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Nosce te ipsum

Erkenne dich selbst!
von

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Als er die Augen aufschlug, befand er sich wieder in seinem alten Kinderzimmer.

Alles war da, wo er es in Erinnerung hatte; nichts fehlte, nicht einmal der kleine Schriftzug an der Tapete neben seiner Nachttischlampe. Damals hatte er mächtigen Ärger mit seiner Mutter gehabt, als er die frische Tapete mit Eyeliner und später mit Edding verziert hatte.
 

Wehmütig fuhr er über die Schriftzüge und dachte an den Tag zurück, an dem dieses „Wand-Tattoo“ entstanden war.
 

Wir hören nie auf zu schreien.

Von allem Leid wollen wir uns befreien.

Wir kehren zum Ursprung zurück –

Das ist unser letztes Glück.

Für immer jetzt; für immer dann

Zusammenhalt wie Yin und Yang.
 

Dass sowohl er als auch sein Bruder dort auf die Tapete geschrieben hatten, hatte bis jetzt noch keiner begriffen und Bill hielt es auch nicht für nötig, es irgendjemandem auf die Nase zu binden. Schließlich reichte es, wenn es ihm immer wieder vorgehalten wurde. Warum sollte er Tom da auch mit reinziehen?

Dass jedoch nicht mal ihre Mutter bemerkte (die eigentlich ihre Schriften sonst lesen konnte), dass es zwei unterschiedliche waren, überraschte ihn. Im Grunde unterschieden sich ihre Schriften genauso wenig wie ihr Äußeres. Er schrieb nur etwas schräger und runder als Tom, das war alles. Doch wenn man nicht genau hinsah, erkannte man den Unterschied auch nicht wirklich.

Er blickte nach unten und sah sich selbst in dem kleinen Bett liegen.
 

Was?
 

War er jetzt zum Geist mutiert? Aber müsste ihm dann nicht eher Tom erscheinen als er selbst?

Der zweite Bill unter ihm streckte sich aus und fuhr mit der Hand ganz von alleine über die geschwungene Schrift. Dann schlug er die Augen auf und gähnte.

Er stand von seinem Bett auf und setzte sich auf die Kante.

Ein Lächeln schlich sich auf seine nicht vorhandenen Lippen und verbreiterte sich, als er seinen Blick durch den Raum streifen ließ. Er liebte sein Zimmer und das natürliche Chaos, das hier herrschte. Hier wurde ihm nicht nachgeräumt, die Handtücher still gewechselt oder das Bett frisch gemacht. So wie er den Raum verließ, so fand er ihn auch später wieder vor… und das war das Schönste überhaupt!
 

Es war ein Déjà-vu des Tages, den er niemals in seinem Leben vergessen würde. Der Tag, an dem sich Tom und er sich wieder vertragen hatten. Das war ihm plötzlich klar.

Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus (auch wenn er nicht genau wusste wo, denn anscheinend hatte er ja keinen Körper), als er daran zurück dachte.
 

Er beobachtete sich selbst dabei, wie er sich fertig machte und sich lustlos schminkte. In dieser Zeit hatten sie neben der Karriere noch die Schule gehabt, ehe sie sich dazu entschieden hatten, dieser Hölle endlich zu entfliehen. Die Überzeugungsarbeit, die Tom und er damals geleistet hatten, bewunderte er noch heute. Doch an jenem Tag wusste er davon natürlich noch nichts.
 

Seit sie in getrennten Klassen waren, hatte sich auch ihr Freundes- und Bekanntenkreis deutlich getrennt. Natürlich hatte dieser sich durch den plötzlichen Erfolg eh minimiert, aber trotzdem unternahmen sie in der Schule relativ selten etwas zusammen. Sicher standen sie in den Pausen beieinander, doch eher aus Gewohnheit denn aus Solidarität. Es kam immer öfter vor, dass sie sich über Kleinigkeiten stritten, also gingen sie sich größtenteils aus dem Weg.

Und dann war vor wenigen Wochen noch dieses Mädchen aufgetaucht und hatte zu dem ersten, ernsthaften Zwillingsstreit seit langem geführt. Noch nie hatten ihre Meinungen so weit auseinander geklafft wie bei diesem Mädchen.
 

Als der Zweit – Bill aus seinem Zimmer ging und die Treppe runter polterte, begleitete er ihn, ohne groß drüber nachzudenken.
 

Unten in der Küche saß Tom mit ihrer Mutter. Er wusste noch ganz genau, wie zerrissen er sich an diesem Morgen gefühlt hatte; schon alleine der Anblick tat ihm weh und das, obwohl er sich nichts mehr wünschte, als diesen Streit endlich beizulegen. Doch dafür hatten sie beide zu viel gesagt… Worte, die gleichermaßen demütigten und wütend machten.

Bill marschierte an der Küche vorbei, zog sich Schuhe und Jacke an und rief:

„Bis später!“
 

Schnell verschwand er aus der Tür und ging den Weg zur Bushaltestelle nun das zigste Mal in diesen Tagen alleine.

Der Morgen an sich ist nicht weiter erwähnenswert, weil er wie immer verlief. Er wartete auf den Bus, irgendwann kam Tom dazu und zusammen stiegen sie ein. Er setzte sich an das Fenster, Tom an den Gang mit dem Rücken zu ihm und diese Ische auf dem Schoß. Dann waren sie auf den Schulhof und schon jetzt war die Laune des Schwarzhaarigen unter den Nullpunkt gerutscht.

Oh ja! Er konnte sich noch genau erinnern!
 

Er schaute Tom und seiner neuen Eroberung lange nach und fragte sich warum sein Zwilling gegen alle Vernunft handelte. Wieso war er so beratungsresistent und hörte nicht einmal mehr auf ihn?

Und durch seine Unaufmerksamkeit lief er in den Schulschläger schlecht hin hinein. Natürlich blühte ihm jetzt das ganze Maß an Aufmerksamkeit, die er eigentlich nicht gewollt hatte. Vor allem nicht heute…
 

„Sag mal, bist du lebensmüde, du Schwuchtel?“
 

„Nö… das wüsste ich!“, presste er hervor und wollte sich zum gehen wenden.
 

Aber zu spät; der Rest der coolen Bande hatte ihn eingekreist. Und schneller als man gucken konnte, hatten die beiden die Aufmerksamkeit des gesamten Schulhofes erlangt.
 

„Oh, heute wohl ein ganz Lustiger, was? Ich hätte nicht gedacht, dass du ohne dein Brüderlein so große Töne spuckst!“
 

Bill schnaubte. „Lasst mich durch,… ich hab grad echt keinen Nerv für euch!“
 

„Uhh… habt ihr das gehört? Wir kosten ihn Nerven!“
 

„Ja! Und du brauchst mir nicht alles nachplappern… und jetzt mach Platz!“
 

Er wollte sich zwischen den anderen durchdrängen, doch er wurde zurückgeschubst.
 

„Jetzt hör mal zu, du Witzbold, wenn du weiter so eine dicke Lippe riskierst, wird ich dir leider das Maul stopfen müssen!“
 

„Versuch es doch mal, du Vollpfosten! Aber stolpere nicht über deine eigenen Füße!“
 

Er sah zu, wie der zweite Bill – sein damaliges Ich – sich anspannte und wusste noch genau, wie sehr sein Herz in diesem Moment geschlagen hatte und wie viel Panik er gehabt hatte. Natürlich war es nicht das erste Mal, dass er sich geprügelt hatte, doch es war das erste Mal, dass Tom nicht bei ihm war. Und das hatte ihm wirklich Angst gemacht…
 

„Du Arschgesicht!“, brüllte der Supercoole auf und rammte ihn die Faust in den Magen. Die Wucht raubte ihm den Atem, ließ ihn Sterne sehen und ohne es zu wollen, ging er vor dem Widersacher in die Knie und keuchte.
 

Verschwommen sah er, wie der andere plötzlich von hinten gepackt und zurückgezogen wurde und dann war Tom da. Er schlug den Anführer ins Gesicht und trat ihn seitlich gegen das Knie, sodass der unter Schmerzensschreien zusammenbrach.
 

Ehe Bill es wirklich richtig realisiert hatte, befanden sich die beiden in einer Schlägerei, die erst durch einen Lehrer getrennt wurde. Nur kurz hatte er sich auf seine viel zu schwachen Beine stellen und seinen Zwilling helfen können, bevor er durch einen zweiten Schlag wieder auf den Boden geschickt worden war.
 

Der Lehrer, der jäh aufgetaucht war, zerrte sie auseinander und schrie irgendwas von Nachsitzen, während die anderen sich auflösten. Der Kampf war vorbei.

„Du bist so bekloppt, Mann…“, murrte Tom und wischte sich das Blut vom Gesicht. Seine Lippe war aufgeplatzt wie eine reife Banane und über seiner Augenbraue klaffte eine kleine Platzwunde.

„Tut mir leid… ich wollte nicht, dass du da mit reingezogen wirst“, sagte er atemlos und meinte es absolut ernst. Mit schmerz verzogenen Gesicht drehte er sich auf die Seite, um sich aufzusetzen, schaffte es aber nicht.
 

„Wenn du das wirklich ernst meinst, bist du noch bekloppter, als ich dachte, ey!“, lachte Tom plötzlich. Es war das erste Mal seit fast dreizehn Tagen, dass er seinen Bruder so befreit lachen hörte.
 

Er ging um ihn herum und half ihm mit sanfter Gewalt sich aufzusetzen.

„Alles klar soweit?“
 

„Ja… denke schon“, antwortete der Schwarzhaarige und sah seinem Zwilling in die Augen. Das reichte. „Warum hast du mir geholfen?“
 

„Zusammenhalt wie Yin und Yang, weißt du noch? Also komm endlich“, meinte Tom nur und hielt ihm seine Hand hin.
 

°
 

Nur langsam tauchte er von der Vergangenheit ein in die Realität.

Bill erwachte langsam aus seinem Tiefschlaf und schluckte, sein Hals kratzte. Er fühlte sich genauso wund an wie der Rest seines Körpers.
 

„Tom…“, nuschelte er verwaschen.
 

„Herr Kaulitz? Sind Sie wach? Wie geht es Ihnen?“, sprach ihn plötzlich jemand von der Seite an. „Wenn Sie mich hören, versuchen Sie, die Augen zu öffnen!“

Er versuche zu gehorchen, wurde aber von seinen Augenlidern daran gehindert, die sich anfühlten, als wären sie zusammengeklebt worden.

„Herr Kaulitz? Haben Sie Schmerzen?“, fragte ihn die fremde Stimme noch einmal.
 

„Ne…fühl mich nur so schlapp“, antwortete er leise und versuchte erneut die Augen zu öffnen. Dieses Mal klappte es besser.

Unscharf und verschwommen nahm er die Gestalten um sein Bett herum wahr. Der Arzt im weißen Kittel stand nahe bei ihm und beugte sich vor. Hinter dem Mann glaubte er die Schemen seiner Mutter zu sehen.

Aber wo war Tom?
 

„Das ist normal. Wir haben Sie eine Woche lang in eine Art Koma versetzt, damit Ihr Wunden heilen konnten.“
 

Bill nickte, ohne den Sinn der Worte wirklich zu realisieren und drehte den Kopf zur anderen Seite, in der Hoffnung, seinen Zwilling dort zu sehen.
 

„Ich bin hier, Bill“, kam es rau vom Kopfende des Bettes.
 

Sofort drehte er den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam und Sekunden später blickte er in die Gegenstücke seiner Augen. Er sah sie nur verschwommen, aber sie waren da.
 

„Tom…“, krächzte er und bemerkte wieder, wie trocken sein Hals eigentlich war.

Sein Zwilling, der seinen inneren Wunsch sofort erkannt hatte, kam um das Bett herum und nahm ein Glas und eine Flasche Wasser vom Nachttisch. Während er einschenkte, ließ Bill ihn nicht aus den Augen. Das Geräusch des Wassers, welches mit Schwung in das Glas geschüttet wurde, jagte pures Adrenalin durch seine Adern, ohne dass er wusste warum. Sein Herz stolperte, doch dann kam der Ältere näher und führte das Glas an seine Lippen.

Er legte seine Hand auf das Gelenk des anderen und trank gierig das Glas aus. Es tat so gut, das kalte Wasser seine Kehle hinab fließen zu fühlen.

Als das Glas geleert war, stellte Tom es beiseite, ließ aber seine Hand nicht los.

Mit seiner letzten Kraft zog er den anderen zu sich, um ihn genauer sehen zu können. Er kam der Bitte nach und Bill erkannte, wie erschöpft und ausgelaugt er eigentlich aussah. Und trotzdem spiegelte sich Erleichterung und Hoffnung in den dunklen Augen seines Ebenbildes.

Erst jetzt bemerkte er den weißen Verband, der die Hand seines Bruders zierte.

„Was ist da passiert?“

„Nicht so wichtig… ist im Eifer des Gefechts passiert“, meinte Tom schulterzuckend. „Viel wichtiger ist, dass du wieder wach bist!“

Bill versuchte zu lächeln, begriff aber schnell, dass der andere das durch die Bandagen gar nicht sehen konnte. Dieser Gedanke brachte ihn in die Situation zurück.

„Wann bekomme ich die Bandagen ab?“, fragte Bill ihn.
 

Der Arzt lächelte milde. „Heute Nachmittag. Und nun schlafen Sie noch ein wenig, ich komme später noch einmal zu Ihnen.“
 

Der Schwarzhaarige nickte müde und sah, wie der Arzt das Zimmer verließ. Das Sehen in dieser Entfernung strengte ihn extrem an, deswegen schloss er die Augen einfach und drückte die Hand seines Zwillings sanft.

„Bleibst du hier?“

„Klar, wenn du es willst.“

„Ja.“

Es dauerte nicht lange, bis er wieder einschlief
 

Als er das nächste Mal erwachte, waren mehr Leute im Raum als das letzte Mal. Alle waren gekommen, um ihn beizustehen. Zuerst kamen Georg und Gustav an sein Bett und begrüßten ihn, ehe sie sich etwas im Zimmer zurückzogen. Dann kamen David und Gordon, um ihm ihren Mut zuzusprechen.
 

„Hallo mein Schatz“, flüsterte seine Mutter erstickt und unter Tränen. „Wie geht es dir?“
 

„Müde, aber gut“, erwiderte er leise.

Sie küsste seinen Handrücken und setzte sich neben Tom auf die andere Seite des Bettes.

Sein Zwilling war bei ihm geblieben und hielt auch jetzt wieder seine Hand.
 

„Bist du bereit?“
 

„Nein“, flüsterte er und schloss die Augen. Er hatte Angst vor den Reaktionen seiner Freunde, seiner Familie… doch vor allem vor der von Tom.
 

Was passierte, wenn er jetzt alles verlor? Was wenn nicht nur seine Karriere zu Ende war, sondern er auch alle Menschen verlor, die er liebte?
 

Die Tür ging auf und Bills zuständiger Arzt und eine Schwester traten ein. Beide lächelten ihm aufmunternd zu und traten an das Bett heran.
 

„Wir nehmen Ihnen jetzt die Verbände ab, einverstanden?“, vergewisserte sich der Arzt freundlich und der Angesprochene nickte. Die Krankenschwester setzte die Schere an, durchschnitt das Klebeband und begann, den Verband vom Kopf abwärts zu entfernen.

Bill hielt den Atem an und sein Herz begann schneller zu schlagen. Alles in ihm sträubte sich vor dem, was gerade hier geschah.
 

Die Besucher hielten den Atem an. Zuerst zeigte sich Bills schwarzer Schopf, dann kam die Stirn zum Vorschein: Sie wies eine runzlige, etwas gerötete Haut auf. Er keuchte, als sein sensibles Gesicht entblößt wurde…
 

„Oh mein Gott“, flüsterte David, als Stück für Stück Bills Gesicht zu sehen war.

Das Einzige, was man noch von seinem alten Aussehen erkennen konnte, waren die Ansätze der Augenbrauen, auf denen sich nur noch wenige kleine Härchen befanden und seine Gesichtsform. Der Rest seiner oberen Gesichtshälfte war unter der Säure geschmolzen. Rote, rohe Haut und Narbengewebe zeichneten sich um seine Augen, seine Schläfen und seine Wangen. Die Säure war an den Seiten seines Halses hinab gelaufen und hatte dünne Rinnsale von Narbengewebe auf seinen Hals gezeichnet. Sein rechtes Auge war trüb und am äußersten Rand von einer dünnen Hautschicht überzogen. Seine Nasenform war zwar durch die Not-OP erhalten worden, sah aber trotzdem eher aus wie ein Abklatsch ihrer vorherigen Gestalt. Die Lippen waren mit das einzige in seinem Gesicht, was von der Säure unangetastet geblieben war. Neben ihnen zog sich eine dicke Wulst aus Haut, dort wo die geschmolzene Haut in seine gesunde überging. Sein Kinn und die Vorderseite seines Halses waren unangetastet…
 

Simone schlug sich die Hand vor den Mund, schüttelte den Kopf und weinte leise an Gordons Schulter. Sie drehte ihm den Rücken zu. Ihre Reaktion versetzte Bill einen scharfen Stich ins Herz. Auch die geschockten Blicke von seinen Bandmitgliedern konnte er spüren, auch wenn er nicht scharf sehen konnte.

Er senkte rasch den Blick, denn er ertrug die schockierten Gesichter seiner Freunde nicht mehr. Er drückte die Hand, die immer noch in seiner lag, noch einmal und sah dann fast schüchtern zu seinem Bruder hinüber.

Tom saß steif da und verzog keinen Gesichtsmuskel. Die versteinerte Miene war auf sein Gesicht gerichtet und auch wenn weder Mitleid noch Entsetzten darin zu lesen war, tat es ihm weh.
 

„Geht“, bat Bill sie leise.
 

„Aber Bill “, sagte Gordon und trat auf ihn zu. „Wir …“
 

„Ihr sollt verschwinden! SOFORT!“

Er spürte Hysterie und Tränen in sich aufsteigen und deutete mit zittriger Hand auf die Tür.
 

Tom reagierte als Erster und nickte seinen Bruder stumm zu. Er kümmerte sich um ihre Eltern, David, Georg und Gustav und beförderte sie augenblicklich aus dem Krankenzimmer.
 

„Spiegel. Geben Sie mir den verdammten Spiegel!“, schnauzte der Schwarzhaarige den Arzt an, der dem Befehl nachkam. Den Spiegel in der Hand atmete Bill tief durch und führte ihn in Richtung Gesicht. Und als er sich das erste Mal darin betrachtete, blieb ihm fast das Herz stehen.

Das war nicht er! Die Person, die ihm entgegen blickte, war ein Monster!

Bills Augen begannen noch mehr zu brennen, seine Schultern fingen an zu zucken und ein verzweifeltes Schluchzen kämpfte sich aus seiner Kehle. Hemmungslos fing er an zu weinen und schaffte es nicht, sich zu beruhigen.

Die Hysterie und die Verzweiflung, die in ihm tobten, schienen kaum Platz in seiner Brust zu haben. Keuchend holte er Luft und schluchzte erneut auf.
 

„Bitte, Herr Kaulitz! Beruhigen Sie sich doch! Sie müssen Ihrem Gesicht noch etwas mehr Zeit geben! Die neue Haut ist noch ziemlich angeschwollen und gerötet …“, beschwichtigte ihn der Arzt.
 

„Und wenn meine neue Haut ausgeheilt ist?“, blaffte er ihn schluchzend an. „Sehe ich dann besser aus? Kann ich je wieder so aussehen wie früher?!“

Er sah sich mit dem bedauernden Blick des Arztes konfrontiert und das reichte.
 

„Verschwinden Sie! Sie beide!“

Die beiden blickten ihn noch entsetzter an.

„RAUS HAB ICH GESAGT!“

Sie verschwanden ohne ein weiteres Wort.
 

Jetzt war Bill alleine, alleine mit sich und seinem entstellten Gesicht. Er schluchzte wieder trocken auf und wünschte sich, bei diesem Anschlag nicht überlebt zu haben.
 

°
 

Inzwischen waren mehr als drei Wochen vergangen und es war das eingetreten, was alle bereits gefürchtet und geahnt hatten. Bill Kaulitz hatte sich sowohl aus der Öffentlichkeit als auch aus seiner Arbeit komplett zurückgezogen. Nach der Kündigung – die er David wütend und verzweifelt entgegengeschrien hatte, als dieser versucht hatte, mit ihm zu reden - war das der letzte Kontakt, den Universal mit ihm hatte. Natürlich nahm keiner diese Worte wirklich ernst, doch bis jetzt hatte der Schwarzhaarige jegliche Kommunikation mit seinen Managern verweigert. Das hieß, vorerst mussten alle das akzeptieren, wovon keiner jemals gedacht hätte, dass es so schnell wieder eintreten würde… Tokio Hotel pausierte.
 

Bill bewohnte das von ihnen gekaufte und umgebaute Loft etwas außerhalb von Hamburg. Seit Wochen hatte er sich darin zurückgezogen und nicht einmal seine Eltern hineingelassen, als diese ihn besuchen wollten. Niemand bekam mehr einen Zugang zu dem völlig verzweifelten jungen Mann. Nur seine Hunde durften mit ihm in einem Haus leben, ohne regelmäßig seine geballte Wut ab zu bekommen. Seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus war er weder ausgegangen noch hatte er anders Kontakt zu der Außenwelt gesucht. Alle Spiegel waren entweder mit einem Laken verhangen oder zerbrochen, denn Bill ertrug seinen eigenen Anblick nicht mehr. Es war stetig dunkel im Haus, da er die Jalousien nie hochzog. Er lebte in Dunkelheit und Verzweiflung.

In ihm tobte ein Kampf der Extreme und wenn er nicht völlig zusammenbrach und weinte, dann wütete er durchs Haus und ließ all seinen Hass und seine Verzweiflung an dem Mobiliar aus. Nachts hatte er mit Alpträumen und Angstzuständen zu kämpfen, die ihn noch reizbarer machten, da er niemals unausgeschlafener gewesen war.

Nur sein Zwilling und seine Hunde tolerierte er in seiner Nähe. Ohne Tom wäre er wohl schon nach den ersten Tagen verdurstet und verhungert. Immer wieder drängte der Ältere ihn dazu, zu trinken und etwas zu sich zu nehmen. Er umarmte ihn, wenn er völlig neben sich stand und wieder einmal in blanker Panik im Bett weinte und er war dabei, wenn er durch das Haus wütete. Er ließ sich anschreien, beschimpfen, treten und schlagen; trotzdem kam er immer wieder zurück.

Oft bewunderte Bill seinen Bruder für diese immense Geduld, wenn er klare Phasen hatte. Vor allem, weil es sonst eher nicht die Art des anderen war… Er war sich sicher, wenn Tom sich ihm gegenüber so verhalten hätte, wäre er schon nach einer Woche geflüchtet und nicht zurückgekehrt.

Aber das waren nur Vermutungen; wer wusste schon, was passiert wäre, wenn die Situation anders wäre?

Entscheidend war, dass nicht einmal Scotty, Case, Kira und Shira es in seiner Nähe aushielten, wenn er seine „Anfälle“ hatte. Sie zogen sich zurück und kamen erst wieder zu ihrem Herrchen, wenn dieser sich beruhigt hatte.

In schlimmen Depressionen gefangen saß er auf der Kante seines Bettes. Er starrte vor sich hin und streichelte wie automatisiert über den Kopf seiner Dackeldame. Schon seit den frühen Morgenstunden saß er hier und kämpfte mit seinem Gedankenkarussell. Seit seinem letzten Traum quälten ihn die Ideen seines eigenen Freitodes, die nach Betracht seiner jetzigen Situation immer schlüssiger wurden.

Was hatte sein Leben auch noch für einen Sinn?

Sein Traum, sein Leben… alles war mit einem Schlag vorbei. Er war nicht mehr der, der er noch vor wenigen Monaten war. Es war alles vorbei…

In dieser Spirale befand er sich und drehte sich mit ihr immer tiefer in die Schwärze seiner Mordgedanken. Als die alte Uhr im Flur (die sie von ihrer Uroma geerbt hatten) neun zu schlagen begann, hatten diese Gedanken bereits ernsthafte Gestalt angenommen.

Sanft drückte er Shira an sich und gab ihr ein Kuss auf den Kopf.

„Sag Tom, dass ich ihn lieb habe, ja? Und euch liebe ich auch…“, sagte er zu der Hündin, die merklich unruhiger wurde.

Dann ging er ins Badezimmer und sah auf den Boden, wo die Scherben des zerbrochenen Spiegels noch lagen. Heute Nacht war auch der letzte Spiegel in diesem Haus zu Bruch gegangen. Ohne weiter zu überlegen, schloss er ab und ging auf den Haufen zu. Bill ließ sich inmitten von den Scherben nieder.

Sie könnten sein Leben darstellen… auch das war nun ein Scherbenhaufen!

Durch die Jalousie des Fensters schien ein dünner Sonnenstrahl auf das Glas und ließ es wie ein Regenbogen strahlen. Das Licht, das sich an den gezackten Rändern brach, blendete ihn und rief ihm einer Textzeile in Erinnerung, die er damals geschrieben hatte:

Du suchst den Regenbogen – er liegt tot vor dir am Boden.

Er hat, so lang es ging gestrahlt, nur für dich!
 

Was für ein Hohn!

Damals hatte er keine Ahnung gehabt, was Scherben und Tod waren!

Ohne darüber nachzudenken, nahm er die größte der Scherben in die Hand und begutachtete erst sie und dann sein Handgelenk. Ob es reichte?

Seine Gedanken drifteten wieder ab und wie von selbst führte er die Waffe in die richtige Position. Das Glas zitterte in seinen Fingern.

„Bill? Bill! Bist du da drin?“

Das war Tom. Wo kam er nur so plötzlich her?

Er war doch die ganze Nacht nicht hier gewesen.

„Bill! Mach die Tür auf, Bill!“

Unruhig blickte er nach unten auf die Scherbe, in der er sich selbst sah. Aber das war nicht er… dort war keine Ähnlichkeit mit ´Bill´ mehr zu erkennen.

„BILL! Mach diese scheiß Tür jetzt auf oder ich tret sie ein!“, schrie Tom und er hörte deutlich die Panik in der Stimme seines Bruders.

Entfernt konnte er das aufgeregte Bellen seiner Hunde hören und lächelte schief. Es rumpelte an der Tür und die Klinke wurde mehrmals hintereinander runtergedrückt. Bill drückte indes die Scherbe fest an seine Haut und schloss die Augen. Frei sein –

Dann war ein lautes Krachen zu hören, das ihn endgültig aus der Schwärze riss. Die Tür sprang auf und Tom stolperte ins Zimmer. Das Holz hing bedenklich schief, als der andere auf ihn zulief.

Bill brauchte seinen Zwilling nur anschauen und schon erstarb jeder Drang in ihm, sich umzubringen. Wärme und Zugehörigkeit füllten seine Brust und veranlassten ihn, die Scherbe beiseite zu werfen und aufzuspringen.

Wie war er je auf die Idee gekommen, Tom alleine zu lassen?

Sie wollten doch zusammen in die Nacht gehen!

Der Schwarzhaarige segelte in die Arme seines Bruders, der durch die Wucht der Umarmung an den Türrahmen geschleudert wurde. Doch das hielt Tom nicht davon ab, fest seine Arme um ihn zu schlingen. Und in dieser Umarmung fiel der Rest seiner Schlechtigkeit weg. Alle bösen und schwarzen Gedanken waren plötzlich unwichtig, als er sich an Tom schmiegte und seine Finger krallten sich in das weite T-Shirt. Bill spürte den rasenden Herzschlag des anderen unter seinen Händen und bekam sofort ein schlechtes Gewissen.

Wie sehr hatten seinen Bruder wohl seine Gefühle gequält? Ob er eine Intuition gehabt hatte? War er deswegen so schnell nach Hause gekommen?

„Wenn du mir noch einmal so einen Schrecken einjagst, muss ich dich leider erwürgen“, krächzte Tom heiser.
 

„Es tut mir so leid“, wisperte er und umarmte seinen Bruder mit aller Kraft zurück. Tom ließ es geschehen und strich ihm über seine Haare.

Allein diese Berührung reichte, um Bills Inneres völlig ruhig zu stellen und sein Herz wieder in einen normalen Rhythmus zu bringen.
 

„Lass uns rüber gehen, okay? Du bist barfuß…“

Dieser Umstand war ihm selber noch gar nicht aufgefallen, doch als Tom ihn mit sanfter Gewalt zurück in den Schlafraum drängte, ließ er es geschehen. Er ließ sich aufs Bett bugsieren und ließ fast willenlos geschehen, dass der andere seine Fußsohlen inspizierte. Aber anscheinend fand er dort nichts Beunruhigendes. Er lehnte sich in die Kissen, ließ sich zudecken und schloss kurz die Augen.

Er spürte Shira, die zu ihm aufs Bett hopste und begann sie fast sofort zu kraulen, bis er merkte, dass Tom den Raum verlassen wollte.

„Wo willst du hin?!“

„Ich mach uns was zu essen und räum die Scherben weg“, sagte der andere leise. „Entspann dich… ich bin hier. Wenn irgendwas ist, ruf einfach, okay?“

Auch wenn er nicht begeistert war, er nickte. Alles andere wäre lächerlich.

„Und du passt gut auf ihn auf, ja?!“, befahl er dann der Dackeldame und streichelte diese lächelnd.

Danach ließ er seinen Bruder mit seinen Gedanken allein. Diese waren zwar klarer als noch vor einer halben Stunde, schienen aber trotzdem noch in einer Endlosschleife zu laufen. Das dämmrige Licht trug dazu bei, dass Bill zwischen Traum und Wachzustand hin und her driftete und so die Wartezeit überstand, ohne sich um irgendetwas Spezielles Gedanken zu machen.

Aus seinem Dämmerschlaf wurde er durch die Matratze gerissen, die sich unter dem Gewicht seines Zwillings senkte. Blinzelnd sah er zu Tom auf und setzte sich hin.

„Hier.“ Tom stellte das beladene Tablett auf seinen Schoß und ging zum Fenster. Dann zog er ohne eine weitere Warnung die Jalousien hoch. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages drangen in das Zimmer und erleuchteten die hellen Tapeten.
 

„Warum machst du das?“, fragte Bill, ohne ihn dabei anzusehen.
 

„Wenn du so weitermachst, wirst du noch lichtscheu… Mann, Bill , warum tust du dir das an? So schlimm siehst du auch wieder nicht aus“, seufzte er.
 

„Lüg mich nicht an, Tom“, konterte der Angesprochene. „Ich weiß, wie hässlich ich aussehe!“
 

„Du blöder Hornochse, ey…“, meinte der Ältere und kam zu ihm rüber. „Seit wann musst du dich vor mir schämen? Habe ich dir jemals einen Grund dazu gegeben?“

„Nein.“

Und das stimmte auch. Tom war es gewesen, der ihm in den ersten Tagen das Gesicht mit der schmerzstillenden Creme eingerieben hatte, als er es noch nicht ertragen konnte, sich selbst zu berühren. Es war auch sein Bruder gewesen, der ihn vor der Presse verteidigt und alle Angelegenheiten für ihn geklärt hatte. Und trotzdem kam er sich auch vor ihm seltsam entblößt vor, wenn es taghell im Zimmer war.

„Warum siehst du mich dann nicht an?“ Er hatte sich neben Bill aufs Bett gesetzt.

„Es tut weh, Tommy… ich…“ Bill stockte kurz und musste schlucken. „Ich ertrag es einfach nicht, wenn mich die anderen so ansehen. So mitleidig und verabscheuend. Ich habe einfach Angst, dass es bei dir irgendwann auch so wird.“

„Scheiß doch drauf, was die anderen denken! Außerdem würde ich dich nie so ansehen, das weißt du! Und wenn dich jemand blöd ansieht, dann frag ihn einfach, ob er ein Problem hat. Das würde ich an deiner Stelle tun.“
 

„Du bist aber nicht an meiner Stelle, Tom. Und du weißt auch nicht, was für ein beschissenes Gefühl das ist, als Monster bezeichnet zu werden!“, schnappte Bill.
 

„Was? Wer hat dich als Monster beschimpft?“, riss der Hopper die Augen auf.
 

„Es war ein kleines Mädchen – im Empfang von dem Krankenhaus, als du Saki angerufen hast…“
 

Tom seufzte. „Kinder können manchmal so grausam sein.“
 

„Grausam?“ Er lachte freudlos auf. „Nein, sie sagen nur die Wahrheit. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Fremde immer die Wahrheit sagen. Freunde und Verwandte lügen in der Schuld von Liebe… weil sie einen nicht verletzten wollen. Und das stimmt doch oder?“

Und ehe er sich versah wurde er von Tom an den Schultern gepackt und zu dem trostspendenden Körper gezogen. Geistesgegenwärtig rettete er das Tablett davor umzukippen und schob es von sich, ehe er sich an seinen Zwilling klammerte.

Es war selten, dass Tom sich so rührend um ihn gekümmert hatte… aber das alles war auch eine Ausnahmesituation. Sicher hatte sein Bruder genauso viel Angst wie er. Auch wenn es sicher aus einem anderen Grund war.

Am liebsten wäre er für immer so geblieben.
 

„Iss was, Bill .“
 

„Ich hab keinen Hunger.“
 

„Du musst etwas essen und wieder zunehmen.“ Tom klang nun mehr als besorgt. Der Schwarzhaarige sah endlich zu dem anderen auf. Und als sein Bruder seinen Blick erwiderte, erkannte er sofort, dass Tom zum ersten Mal direkt in den Abgrund seiner Seele blicken konnte, der sich vor zwei Monaten dort aufgetan hatte. Und er schreckte davor zurück. Die bodenlose Schwärze, die in dieser Gegend herrschte, war mehr als nur leer und auch Bill hatte furchtbare Angst vor ihr.

Was, wenn sie ihn einfach verschluckte?

„Bill?“

Es war nur die Erwähnung seines Namens und doch steckten so viele Fragen in diesem einen Wort.
 

„Ich will nicht mehr – ich kann nicht mehr“, beichtete Bill mit erstickter Stimme und vergrub sein Gesicht wieder in der Halsbeuge Toms, um das Entsetzen nicht in den Augen seines Bruders sehen zu müssen. Doch er merkte, wie sich der Körper des Älteren versteifte.
 

„Sieh mich an.“
 

Bill reagierte nicht, als er an den Armen gepackt wurde.
 

„Sieh mich an!“, befahl Tom ihm harscher und endlich konnte er aufsehen. „Hör mir genau zu… Ich kann zwar nicht nachempfinden, wie du dich fühlst, aber ich mache mir ernsthafte Sorgen um dich. Wenn du nicht bald wieder du selbst wirst und einen Weg findest, mit all dem klarzukommen, werde ich nachhelfen. Verstanden? Und du weißt hoffentlich, dass ich das ernst meine. – Hat dieser Dr. Bartsch dir nicht einen Termin bei einem der besten Psychiater verschafft?“, erinnerte sich Tom dann dunkel daran.
 

„Ja, hat er, aber ich bin nicht hingegangen.“
 

„Bill!“
 

„Tom!“, schrie er verzweifelt zurück. „Ich brauche noch Zeit, verstehst du?! Ich bin noch nicht so weit, mit einem wildfremden Menschen über mein …- wenn, dann will ich nur mit dir darüber reden…“
 

„Okay, okay“, lenkte der andere sofort ein und zog ihn wieder näher an sich. „Ich bin immer da und hör dir zu, ja? Du musst nur Bescheid sagen…“
 

„Hm…“, wisperte er bestätigend zurück und schmiegte sich wieder an den anderen.

Einen Moment herrschte Stille. Bill hatte die Augen geschlossen und genoss die Geborgenheit, die ihm im Moment nur sein Zwilling schenken konnte. Nur bei ihm konnte er vergessen was passiert war…

„Hey… nicht einschlafen. Du sollst was essen“, sagte Tom. „Ich sehe nicht ein, warum ich mich hier umsonst in die Küche gestellt habe. Also probier wenigstens mal, okay?“

„Okay… aber auf deine Verantwortung! Wehe, ich muss mir danach den Magen auspumpen lassen!“
 

°
 

Da Bill sehr wortkarg war und auch Tom nicht viel zu sagen hatte, ließen sie das Fernsehen das Sprechen übernehmen. Er hatte den Teller nur bis zur Hälfte geschafft, aber der andere schien zufrieden damit zu sein. Jedenfalls zeigte das die Tatsache, das er sich an die seine Schulter lehnen durfte.

Sein Bruder würde diese Nähe nie zulassen, wenn er über irgendetwas unzufrieden war.

Bill konnte sich nicht wirklich auf den Film konzentrieren. Er spürte die Wärme seines Zwillings und ließ sich von der Atmung des anderen beruhigen. Wenn er hier so neben Tom lag und seine Nähe fühlte, war es fast, als wäre niemals etwas passiert. Es war beinahe normal…

Und das war das schöne.

Früher hatten sie diese Zwillingsmomente oft erlebt; vor allem vor ihrer Karriere. Doch als dann die ganze Sache mit Tokio Hotel angelaufen war, hatte sich das automatisch eingestellt. Auch, weil es kaum noch Zeiten gab, wo sie vollkommen unter sich waren und dann waren noch all die Frauengeschichten dazu gekommen -

Die Zweisamkeit wurde von einem Klingeln unterbrochen.

Tom richtete sich auf und angelte in seiner tiefen Hosentasche nach seinem Handy, während er das Fernsehen auf stumm stellte.
 

„Ja?“, meldete sich sein Burder. „Oh… hi. Ja, ich bin bei ihm. Hm… klar. Was ist denn passiert?...- was? Ja, klar mach ich… bis gleich.“

Tom beendete das Telefonat und sah Bill an. „Das war Gordon. Mom geht es wohl nicht so gut, er meinte, ich sollte mal vorbei kommen und…- willst du mitkommen?“

„Das kann ich nicht…“

„Okay… aber stell keinen Mist an, wenn ich weg bin, klar?!“
 

„Mach ich nicht“, versprach Bill und versuchte missglückt zu lächeln.

Er wollte nicht, dass Tom ging. Immer wenn er weg war, kam die Dunkelheit zurück und nahm ihn wieder gefangen. Und das war alles viel-
 

„Hey… ich bin in ner halben Stunde wieder da“, schien sein Zwilling wie so oft seine Gedanken lesen zu können. „Schau einfach noch ein wenig fern und die Zeit vergeht von ganz allein.“
 

„Hast Recht.“ Bill sah zu, wie sich der andere seine Hoodie anzog und sein Handy in die Tasche steckte. In ihm wuchs der immer stärkere Wunsch, ihn aufzuhalten und anzuflehen, hier bei ihm zu bleiben. Doch das war lächerlich…

Er war lächerlich!
 

„Bis dann und mach keinen Blödsinn.“ Warnend sah Tom ihn an, bevor er das Zimmer verließ und nur Leere und Schwärze übrig blieben.
 

„Mach dich nicht lächerlich…“, sprach er mit sich selbst und schüttelte sich das Kissen wieder zurecht. Irgendwie würde er die Zeit hier schon rum kriegen.

Als die Tür ins Schloss fiel, stellte er das Fernsehen wieder auf laut und versuchte das Gefühl von Einsamkeit zu unterdrücken.

Er zappte ziellos durch die Kanäle. Seine Gedanken waren ganz weit weg und fühlten sich genauso fremd an wie sein Körper.

Und dann sah er sein Gesicht.

Erstaunt stellte er zurück und landete in den Nachrichten, die er an dem Laufbalken im unteren Bild erkannte.
 

„Schon fast zwei Monate ist es her, dass der Anschlag auf den Frontmann von Tokio Hotel ausgeführt wurde“, begann die Nachrichtensprecherin das Thema. Im Hintergrund war noch immer sein Bild zu sehen. „In den neuesten Polizeiermittlungen kam heraus, dass Ian Debusher schon vor seiner Tat in einer psychiatrischen Anstalt eingewiesen wurde. Die Verteidigung plädiert auf Unzurechnungsfähigkeit… ob das alles vor Gericht Bestand hat, wird der weitere Verlauf zeigen.“

Völlig erstarrt saß er auf dem Bett und blickte auf den Bildschirm. Jetzt wurde ein Video eingeblendet, das seinen Peiniger zeigte, der von zwei Polizisten in ein Gericht geführt wurde. Er hatte seine Kapuze tief in die Stirn gezogen.

„In der Anhörung heute soll ein Psychologe die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten ermitteln, der zu allen Anschuldigungen nur hämische Bemerkungen fallen ließ“, berichtete die junge Frau weiter. „Im Moment ist der Auslöser für diese abscheuliche Tat noch völlig unklar, wie die Polizei bestätigt. Doch was geht wirklich in den Angeklagten vor? Und wie geht es Bill Kaulitz, der seit diesem Attentat nicht mehr gesehen wurde?! -“

Bill stellte das Gerät aus, ohne seine Augen von dem schwarzen Bildschirm zu lösen. Alles in ihm schien zu Eis erstarrt zu sein. Tränen liefen über seine Wangen und seine Schultern zuckten. Er hatte das Gefühl, als hätte man ihm das Herz aus der Brust gerissen. Von wegen unzurechnungsfähig! Diese Tat musste einfach von langer Hand geplant worden sein, sonst hätte er es doch nie an den ganzen Sicherheitsleuten vorbei geschafft… oder?
 

Er spürte nichts: weder Hass, noch Wut, noch Trauer. Bill fühlte sich vollkommen leer und betäubt. Mit starrem Blick blieb er auf dem Bett sitzen und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Doch wie immer, wenn er versuchte, an den Vorfall zu denken, kamen die gleichen Fragen auf, die ihn schon seit Wochen quälten.

Warum er?

Kannte er diesen Ian?

Warum schien er so wütend auf ihn zu sein?

Und wie war das alles nur passiert?
 

Bill verspürte keine Lust, sich mit irgendetwas zu befassen, stattdessen saß er einfach nur da und starrte vor sich hin. Seine Gedanken verfingen sich wieder im schwarzen Netz der Verzweiflung. Er konnte weder vor noch zurück…
 

Erst als im Erdgeschoss das Licht anging, trieb er zurück in die Realität und hörte Minuten später die Schritte seines Bruders auf der Treppe.

Tom kam ins Zimmer und schaltete die kleine Lampe auf dem Nachttisch an.

„Ich hab es auch gesehen.“

Mehr brauchte er nicht sagen. Wieder rannen die Tränen in Sturzbächen seine Wangen hinunter.

Langsam sollte er doch mal damit fertig sein zu heulen, dachte Bill bei sich und schluchzte trocken. Doch anscheinend hatte er noch nicht einmal im Ansatz all seine Tränen verbracht.

„Warum ich, Tommy?! Was hab ich denn ge – tan… ich - “

„Ich weiß es nicht, Bill“, flüsterte der Dunkelhaarige und zog ihn zum x - ten mal an diesem Tag in seine Arme. „Scht… ruhig. Alles wird wieder besser…“

Er ließ sich von dem anderen wiegen und versuchte zu verstehen, wie er nur so tief hatte sinken können. Irgendwann würde auch seinem Zwilling die Kraft ausgehen… das war sicher. Und dann war er auf sich allein gestellt.

Über diese Gedanken und in den Armen von Tom schlief er ein.
 

°
 

Als er im Bett erwachte, war er wieder allein. Ihm war kalt und sein Kreuz schmerzte. Mühsam richtete er sich auf und tapste durch das Zimmer. Anscheinend war Tom nicht mehr im Haus, denn es brannte nirgendwo Licht.

Aber wo war er dann?

Er ging die Treppe hinunter in die Küche und setzte sich in die Dunkelheit. Mit ein Glas Wasser in der Hand saß er an dem runden Tisch und wartete. Irgendwann würde der andere sicher wieder zurückkommen und solange würde er warten. Alleine einschlafen konnte er sowieso nicht. Heute wollte er auch nicht mehr über das Wenn und Aber seines Schicksals nachdenken, dafür würde morgen noch genügend Zeit sein. Leider.



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