Zum Inhalt der Seite

Familiengeschichten

Der Weg zur Liebe ist ein steiniger
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Wiedersehen macht Freude

Kapitel 1 – Wiedersehen macht Freude

Er war schon immer ein ungeliebtes Kind gewesen. Als er drei Jahre alt war, verließ ihn seine Mutter für einen anderen Mann und ließ ihn bei seinem cholerischen, wenn auch fürsorglichen Vater, zurück. Jeden Tag lag ihm das Gebrüll seines Vaters in den Ohren. Das Gebrüll in Abwechslung mit unheimlichem Geflüster, wenn er ihm wieder ins Ohr wisperte, wie grausam doch seine Mutter sei, ihn und seinen Vater allein zu lassen. Er fürchtete seinen Vater für den täglichen lautstarken Tadel und zugleich liebte er ihn. Er war noch immer alles, was er hatte.

Als er in die Schule kam, wurde er wegen seiner Schweigsamkeit gehänselt. Die Mittelschule verbrachte er damit, sich in Büchern über Fantasiewelten zu vergraben und seinen Verfolgern die Hänselei doppelt heim zu zahlen, indem er vor den Lehrern gegen sie intrigierte. Und nun, obwohl er bald die Oberschule abgeschließen würde, hatte er es noch immer nicht geschafft, seinen antrainierten Kokon zu verlassen. In seiner Klasse gab es keinen, den er auch nur annähernd als Freund von sich bezeichnen konnte.

Lens Blick galt der grauen Stadt, die sich, in einem Talkessel liegend, unterhalb des Fensters seines Klassenzimmers ausbreitete. Schwer hingen die bauschigen Wolken vom Himmel und kleine Wassertropfen trafen bereits gegen die staubige Fensterscheibe und zersprangen dort wie kleine Glassplitter. Nach und nach wurden die Tropfen dicker und diese sammelten sich schließlich zu kleinen Flüsschen und zerteilten Lens Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelte.

Irgendwo von Fern nahm Len die Stimme des Lehrers als leises Murmeln wahr. Wenn er fertig war mit der Schule würde er ein Jahr Zivildienst machen. Raus. Er musste weg von hier. Er wusste nicht, ob das Ausland besser war, als hier, aber er wünschte sich einen Neuanfang. Wie gerne würde er zu einer dieser kleinen lachenden Gruppen von Schülern gehören, die er jeden Tag zu Gesicht bekam. Aber zugleich war es, als gehörten diese Gruppen einer anderen Welt an als seiner. Vor den anderen bekam er den Mund nicht auf. Immer wenn er etwas sagen wollte, war es, als bliebe ihm die Zunge im Hals stecken. Was hatte er schon zu erzählen? Das Einzige, was er bisher geleistet hatte, war, sich die Leute, die ihm lästig waren auf widerliche Art vom Hals zu halten. Er fühlte sich schmutzig, so mit anderen umzuspringen. Als ob er eine Sünde begangen hätte, die nicht wieder gut zu machen sei. Als sei er eine wertlose Existenz. Zu gerne wäre aus diesen Gedanken ausgebrochen, aber er wusste nicht, wie.

Seufzend schob er sich die vorderen Strähnen seiner schulterlangen, schwarzen Haare aus dem Gesicht, die ihm schon wieder ins Gesichtsfeld hingen. Die meiste Zeit betrachtete er seine Umwelt durch einen leichten Vorhang, den sein langer Pony bildete. Er war nicht hässlich, im Gegenteil. Sein Vater mochte ein unangenehmer Mensch sein, aber sein gutes Aussehen hatte er seinem Sohn vererbt. Wie sein Vater war Len schlank und ein wenig muskulös. Seine Haut war makellos, weich und hell. Und seine leuchtend goldenen Augen gaben seinem Äußeren passend zu dem langen Haar etwas Wildes. Doch Len war nicht wild. Sein Vater war es, aber er war einfach nur ein Verlierer.

Seine innere Unsicherheit verweigerte ihm jeden nennenswerten Schritt. Schon zu lange war er mit seinem Vater allein gewesen. Ja, sein Vater war für ihn da. Aber selbst dessen giftige Worte gegenüber seiner Mutter sättigten seine Seele schon lange nicht mehr. Sein Groll gegenüber diesem egoistischen Stück von Frau war zu groß. Nicht einmal innerhalb dieser 14 Jahre hatte sie sich Zuhause blicken lassen. War vom einen Tag auf den anderen verschwunden. Alles, was er noch über sie wusste, war, dass sie wegen einem neuen Kind mit einem anderen durchgebrannt war. Mit einem neuen Kind. Und das Kind, das Zuhause auf seine Mutter gewartet hatte, war vergessen.

Der Gipfel der Sache, der eigentliche Grund, warum er überhaupt hier schon wieder am grübeln und warum er so niedergeschlagen war, war das, was nun in Stücken irgendwo vor seinem Haus lag: Ein Einladungsschreiben zum Geburtstag dieser Frau. Wie konnte genau diese Person es wagen, ihm eine Einladung zu ihrer Geburtstagsfeier zu schicken? Abermals flackerte tiefer Zorn in ihm auf und die Worte des Briefs, obgleich er diesen noch während dem Lesen in kleine Fetzen gerissen hatte, schoben sich in seine Gedanken. Es war eine schöne, geschwungene Handschrift gewesen, die verkündete:

„Lieber Len,

ich weiß, dass es lange her ist, dass wir in Kontakt treten. Aber ich dachte mir, dass es doch gut wäre, wenn wir eine kleine Versöhnungsfeier veranstalten würden. Und was wäre da besser zu geeignet, als mein Geburtstag?

Schließlich wird Naoko, deine Halbschwester, ab diesem Jahr die selbe Schule besuchen wie du.

Den Schlüssel zu eurem Haus habe ich noch, also mach dir keine Sorgen. Wir kommen auch ohne euch rein. Bis du von der Schule kommst, richten wir schon die Getränke und das Essen hin. Ich habe auch extra Nudelsalat gemacht. Den hast du als Kind doch gerne gegessen!

Deine Mama,

Mao“

„Versöhnungsfeier“? Was erdreistete sich diese Frau eigentlich? Und was sollte dieses „mach dir keine Sorgen“? Er machte sich eher Sorgen darum, dass diese drei Personen in sein Haus eindrangen. Das war Hausfriedensbruch. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sein Vater würde sie schon rauskegeln. Und dann noch dieses heuchlerische „Deine Mama“. Diese Frau schon lange nicht mehr seine Mutter, das war klar. Mochte ja sein, dass es Zeiten gegeben hatte, in denen diese Frau etwas für ihn zubereitet hätte, doch diese waren längst vorbei. Er hatte sich sein Essen selbst zusammen suchen dürfen, da sein Vater mit der Arbeit schon beschäftigt genug war. Um ehrlich zu sein würde er lieber Steine fressen, als irgendetwas von ihr anzunehmen. Dieser Teufel. Zur Sicherheit sollte er heute gar nicht erst heim gehen.
 

Hastig band sich Naoko die Haare vor dem Spiegel. In ihrem Mund steckte noch das Haargummi, als ihre Mutter sie zum Frühstück rief.

"Beeil dich bitte ein bisschen, du bist schon spät dran!"

"Ja, gleich!"

"Willst du gleich am ersten Tag auf der Highschool als Langschläferin abgestempelt werden?", meinte Mao und stand schon mit den Händen in die Hüften gestemmt im Türrahmen.

"Blödsinn - Mobbing in dem Alter, das wäre ja kindisch!", kicherte Naoko und prüfte währenddessen nochmal, ob ihr Haargummi auch gut saß, indem sie nochmal daran herum zupfte.

"Du weißt nicht, wie kindisch die Menschen sein können. Intrigen und dergleichen sind sogar eher Sache von Erwachsenen...."

"Ja ja...", murmelte Naoko und ging dann in die Küche, wo sie sich gleich einen Toast in den Mund schob, der neben dampfenden warmen Brötchen im Brotkorb auf dem Tisch gelegen hatte.

"Den habe ich noch gar nicht getostet!", fuhr ihre Mutter sie daraufhin aber verblüfft an und Naoko fiel das angebissene Brot vor Schreck aus dem Mund.

"Hoppla..."

"Wo bist du heute morgen mit deinem Kopf?"

"Na ja... ich darf doch heute zum ersten Mal meinen Halbbruder treffen! Und dann ist da auch noch deine Feier bei seinem Vater … " Naoko schlug bereits das Herz bis zum Hals. Sie wollte schon immer wissen, wie ihr Halbbruder so war. Nichtmal ein aktuelles Bild hatte sie von ihm. Nur ein Bild von dem ganz kleinen Len. Er sah so putzig aus zwischen ihrer Mama und seinem Vater.

"Das aber auch nur wegen dir. Ich hoffe, dass Ray über die Jahre ruhiger geworden ist. Das ist mehr ein Experiment, verstehst du? Nicht, dass jetzt die große Familienfreude ausbricht … "

"Muss man denn mit den Gefühlen von Menschen herum experimentieren, bevor man ihnen vertraut?"

"Anders geht es hier eben nicht. Und jetzt auf!", beendete Mao das Gespräch, schob ihrer Tochter das Vesper zu und winkte sie zur Tür, "Nimm dich vor Len aber in Acht - er hat die Erziehung seines Vaters genossen."

"So schlimm kann er ja nicht sein!", grummelte Naoko, während sie in ihre Jacke schlüpfte. Sie fand es ganz schön fies, dass ihre Mutter ihr die Freude auf den Tag nehmen wollte, auf den sie so lange gewartet hatte. Eigentlich wollten Mao und Kai ein Treffen der Geschwister und einen allgemeinen Kontakt zu Ray vermeiden, doch Naoko hatte so sehr darauf bestanden, dass die Eltern schließlich nachgeben mussten.

"Wie findest du eigentlich die neue Uniform?", lenkte Naoko das Thema um. "Schick,“ antwortete Mao kurz angebunden, steckte ihrer Tochter das Vesper zu und schob sie zur Tür hinaus. „Und jetzt geh!"
 

Bis Naoko ihren Halbbruder aber treffen konnte, vergingen gähnende Stunden Einführungsunterricht und als es dann endlich zur Großen Pause klingelte, musste sie sich erst durch ein Knäul von kichernden Mädchen durch quetschen, das sich vor dem Klassenzimmer des Physikleistungskurses gebildet hatte. Die Mädchen schienen sich brennend dafür zu interessieren, jemanden zu interessieren, der dort gerade Unterricht hatte.

„Wer bist du denn?!“, wurde sie gleich gefragt, als sie sich gerade zur vordersten Reihe vorgekämpft hatte.

„Ich heiße Naoko Takagawa und will bloß zu meinem Halbbruder!“, antwortete sie genervt. „Was ist das denn für ein Auflauf hier?!“

„Kann es sein, dass du neu bist?“

„Ja, bin ich.“

„Ach so. Dann kannst du nicht wissen, dass dort ein unglaublich gut aussehender junger Mann drin sitzt!“

„Nein, weiß ich nicht. Der interessiert mich auch nicht.“ Endlich kamen die ersten jungen Männer aus dem Klassenraum. Naoko zückte das Kindheitsfoto von Len und versuchte, sich vorzustellen, wie der kleine schwarzhaarige Fratz nun heute wohl aussah. Aber die gelb-goldenen Augen waren unverkennbar. Er kannte außer ihrer Mutter so gut wie niemanden mit solchen Augen.

„Oh, er kommt!“, flüsterte es um sie herum und die Mädchen begannen nun, sich möglich unauffällig zu formieren, sodass es den Anschein machte, sie stünden nur zum Zeitvertreib hier vor diesem Zimmer. Naoko, die nicht so recht wusste, was sie in dieser Situation tun sollte, wandte ihren Blick nur wieder der Tür zu.

Ein junger, wenn auch etwas trüb aussehender Mann mit langem, glatten Haar trat nun durch die Tür und ein paar der Mädchen versuchten, unauffällig einen Blick auf ihn zu erhaschen. Das konnte nicht sein! War ihr Halbbruder etwa ein Frauenschwarm?, ging es Naoko durch den Kopf. Wenn sie nur die Augenfarbe von dem Typen erkennen könnte!
 

Len hatte Hunger und genug von der Welt für heute. Er hatte sich verschiedene Orte überlegt, an denen er heute die Nacht verbringen könnte, aber freuen tat er sich nicht darauf. Aufgrund des mangelnden Freundeskreises blieben nur Orte wie die Parkbank, ein Karton oder das Schulgelände übrig. Am gemütlichsten wäre wohl das Krankenzimmer, aber Len hatte keine Lust, sich auf seine schauspielerischen Fähigkeiten einzulassen. Er hasste es im Grunde, Menschen zu belügen, um sie für ihre Zwecke einzusetzen. Er wusste genau, wie es ging, aber es war ihm zu wider.

In seiner Grübelei wäre es fast mit jemandem zusammen gestoßen, der irgendwie ungünstig mittig vor dem Klassenzimmer stand. Als er aufblickte, machte sein Herz einen kurzen Satz. Er hatte keine solche Schönheit erwartet. Da stand ein junges Mädchen vor ihm, mit einem zu einem Pferdeschwanz hochgesteckten pinkem Haar und rubinroten Augen. Auch ihr Vorbau war nicht schlecht.

Die Überraschung wurde neben dem Erscheinungsbild aber noch durch ihre ersten Worte getoppt:

„Len? Len Kon?“, fragte das Mädchen unsicher.

Woher kannte sie seinen Namen?
 

Er hatte richtig goldene Augen! Wie ein Kätzchen. Und dann die dünnen Lippen, die weiße Haut und die leicht kantige Gesichtsform, die ihn irgendwie elegant erscheinen ließen. Sie verstand gut, warum er so beliebt bei den Frauen war. Aber er war ihr Halbbruder und deshalb warf sie sich ihm einfach in die Arme, um ihn richtig zu begrüßen. Ihr entgingen dabei nicht die Zischlaute, die die umstehenden Mädchen dabei von sich gaben.

„Len! Endlich sehe ich dich mal im Original!“, rief Naoko erleichtert und froh und drückte ihn nochmals fest. „Weißt du, ich habe von dir immer nur dieses eine Foto hier gehabt! - wo hab ich es denn hin?“, wunderte sie sich und kramte danach. Dann zuckte sie aber mit den Schultern und blickte zu Len auf.

„Ich bin Naoko! Freut mich, dich kennen zu lernen!“

Lens Gesicht war zunächst einfach nur verblüfft. Naoko musste innerlich lachen, weil sie das Gefühl hatte, mitverfolgen zu können, wie sich seine Rädchen im Kopf langsam drehten. Dann aber wandelte sich sein Gesichtsausdruck zu einer finsteren Miene. Sein Kiefer spannte sich an und plötzlich wurde Naoko flau in der Magengegend. Er sah gerade wirklich aus, als wolle er sie am liebsten töten.

„Ähm … war ich zu direkt?“, fragte Naoko in entschuldigendem Tonfall.
 

Len war sauer. Zum einen natürlich, weil diese Ausgeburt von Halbschwester ihn begrüßte, als wären sie die besten Freunde. Besonders aber war er auch sauer auf sich, dass er sich von ihrem Erscheinungsbild hatte so täuschen lassen. Natürlich, Naoko sah ihrer Mutter zum verwechseln ähnlich. Als hätte es in seinem Kopf einmal „Klack“ gemacht, kamen dunkle Erinnerungen an seine Mutter in ihm auf.

„Verschwinde …“, knurrte Len und es war mehr aus Selbstschutz, denn als Aggression gemeint.

„Ähm … hör mal! Tut mir Leid, o.k.? Ich weiß, ich war ein bisschen voreilig! Aber, ich dachte, weil wir Geschwister sind -“

„Wir haben nichts miteinander zu tun,“ fiel ihr Len ins Wort und wandte sich zum gehen ab.

„Aber die Feier - !“

„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich zu dieser lächerlichen Feier gehe?!“, fuhr Len herum. „Lass mich einfach in Ruhe! In einem Jahr mache ich Abitur und dann sehen wir uns nie wieder. Du wirst dieses Jahr mit mir an einer Schule auch aushalten, ohne mir gezielt über den Weg zu laufen.“

„Aber ich will dich doch kennen lernen! Len, ich habe so lange darauf gewartet!“

„Ich dich aber nicht. Bestell unserer „Mutter“ einen schönen Gruß. Sie wird mich heute nicht auf der Feier sehen.“

Und mit diesen Worten ging er endgültig davon. Er drehte sich auch nicht mehr um. Aber er wusste, dass Naoko von diesen Worten sehr geknickt sein würde. Vielleicht weinte sie auch. Er wollte nicht so kalt ihr gegenüber sein. Unter anderen Umständen hätte er sie gerne kennen gelernt. Dass überhaupt jemals jemand sich so direkt ihm zu wandte, war das erste Mal in seinem Leben. Sie wirkte auch sympathisch. Aber es ging nicht. Es ging einfach nicht.
 

Naoko weinte nicht unmittelbar. Sie verkroch sich dazu auf die Mädchentoilette. Ein Fehler, wie er größer nicht sein konnte. Dort riefen ihr die „Fangirls“ ihres Halbbruders nämlich nur deutlich genug hinterher, dass ihr das recht geschehe.

Mit Mühe und Not plagte sie sich noch durch den Schultag und kam endlich, als es schon dunkel war, aus dem Schuldgebäude. Es war die letzte Stunde überhaupt für diesen Tag gewesen und hinter ihr, die als letzte aus dem Klassenzimmer und dann auch durch aus der Schule gegangen war, schloss der Hausmeister die quietschenden Türflügel des Stahlzauns vor dem Gebäude.

Es war furchtbar kalt und der erste Schnee für dieses Jahr fiel. Aber der interessierte Naoko nicht. Sie zog den Kragen ihrer Jacke nach oben und steckte die Hände in die Taschen. Dann watschelte sie in Richtung Feier. Ihre Mutter hatte ihre eine Beschreibung zu dem Haus gegeben, die einfach zu verstehen war. Aber Naoko wollte gar nicht mehr so recht auf die Feier. Wie würde wohl dieser Ray reagieren? War es denn das richtige, was sie und ihre Eltern hier versuchten? Und würde Len wirklich nicht kommen? Wo er wohl hinging, wenn nicht nach Hause? Er würde sicher irgendwo bei Freunden Unterschlupf finden. Es würde sicher jemand da sein, der ihn wegen seinem Trampel von Halbschwester tröstete. Es tat ihr so Leid. Sie wollte ihn nur kennenlernen und hatte überhaupt nicht an seine Gefühle gedacht. Wäre sie nur etwas subtiler an die Sache herangegangen …
 

Len war so sauer gewesen, dass er vergessen hatte, dass er der Frau im Krankenzimmer das Krank-Sein vorspielen wollte. Er war einfach in den Park gegangen und ewig herum gelaufen. Und als er auf die Uhr blickte, war es bereits zu spät, um in der Schule unter zu kommen. Und noch dazu war es jetzt bitter kalt. Er hatte nicht mal eine ausreichend warme Jacke mitgenommen. Sollte er die Nacht einfach im Bahnhof verbringen? Dann doch lieber im eigenen Keller. Wenn er sich zum richtigen Zeitpunkt in den hinteren Teil vom Keller schleichen würde, bekäme das wohl keiner mit und er hätte seine Ruhe. Und wegen dem Heizkessel war es dort sogar angenehm warm. Zunächst würde er sich aber etwas zu essen kaufen und die Zeit ein wenig tot schlagen, bis sicher war, dass alle „Gäste“ im Haus waren, damit er sich über den Garten in den Keller schleichen konnte.
 

Die Geburtstagsfeier verlief ziemlich trist. Ray hatte sich, sobald Familie Takagawa seine Türschwelle übertreten hatte, in den Keller verzogen. Er meinte, er müsse noch Wäsche bügeln und wünschte ihnen ein schönes Fest. Naoko, die einen cholerischen, furchteinflösenden Mann erwartet hatte, war über Rays ruhige Begrüßunf positiv überrascht gewesen, aber nun stand sie genauso verloren in den halbdunklen Wohnraum der Familie Kon und starrte auf ihren leer gegessenen Teller.

„Versöhnungsfeier, ja?“, löste sich die tiefe Stimme von Kai Takagawa aus der Stille. „Der Sohn kündigt an, er kommt nicht und der Vater verschwindet in den Keller. Ich denke, damit ist ja alles geregelt. Jetzt, wo wir gegessen haben, können wir ja gehen, oder?“

Mao, Naokos Mutter, hob den Kopf nicht an. Draußen begann es wieder zu schneien. Auch Naoko erwiderte nichts. Schließlich hatte sie ja auch wunderbar zu diesem Ergebnis beigetragen. Um abgelenkt zu wirken schaute sie sich nochmals im Raum um. Die kirschrot gestrichenen Wände waren schon schräg. Aber sonst wirkte das Haus eigentlich sehr schön. Es war im Vergleich viel größer als das Haus ihrer Familie und es hingen verschiedene Moderne Gemälde an der Wand. Der Tisch an dem sie saßen, stand normalerweise in der Küche, die im hinteren Teil des Hauses lag. Neben der Küche zweigten noch ein weiteres Zimmer in den hinteren Teil ab, das Naoko aber noch nicht betreten hatte. Genauso wie auch den Raum im vorderen Teil der Wohnung, der links von der Haustür lag. Die Fenster waren erstaunlich hoch für die einer Wohnung und gaben der Einrichtung aus Möbeln im Jugendstil eine zusätzliche noble Note. Nein, eigentlich fand sie die roten Wände doch nicht so schlecht. Überhaupt hatte sie nicht den Eindruck, dass hier ein furchtbarer Mensch mit seinem Sohn wohnte. Schließlich fasste sie doch einen Entschluss.

„Mama, Papa, ich möchte versuchen, mit Ray zu sprechen.“

„Wie meinst du das?“, fragte Mao.

„Ich werde runter in den Keller gehen und ihn zu uns rauf bitten. So schwer kann das doch nicht sein. Es wäre doch schade, wenn wir umsonst hergekommen wären. Wir sollten wenigstens versuchen, miteinander zu reden.“

„Dann komme ich mit,“ rief ihr Vater.

„Nein, ich gehe alleine.“

„Wieso?“

„Weil ich glaube ich am unparteiischsten bin.“

„Du weißt, dass er gefährlich ist? Was, wenn er auf dich losgeht?“, fragte ihre Mutter besorgt.

„Das wird er schon nicht!“, und Naoko musste lachen. Sie behandelten Ray wirklich wie ein unberechenbares Tier.

Ratlos blickten das Ehepaar sich an.

„Ich nehme meine Handy mit, ja? Und wenn wirklich etwas sein sollte, kann ich mich ja per Kurzwahl gleich melden!“, schlug Naoko vor.

Mao zuckte mit den Schultern. Das nahm Naoko als „Ja“ und schon rannte sie zur Tür, streifte sich ihren Mantel über und folgte den Fußspuren im Schnee hinter das Haus.
 

Als Naoko die Tür zum Keller öffnete, stand Ray tatsächlich vor einem Bügelbrett und glättete seine Wäsche. Überraschung war in seinem Gesicht abzulesen. Der Keller war behaglich warm und so legte Naoko ihre Jacke erst einmal auf einem Schränkchen am Treppenabsatz ab und steig dann zu Ray herunter. Ray war wohl genauso schweigsam wie Len, denn er sprach sie auch nicht an, als sie vor ihm stand. Stattdessen lächelte er aber.

Als Naoko ihn in diesem hell beleuchteten Raum zum ersten Mal deutlich sah – in der Wohnung hatte zuvor auch das Halbdunkel vorgeherrscht – bekam sie Herzklopfen. Zugegeben, Len sah gut aus. Aber sein Vater übertraf ihn bei weitem. Durch das ärmellose, eng anliegende Hemd war sein gut trainierter Körper gut nachzuvollziehen und seine vollen Haare waren deutlich wild frisiert – ganz im Gegenteil zu der Nicht-Frisur seines Sohnes. Und vor allem wirkte er auch viel netter als Len, dem sie kein Lächeln zutraute. Wie alt war Ray? 36 oder so?, ging es Naoko durch den Kopf. Sie konnte es nicht glauben.

„Äh …“, ergriff sie das Wort unbeholfen, „ich … wollte …-“

„Ja?“

„Es ist … wegen der Feier. Willst du nicht zu uns nach oben kommen?“

Bei der Aufforderung grinste Ray. Dann schritt er bestimmt auf Naoko zu, die ihrerseits verunsichert nun rückwärts ging. Es war nicht aus Angst. Im Gegenteil. Sein Lächeln hatte etwas unglaublich Attraktives.

„Ähm!“, entfuhr es Naoko, als sie an die Wand stieß und Ray ihr nun so nahe war, dass sie seine Körperwärme zu spüren bekam. In ihrer Tasche begann das Handy zu vibrieren, aber Naoko war wie erstarrt als sie in Rays Gesicht blickte, und ihr Blick von seinen geschwungenen Augenbrauen über die reine Haut bis zu dem schwungvoll ins Gesicht fallende, tiefschwarze Haar bis hin zu seinen Lippen wanderte.

Ray stützte seine muskulösen Unterarme an der Wand hinter ihr ab. Er roch süßlich.

„Die Versöhnungsfeier, nicht wahr?“, meinte er in amüsiertem Tonfall. Naoko schwieg und blickte ihm einem Herzschlag, der so heftig war, dass sie ihn mit ihren eigenen Ohren zu hören schien, in die gold-gelben Augen.

„Was würden sie zum Thema Versöhnung sagen, wenn sie erfahren würden, wie ich über dich herfalle?“, fragte Ray und grinste.

„Was?“, flüsterte Naoko erschrocken. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Aber die Zeit, darüber nachzudenken, bekam sie nicht. Ray hatte ihre Lippen bereits mit den seinen versiegelt. Es war ihr erster Kuss. Und er war gut. Sie hatte das Gefühl, je öfter Ray ansetzte, ihr Körper nach und nach zu zerfließen begann. Er war zärtlich.

Der Seufzer, der Naoko entglitt, ging aber in dem Quietschen der aufgehenden Kellertür unter. Doch es waren nicht ihre Eltern, die dort in der Tür standen, sondern ein komplett fassungsloser Len, dem bei dem Anblick die Kinnlade herunter geklappt war. Irgendwie sah er so richtig dämlich aus.

„Guten Abend, Len,“ begrüßte ihn sein Vater beschwingt.

Len schien allerdings nicht in genauso guter Laune zu sein, denn nach mehreren Ansätzen brüllte er seinen Vater an: „Was zum Geier tust du da?!“, und stapfte zu ihnen die Treppe herunter.

„Ich amüsiere mich ein wenig. Nichts weiter,“ gab Ray noch immer ungeniert zurück.

„Amüsieren?!“, fragte Len fassungslos, riss die beiden auseinander und stellte sich vor Naoko. „Bist du komplett übergeschnappt?! Ich habe ja viel über deine Weibergeschichten gehört, aber das geht zu weit. Das ist Missbrauch von Minderjährigen. Noch dazu von einem Familienmitglied. Ich bin so enttäuscht von dir. Ich weiß, dass du -“

„-Was ist hier los?“, kamen Stimmen von draußen und Mao und Kai kamen zur Tür herein.

„Ray hat sich an Naoko vergriffen,“ erklärte Len verbittert. Sofort verfinsterten sich die Mienen der beiden.

„Ist das wahr?“, fragte Mao und blickte ihre Tochter an.

Naoko wirkte überfordert mit der Situation und stammelte nur ein: „Nein, es … ich … es war nur ein-“

„Es ist wahr,“ erwiderte Ray nur mit einem kalten Lächeln. „Allerdings sind wir nicht sehr weit gekommen. Ich kann das bei Zeiten dann mal nachholen.“ Dafür fing er sich einen Kinnhaken von dem vor Zorn bebenden Kai ein, der ihn gegen die hintere Wand taumeln ließ.

„Naoko, zeig dich!“, donnerte ihr Vater und Naoko trat völlig eingeschüchtert vor. Doch außer dem Kuss war nichts geschehen und Naokos Kleidung saß noch ordnungsgemäß an ihrem Platz. „Wir gehen!“, bestimmte Kai nach strenger Prüfung seiner Tochter und zog sie mit sich. „Ich hätte wissen sollen, dass es nicht anders kommt.“

Naoko wandte sich so gut es ging um und versuchte, noch einen Blick auf Ray zu erhaschen. Ob er ernsthaft verletzt war? Doch Ray entgegnete ihren Blick nur mit einem Lächeln. Dann wurde sie schon durch die Tür nach draußen gezogen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück