst du überhaupt mit diesem perfekten Tei-Ding?“
 

„Oh, das? Naja, perfektes Timing, also, das heißt, ähh...perfekte...s Kommen im richtigen Augenblick! Das ist Englisch. “
 

„Aha“, bemerkte Inu Yasha lapidar, der keinerlei Ahnung hatte, was Englisch heißen und sein sollte.

Shippo, dem es zwar genauso erging, warf Inu Yasha dennoch einen eindeutig besserwisserischen Blick zu, den Inu Yasha ebenso hochnäsig erwiderte.
 

„Naja, wenn man jemanden braucht und der taucht genau im richtigen Moment auf, dann sagt man das so in meiner Zeit. Und Englisch ist eine andere Sprache, die man in England und in Amerika und eigentlich auf der ganzen Welt spricht“, erklärte Kagome unbehelligt großzügig. „Eine Weltsprache, sozusagen. Wartet mal, das geht so... An apple a day keeps the doctor away, genau. - Das lernt man in der Schule. Damit sich alle auf der ganzen Welt verstehen können.“
 

„Aha“, sagte Inu Yasha wieder, der sich ein wenig dümmlich vorkam, sodass er sich ermahnte, nicht unhöflich oder desinteressiert zu wirken.
 

„Ja, also. - Ich hab' das hier auf jeden Fall noch nie gehört, Kagome, dieses Engklisch.“
 

Die junge Frau kicherte, während sie sich aufrichtete und ihre Garderobe glatt strich. Sie trug das Gewand der Miko, einen scharlachroten Hakama und ein weißes Kimono-Hemd und Inu Yasha mochte sie darin. Ob er sich aus früherer Erinnerung an Kikyo zu Frauen in dieser Kleidung hingezogen fühlte oder ob es Kagome einfach gut stand, wagte er nicht weiter gedanklich auszuführen. Dazu war dieses Thema zu heikel, noch immer, für sie beide. Doch obwohl Kagome nun seit einigen Jahren diese traditionelle Kleidung anstelle der Modernen trug und man meinen konnte, dass er sich an diesen Anblick gewöhnt hatte, war dem nicht so. Kikyo war noch immer ein Teil seines Herzens, wenn auch längst kein Bestimmender mehr, so wie damals. Und Kagome und seine einstige Gefährtin ähnelten sich nun einmal äußerlich. Aber ansonsten hatten sie bis auf ihre starken spirituellen Kräfte weiterhin nicht viel gemeinsam. Und das war gut so. Er mochte Kagome, weil sie Kagome war. Auch, wenn sie ihm von Zeit zu Zeit von Sachen erzählte, die er nicht kannte und von denen er meistens keine Vorstellung hatte.
 

„Das hätte mich auch gewundert! - Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, aber ich glaube, dass die Seefahrer diese Sprache auch erst später hierher bringen. Ich kann mich echt nicht mehr an den Unterricht erinnern, aber irgendwann hatten wir mal was mit Engländern und Portugiesen, die irgendwann nach Japan gekommen sind...“
 

„Es kommt jemand her und bringt dieses Enggkklisch mit?“, fragte Shippo interessiert und hatte wohl kurzzeitig vergessen, Inu Yasha mit seinen Blicken zu traktieren.
 

„Ja, nur leider weiß ich nicht genau, in welchem Jahr das war...oder, äh, ist, das ist ja dann zu dieser Zeit, in unserer Gegenwart...Wobei, eigentlich weiß ich ja nicht mal, welches Jahr wir hier jetzt genau haben...das ist schon blöd irgendwie, das würde mich jetzt auch interessieren...“
 

Diesmal entschied sich Inu Yasha dafür, einfach gar nichts zu sagen, denn er konnte nicht allzu viel mit ihren Überlegungen anfangen, und so gab er nur ein nichtssagendes 'Hm' von sich.
 

„Heißt das, in deiner Zeit hat man für alle früheren Jahre einen Namen?“, fragte Shippo und klang beeindruckt.
 

„Naja, nicht unbedingt einen Namen für jedes Jahr, die zählt man nämlich. Da wo man Englisch spricht, zum Beispiel, da zählt man nach dem Tag der Geburt von so einem bestimmten Mann, der schon ewig tot ist. Also dann Jahr eins nach seiner Geburt, fünfzig Jahre nach seiner Geburt, tausendfünfhundert Jahre nach seiner Geburt...“
 

„Keh, wieso denn das? War der Typ so eine Art Gott, oder was?“, fiel Inu Yasha ihr grob ins Wort.
 

„Ja, schon irgendwie... - Und deswegen sind wir hier im sechzehnten Jahrhundert nach seiner Geburt, aber in welchem Jahr genau...Naja, und während man Jahre eben zählt, gibt man ganzen Epochen einen Namen. Deswegen sind wir hier in der Sengoku-Ära, der Zeit der streitenden Reiche.“
 

„Ja, weil sich alle Menschen streiten und überall so viel Krieg herrscht“, stimmte Shippo ihr zu und sah nachdenklich aus.
 

„Genau. Ich wundere mich nur, weshalb ich nie mit Opa darüber geredet hab..“, murmelte Kagome und vor Inu Yashas innerem Auge erschien ein älterer Herr mit grauem Haar und Bart, der mit wirkungslosen Bannzetteln herumgefuchtelt und herumgezetert hatte, als Inu Yasha zum ersten Mal in Kagomes Zeit aufgetaucht war.

Ihm hatte der alte Mann damals jedes Mal allerhand bizarre Sachen erzählt, über mumifizierte Krötenhände, Rückenschmerzen, das Shikon no Tama, Zugverspätungen und Verdauungsprobleme, worauf Inu Yasha stets gut hätte verzichten können (besonders auf Letzteres).
 

„Bestimmt hat er dir darüber was erzählt und du hast nicht hingehört“, warf Inu Yasha tadelnd, jedoch aus eigener Erfahrung ein.
 

„Ja, das kann natürlich sein...er hat immer so viel erzählt, irgendwann schaltet man da einfach auf Durchzug, vor allem, wenn er dir die gleiche Geschichte zum hundertsten Mal auftischen will...aber da hätte ich dann vielleicht doch mal zuhören sollen, als er mir was über die Sengoku-Zeit erzählen wollte, denn bestimmt wollte er das, aber ich glaube, ich war da gerade auf dem Weg zu WacDonald oder so...“
 

„Also hast du nicht hingehört“, konstatierte Inu Yasha trocken und stocherte wie am Vortag in dem nun erloschenen Feuer herum.
 

„Hm! Ist doch auch egal!“, rief Kagome etwas zu laut aus und klatschte in die Hände.

„Inu Yasha, wie weit sind denn Shinshoku-san und Nanbatsu-san und die anderen mit dem Ochsenwagen?“
 

„Die wären immer noch nicht fertig, wenn ich da nicht mit angepackt hätte!“
 

„Was du bestimmt aus Großherzigkeit gemacht hast...“, stichelte Shippo erneut und diesmal ließ sich Inu Yasha wie so oft gehen und verpasste dem kleinen Kitsune eine saftige Kopfnuss.
 

„Inu Yasha, bitte...“, tadelte diesmal Kagome den Hanyou und Shippo bestand zappelnd darauf, dass sich Inu Yasha endlich wegen seiner an ihm ausgelassenen Launen bei dem kleinen Fuchs entschuldigte.
 

Kagome seufzte ob der Sturheit der beiden Zankhähne, denn natürlich sah Inu Yasha keinerlei Grund, sich für irgendetwas zu entschuldigen und so setzten er und Shippo den gewohnt-geliebten Disput fort. Kagome hingegen ließ ihren Blick durch die Hütte schweifen, um sicherzugehen, dass sie an alles gedacht hatte. Doch sie würden alles dabei haben, was sie brauchten.
 

So ließ sie dann ein genervtes „Mach Platz!“ von sich und schickte Inu Yasha damit schnurstracks zu Boden, während sie Shippo versichern musste, dass sie ebenfalls fand, dass der Halbdämon sich zu entschuldigen hatte. Nachdem dieser irgendetwas Unverständliches gegrummelt und sich wieder aufgerichtet, Shippo vor Genugtuung zufrieden dreingeblickt und Kagome ein weiteres Mal überprüft hatte, dass sie reisefertig waren, nahm Inu Yasha den vollen Rucksack auf und brachte diesen zum Karren.
 

Dort wartete Nanbatsu noch immer gleichermaßen freundlich und zahnlos lachend auf seine Passagiere, kraulte seinem Ochsen die Nase und freute sich über die Kinder von Sango und Miroku, die lebhaft zwischen ihren Eltern, Kaede, Rin und Shinshoku umhersprangen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, hier sind wir nun. Bei einer Geschichte, die viel Zeit braucht, um sich zu entfalten
(und auch viel Zeit, um geschrieben zu werden...Entschuldigung für die lange Wartezeit!).

- Kann man Ratten eigentlich grillen und dann essen (ohne krank zu werden)? Bestimmt nicht. Tja. Aber der Rattengenickbrecher wäre ja nicht der erste gruselige Typ bei Inu Yasha...

Fortsetzung folgt! =) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2014-05-11T21:08:05+00:00 11.05.2014 23:08
Ich finde es schade dass du für das erste Kapitel so viel Feedback bekommen hast aber bei dem zweiten die Leute schreibfaul geworden sind. Mir gefällt deine Geschichte bis jetzt ganz gut und ich hoffe es bleibt auch so.^^

Ich muss aber gestehen ich habe nur auf deine Story geklickt wegen dem Wort „Quintessenz". ^.^
Mein Lehrer hat das Wort immer so gern benutzt. Ich war irgendwann davon genervt aber das Wort hat irgendwie seinen ganz eigenen Zauber. :-)
Antwort von:  Parsaroth
02.06.2014 20:22
Hallo =)

Na, das hoffe ich natürlich auch! :D Und ich freue mich umso mehr, dass Du so eine liebe Rückmeldung dagelassen hast! Das spornt ja bekanntlich ziemlich an. Vielleicht sorgt ja ein anderes Kapitel dafür, dass sich wieder ein paar mehr Leute davon angesprochen fühlen. Mal sehen, mir macht das Schreiben auf jeden Fall sehr Spaß und es tut gut!

Und ich finde, Quintessenz ist gleichermaßen ein wohlklingendes wie kompliziertes Wort. Ein Universum für sich, wie die Geschichte, die ich zu schreiben gedenke. Oder so. :D Und außerdem finde ich, dass sich oft zu wenig Leute die Mühe machen, die Quintessenz einer Sache genauer zu ergründen. Manchmal zumindest.

In diesem Sinne,

liebe Grüße (auch an Deinen Lehrer! - Oder lieber nicht? :D)

Von:  Salada
2014-05-11T20:34:23+00:00 11.05.2014 22:34
Oh ja das hört sich doch schon viel versprechend an frei mich schon aufs nächste Kapitel ;) super Schreibstil im ubrigen
Antwort von:  Parsaroth
02.06.2014 20:15
Hallo (wenn auch ein ziemlich Verspätetes :D)!

Es freut mich sehr, dass Dir die Geschichte zusagt. Dankeschön für Deine Rückmeldung! =) Ich bin schon/endlich fleissig am nächsten Kapitel dran.

Ganz liebe Grüße!



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