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Corruptio optimi pessima

Die Entartung des Besten führt zum Schlimmsten
von

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annähernd

Sein schlechtes Gewissen piesackte ihn mittlerweile immer zu, egal wie sehr er sich versuchte abzulenken. Es ging nicht…

Seine Gedanken kreisten immer um den stummen Jungen, von dem noch immer kein Lebenszeichen gekommen war.

Es war bereits Freitagnachmittag. Nur noch wenige Minuten vor Schulschluss…

Trotzdem konnte er sich nicht wirklich aufs Wochenende freuen.

Nicht wenn er nicht wusste was mit Bill war.

Ah, es war zum aus der Haut fahren!

Frustriert gab der Blonde es auf mitschreiben zu wollen.

Scheiße.

Er wollte unbedingt mit Jenny reden… warum konnte sie auch nicht in seine Klasse gehen?!

Unruhig rutschte er auf dem Stuhl hin und her.

Tom nahm die Blicke der Anderen sehr wohl war, das war der erste Nachteil an seiner plötzlichen Beliebtheit. Er wurde immer und überall wahrgenommen.

Und obwohl er sich eigentlich darüber freuen müsste – weil er sich seit seiner Ankunft Aufmerksamkeit gewünscht hatte – konnte er es nicht.

Nicht jetzt und nicht so.

Deswegen ignorierte er die scheuen Blicke der Mädchen und die abschätzenden der Kerle. Sobald der Gong ertönte, rannte er aus dem Zimmer. Seine Sachen hatte er schon eingepackt gehabt…

Nur wenige Augenblicke später sah er Jenny auf den Flur. Anscheinend hatte sie den gleichen Gedanken gehabt. Hastig eilte sie auf ihn zu.

Doch schon an ihrem Gesicht konnte er erkennen, welche Nachrichten sie brachte.

»Er hat sich immer noch nicht gemeldet…-«

Tom verzog das Gesicht. »Was machen wir denn jetzt?«

»Wir? Nichts… du wirst das wieder grade biegen!«

»Aber…-«

»Ohne aber Tom. Du hast es provoziert. Du badest es aus.« meinte Jenny nüchtern und packte ihn an seiner Hand. Gemeinsam liefen sie zum Ausgang. »Denkst du wirklich es würde etwas nutzen, wenn ich jetzt zu ihm gehe? Du bist der Auslöser… du musst es jetzt wieder hinbiegen, wenn du es willst. Wenn du mit ihm befreundet sein willst. Wenn nicht – tja, dann lässt du es.«

Tom presste die Lippen zusammen. »Da liegt mein Problem ja, man. Ich hab keine Ahnung ob ich es will oder nicht!«

Jenny sah zu ihm rüber. »Dann solltest du dir ganz schnell bewusst werden was du willst, Bill hat nur - «

»TOOOM…«

Beide zuckten bei den Ohrenbetäubenden kreischen zusammen.

Boha!

Beliebtheit in allen Ehren aber darauf konnte er echt verzichten.

In null Komma nichts waren sie von einer kleinen Meute (anders konnte man es nicht nennen) Mädchen umzingelt, die den Blonden regelrecht mit Fragen bombardierten.

»Was machst du am Wochenende?«

»Fährst du heute mit dem Bus?«

»Was machst du heute noch so?«

»Hast du vielleicht heute oder morgen Zeit?«

»Ist das da etwa deine Freundin?«

Der Dreadhead atmete einmal tief durch.

Okay, bloß nicht aufregen jetzt. Schließlich war es das, was er die ganze Zeit gewollt hatte. In Hannover war so was für ihn schon fast Alltag gewesen... und trotzdem, wenn man das so viele Wochen nicht hatte, konnte es leicht beängstigend auf einen wirken.

Vor allem da er genau wusste das diese Weiber es wirklich nur auf seinen Körper abgesehen hatten. Sie sahen nicht den wahren Tom, sondern nur den Sportler mit dem trainierten Oberkörper.

Hätte er das Sportfest einfach geschwänzt, so wie er es erst vorgehabt hatte, würden sie ihn auch jetzt noch nicht mit dem Arsch anschauen.

Er schenkte ihnen eines seiner schönsten Checkergrinsen, die er an seiner alten Schule schon perfektioniert hatte und ignorierte das darauffolgende Kichern und Quietschen einfach gekonnt.

Aus den Augenwinkeln konnte er genau sehen wie Jenny ihr Gesicht bei diesen hohen Tönen verzog.

»Ich habe leider schon viel vor und keine Zeit und ich fahr auch heute nicht mit dem Bus nach Hause.« beantwortete er geduldig die Fragen. »Das ist zwar nicht meine Freundin, aber eine gute Freundin und mit der muss ich heute was Dringendes erledigen. Also seid nicht sauer, ja? Man sieht sich!«

Damit schnappte er Jenny am Arm und zog sie aus dem Kreis der Mädchen zur Tür. Das Kreischen begleitete sie noch auf den Schulhof. Als die Tür hinter ihnen zufiel konnte Tom nur etwas entnervt aufseufzen. Was hatten sie denn da nur für ne Lawine losgetreten?

Scheiße.

Auf dem Weg zum Tor, verabschiedete ihn jeder Zweite oder wünschte ihn ein schönes Wochenende.

Das war gruslig.

Und irgendwie wünschte er sich gerade die Anonymität und Stille der letzten Wochen zurück.

Aber dafür war es wohl zu spät.

»Sag mal, TomTom, kannst du mir mal verraten was die plötzlich alle an dir gefressen haben?«

»Nein, JenJen… aber hättest du mir nicht wie ein Kleinkind meine Klamotten versaut, dann hätte ich das Problem jetzt gar nicht!« sagte er gereizt. Was ihn auch sofort leidtat.

Die Schwarzhaarige konnte ja im eigentlichen Sinne auch nichts dafür.

»Jetzt gibst du mir die Schuld? Alter, das war nur Wasser! Du hättest ja nicht wie Hulk dein T – Shirt runterreißen müssen!«

»Lassen wir das Thema,… was wolltest du vorhin sagen?«

Jenny stutzte, zuckte dann aber die Achseln. »Keine Ahnung, deine Groupies haben mich total aus dem Konzept gebracht.«

Tom schmunzelte leicht.

Groupies… hörte sich ja ganz nett an, doch eigentlich konnte er jetzt gut auf diese Aufmerksamkeit verzichten. Dass er das allerdings mal denken würde, hätte wohl niemand vermutet… am allerwenigsten er selber. Trotzdem stimmte es.

Er hatte sich irgendwie damit abgefunden nicht gesehen zu werden und es war okay für ihn nur Jenny, ihre Schwestern und Bill zu haben…-

Bill.

»Wir waren grade bei Bill.« erinnerte er sie.

»Das weiß ich. Aber egal, was ich dir eigentlich vermitteln wollte war, dass es keinen Sinn macht mit ihm zu reden, wenn du dir nicht sicher bist was du willst. Entweder du lässt dich ganz auf ihn ein oder gar nicht. Alles andere tut ihm nur weh. Also solltest du dich erst Mal entscheiden.«

»Das hört sich so an als würdest du mich verkuppeln wollen!«

»Wer sagt das ich das nicht will?«

Bei dieser Frage verschluckte sich der Blonde an seiner eigenen Spucke, was die Schwarzhaarige zum Lachen brachte.

»Das war ein Witz, ey.«

»Nicht witzig!« hustete er vor sich hin.

Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück.

Genug Zeit für Tom noch einmal über alles nachzudenken… doch eigentlich gab es nichts mehr zu denken.

Eigentlich hatte er sich doch schon entschieden oder?

Würde es ihm sonst nicht völlig egal sein was mit dem Schwarzhaarigen war?

Sollte er es doch wagen?
 

Als er die Wohnungstür aufschloss, stürmte Sam die Treppe hinunter und sprang ihn an.

»Woha! Ja ich hab dich auch vermisst, Dicker!« lachte er und versuchte den übermütigen Hund zu bändigen, der vor Freude ganz aus dem Häuschen war.

Logisch irgendwo, schließlich war er es bis vor kurzem auch noch nicht gewohnt den ganzen Tag alleine zu sein. Kein Wunder also, dass er so ausrastete.

Der Blonde stellte seinen Rucksack ab und nahm sich die Leine.

»Was meinst du gehen wir gleich raus und essen später was?«

Sam kläffte begeistert und wedelte mit dem Schwanz.

»Ich werte das jetzt mal als Ja…«

Gesagt getan.

Er ging mit seinem Hund die kleine Runde durch den Park und beschloss sich gleich an dem Imbiss in der Querstraße schnell Pommes zu holen.

Seine Eltern würden sicher wieder bis zum späten Nachmittag nicht zuhause erscheinen und er hatte auch nicht so großen Hunger, dass er sich jetzt zuhause hinstellen und irgendetwas kochen wollte.

So aß er die Kartoffelstangen im Laufen, während seine Gedanken um den nächsten Schritt kreisten.

Jenny hatte gemeint er solle sich zu hundert Prozent sicher sein, ehe er mit Bill sprach.

War er das wirklich?

Ganz genau konnte er das nicht sagen.

Das einzige was er wusste war, dass er das Bedürfnis hatte mit Bill zu sprechen um das alles aus der Welt zu schaffen. Schon alleine die Vorstellung, dass der Junge sich wegen ihm wieder selbst verletzte, zerriss ihm irgendwie das Herz. Und das obwohl er ihn eigentlich gar nicht kannte!

Seufzend schmiss er die leere Pappschale in den Mülleimer neben einer Bank und ließ sich auf die nieder.

Sam kam sofort zurückgelaufen, als er bemerkte, dass sein Herrchen nicht mehr folgte und schmiegte sich zwischen seine Beine. Legte seinen Kopf auf den rechten Oberschenkel des Hoppers ab.

»Was mach ich denn nur, Sammy?« wollte er von dem Vierbeiner wissen und kraulte ihm gedankenverloren hinterm Ohr. »Ich weiß ja selber das es doof ist, was ich mache… aber… ich weiß einfach nicht ob ich das nochmal packe für zwei stark zu sein, weißt du?«

Der Hund jaulte leise.

»Ich hab einfach so Angst noch was falsch zu machen…«

Tom wischte sich durchs Gesicht.

Hier rumzusitzen und mit seinem Hund zureden brachte ihn auch nicht weiter. Deswegen stand er auf und lächelte seinen Begleiter an.

»Na komm, lass uns gehen. Das sieht nach regen aus.«

Sam gehorchte.

Gerade als sie den Park verließen, vibrierte sein iPhone in der Hosentasche.

Erstaunt nahm er es heraus und ging ran.
 

»Ja?«

»Hey, Alter. Ich hatte mal Bock deine Stimme zuhören. Stör ich?«

»Ne, alles okay. Du doch nicht.«

»Klasse. Wie läuft’s in der Provinz?«

»Haha… selten so gelacht. Hast du nen Clown gefrühstückt, ey?«

»Man wird ja wohl noch ein Scherzchen machen dürfen. Was denn los mit dir?«

»Nichts… und hier geht auch nicht viel… außer das plötzlich alle Mädchen meiner Schule auf mich abfahren und das ich beim Sportfest alle weggehauen habe.«

»Echt? Erzähl!!«
 

Das Telefonat dauerte ungefähr die 5 Minuten die der Blonde brauchte um vom Park aus, wieder in seine Straße zu gelangen. Irgendwann verabschiedete er sich von Georg.

Von Bill erwähnte er nichts.

Es war auch schwierig zu erklären,… sein bester Freund verstand so einiges, aber auch er war nicht der feinfühligste Mensch. Eigentlich war er das selbst auch nicht, weshalb es ihn auch so wunderte, dass er sich plötzlich so eine Platte um den Schwarzhaarigen machte.

Eigentlich war immer Gustav in ihrem Freundeskreis der Menschenversteher gewesen. Entweder hatte er unbewusst etwas davon abbekommen, oder dieser stumme Junge war daran schuld, dass er auf einmal so sentimental wurde…

Aber eigentlich war der Grund ja auch egal.

Jetzt musste er sich erst mal auf den nächsten Schritt konzentrieren, dann würde er ja sehen wie es weiter ging und später … -

Er sah schon von weitem das Jenny vor seiner Tür stand.

Sofort schlug sein Herz schneller und er beschleunigte den Schritt ohne, dass er es merkte.

»Wolltest du zu mir?« fragte er, als er bei ihr angekommen war.

Die Angesprochene wirbelte herum und starrte ihn einen Moment lang einfach nur an. dann verdunkelte sich etwas in ihrem Gesicht und sie kam einfach auf ihn zu und umarmte ihn.

Völlig perplex erwiderte die Geste, löste sich aber nach kurzer Zeit wieder von ihr.

»Was ist los?« fragte er und sah ihr prüfend ins Gesicht. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung. Es war irgendetwas geschehen…

»Hast du dich schon entschieden?«

»Ja… dafür.«

»Okay. « lächelte sie leicht. Doch dieses Lächeln erreichte ihre Augen nicht und wirkte einfach nur erschreckend. »Dann kannst du gleich mitkommen… Bills Mutter hat mich eben angerufen. Ich soll hinkommen, etwas ist passiert.«

Ein Schlag ins Gesicht, wäre nicht minder schmerzhaft für Tom gewesen.

»Was-«

»Weiß ich noch nicht… also kommst du?«

»Ich – ja, gehen wir.« entschied sich Tom einfach und versuchte sein Herzklopfen zu ignorieren.

Gerade war er sich gar nicht mehr so sicher, ob das so eine gute Idee war. Doch er zwang seine Beine zum weiter laufen. Es fühlte sich an wie der letzte Weg zum elektrischen Stuhl, was eigentlich absolut lächerlich war. Wieso nur machte er sich so viele Gedanken?

Als sie das hellviolette Haus am Ende der Straße erreichten, zitterten seine Knie bedenklich.

Er hoffte nur, dass Jenny mit sich selber beschäftigt war und es nicht mitbekam.

Tom würde sich lieber die ihm heiligen Dreads abschneiden, als jemanden zu gestehen, wie es ihm gerade ging. Er war nervös… scheiß nervös!

Dann standen sie vor der Tür und die Schwarzhaarige drückte auf die Klingel.

Der Blonde musste sich unterdessen zusammenreißen um nicht wegzulaufen. Wie gerne wäre er der Situation jetzt entkommen… doch das wäre kindisch und dumm gewesen. und im Endeffekt hätte er dann weder Jenny und Bill, noch sich selber im Spiegel ansehen können.

Also blieb er stehen und hielt für wenige Augenblicke den Atem an.

Er spürte wie Sam sich gegen sein Bein lehnte und fühlte wie sich die Ruhe des Tieres ein wenig auf ihn zu übertragen schien.

Einen Moment bevor die Tür aufging, fragte er sich, warum er eigentlich seinen Hund mitgeschleppt hatte. Er hätte ihn zuhause absetzten und Futter geben können. Er wusste nicht mal ob Frau Kaulitz Hunde mochte…- hieß wohl er musste Sam hier draußen anbinden, wenn dies nicht der Fall war.

Auch bescheuert.

»Oh guten Tag.« wurde er von einer freundlichen Frauenstimme aus der Überlegung gerissen.

»Hey, Beate.« begrüßte Jenny die Frau vor sich und zog sie dann in eine herzliche Umarmung.

Der Hopper jedoch, konnte die ersten Sekunden nur starren.

Beate Kaulitz war eine kleine Frau, die einmal so überhaupt keine Ähnlichkeit mit Bill hatte. Zuerst einmal war sie blond und blauäugig(wobei er nicht einmal wusste ob Bill sich vielleicht die Haare färbte) und zum anderen stimmte keine einzige Proportion. Eigentlich sollte ein leibliches Kind doch irgendwas von seiner Mutter haben… eine gleiche Nase oder die gleiche Lippenform oder etwas anderes.

Doch von Bills ebenmäßigen Gesicht war bei ihr nichts zu sehen; ihr Gesicht wirkte eher… kantig.

Ja, das war das richtige Wort.

Alles an ihr wirkte kantig.

Auch war die Frau ihm nicht groß und schlank, sondern klein und untersetzt.

Nach wenigen Augenblicken kramte Tom seine Manieren heraus und ging ein Schritt auf die Frau zu um ihr seine Hand entgegen zuhalten.

»Guten Tag, ich bin Tom Trümper.«

»Tom. Du bist doch der, der hier erst vor kurzem hergezogen ist. Schön, dass ich dich auch mal kennenlerne! Jenny und Bill haben mir schon so viel von dir erzählt!«

Seine Hand wurde ergriffen und geschüttelt und auch wenn er sich an dem letzten Wort etwas stieß, sagte er nichts dazu und lächelte nur.

»Kommt doch rein.«

Während Jenny an ihr vorbeilief, beugte sich der Hopper hinunter um Sam am Regenrohr, was rechts an der Haustür vorbei führte, anzubinden.

»Nimm ihn doch mit rein. Wenn er stubenrein ist, habe ich nichts dagegen.«

Er sah auf und lächelte sie an. »Vielen Dank.«

Dann strafte er den Hund mit einem vorwurfsvollen Blick. »Sam! Wo bleibt dein Danke?«

Der Angesprochene kläffte und wedelte mit dem Schwanz, ließ es zu das Frau Kaulitz ihn streichelte und brachte so alle Anwesenden zum Lachen.

Sie geleitete Tom und Jenny ins Wohnzimmer, wo sie auf einer breiten Ledercouch Platz nahmen, während Frau Kaulitz Gläser und Wasser holte.

Als sie aus der Küche wiederkam, stellte sie alles auf dem Glastisch und setzte sich den Beiden gegenüber in einen Zweisitzer.

»Was ist passiert, Beate?« fragte Jenny ohne Umschweife.

Diese seufzte und schenkte jedem Wasser ein.

»Er hat einen Rückfall bekommen.«

»Ein Stuporrückfall oder einen SVV Rückfall?«

»Einen Stuporrückfall.«

»Scheiße. Die ganze Woche schon?«

»Ja…«

»Wieso hast du nicht schon früher angerufen?«

»Weil es erst heute so schlimm geworden ist. Bis jetzt konnte ich ihn wenigstens noch zum Essen und Trinken bewegen. Aber heute… er hat noch nichts zu sich genommen.«

»Fuck, ey.« fluchte die Schwarzhaarige und schien nachzudenken. »Wenigstens zum Trinken müssen wir ihn zwingen, sonst können wir uns den Rest sparen!«

Der Blonde hatte das Gespräch stumm verfolgt und wusste überhaupt nicht über was die Beiden da redeten.

Was sollte das heißen? Wieso Rückfall?

Das hörte sich alles verdammt schlecht an.

Und er war Schuld…

»Was soll das heißen?« stellte er die Frage ohne weiter darüber nachzudenken.

»Das soll heißen er isst und trinkt nicht.«

»Das hab ich verstanden, aber was ist das für ein Rückfall, Jenny!?«

»Soll das heißen du hast es ihm noch nicht erzählt?« unterbrach Bills Mutter die Beiden und sah Jenny prüfend an.

»Nein. Ich wollte ihn nicht gleich wieder verschrecken. Das mit dem Ritzen weiß er ja schon und ich glaube das war Schock genug für ihn…«

»Ach dann warst du das, der Bill die Arme verbunden hat?« wand sie sich nun an den Hopper.

»Ja.«

»Das sah richtig professionell aus. Alle Achtung.«

»Da – danke.«

Was sollte man auch dazu sagen?

Doch Frau Kaulitz wand sich sofort wieder der Schwarzhaarigen zu. »Trotzdem hättest du es ihm sagen müssen, Jenny. Der Junge muss wissen, worauf er sich bei Bill einlässt.«

»Aber er will ihm vertrauen, wenn er geht…-«

»Das ist egal. Ich werde es ihm trotzdem sagen. Verstehst du nicht? Er muss eine Wahl haben. Wie er sich entscheidet ist ja egal… aber wir müssen mit offenen Karten spielen.«

Tom war leicht überfordert.

Nein, eigentlich war es Untertreibung… er war sehr überfordert.

Was sollte diese Diskussion auf einmal?

Hatten sie nicht was Besseres zu tun, als hier zu sitzen und sich bei einem Glas Wasser über so was zu unterhalten. Zumal er anwesend war und er gänzlich ignoriert wurde.

»Ähm…«

»Weißt du, Tom. Bill ist psychisch krank.« wand sich die Frau nun erneut an ihn. »Eigentlich ist so ziemlich alles von ihm kaputt. Dabei ist er so ein guter Mensch. Aber die Anderen haben ihm zerstört und jetzt lebt er nur noch vor sich hin.«

In der Stimme der Blonden schwang eine Traurigkeit mit, die ihn schwer schlucken ließ.

»Du musst wissen, Bill hatte eine schreckliche Kindheit. Ihn ist schon damals viel angetan worden und das wurde auch nicht besser als er hier zu mir kam. Irgendwann kann man einfach nicht mehr. So schrecklich sich das anhört… irgendwann gibt man sich einfach auf und das hat er getan.«

Er kam hier zu ihr?

Das würde Sinn ergeben… was wenn diese Frau gar nicht Bills leibliche Mutter war?

Dann war er vielleicht doch nur hierher gezogen?

Da solche Fragen aber in solch einer Situation unangebracht und wenig feinfühlig waren, schwieg er und nickte nur. Irgendetwas Schmerzhaftes rührte sich in seiner Brust.

»Ich bin mit ihm zum Arzt gefahren, als es ganz schlimm mit ihm war und er einfach nicht mehr sprechen wollte. Es wurde diagnostiziert das er eine mittelschwere Depression entwickelt hat und aus dieser hat er eine Depersonalisation, das ist eine Ich – Störung, was wahrscheinlich auf seine Kindheit zurückzuführen ist. Dazu kommt das er zum Selbstverletzenden Verhalten neigt, kurz SVV. Zu dem gehört auch das Ritzen… in den letzten Jahren hat er zudem noch Verlustängste und eine Sozialphobie entwickelt.«

Tom konnte die Frau nur anstarren.

Konnte das sein?

Konnte ein Mensch wirklich so gestraft sein?

Das schmerzhafte Etwas in seiner Brust tobte. Er bekam kaum noch Luft.

Hatten ihm das wirklich Andere angetan? Konnte überhaupt jemand so etwas tun?

Du hast ihm auch wehgetan, flüsterte die böse Stimme in seinem Kopf.

Er schüttelte den Gedanken ab.

»Was… was ist das dieses Mal für ein Rückfall…?«

»Ein Stuporrückfall. Stupor bedeutet Bewegungslosigkeit. So etwas hat er manchmal… dann ist er völlig leblos wie eine Puppe. Es ist so, als wenn er in irgendeiner anderen Welt gefangen sein würde.« erklärte Beate Kaulitz kurz und ihre Augen drückten Kummer aus. »Meistens wacht er nach drei Tagen alleine auf, wenn man das überhaupt so nennen kann… aber dieses Mal ist er schon vier Tage so. ich weiß einfach nicht was ich noch tun soll.«

»Und du wolltest das wir es mal versuchen.« mutmaßte Jenny.

»Ja… ich weiß keine andere Lösung.«

»Okay. Dann lass uns hochgehen.« meinte die Schwarzhaarige und seufzte. »Bist du sicher, dass du das machen willst, Tom.«

Nein, verdammt!

»Ja…«

Was redete er da überhaupt?!

In ihm tobte ein Kampf zwischen seinem schlechten Gewissen und seinem Verstand.

Was sollte er mit so einem kaputten Jungen anfangen?

Wie sollte er ihm helfen und für ihn stark sein?

Trotzdem, hätte er nicht so egoistisch gehandelt, wäre niemand von den Anwesenden jetzt in der Situation, in der sie sich nun einmal befanden.

Tom folgte den Beiden Frauen die Treppe rauf. In der zweiten Etage befanden sich nur zwei Zimmer und seine Begleiterinnen steuerten das linke davon an.

Jenny stieß die Tür auf und ihm blieb das Herz mitten im Takt stehen.

Der Hopper blieb einfach im Türrahmen stehen. Er konnte sich nicht mehr bewegen…

Alles war eingefroren.

Er starrte nur auf das grausame Bild, was ihn zum Heulen hätte bringen können, wenn er nicht in Begleitung gewesen wäre.

Dort in dem kahlen, unpersönlichen Zimmer saß Bill. Es war dunkel, da die Jalousien hinunter gelassen worden waren. Der Schwarzhaarige saß auf dem Boden, vor seinem Bett, hatte seine Beine nah an den Körper gezogen, die Arme darum geschlungen und starrte vor sich hin.

Er sah wirklich aus wie eine Puppe. Er bewegte sich nicht. Nur die Tatsache das er atmete und ab und an blinzeln musste, zeigte, dass er lebte.

Seine Augen waren leer. So als hätte man die Stahltüren zu seiner Seele zugeschlagen. Man sah absolut nichts mehr in ihnen. Es war schrecklich…

Wenn er beschreiben sollte was er sah und was er fühlte, hätte er es nicht gekonnt

Niemand würde das grauen dieses Menschen verstehen, wenn er nicht selber mit ihr im Zimmer gewesen war. Alles schien aus seinem Körper gewichen zu sein.

Nur am Rande nahm Tom wahr, wie Jenny und Beate versuchten den Schwarzhaarigen zum Trinken zu bewegen. Sie sprachen auf ihn ein, doch es geschah nichts. Keine Regung. Nicht mal eine Mirkobewegung.

Irgendwann würde er ein Druckgeschwür am Hintern bekommen, wenn das so weiter ging, brach plötzlich eine nüchterne Stimme aus seinen Gedanken vor. Wenn es nicht schon zu spät war. Okay, vielleicht bewegte er sich ja doch etwas, wenn kein anderer da war.

Weiterhin völlig erstarrt, dachte er darüber nach, was nun zutun war.

Wie sollte er etwas wieder gutmachen, dessen Schaden so groß war?

Konnte er das überhaupt?

Sollte er nicht lieber runtergehen, sich Sam schnappen und nach Hause verschwinden. Wenn er es noch schlimmer machte dann…-

Nein! Er konnte jetzt nicht einfach abhauen.

Das war Bill.

Er musste ihm helfen… irgendwie.

Der Blonde sah sich um. Es war eher der versuch sich von dem herzzerreißenden Bild abzulenken, als direkt geplant. Doch als er das Keyboard sah, wusste er was er zu tun hatte.

Wenn Tobi wieder einen seiner Anfälle gehabt hatte, dann hatte ihn Toms Musik immer beruhigt.

Warum sollte sie also nicht auch Bill zurückholen?

Ein Versuch war es allemal wert; zu verlieren hatte er schließlich nichts.

Aus diesem Grund ging der Hopper ins Zimmer und setzte sich unweit von Bill auf den Boden, dort wo das Instrument stand. Wahrscheinlich hatte er vor kurzem erst dort gespielt.

Seufzend machte er das Gerät an und stellte es so ein, wie er es brauchen würde.

Es kostete ihn einiges an Mut vor anderen zu singen. Das tat er sonst nie, vielleicht mal abgesehen von seiner Mutter. Er mochte es nicht… er wusste das sein Outfit und die Musik die er schrieb nicht zusammenpassten. Natürlich konnte er auch rappen, aber das war im Moment einfach nicht angebracht.

Tom machte ein kurzes Vorspiel und versuchte die anderen Drei bewusst auszublenden.
 

»Dort am Straßenrand stand ein Mann, wegen ihm fiel das Laub noch leiser. Meine Stimme schnitt durch die Stille; ein böser Traum. Mit der Angst fest in meiner Hand schrie ich mich an der Kälte heiser: Vor den Wolken zählen Momente wie dieser kaum. « sang er mit klarer sanfter Stimme.

» Wieder atme ich Wasser, wieder trinke ich Flammen und ich bitte um noch mehr Verzicht. Doch je lauter ich flehe, so sehr ich ihn auch suche, Den Weg zu mir, ich finde ihn nicht.«
 

Dieses Lied hatte er ewig nicht mehr gesungen oder gespielt. Damals, als sie noch die Band gehabt hatten, hatten sie es zusammen geschrieben. Na ja, eigentlich hatte es eher der damalige Sänger der Band geschrieben und sie hatten alle daran mit herumgefeilt, bis es absolut jeden von ihnen gefallen hatte.

Es war eines ihrer besten gewesen und das einzige was in seinem Gedächtnis bis heute überlebt hatte.

Ihn wunderte es, dass er die Melodie noch so fehlerfrei spielen konnte. Doch es war so, als würde sie sich aus seinem Geiste direkt auf seine Finger übertragen.
 

»Hier im Haus ist man nicht allein, rings um uns sammeln sich die Geister. An den Wänden zerrinnen Schatten, das Leben schweigt. Über Dir bin ich furchtbar klein und das Ende, des Anfangs Meister Färbt die Hände, wenn sich der Weg an der Brücke zweigt.

Wieder schlucke ich Steine, wieder gleiten die Finger durch Entbehrung, das Gras und den Wind. Manche Schachtel wiegt schwerer Als die Welt auf den Schultern Und als alle, die noch bei mir sind.«
 

Er spürte die Blicke in seinem Nacken.

Komischerweise störte ihn das nicht so sehr, wie es das sonst getan hätte.
 

»Wär' die Erde doch nur so kalt, wie mein Herz im Licht aller Sonnen. Wär' das Eisen so leicht und brüchig wie morsches Holz. Mein Bruder, Lebwohl; schon bald Hat der Winter in Dir begonnen: Unaufhaltsam und voller Anmut, Gleich Deinem Stolz. «
 

In den letzten Zeilen wurden sowohl seine Stimme als auch sein Spiel immer leiser.
 

»Wieder reiße ich Narben in die Körper der Menschen, wieder berste ich: "Nimm' sie mir nicht." Doch je tiefer ich grabe, so sehr ich nach ihm suche, den Weg zu dir, ich finde ihn nicht. «
 

Als die Melodie verklungen war fühlte er sich merkwürdig melancholisch.

Und dann spürte er zwei Arme, die sich um seinen Bauch schlangen und einen schmalen Körper, der sich von hinten an ihn presste.
 


 

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Reinhören:
 

http://www.amazon.de/samsas-traum-janis-lied-Alternative-MP3-Downloads/s?ie=UTF8&keywords=Samsas%20Traum%20Janis%20Lied&page=1&rh=n%3A180643031%2Ck%3ASamsas%20Traum%20Janis%20Lied



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
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Von:  G-Saite
2018-06-28T09:28:38+00:00 28.06.2018 11:28
Bislang gefällt mir Deine FF wirklich gut. Ich werd gespannt dranbleiben.
Von:  _AnNa_EaTs_PikAchU_
2013-08-11T21:45:34+00:00 11.08.2013 23:45
OMG!!! :O das kapitel hat mir irgendwie richtig gänsehaut gemacht O.O
Ich konnte mir das.alles richtig gut vorstellen und wo tom dann dieses lied gesungen hat hätt ich fast amgefangen zu heulen ^^' das war irgendwie so traurig, auch zu erfahren was bill alles durchmachen musste/muss, ich hab richtig richtig mitleid mit ihm :o er tut mir so leid :c
Aber es.ist auch unglaublich süß wie tom sich verhält *-* *schwärm*
Und der schlusssatz könnte glatt aus nem roman stammen :D
Also alles in allem ein total gutes kapitel *-*
Schreib bitte ganz schnell weiter, deine story at mich total gefesselt xD :3
Lg, anna :)
Antwort von:  Noveen
17.08.2013 08:47
Sorry... ich wollt nicht das du weinst o_o
Aber es freut mich, das die Emotionen bei dir angekommen sind.
Aus nem Roman? Ehrlich?...
Wuhu,...
Antwort von:  _AnNa_EaTs_PikAchU_
17.08.2013 10:01
Haha schon okay :D
Ich finds gut wenn ich beim lesen so mitfühlen kann ;3
Japp ^^ ist dir total gut gelungen *~*


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