Prolog
Kühl war die Fensterscheibe, an die der Junge seinen Kopf lehnte. Ein Stückchen Beständigkeit in der kalten, so unberechenbaren Winterzeit. Während auf dem Gang jenseits seiner Zimmertür hektische Schritte, aufgeregte Unterhaltungen und Lachen in den Raum wehten, saß Heinrich stumm und den Blick seiner glasigen Augen in die Nacht gerichtet auf der Fensterbank und wartete.
Wartete auf das unverwechselbare Geräusch des Motors eines Oldtimers, wie sein Vater sagte, das ihm verkündete, dass er abgeholt wurde. Wartete darauf, dass die Tür aufging und die dunkle Stimme seines Chauffeurs ihm erklärte, dass er nun aufstehen musste. Dass er hier sei, um ihn abzuholen. Nach Hause zu bringen. Weg von den ungeliebten Gewölben des Internats, auf das er ging.
Aber er wusste, dass es vergebens sein würde. Es würde nicht kommen. Nicht heute. So, wie es nie am Samstag kam. Genauso wie er selbst nie am Samstag sein Zimmer verließ. Nie sich in die Unsicherheit der Gänge begab. Dort, wo er hin und her gestoßen würde, weil er zu langsam war. Weil die anderen schnell zu ihrem Ziel wollten. Erst recht jetzt, da die Ferien bevorstanden.
Er selbst mochte die Hektik dieser Tage nicht. Also blieb er in seinem Zimmer, solange dies möglich war. Stumm, wie er es immer war. In völliger Finsternis, so wie er es gewohnt war. So, wie er es kannte. Von Geburt an.
Die Tür ging auf, kurz wurden die Stimmen von draußen lauter. Licht musste hereinfallen, als ein anderer Junge den Raum betrat.
„Gott, du sitzt ja schon wieder am Fenster.“
Stille.
„Hast du Hunger? Ich hab dir was vom Abendessen mitgebracht.“
Stille.
„Ich stelle es dir auf den Tisch. Vor den Stuhl, wo es immer steht.“
Ein Nicken. Danke mochte es heißen, aber sicher sein konnte man sich dabei nicht.
„Voll blöd, dass uns die Lehrer über die Ferien was aufgeben, oder? Als ob man das über die Feiertage tun würde!“
Stille. Ein Seufzen seitens Alexander. Aber keines der Resignation. Sein Zimmergenosse war einer der Art „Unerschütterlich“. Wahrscheinlich war das auch der Grund, weswegen er es mit ihm überhaupt noch aushielt.
„Du hast sie schon gemacht, hab ich recht?“
Wieder ein Nicken. Alexander lachte.
„War ja klar. Darf ich es bei dir abschreiben? Dann hab ich über die Ferien auch frei…“
Ein erneutes Nicken, auf das dieses Mal ein Rascheln folgte. Alexander suchte wohl gerade nach seinen Unterlagen. Nun, er würde sie schon finden. Sie waren dort, wo sie immer waren. Kurz darauf hörte man nur noch das Kratzen eines Füllfederhalters auf Papier. Nur unterbrochen von längeren Pausen, in denen er wohl las. Oder es versuchte. An Heinrichs Schrift lag es mit Sicherheit nicht. Diese war klar lesbar… für jemanden, der mit ihr vertraut war. Alexander hatte sie gelernt, als er auf das Internat kam. Gezwungenermaßen mochte man meinen, aber das bezweifelte Heinrich. Alexander faszinierte alles, was unbekannt war. Wenn auch nur so lange, bis er es verstanden hatte. Aus diesem Grund hatte er so seine liebe Not mit der Bearbeitung seiner Hausaufgaben. Aber genau deswegen konnte er nun auch lesen, was Heinrich schrieb. Ihre Geheimschrift, wenn man so wollte, was aber in Heinrichs Augen lächerlich war. Konnten sie doch sehr viele andere Menschen auch. Wenn auch nicht zwingend auf dieser Schule. Braille war eben nicht für jedermann.
Das entfernte Röhren eines Motors riss Heinrich aus seinen Gedanken. Der Oldtimer. Komisch. Dabei war es nicht einmal Sonntag. Er rührte sich nicht. Nicht Sonntag, das hieß, dass er nicht für ihn war. Das hieß, dass er noch nicht abgeholt wurde. Also musste er sich nicht bewegen.
Die Tür, die sich fünf Minuten später erneut öffnete und dieses Mal nicht nur Stimmen, sondern auch den unangenehmen Geruch von Zigarettenrauch und Schweiß mit sich brachte, belehrte ihn eines Besseren.
„Sir, ich bin gekommen, um Sie abzuholen.“
Keine Reaktion. Nicht einmal von Alexander, der wohl nur kurz aufgeblickt hatte. Oder ihn anstarrte? Wer wusste das schon. Heinrich blickte weiter in das Dunkel des winterlichen Abends.
„Sir?“
„Ich glaube, er fühlt sich nicht angesprochen. Für gewöhnlich holen Sie ihn ja immer erst Sonntag ab und es ist ja erst Samstag…“
Die Stimme Alexanders folgte der Rauchigen und mit englischem Akzent durchzogenen des Chauffeurs. Aber nicht so fröhlich, wie sie sonst immer war. Sondern zittrig. Warum war sie wohl zittrig? So unsicher… Vater hatte einmal gesagt, dass der Chauffeur sehr eindrucksvoll aussehen musste. Was auch immer das hieß. Noch einmal fragte der Mann nach ihm. Und erst jetzt reagierte Heinrich. Er wandte seinen Kopf in die Richtung der Stimme.
„Ich habe Ihre Koffer, Sir. Ihr Vater möchte Sie diese Ferien früher abholen. Damit Sie rechtzeitig zum Fest zuhause sind. Wenn sie also kommen würden…“
Ein Nicken. Dann tastete sich der Junge von der Fensterbank herunter, bis eine stützende Hand ihm half. Alexander. Natürlich. Er half ihm herunter, passte darauf auf, dass er sich nirgendwo stieß, und gab ihm seinen Blindenstab, den Heinrich an seinem Bettpfosten angelehnt hatte. So ausgestattet geleitete er ihn zur Tür. Der Fahrer war schon vorgegangen. Zumindest deutete der Junge das aus den schweren Schritten, die sich langsam den Gang entlang entfernten. Im Türrahmen blieb er stehen. Alexander hatte noch einmal zu sprechen begonnen und ihm seine Hand auf die Schulter gelegt.
„Also dann, frohes Fest.“
Stille, dann ein Nicken zum Abschied, bevor er sich aufmachte, dem Bediensteten seines Vaters zu folgen.
Und wieder war es die Kühle des Fensters, die ihn in Gedanken irgendwo im Nirgendwo schweben ließ. Sein Kopf war leer, träge, aber das war nicht schlimm. Die einzige Gesellschaft, die er hatte, war nicht gerade sehr gesprächig und beschäftigte sich lieber mit den Zigarillos, die er bei jeder Gelegenheit zu rauchen schien. So auch jetzt. Zumindest ließ der Geruch darauf schließen. Mehrmaliges Knipsen verriet ihm, dass er wohl gerade eine Neue anmachte. Aber wohl mit eher wenig Erfolg. Ein leises „Mist“ bestätigte ihn in der Annahme.
Dann wieder Schweigen, in dem der ältere Mann irgendetwas zu suchen schien. Unter viel Papier oder dergleichen. Sehr weit von seinem Fahrersitz entfernt. Ob er sich wohl hinüberbeugte?
Etwas klimperte. Wieder ein leises Fluchen. Dann erneutes Rascheln, das sich mit einem Ruckeln verband, ein Schrei, ein Schlag!
Dann war wieder alles still. Lange Zeit über geschah nichts. Heinrich wusste nicht, was passiert war. Nur, dass ihm jede Faser seines Körpers schmerzte und dass er sich nicht rühren konnte. Oder vielmehr es nicht wollte. Aus Angst, dadurch nur noch mehr Schmerzen zu erfahren.
Als er sich schließlich entschloss, die Augen zu öffnen – ein Akt von geringer körperlicher Anstrengung und ein Zeichen, dass er zumindest bei Bewusstsein war – erschrak er. Ein sanftes Leuchten in der Dunkelheit pulsierte vor ihm. Warm, aber schwach und vielleicht etwas kränklich. Wie eine Kerze mit kurzem Docht in finsterer Nacht. Freundlich, einladend, aber für Heinrich genauso Angst einflößend wie die Erkenntnis, die langsam in ihm aufstieg, dass der Schmerz, das Ruckeln, Schleudern und der Krach daher gerührt hatten, dass sie einen Unfall gehabt haben mussten.