Kapitel II - Ich bin nicht wie du!
Die Treppen zu seiner Wohnung brachte Kieran hinter sich, indem er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Im Gegensatz zu den Häusern, in denen seine Freunde lebten, war seines alt und dreckig und es roch im Treppenhaus stets nach Feuchtigkeit und Schimmel. Einige der Stufen waren bereits abgesplittert, aber bislang hatte sich der Vermieter noch nicht darum gekümmert. Hinter den einzelnen Türen konnte er lautes Schreien hören, die Kinderwägen auf dem Gang verrieten ihm, dass es Kinder waren, die ihren Eltern gerade empört klarzumachen versuchten, dass sie etwas unbedingt haben mussten.
Dennoch lebte er gern hier, da er viele Erinnerungen mit diesem Ort verband. An einer Stelle der Treppe war das hölzerne Geländer angesägt und jedes Mal, wenn er daran vorbei kam, erinnerte er sich wieder daran, wie er als Kind gemeinsam mit seinem Cousin damit beschäftigt gewesen war, dort zu sägen. Er war sich nicht mehr im Klaren darüber, warum sie das getan hatten, aber durchaus, dass es sehr wichtig gewesen war, zumindest in ihren Köpfen.
An den dafür geernteten Ärger erinnerte er sich aber auch noch sehr gut. Wenn er so darüber nachdachte, sollte er seinem Cousin vielleicht mal wieder eine Nachricht schicken.
Aber diese Überlegung rückte in den Hintergrund, als er endlich vor seiner Tür angekommen war und aufschloss. Zumindest in seiner Wohnung war es sauber und roch auch angenehm, dafür sorgte schon sein Vater, der sein Möglichstes versuchte, in seinem derzeitigen Zustand, deswegen war nach der Treppe auch immer eine gewisse Vorfreude mit seiner Heimkehr verbunden.
An diesem Tag roch es fruchtig nach Tomaten, was hieß, dass Cathan, sein Vater, gerade am Kochen war. Kieran legte den Rucksack ab, streifte seine Schuhe ab, stellte sie sorgsam in eine Reihe mit den anderen und lief dann an Garderobe und Türen in andere Zimmer den Gang hinab, um die Küche am Ende zu betreten. Es war nur ein kleiner Raum, mit einer Kochzeile und einer Spüle auf der einen Seite und einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen auf der anderen, aber es genügte für sie beide.
Cathan stand, wie erwartet, mit beschlagener Brille, am Herd und rührte gerade in einem Topf, aus dem der Tomatengeruch kam. Sein schwarzes Haar war noch feucht, was Kieran verriet, dass er sich wieder einmal ganz allein um seine Hygiene gekümmert hatte. Einerseits freute es Kieran, das verriet immerhin, dass sein Vater auf dem Weg der Besserung war, andererseits machte er sich Sorgen, dass ihm dabei etwas passieren könnte.
Seine Krücken standen, zu Kierans weiterer Besorgnis, eine Armlänge von ihm entfernt, gegen die Spüle gelernt, was ihn auch sofort dazu veranlasste, etwas zu sagen: „Papa, du sollst doch nicht so lange ohne deine Krücken stehen ...“
Inzwischen war es nicht mehr ersichtlich, dass seine Beine vor kurzem noch vollkommen unbrauchbar gewesen waren und die Ärzte sogar einen Umzug in eine behindertengerechte Wohnung vorgeschlagen hatten, aber dennoch gab es die Anweisung, nicht zu lange zu stehen.
„Dir auch ein schönes Hallo“, erwiderte Cathan schmunzelnd. „Und ich habe dir schon einmal gesagt, du sollst dir keine Sorgen machen, ich komme schon zurecht.“
Bis vor kurzem hatte Kieran nicht gewusst, was er darauf erwidern sollte, aber inzwischen war ihm die Schwachstelle seines Vaters bekannt: „Ich mache mir nur Sorgen, dass du nicht wieder gesund wirst und weiter Dämonen jagen kannst. Du weißt, dass ich eigentlich andere Sachen zu tun haben.“
Er appellierte nur ungern an das schlechte Gewissen seines Vaters, aber es funktionierte einfach hervorragend, wie er auch sofort an dessen schuldbewusstem Gesicht sah. Im nächsten Moment griff Cathan bereits nach seinen Krücken und humpelte damit zum Tisch, wo er sich auf einem der Stühle niederließ. Mit einer einladenden Handbewegung forderte er seinen Sohn auf, sich weiter um das Essen zu kümmern, was dieser auch sofort tat.
„Und wie war dein Tag bisher?“, fragte Cathan, nachdem Kieran eine Weile schweigend in der Soße gerührt hatte.
„Ganz normal, wie immer eben. Aber ich wollte heute Abend ins Kino gehen. Ist das okay?“
Sein Vater stieß ein schweres, schuldbewusstes Seufzen aus. „Du musst mich nicht fragen, du bist alt genug, um Entscheidungen für dich selbst zu treffen. Und ich nehme an, dass du es schaffst, deine Patrouille und den Kinobesuch unter einen Hut zu bekommen, so vernünftig bist du.“
Kieran gab ein zustimmendes Geräusch von sich. Um Erlaubnis zu bitten war auch nur seine Art, ihn davon in Kenntnis zu setzen.
„Manchmal denke ich, du bist zu vernünftig“, sagte Cathan nach einem kurzen Moment des nachdenklichen Schweigens.
„Wie meinst du das?“
„Du gehst zur Schule, kümmerst dich um mich und musst nebenbei auch noch gegen Dämonen kämpfen, weil ich das gerade nicht kann. Das ist sehr viel Verantwortung für jemanden in deinem Alter. Eigentlich für jemanden in jedem Alter.“
„Mir macht das nichts aus.“
Doch Cathan ignorierte seinen Einwand. „Du solltest eigentlich rausgehen und Spaß haben, dich mit Freunden treffen und dir eine Freundin suchen-“
„Ich treffe mich doch mit Freunden. Und nachher gehe ich ins Kino.“
„Du weißt genau, wovon ich spreche, Kieran.“
Er schwieg daraufhin. Natürlich wusste er, wovon sein Vater sprach, aber er besaß auch so gut wie keinerlei Interesse daran, zu viel Zeit mit seinen Freunden zu verbringen – abgesehen von Richard – oder sich gar eine Freundin zu suchen, schon allein wegen Richard.
Heute funktioniert das Ablenken von ihm wohl nicht.
„Du musst doch mehr wollen. Als ich in deinem Alter war-“
Kieran legte den Löffel, mit dem er gerührt hatte, ein wenig zu energisch auf der Spüle ab und unterbrach Cathan damit mitten in seinem Satz. Er drehte sich nicht zu seinem Vater um, als er widersprach: „Ich bin nicht wie du! Versteh das endlich!“
Vielleicht war er ein wenig zu laut geworden, aber wenn Cathan ihm einfach nicht zuhören wollte, blieb ihm kaum eine andere Wahl. Allerdings war er immer noch vernünftig, weswegen er nicht einfach die Flucht ergriff, sondern blieb. Wer sollte sich sonst darum kümmern, dass sein Vater nicht einfach wieder aufstand?
„Tut mir leid“, sagte Cathan schließlich. „Ich wollte nicht ...“
„Das Essen ist gleich fertig.“
Trotz allem war Kieran nicht vernünftig genug, das alles auszudiskutieren. Eigentlich wäre es ihm lieber, wenn sein Vater das Thema endlich sein lassen würde ... aber vielleicht sollte er dafür auch endlich damit aufhören, an sein schlechtes Gewissen zu appellieren.
Da Cathan wieder ins Schweigen verfiel, wanderten Kierans Gedanken erneut zu Richard und dazu, wie der gemeinsame Abend wohl verlaufen würde, wobei einige der Dinge, die er sich vorstellte, auch für immer in seiner Gedankenwelt bleiben sollte, wie er glaubte.
Kurz nach dem schweigsamen Essen hatte Kieran sich erst in sein Zimmer zurückgezogen, um seine, glücklicherweise wenigen, Hausaufgaben zu erledigen und direkt im Anschluss die Wohnung wieder zu verlassen. Dabei hatte er Cathan verständlicherweise nicht mehr gesehen und dieser gab auch keinen Ton mehr von sich. Lediglich der laufende Fernseher hatte Kieran verraten, dass er noch wach war. Er machte sich bereits ein wenig Gedanken darum, dass er seinen Vater derart vor den Kopf gestoßen hatte, immerhin machte dieser sich nur Sorgen um ihn. Beim Frühstück würde er sich erst einmal entschuldigen müssen, zumindest nahm er sich das vor.
Als er in der Bahn saß, die ihn zum Industrieviertel bringen sollte, holte er sein Handy hervor. Um diese Zeit befanden sich außer ihm nur wenige Personen im Abteil, die es ebenfalls in diesen Sektor verschlug, weswegen er sich nun darum kümmern konnte, herauszufinden, wo sich das Wesen befand, das er diesmal vernichten sollte. Woher genau die Informationen kamen, wusste er nicht, aber es kümmerte ihn auch nicht weiter, die Hauptsache war, dass er sie erhielt, aber das war nur auch mit einem Nebeneffekt verbunden: Kaum griff er auf den Server zu, begann das Display seines Handys stärker zu leuchten als sonst und es wirkte sogar als würden magische Funken davon sprühen. Wie es zu diesem Effekt kam, wusste er ebenfalls nicht, aber das war auch so eine Sache, die er einfach hinnahm. Manchmal glaubte er, dass es zu viele Dinge gab, die er nicht weiter hinterfragte, aber das war auch nicht seine Sache, wie er meinte. Er machte diesen Job immerhin nur vorübergehend, bis es seinem Vater wieder besser ging.
Das Display zeigte ihm eine Karte der Stadt, auf der sich verschiedene bernsteinfarbene leuchtende Punkte bewegten, für die er sich aber allesamt nicht interessierte. Laut der Erklärung seines Vaters handelte es sich hierbei um Menschen, aber warum nicht alle angezeigt wurden, verstand auch Cathan nicht und offensichtlich hatte er ebenfalls nie gefragt. Viel wichtiger waren aber die roten Punkte, die glücklicherweise seltener vorkamen und Dämonen symbolisierten.
Wie in den übrigen Nächten befand sich auch in dieser ein Dämon im Industrieviertel, um dort im Schutz der Dunkelheit und Einsamkeit einen verspätet heimkehrenden Menschen zu fangen und dann aufzufressen. Zumindest war es das, was die meisten Dämonen taten. Es gab auch einige, wesentlich weniger auffällige, die sich an bestimmte Menschen hingen und ihnen kontinuierlich die Lebensenergie absaugten. Einem solchen Exemplar war er bislang aber nur einmal begegnet.
„Nächster Halt: Industriegebiet.“
Gut, ich habe also anderthalb Stunden, bis ich am Kino sein muss. Das sollte ich schaffen.
Er trennte die Verbindung zum Server und steckte sein Handy wieder ein.
Der Industriebahnhof war ihm inzwischen derart vertraut, dass er sich selbst im Tiefschlaf noch durch diesen bewegen könnte. Ohne Umschweife begab er sich zu den Spinden und holte dort aus einem von ihnen seinen schwarzen Mantel und die Sporttasche heraus. Es war geschickter, sie an diesem Bahnhof zu lagern, wenn dafür schon die Möglichkeit existierte und machte es allzu neugierigen Personen außerdem schwerer, ihn aufzuspüren. Ein entscheidender Vorteil, wie er fand.
Erst nachdem er sichergestellt hatte, dass er alles bei sich trug, machte er sich auf den Weg, um den Dämon aufzuspüren.
Er widerstand der Versuchung, zu rennen oder auch nur zu joggen, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, auch wenn er nicht wirklich Zeit oder Geduld dafür hatte. Seine Gedanken waren immer noch bei seinem bevorstehenden Treffen mit Richard zu dem er sich auf keinen Fall verspäten durfte. Jemand hatte ihm zwar einmal gesagt, dass er nicht wegen einem Ausrutscher sofort in der Gunst seines Freundes fallen würde – aber er wollte es auch lieber nicht darauf ankommen lassen.
Derart in Gedanken versunken, fand er sich schließlich in einer einer menschenverlassenen Gegend des Viertels wieder, als die Stimme einer Frau, die einen Hilfeschrei aussandte, ihn aus seinen Überlegungen riss. Der Dämon musste bereits ein Opfer gefunden haben!
Ihm blieb keine Zeit mehr, lange darüber nachzudenken, was er tun sollte. Kurzentschlossen begab er sich, diesmal wirklich rennend, in die Richtung des Schreis, um der Person in Not zu helfen.
Doch als er die entsprechende Gasse erreichte, herrschte plötzlich eine geradezu gespenstische Stille. Außer ihm befand sich nur noch eine weitere Person hier – und es war mit Sicherheit keine, die Hilfe benötigte.
Die Frau, die mit verschränkten Armen vor ihm stand, trug einen Kapuzenpullover, aber die Kapuze war unten, so dass er die Katzenohren auf ihrem Kopf deutlich sehen konnte. Abgesehen von diesen und den grünen Augen mit den zu Schlitzen geformten Pupillen, wäre Kieran nie davon ausgegangen, dass es sich bei ihr um keinen Menschen handelte.
„Also ist es wahr“, stellte sie fest, als sie ihn sah. „Man erzählt sich, dass ein junger Jäger hier seine Runden dreht und prompt ist er auch schon da.“
„Gratuliere, du hast mich gefunden. Und was willst du jetzt von mir?“
Was er wollte, war auf jeden Fall eindeutig, er griff bereits nach dem Reißverschluss seiner Tasche, um nicht zu viel Zeit zu verlieren, aber vielleicht hatten die Dämonen jetzt doch beschlossen, zu verhandeln. Zwar war ihm immer gesagt worden, das würde niemals geschehen, aber das bedeutete ja nicht, dass es dabei bleiben musste. Er würde das sogar begrüßen, würde das doch immerhin einige seiner Probleme auf einmal erledigen – doch leider tat man ihm diesen Gefallen auch an diesem Tag nicht.
Plötzlich breitete sie die Arme aus, scharfe, stabil aussehende Krallen wuchsen aus ihren Fingern, während sie das Gesicht zu einem Grinsen verzog. „Dann lass mich dir zeigen, was ich mit denen anstelle, die meine Brüder und Schwestern töten!“