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Dem Frühjahr folgte der Tod

Wenn die Vergangenheit zur Zukunft wird
von

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Mombasa


 

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’’Bevor man die Welt verändert, wäre es vielleicht doch wichtiger, sie nicht zugrunde zu richten.‘‘
 

Paul Claudel
 

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Der stinkende Dunst der Kraftwerke erfüllte jede noch so schmale Gasse. Der dunkle Schlackenstein war millimeterhoch davon bedeckt, jeder Zentimeter stank. Der Distrikt direkt um das Olymp herum war nichts weiter als eine gewaltige Ansammlung von in- und übereinander gebauten Häusern, eine einzige, poröse Fläche, die den gesamten Dreck der Oberen in sich aufsog.
 

Tausende Menschen zwängten sich durch die schmalen Straßen, es wurde gelacht und getratscht, Rationen verkauft und Kleider gehandelt. Roma war wohl der schlimmste Distrikt von allen. Die Todesrate der Brut war hier höher als irgendwo sonst, aber vielleicht war das auch gut so. Niemand hatte es verdient, in so einer Hölle leben zu müssen.
 

Die Toten wurden aus dem Distrikt heraus geschafft, in eine Fabrik, wo sie zersetzt und zu Pulver verarbeitet wurden. Dieses Pulver wurde mit weiteren zu Rationen gepresst, in den Tabletten waren alle Nährstoffe, die der Menschliche Körper brauchte. Richtige Nahrung hatte nie jemand der VFX-Menschen zu sich genommen.
 

Nicht einmal Ratten gab es hier, keine Fliegen, jedes Tier mied diesen Ort, wo es nur den Tod gab. Und doch machten die Menschen das Beste daraus, sie schlossen sich in Familien zusammen, zogen die Neuen mit mehreren auf und banden sich aneinander.
 

Es gab aber noch jemanden, der niemanden hatte, ein kleines, schwächliches Mädchen aus der untersten Schicht. Dort unten überlebte niemand lange, Seuchen herrschten und trieben die Leute weiter hoch. Nur dieses Mädchen war noch dort, im Schlund des Todes. So kam es auch, dass eines Tages ein Trupp der T-Forces hinunterstieg und die kleine mitnahm.

Der knorrige Körper war zäh, mit den Jahren war er Immun geworden gegen all die Krankheiten, und genau das suchten die Oberen. Aus dem Blut dieses besonders schwerwiegenden Code-VFX stellten sie ein Serum her, mit dem sie eine neue Krankheit stoppen konnten, die das Olymp befallen hatte. Tausende Olymper wurden gerettet, die Krankheit im Keim erstickt. Das VFX-Mädchen jedoch wurde nicht geehrt, es wurde mit Technik vollgestopft und jahrelang für den Krieg gedrillt.
 

>Welcher Krieg?
 

Zusammen mit hunderten anderen dressierte man sie auf das Töten von Menschen. Viele weigerten sich, doch man schuf den Moderator, ein Wesen, welches jeden einzelnen von ihnen steuern konnte. Viele mussten mit ansehen, wie sie unter der Kontrolle des Moderators ihre eigenen ‚Familien‘ zerfleischten und das schlimmste daran war, dass sie rein Garnichts tun konnten.
 

>Warum?
 

Jenes Mädchen, welches einst das Olymp unfreiwillig gerettet hatte, jenes Mädchen, welches all die jüngeren beschützte, tötete alles, was sie geliebt hatte. Sie zerstörte ihre Heimat, bis nichts als Schutt und Asche übrig war und der Moderator war noch lange nicht fertig.
 

Bis zu jenem Tag in der Stadt der Rebellen, an dem ihm kurzzeitig der Saft ausging, tötete der Moderator hunderttausend Menschen mit den Händen seines liebsten Spielzeuges. Dieses Spielzeug aber nutzte die kurze Pause, um sich dem Moderator zu entziehen.
 

****
 

Eisenfaust starrte einen Moment fassungslos auf die Steine, die aus dem geborstenen Sarg hervorkollerten. Dann fing sie an zu lachen.
 

Es war ein verzweifeltes Lachen, nichts Freudiges war daran. Es riss den Hünen von den Füßen, bis er krampfhaft Lachend und gleichzeitig weinend am Boden saß. Smith starrte erst den Sarg, dann ihn fassungslos an, ehe er seine Leute losschickte, sie sollten Ysabel suchen.
 

Er wusste nicht, ob Ysabels Leiche nun gestohlen worden war oder ob es keine Leiche gewesen war, er war einfach nur fertig mit den Nerven.
 

Der Hüne war verstummt und hatte seinen Kopf auf die Brust sinken lassen, hatte die Beine angezogen. So harrte er, beachtete die davonströmenden Leute gar nicht.
 

Er blieb einfach so sitzen, solange, bis ein kühler Nieselregen seine Haut benetzte. Schlanke Arme schlangen sich um seine breiten Schultern und ein warmer Körper schmiegte sich an seinen Rücken.
 

****
 

Seine Leute hatten nichts Gefunden.
 

Rein Garnichts.
 

Weder in der winzigen Trauerkapelle, in der Ysabel Stunden vorher aufgebahrt worden war, noch in unmittelbarer Nähe davon. Gott, es gab nicht einmal Fußspuren!
 

Fast schon wütend ließ Smith den Bericht zurück auf den Schreibtisch fallen. Seit dem vorigen Abend suchten sie schon, aber es gab keine Anzeichen auf einen Einbruch. Selbst den Totengräber hatte man mehr oder weniger hochgenommen, der schrullige Mann hatte die Kapelle aber seit Ysabels Aufbahrung nicht mehr betreten. Es gab also keinerlei Anzeichen darauf, dass Ysabel Überreste gestohlen worden waren. Smith zog nur noch eine Möglichkeit in Betracht.
 

„Und du bist dir ganz sicher, dass die Kugel tief eingedrungen ist?“

Hanji nickte.

„Ich hab mich zwar erschreckt und bin abgerutscht, die Kugel ist aber… reingegangen. Durchs rechte Auge.“
 

Smith zog die Stirn in Falten, ehe er seinem Einheitsführer einen kirschgroßen Gegenstand in Wachspapier reichte. Die Frau öffnete es, besah es sich und warf es dann nach einer Sekunde schon beinahe Panisch von sich. Eine schartige Kugel rollte über das dunkle Holz des Tisches, bräunliche Schlieren zogen sich über das matt glänzende Metall.
 

„Was denkst du ist das?“
 

Hanji starrte ihn an.

„Wir haben das zwischen dem Gefunden, was aus dem Sarg gefallen ist. Die Steine waren von einem Steinhaufen nahe der Kapelle, die Bandagen waren unbeschädigt. Was sagt dir das?“
 

Hanji schüttelte fassungslos den Kopf.

„Das ist unmöglich! Nach dem, was Kathi mir über die Technik erzählt hat, hätte Ysabel überleben können, solange ihr Hirn unbeschädigt ist!“
 

Smith lehnte sich vor.

„Denkst du nicht, dass es möglich ist, dass die Kugel das Gehirn gar nicht erreicht hat?“
 

****
 

Jeder einzelne Tag war eine Qual.

Die Kinder wurden Tag für Tag herumgeprügelt, an ihnen wurde experimentiert, herumgeschnitten. Vielen nahm man regelmäßig ein Organ heraus, die Technik im Körper der kleinen Menschen bildete sie innerhalb weniger Tage nach. Sie wurden ausgebeutet.
 

Mädchen wie Ysabel waren besonders begehrt, ihre silberblauen Augen waren einzigartig, viele der Oberen wollten sie als die ihren haben. Fast einhundert Mal riss man ihr die Seelenspiegel heraus, sie wurde dafür nur festgeschnallt. Um eine Betäubung scherte man sich nicht. Es war der Horror.
 

Nicht nur Ysabel war eine lebende Fabrik für Ersatzteile, auch die zwei Mädchen, die ihr am nächsten standen lieferten „Frischfleisch“. Maddie nahm man regelmäßig das Gesicht, sie war selbst für die Maßstäbe der Oberen wunderschön. Der kleinen Karr nahm man zweimal das Herz, denn Karrs war besonders stark.
 

Ysabel wusste schon damals, dass sie sich nie wieder daran erinnern wollte.
 

****
 

Eisenfaust hielt den kleineren Körper fest in den massigen Armen, es scherte beide nicht, dass es wie in Strömen regnete.

„Es ist `ne ganze Zeit her, nicht?“
 

Der Hüne strich vorsichtig mit seiner Pranke durch das schwarze Haar.
 

„Ich habe lange gewartet, Izzy. Ich war so froh, als ich dich wiedergesehen habe… Ich habe geglaubt, du wärst tot.“
 

Ysabel lachte traurig.
 

„Als wir dich damals in Mombasa verloren haben, ich dachte, du wärst von den Trümmern erschlagen worden.“ Sie sah Eisenfaust an. „Du warst noch so klein, und schau dich jetzt an… Wie hast du‘s geschafft?“
 

Sie schritten langsam durch die herabstürzenden Wassermassen, hier, auf dem Waldfriedhof, suchte niemand nach ihnen. Eisenfaust hatte eine Weile geschwiegen, die Frage war ihr ein Graus. Doch sie wollte Ysabel Frage und Antwort gestehen.
 

„Unter mir stürzte der Boden ein, ich landete im Keller. Von da aus habe ich mich nach Tagen herausbuddeln können.“

Die Ältere nickte.
 

„Was ist mit Maddie passiert?“, fragte der Hüne sie, woraufhin sie zitternd Luft holte.

„Ich weiß nicht mehr, wie es passiert ist, aber Maddie ist tot.“
 

Beide schwiegen, bis sich ihnen eine Gestalt aus dem Dunkeln näherte. Es war ein Kadett, er schien sie noch nicht gesehen zu haben. Kein Wunder, es war stockfinster und Eisenfaust konnte nur dank Retina-Implantaten sehen, genau wie Ysabel.
 

****
 

Smith ging wie ein Löwe in seinem Raum auf und ab. Er hatte alle erreichbaren Einheiten auf die Suche geschickt, man ging alles ab, was im Umkreis mehrerer Meilen um die Kapelle lag. Irgendwann musste man was finden, und wenn es nur eine Leiche war!
 

Der Kommandant fuhr auf, als Levi ohne anzuklopfen in den Raum kam und nach draußen wies.
 

„Das Balg ist wieder da.“
 

Schneller als der untersetzte Hauptmann hinterherkam war er draußen, sah sofort Ysabel, wie sie vollkommen durchnässt durch den Gang schlich. Es mochte seltsam aussehen, aber Smith schloss sie in seine Arme.
 

„Tut mir Leid…“, nuschelte das Mädchen.

Smith schüttelte den Kopf, erwiderte aber nichts. Nach einem Moment schob er sie ein Stück von sich und begutachtete ihr Gesicht. Es war von roten Strichen durchzogen, die sich wie Äste eines besonders knorrigen Baumes durch die Haut zogen und um das rechte Auge herum war die Haut wellig und rosa. Das Auge selbst war angeschwollen und tränte bräunlich, es schien aber nicht zerstört zu sein.
 

„Du hast uns einiges zu erklären.“

Levi stand hinter Smith, er war übellaunig wie sonst auch. „Aber erst wäscht du dich.“
 

Eisenfaust kam um die Ecke, verfolgt von der Dreifarbigen, welche unglaublich stolz einen kleinen Filzball im Maul umhertrug.

„Ich werde ihnen so viel erklären, wie ich kann. Ich habe zwar bei weitem nicht Ysabels technisches Verständnis, aber ich kann ihnen zumindest erklären, wie sie das überlebt hat.“
 

Der Hüne hielt der weitaus kleineren Ysabel eine Metallene Kiste hin. Die nahm diese unter ziemlichem ächzen entgegen und schleppte sie von dannen. Eisenfaust wandte sich an Smith und erklärte.

„Ich habe etwas für sie verwahrt. Es war das einzige, was sie noch hatte. Es war mit ihren Freunden zusammen ihre Familie.“
 

****
 

Mein Schädel pochte und alles tat mir weh, aber ich trug die schwere Kiste alleine bis auf mein Zimmer, wo ich sie auf dem Tisch abstellte. Mit einer leichten Vorahnung hob ich den Deckel und sah ein säuglingsgroßes, in Stoff gehülltes Knäuel. Das Material unter dem Stoff war kühl und glatt, ich ahnte, dass es Metall war.
 

Verwirrt blinzelte ich Richtung Tür, als Levi mit seiner Teetasse hereinkam. Er setzte sich zu mir an den Tisch und zog das rechte Bein hoch, ehe er mit dem Kinn auf das Knäuel zeigte.

„Was ist das?“

Ich löste die dünnen Drahtbänder und zog den überraschend schweren Gegenstand heraus.
 

Es war eine Kugel, nein, zwei Kugeln, um die kleinere lief eine glänzende, schwarze Fläche bis etwa zur Seitenmitte, zwei… Augen mit silbrigen, geschlossenen Lidern ragten hervor. Die größere Kugel, der Körper, war unten abgeflacht, es ragte eine dritte Kugel heraus, welche sich sehr leicht bewegen ließ. Ein Stück unter dem „Kopf“ hoben sich zwei Knubbel ab, an denen je eine Ellipse zu hängen schien. Ich drehte das Ding um und sah einen winzigen Schalter, den ich umlegte. Nichts geschah und ich besah mir das ganze Ding nochmal, ehe Levi meinte, da wäre noch was in der Kiste.
 

Es war ein kantiges Ding dessen Aufschrift mir sagte, es würde Hochspannung erzeugen. Eine Brennstoffzelle also. Daneben lag ein dünnes Multitool, ein nanotechnisch betriebenes Allzweckwerkzeug.
 

»

„Was baust du da?“
 

Ich sah zu Maddie auf. Ihr feines Gesicht war wieder geheilt, nachdem man es vor zwei Tagen ein weiteres Mal verkauft hatte. Das letzte Mal, das man was von mir haben wollte, war schon eine ganze Woche her, was ich keineswegs schade fand, denn jede Lieferung war eine Tortur. Ich beneidete wirklich jene, die nichts liefern konnten.
 

„Ich habe eins von diesen alten KI-Hirnen gefunden. Ich mach mir jetzt selber eine KI.“

Maddie staunte.

„Das kannst du?“

„Ich hab ja alles, was ich brauche. Ich muss es nur zusammenbauen und neu programmieren, mehr nicht.“
 

Maddie schlief schon, als ich die Brennstoffzelle einsetzte und den kleinen Bot aktivierte. Auf dem Leuchtiodengesicht erschien ein schmaler Streifen in Rot, zwei weitere in Blau über den Augen.
 

„Guten Morgen.“

Die Klapplider öffneten sich und nach einem Moment begann die KI, sich in ihrem neuen Körper zu bewegen. Sie hob die Flügelartigen Arme, fuhr die Finger aus und bewegte sie vor ihren Augen. Die nachgeahmten Augenbrauen zogen sich zusammen.
 

„Guten… Morgen…“

Die runden Augen sahen mich an.

„Mama.“

Erschrocken weitete ich die Augen. Hatte meine KI mich gerade… Mama genannt? Ich hatte zwar schon von sowas gehört, aber es nun selbst zu erleben war doch etwas anderes.

„Mama. Bist du traurig?“
 

«
 

Genau wie damals setzte ich die Zelle ein und legte den Schalter wieder um, ehe ich meinem kleinen Baby ins Gesicht sah. Nichts geschah.
 

„Natürlich. Was hab ich denn gedacht…“

Ich legte den Metallenen Körper zurück auf den Tisch. Levi sah mich an.
 

„Was ist los?“

„Hat zu lange gelegen. Vermutlich ist was in den Schaltkreisen kaputtgegangen. Wär schön gewesen, wenn’s geklappt hätte, aber…“

Levi nickte und stand auf, ehe er sich zur Tür begab.

„Möchtest du deine Ausbildung fortsetzen?“

Ich nickte und Levi erwiderte, man würde warten, bis ich wieder genesen war. Gerade war er halb draußen, als es vom Tisch her leise klackte.
 

„Mama, du bist traurig.“

Der kleine Bot stemmte sich mit seinen formlosen Armen soweit hoch, dass er vom Gewicht seines Fußes in die Vertikale gezogen wurde. Das Gesicht war zwar nur mit ein paar Linien angedeutet, doch es war fragend, das wusste ich. Eine kleine Träne rann aus meinem Auge und fiel in meinen Schoß. Levi trat hinter mich und ich sah ihn an. „Levi, darf ich ihnen vorstellen? Das ist Noa. Ich… ich habe sie gebaut."
 

Der Hauptmann sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. Auch Noa drehte ihre dunklen Kameraaugen zu ihm.

„Hallo. Ich bin Noa, das hat Mama ja gerade schon gesagt. Wie heißen sie?“
 

Noa sah ihn freudig an, sie war etwa vierzehn gewesen, als ich sie deaktiviert und mich eigefroren hatte. Und so wie sie ihn ansah, schien er ihr zu gefallen.
 

„Wenn dir deine Mama so viel erzählt, dann kann sie dir ja auch das sagen.“
 

Noa verlor für einen Moment alle Gesichtszüge, ehe sie die Augen fast ganz zuklappte und die Augenbrauen hinunterzog.

„Du bist ganz schön unfreundlich. So bekommst du keine Frau!“

Nun war es Levi, dem alles entgleiste. Und ich musste mir das Lachen übel verkneifen.
 

****
 

Hanji grübelte.

Nach dem, was sie von Eisenfaust erfahren hatte, musste sie nahezu alles überdenken, was sie bis dahin von Ysabel wusste.

Ysabel war fünfzehn, in äußerst schlechten Verhältnissen aufgewachsen und vermutlich ziemlich gut dran mit ihrer Amnesie. Besonders viel wusste Eisenfaust auch nicht mehr, aber nach dem, was sie noch berichten konnte, hielt Hanji das auch für gut, so wie es war.
 

„Menschen, die dazu benutzt werden, der Oberschicht ihre noch so perfiden Wünsche zu erfüllen… Ich glaube ich will gar nicht wissen, was da noch alles passiert ist.“
 

Der gesamte kleine Kongress aus Offizieren stimmte ihr zu, nur die Anwesenden der Militärpolizei reagierten ablehnend.

„Es ist doch egal was damals passiert ist. Wir müssen so viele neue Techniken wie möglich bekommen, damit wir die Riesen endlich besiegen und die Mauer Maria zurückerlangen können.“

Die Mauerngarnison, die gleichzeitig als Stadtwache fungierte, stimmte dagegen. „Ihr macht doch nicht einen Bruchteil von allem. Ihr sitzt ständig im Innern, weit weg von allem, gebt Befehle und betitelt euch selber als die Retter der Menschen! Dabei machen Smith und seine Leute alles!“
 

„Sei du bloß still, Mauerblümchen! Eure Brut macht doch genauso wenig!“
 

„Bitte?! Beim Fall von Shingashina sind hunderte von uns gestorben! Wie viele habt ihr schon durch Titanen verloren?!“

„Keine! Aber wir sind ja auch die besten und stärksten!“
 

Nun schnaubte die Forscherin.

„Wenn ihr wirklich so stark wärt, würdet ihr an vorderster Front kämpfen und euch nicht wie kleine Mädchen verstecken!“, brummte sie. „Und ihr würdet nicht einfach so tausende Bürger in den sicheren Tod schicken.“
 

Damit verließ sie den Raum und schlug den Weg zu Ysabels Zimmer ein. Sie wollte sich bei dem Mädchen entschuldigen, vor allem für die Kugel, die sie ihr in den Kopf gejagt hatte.

Aus dem Türspalt drangen mehrere Stimmen, es waren Ysabels und Levis, die dritte kannte Hanji nicht.
 

Im Raum entdeckte sie auch nur die zwei ihr bekannten Personen, beide saßen sich gegenüber in den Sesseln. Zwischen ihnen auf dem Tisch stand ein metallenes Ding, welches ihr gänzlich unbekannt war.
 

„Hanji. Das hier ist vielleicht was für dich.“

Levi wies auf das Metallding, welches sich zu bewegen begann. Im Großen und Ganzen bestand es aus zwei verschiedengroßen, Übereinandergelegten Kugeln. In die Obere waren zwei wesentlich kleinere eingelassen, es schienen Augen zu sein, welche stetig die Farbe wechselten.
 

„Hallo. Ich bin Noa. Wie heißen sie?“

Verwirrt starrte Hanji in das, was anscheinend das Gesicht dieses Noa darstellen sollte. Dünne Linien lagen wie Augenbrauen über den hervorstehenden Sehmitteln und dazwischen bewegte sich eine dritte passend zu jedem Wort, welches die metallische Stimme von sich gab.
 

„Hab ich was falsch gemacht? Die Frau guckt so komisch.“

Ysabel lachte.

„So hat Levi doch eben auch geschaut. Sie hat sowas wie dich einfach noch nie gesehen.“

Das Ding wedelte mit den Teilen, die wohl die Arme darstellen sollten.

„Ich bin eben eine Klasse für sich.“
 

****
 

Für Noa war schon immer alles um sie herum interessant, sie liebte es einfach, Menschen zu beobachten. In den Tiefen ihres Speichers hatte sie noch vereinzelt ein Paar Bilder aus ihrer Zeit als Androide unter den Gesichtslosen, doch sie wollte sich nicht daran erinnern. Man hatte sie gemacht, um keine Menschen mehr aussortieren zu müssen, es war den Oberen einfach zu viel Arbeit all diese Mäuler zu versorgen. Androiden waren da schon viel praktischer, man konnte sie frei nach Belieben programmieren und sie brauchten keine Nahrung.
 

Aber man machte einen bedeutenden Fehler, die künstlichen Gehirne waren dazu in der Lage sich zu entwickeln, ausnahmslos bei jedem begann vom ersten Einschalten an ein Lernprozess, der nicht gestoppt werden konnte. Nicht einmal das Löschen des gesamten Speichers half. Die Gehirne der insgesamt einhundert Prototypen wurden ausgebaut und in die Distrikte verkauft. Dort konnte man jeden Schrott loswerden. Wir Ausgestoßenen waren froh, überhaupt etwas zu bekommen, sei es nur das, was die Oberen als Müll bezeichneten.
 

Noa war irgendwie auf dem Gelände der Akademie gelandet, mitsamt der Schutzhülle ihrer Hirnschale hatte ich sie gefunden und in einen einfachen, recht unauffälligen  Körper eingebaut. Als kleinen Hilfsbot schmuggelte ich sie überall durch, sie war immer bei mir.
 

Für mich war Noa sowas wie eine Schwester, ich lebte immerhin Jahrelang mit ihr zusammen. Wo ich so darüber nachdachte, ich hatte Noa ein ganzes Paket an Bauplänen eingespeichert.

„Noa, welche Pläne für Motoren hast du im Speicher?“

Sie sah mich kurz an, ehe sie sich der hell gestrichenen Wand zuwandte. Flimmernd tauchte ein Bild daran auf, es zeigte Noa's Bios.
 

„Ich habe zwei meiner Motoren im Speicher, die mit den derzeitigen Mitteln gebaut werden können. Zum einen die alte Dampfmaschine…“, sie zeigte den Plan, den Hanji schon längst hatte, „Und den viel Stärkeren Brennstoffmotor. Dieser läuft mit Gas, ihr solltet relativ einfach Methan, ein Fäulnisgas herstellen können. Ich weiß von der Existenz besserer Technik, aber diese Pläne sind gesperrt.“

„Gesperrt?“, fragte Hanji nach. Noa zuckte die Schultern.

„Mama hat sie mit einem Passwort gesperrt.“

Nun legte ich den Kopf schief, ich versuchte mich krampfhaft zu erinnern, was mich dazu bewegt hatte. Aber ich fand keine Antwort.
 

Missmutig liess ich den Kopf hängen, ehe ich lustlos zur Uhr sah. Es ging auf den Abend zu und ich hatte ziemlichen Hunger. „Sollen wir essen gehen?“, fragte ich in die Runde. Noa blickte zwischen Hanji und Levi hin und her, sie schwieg anstandsbewusst. Beide meiner Vorgesetzten nickten, aber Levi meinte noch, ich solle mich saubermachen. Und Umziehen. Das hatte ich ja überhaupt nicht vorgehabt. Bloss nicht.
 

Hanji blieb und begutachtete meine noch immer gerötete Haut, sie wischte mein Auge aus, dessen Tränen eine viel hellere Farbe angenommen hatten. Sie verband es trotzdem, es sah einfach unappetitlich aus.
 

Frischgemacht und zusammengeflickt ging es dann mit allen vier Leuten in den Speisesaal, wo wir uns direkt zu Levis Squad begaben. Seit dem Auftauchen von Karr, Jamie und Katharina würde mein Trupp nicht mehr aus normalen Soldaten bestehen müssen, weshalb Levi seinen eigenen Elitetrupp wiederbekam.

Auruo schien sich ehrlich zu freuen, ebenso wie die anderen, aber er hatte auch den Schalk im Nacken, das wusste ich genau. „Wie geht es deinem Kopf, Fussel?“

Fussel nannte er mich, weil Morgens immer eine besonders kurze Haarsträhne auf meinem Kopf weit abstand und er das als Lustig betitelte. War es ja auch. „Ich hab ein bisschen Kopfschmerzen, danke der Nachfrage.“ Er grinste.

Petra war weitaus ruhiger als ihre Kollegen, sie freute sich einfach, dass ich doch nicht tot war.
 

An diesem Abend war es Hanji, die ein Thema anschnitt, über welches ziemlich schnell alle redeten.

„Der Kommandant empfindet mehr für Ysabel, als er zugeben will.“

„Natürlich, sonst hätte er nie so reagiert!“

Ich stimmte dagegen.

„Ich bin doch viel zu jung! Er könnte mein Vater sein!“

„Jung? Du? Muss ich dich daran erinnern, dass du über eintausend jahre eingefroren warst?“

„In der Zeit bin ich aber weder körperlich noch Geistig gealtert!“

„Trotzdem!“

Ich fluchte insgeheim über Auruo, aber noch viel mehr über Hanji. Die kam nämlich immer wieder auf dieses Thema zurück, jedes mal, wenn ein anderes aufkam, lenkte sie das Gespräch auf die „Smit und Ysabel Schiene“ zurück.

Ich hätte sie köpfen können. Und ausnahmsweise stand Levi mir mal bei.

„Smith ist viel zu anständig, als dass er sich etwas von Ysabel erhofft.“
 

Und damit scheuchte er mich ins Bett.

Ich sähe scheisse aus und dürfte mich erst wieder in seine Nähe begeben, wenn alles abgeheilt war. Natürlich war ja auch ich diejenige, die ohne anzuklopfen in Levis Zimmer kam. Dieser Kerl macht mich nochmal kirre!
 

Erleichtert kroch ich unter die dicke Bettdecke, nachdem ich mein Haar geflochten hatte. Ich würde es morgen dringend waschen müssen, ansonsten sähe ich aus, wie ein explodiertes Sofakissen. Ich rollte mich halb ein und schloss die Augen, als ganz leise die Tür einen Spalt weit aufging. Ich erkannte nur die Statur der Person, da sie eine Fackel im Rücken hatte und ihr Gesicht so im Schatten lag, sie kam aber nicht rein, sondern liess nur Noa ins Zimmer. Oh je, ich hatte sie ganz vergessen!
 

„Schlaf gut, Ysabel“
 

****
 

Katharina hatte es gehört. Ysabel lebte.

Die Blonde hatte es aber noch nicht geschafft, ihre alte Kameradin zu sehen. So, wie man ihr das erklärt hatte, würde die Technikerin wieder zur 104ten kommen, sobald sie wieder fit war. Dann würde sie auch mit ihr reden können.

Jamie trat ihr in die Seite.

„Bleib auf deiner Seite, Mann!“

„Du bist doch zu mir gekommen!“

So zischten sie sich weiter an, bis beide einen Fuß in den Rücken bekamen. Reiner und Berthold, die Jungs direkt unter ihnen, sagten nichts, aber der Tritt hatte gereicht. Sowohl Jamie als auch Kathi rollten sich ein und schwiegen.

Warum war Jamie nur immer so fies zu ihr?

Konnte Kathi was dafür, dass Jamie eine elende Egoistin und Pessimistin war? Nein. Aber wenn es nach Jamie ging, schien Kathi an allem Schuld zu sein.
 

Schuld an dem Ganzen war aber nur eine einzige Gruppe.
 

Katharina zog sich das Kissen über den Kopf und schloss die Augen.



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