Zum Inhalt der Seite

Du bist vergessen

Gedanken einer Zugfahrt
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Du bist vergessen

Du bist vergessen
 

Es ist warm, doch innerlich friere ich. Friere ich, von der Kälte draußen, vom leichten Eis, das Straßen und Felder bedeckt, aber nie länger als einen Tag liegen bleiben will. Innerlich friere ich, wegen der Ignoranz und Langeweile der Menschen.
 

Egal, wie warm es ist. Egal, wie viele Schichten Kleidung man hat. Egal, wie dick die Jacke ist. Innerlich erfriert man doch. Es fröstelt, man zittert, es will nicht warm werden. Es?
 

Trägheit war es, die mich zur falschen Zeit an den falschen Ort brachte. War es auch Trägheit, die Dich hier her brachte?
 

Ich suchte eine Ausrede, einen Grund, um früher heimkehren zu können, sehnte mich nach meinem zu Hause, dem einzigen Ort, an dem ich glücklich bin. Ich müsse doch lernen, sagte ich mir.
 

Was ist deine Ausrede?
 

Meine Ausrede wurde zunichte gemacht. Auge um Auge. Zahn um Zahn. Ich muss lernen, doch nun kann ich es nicht mehr. Es war meine Ausrede und sie wurde mir genommen.
 

Ob Du Dir über solch belanglose Dinge Gedanken gemacht hast?

Dass ich nicht lernen kann. Dass der Mann in der beigen Jacke seinen wichtigen Termin verpasst. Dass er sich darüber ärgert. Dass die magere Frau Angst bekommt. Und von ihrem Begleiter in ihrer Angst bestärkt wird. Dass die Kinder Hunger kriegen. Ich sehe sie fröhlich, lachend durch das Abteil springen. Sie essen Brote. Ich bin froh, zuvor etwas gegessen zu haben. Die Kinder sind froh, dass sie etwas dabei haben. Ob sie überhaupt wissen, was geschehen ist?
 

Das Rumpeln. Lärm. Der Zug wackelt. Sie müssen es gespürt haben. Sie alle haben es gespürt. Wenige Sekunden, in denen sich keiner traute zu atmen. Hast Du damit gerechnet?
 

Unruhe, als der Zug hält, Unruhe, überall. Was ist passiert? Was war das für ein lautes Geräusch?
 

Sind wir vielleicht schon am Bahnhof? Nein, Du standest genau zwischen den Orten. Neben Feld, grau vom Eis, und neben kahlen Ästen, kahlem Wald.
 

Wusstest Du, dass wir kommen würden? Wolltest Du es so? Hast auf uns gewartet? Oder war es gar nicht Deine Entscheidung? Zur falschen Zeit am falschen Ort...
 

Sie spekulieren, rätseln, denken sich etwas aus. Die magere Frau, der Mann. Vielleicht ein Ast? Vielleicht ist eine Achse gebrochen? Ob uns etwas zustößt? Ein Unfall?
 

Doch jemand spricht aus, was alle wirklich denken. Du warst da. Du warst das Poltern, das Knacken. Du.
 

Ein Herr, rund, mit Brille, läuft nervös durch den Zug, auf und ab, hin und her. Er macht auch mich nervös.
 

Und mir wird kälter. Um mich wird es wärmer, stickiger. Dann brummt der Zug - die Klimaanlage, Luft. Dann wieder die Heizung. Doch mir, mir wird stetig kälter.
 

Noch immer hoffe ich, dass ich heim darf, so schnell wie möglich. Ich will hier raus, raus aus dem Zug. Runter von den Gleisen.
 

Die Äste der Bäume bewegen sich so stark und alle schauen, glotzen, gaffen, staunen. Ein Rettungshubschrauber?
 

Mit dem Hubschrauber kommt der Schaffner. Niemand darf den Zug verlassen, wir müssen ausharren. Personenschaden. Du. Die Bestätigung. Du.
 

Und ich frage mich, wer bist Du? Ein Mann, eine Frau? Jung oder alt? Wolltest du es, wolltest du es nicht...
 

Jetzt geht das Gerede los. Wild. Ungezähmt. Termine, die abgesagt werden müssen. Anrufe. Seht da! Ein Rettungswagen! Der Rettungsdienst! Die Kriminalpolizei... Mord? Spurensicherung. Routine.
 

Alles nur wegen Dir!
 

Es wird weiter über Dich spekuliert. Aus einer Anstalt, vielleicht geistig verwirrt? Alle nennen Dich "er". Der "Kerl". Der Du es wagen konntest, sich vor den Zug zu stellen. Nur wegen Dir müssen sie warten!
 

Sie wollen rauchen. Sie wollen Dich sehen. Doch niemand darf den Zug verlassen.
 

Wie lange müssen wir warten? Zwei Stunden? Drei?
 

Und wieso musste es ein Mensch sein? Kein Hase? Kein Reh?
 

Sie werden lauter und lauter. Reden sich in Rage. Doch ich sitze hier, allein, innerlich kalt. Ich wollte lernen. Ich kann es nicht, sie sind zu laut.
 

Ich kann mich nicht konzentrieren, ich muss an Dich denken. Wieso? Wieso hast Du es getan? Hast Du es getan?

Langeweile? Trägheit?

Warst Du traurig? Hattest Du Angst? Warst du verwirrt?
 

Ich sehe die Männer, weiß und rot, blau. Sie sehen überall nach, wo Du bist. Sie suchen Dich. Suchen Spuren.
 

Und die magere Frau, sie redet. Sie hat die Schuhe ausgezogen, macht es sich bequem. Ein Jammer, dass sie so lange warten müssen, wegen Dir. Ihr Begleiter spricht. Von deinen Körperteilen. Überall verteilt. Man suche sie. Er lacht. Er lacht und sieht mich an.
 

Wie grotesk.
 

Meine Mutter ruft mich an. Ob alles okay ist?

Ein Freund bietet mir an, mich am Bahnhof abzuholen.

Sie alle wissen bereits, was passiert ist. Ich habe es ihnen erzählt, wollte es jemandem sagen. Sagen, dass Du mich verwirrst. Dass ich heim will.
 

Wichtiger sind die Lebenden, nicht die Toten. Keiner fragt nach Dir. Du, der vor einen Zug sprangst. Hast Du es überhaupt verdient, dass man sich um Dich sorgt? War es Dir überhaupt bewusst?
 

Lange dauert es - ein Ruck. Der Zug fährt weiter. Kein Zeichen von dir. Als hätte es Dich nie auf dieser Strecke gegeben. Als hätten wir Dich nie getroffen.
 

Erleichterung. Der Zug fährt weiter. Alle sind erleichtert, obgleich sie sich über die Situation erheitert hatten, Zeitvertreib.

Du warst anders. Du sprangst vor den Zug.

Alles was ich sehe, wenn ich die Menschen in diesem Zug sehe ist Langeweile, Trägheit.

Desinteresse und Konformität, Zugehörigkeit.
 

Du warst nicht konform. Du interessierst sie nicht. Du langweilst sie. Sie sind träge.

Doch das Erschreckende ist. Nur ein Teil von mir denkt an Dich. Der andere Teil von mir ist genauso konform geworden wie sie. Ich will heim. Ich bin träge.
 

Du bist vergessen. Doch ein Teil von mir trauert um Dich, den ich doch gar nicht kannte.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück