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Meeresflüstern

Die Hungerspiele der Annie Cresta
von

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Biester

»Liebe Kinder, passt gut auf – hier seht ihr den tödlichen Fehler, der selbst einen guten Tribut ausscheiden lässt! Erinnert ihr euch an unsere letzte Lektion? Lasst es uns alle zusammen wiederholen:

Denk an deine Deckung!

So wie ihr euch jetzt sicherlich ganz fest in eure Bettdecken einkuschelt, damit euch nicht das Monster unter dem Bett erwischt, darf ein guter Tribut nie vergessen, dass er seinen Feinden unter keinen Umständen den Rücken kehren darf.

Leider hat unsere liebe Charlott aus Distrikt Neun das jedoch vergessen und deshalb drücken wir jetzt das große rote X für sie! Wie schade – doch das bedeutet auch, dass die Chancen aller anderen jetzt gestiegen sind!

Zum Beispiel für unseren kleinen Helden Pon aus Distrikt Vier. Wollen wir doch mal schauen, welche wertvollen Lektionen wir heute von ihm lernen können! Vielleicht ja etwas über falsche Freundschaften?«

 
 

*
 

 

In dieser Nacht habe ich zum ersten Mal seit Beginn der Hungerspiele keine Albträume. Endlich muss ich mich nicht mehr Shines blutverschmiertem Lächeln stellen – aber nur, weil ich gar nicht einschlafe. Stattdessen liege ich da und starre zur Decke der Arenakuppel.

Dicke Wolken hängen vor den falschen Sternen und rauben uns Tributen das letzte Licht. Da macht es auch keinen Unterschied, ob ich nun die Augen geschlossen habe oder nicht. In dieser Finsternis kann ich selbst die Steine um Aramis’ und mein Lager kaum erkennen. Wenn sich jetzt jemand anschleicht, dann ... dann war’s das.

Richtig?

Mit den Fingerspitzen streife ich über den Griff des Messers an meinem Gürtel. Das bisschen Blut von dem Mädchen aus Distrikt Neun darauf hat das salzige Flusswasser längst fortgetragen und doch haftet das Bild der rostroten Flecken auf blankem Stahl unbeweglich in meinem Kopf. Wie konnte ich nur jemanden verletzen? Und vor allem ... was hätte ich noch getan, wenn Aramis nicht gewesen wäre?

Ich reiße die Hand von dem kalten Metall fort.

Nein.

Nein, nein, nein.

Ich hätte das nicht getan. Ich kann das gar nicht! Amber und Floogs haben mir nur beigebracht, mich zu verteidigen. Aber ich hätte niemals ... niemals die Klinge wirklich ... Es war ein Versehen, dass ich die Tributin verletzt habe! Nichts anderes!

Warum nur will mein Herz nicht aufhören zu rasen? Als könnte ich es zum Schweigen bringen, presse ich die flachen Hände gegen meinen Brustkorb. Doch der Angstschweiß dringt selbst durch das Top und die Jacke darüber. Und dann steigt ein Brennen meine Kehle empor. Wie die Lava aus dem Vulkan der 50. Hungerspiele sprudelt es in mir hoch.

Bestimmt sieht Amber jetzt mit verschränkten Armen zum Fernseher und schüttelt den Kopf. Wahrscheinlich murmelt sie, dass ich endlich lernen sollte, mit dem Geschehen zu leben. Sie hat ja recht. Es wäre besser, wenn ich mehr wie sie sein könnte. Nicht so klein, weinerlich und ... verrückt?

Jetzt schließe ich doch die Augen. Eher gesagt kneife ich sie zusammen. Hauptsache, ich sehe etwas anderes als diese Finsternis – und wenn es nur Sterne sind, die vor meinen Lidern tanzen. Gleichzeitig grabe ich die Finger so fest in die Brust, dass es auf den Knochen brennt.

Ich heiße den Schmerz willkommen. Besonders, als durch die Jacke etwas Hartes in meine Handfläche pikst. Soll es ruhig noch mehr stechen! Die Tränen in meinen Augenwinkeln fühlen sich gut an, sengend und berechtigt. Ich stelle mir vor, wie das kleine spitze Ding sich tief in mein Fleisch bohrt. Alle Gefühle sammeln sich an diesem winzigen Punkt in meiner Haut. Wenn ich jetzt blute, fließen vielleicht auch sämtliche Erinnerungen heraus ... Schon drücke ich noch fester zu.

Aber –

Halt! Das ist – das ist Finnicks Fisch, der mich sticht! Der kleine Anhänger mit dem Malachitauge, den er zum Abschied gebastelt hat. Damit er mich beschützen kann! Schlagartig kühlt das Feuer in mir ab.

Oh Finnick ... Was würde er jetzt zu mir sagen, wäre er hier? Wie würde er mich ansehen? Würde er meine Hand nehmen? Mich umarmen? Über meinen Rücken streichen? Mir vielleicht zuflüstern, dass er schon Schlimmeres getan hat? Und dass er trotzdem ein guter Mensch geblieben ist, voller Wärme, Lachen und ... Liebe?

Vorsichtig löse ich den Griff um den Drahtfisch. Sein Abdruck pocht ohnehin in meiner Handfläche, fast ein Brandmal. Nur mit dem Daumen fahre ich über die Konturen von Finnicks Geschenk unter dem Funktionsstoff meiner Jacke.

Es ist nicht alles vorüber, begreife ich. Solange ich diese – seine – Wärme in meinem Herzen durch die Arena trage, habe ich mich selber nicht verloren. Noch bin ich kein Monster. Ich habe mich nur gewehrt. Auch gute Menschen dürfen das. Und ich würde es Aramis ja nie gleichtun. Ich bin keine Mörderin.

Die Lava in meiner Kehle erstarrt zu Stein. Langsam richte ich mich auf und spucke, so leise es geht, in den Staub neben mir. Dann sehe ich mich nach meiner Bündnispartnerin um. Es dauert einen Moment, bis sich meine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt haben. Gerade so kann ich Aramis ausmachen, die mit dem Rücken an einen Steinquader gelehnt dasitzt. Ihr Kopf ist auf die Brust gesunken und der Bogen liegt im trockenen Gras neben ihrer Hand.

Sie muss während der Wache eingeschlafen sein. Wie auch immer ihr das gelungen sein mag, nach den Geschehnissen des Tages. Man sieht ihr jedenfalls nichts an. Im Gegenteil, sie wirkt vollkommen friedlich. Ein paar Strähnen ihres schwarzen Haars haben sich aus dem Pferdeschwanz gelöst und rahmen ihr Gesicht ein. Bei der Parade oder den Interviews ist sie mir nicht besonders aufgefallen, aber in diesem Augenblick ist ihre wahre Schönheit offensichtlich. Wenn sie nicht gerade die Augenbrauen zusammenzieht und die Zähne fletscht, hat sie bewundernswert ebenmäßige Gesichtszüge. Ihre Wimpern sind sogar derart lang, dass sie Schatten auf ihre Wangen werfen.

Und doch ... ist sie eine Mörderin. Mit der Hand, die schlaff in ihrem Schoß ruht, hat sie die Klinge geführt. Ohne Zögern.

Ich wende den Blick ab, bevor die Lava in meinem Rachen wieder ausbricht. Es hilft schließlich alles nichts. Aramis und ich sind vom Schicksal aneinandergekettet. Aus diesem Bündnis gibt es keinen angenehmen Weg.

Vor lauter Schweiß ist meine Hand ganz kalt, als ich mir die verknoteten, dreckigen Strähnen aus dem Gesicht streiche. Nie war meine Sehnsucht nach einer Glatze größer. Ich sähe sicherlich grässlich aus, aber dann würden meine Haare mich wenigstens nie wieder nerven. Jetzt verstehe ich, warum manche Karrieretribute sich den Kopf kahl scheren – nicht nur des Images wegen, wie ich bislang dachte.

Ich ziehe meine klamme Jacke aus und rolle sie zu einem Kissen zusammen, das ich mir in den Nacken schieben kann. In ein paar Stunden werde ich es sicher bereuen, denn der Nachtwind ist im Vergleich zu den Temperaturen bei Tag überraschend kühl, doch jetzt begrüße ich die Frische auf meiner Haut. Mangels einer Dusche ist das immerhin ein passabler Ersatz, auch wenn ich mir wie ein ausgewrungener Waschlappen vorkomme.

 

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht. Es fühlt sich wie Stunden an, doch es können auch nur Minuten sein. Der Himmel ist jedenfalls nach wie vor tiefschwarz, als Aramis sich regt. Zunächst höre ich es nur rascheln, dann seufzt sie leise. Genau wie ich scheint sie eine bequeme Position zu suchen.

Eine ganze Weile verharre ich starr. Wenn ich mich nur schlafend stelle, habe ich ja vielleicht Glück und die Müdigkeit überkommt mich wirklich. Dann wird sie nie wissen, dass ich ebenfalls wach bin. Aber als ich ein leises Schniefen vernehme, wende ich doch den Kopf. Aramis bemerkt mich nicht. Sie schaut gen Himmel, das Kinn auf ihre Knie gelegt.

Etwas beschämt drehe ich mich fort – nur dass dabei der gestohlene Schlafsack unter mir verrutscht. Das Knirschen der Kunstfasern klingt in der nächtlichen Stille schlimmer als ein Kanonenschuss. Natürlich sieht Aramis sofort zu mir. Ihre Augen lasten auf mir wie ein Mahlstrom, der mich in die Tiefe zerrt. Ich wage keine weitere Bewegung. Doch Aramis schweigt ohnehin. Ob aus Unsicherheit oder weil wir uns nichts zu sagen haben, kann ich nicht deuten.

Wir wenden zeitgleich den Blick ab. Dieses Mal nehme ich mir fest vor, wirklich Schlaf zu finden. Vielleicht habe ich ja Glück und kann zumindest in einem Traum dieser Situation entkommen. Und wenn es wieder die Toten sind, deren Geistern ich gegenüberstehe. Hauptsache, Aramis kommt nicht darin vor.

Aber einmal mehr macht die Arena mir einen Strich durch die Rechnung. Kaum verschwinden all meine körperlichen Empfindungen hinter den Schleier des herannahenden Schlafes, grollt es von irgendwoher unheilvoll. Binnen Sekunden habe ich eine Hand am Speer.

Helligkeit blendet mich. Die Finsternis der Arena ist nicht mehr vollkommen. Am Horizont, direkt über den Bergen auf der anderen Seite des Talkessels, zucken helle Lichter durch den Himmel. Weiß und violett, immer im Wechsel. Dazu rumpelt es. Richtige Blitze, wie bei einem Gewitter, fehlen allerdings.

Besorgt – und fasziniert – beobachte ich das Schauspiel. Wären das hier nicht die Hungerspiele, könnte man glatt behaupten, dass es schön aussieht. Wenn nur nicht diese Geräusche dazukämen ...

Und mit einem Mal kommt es, wie es kommen muss: Ein Kanonenschlag zerreißt die Luft. Noch ein letztes Mal flackert der Himmel in allen Farben des Regenbogens auf, dann kehrt die Nachtschwärze mit voller Kraft zurück.

In der plötzlichen Stille höre ich Aramis leise keuchen. »Halbzeit«, flüstert sie.

»Was ...?« Verwirrt sehe ich mich zu ihr um.

»Zwölf sind tot, zwölf leben noch.«

Ich halte den Atem an. Sie hat recht. Und trotzdem – alleine dieser Gedanke ... Es schüttelt mich.

»Annie ...« Aramis steht auf und kommt erstaunlich geräuschlos für jemanden ihrer Statur herüber. Eine Armlänge neben mir lässt sie sich im Schneidersitz nieder. »Hey ...« Ihre Stimme ist wie das Wispern des Windes zwischen den trockenen Blättern. Leise und brüchig. »Wir haben doch keine Wahl. Ich hatte nie eine Wahl.«

Die zu Stein erstarrte Lava in meiner Kehle macht mir das Schlucken schwer. Ich starre ins Nichts. Wie aus großer Ferne höre ich Aramis scharf einatmen.

»Vielleicht bin ich die Böse«, sagt sie und klingt dabei irgendwie verschnupft. »Ich weiß es nicht. Aber ich ...« Erneut seufzt sie schwer. Als ich einen Blick zu ihr riskiere, erkenne ich, dass sie in die Ferne schaut – an einen Ort, der jenseits dieser Arena zu liegen scheint. »Ich habe mein Bestes gegeben«, setzt sie schließlich fest hinzu. »Ich war so fair, wie es diese Spiele erlauben. Und dazu stehe ich. Das bereue ich nicht. Genau wie alle anderen hier will ich doch nur leben!«

Man hört mein angestrengtes Schlucken, aber mir fehlen die Worte. Doch Aramis fährt ohnehin schon wieder fort: »Versteh mich nicht falsch – ich bewundere dich dafür, dass du so ... so nett bleiben kannst. Auch wenn ich echt nicht begreife, wie dir jeder Tod so nahegehen kann. Ich meine ... erinnerst du dich überhaupt an den Namen von dem Mädchen aus Neun?«

»Es ist doch egal, ob ich es tue. Irgendwer da draußen tut es. Irgendwer da draußen vermisst jetzt seine Tochter, Schwester, Freundin.« Ich beiße mir auf die Unterlippe. Die nächsten Worte wollen trotzdem raus. »Und ich bin schuld daran. Wie sollte ich mich da nicht furchtbar fühlen?«

Aramis schnaubt. »Wie kannst du schuld haben, wenn du keine Wahl hattest? Du hast dich nicht für die Spiele gemeldet. Ich finde, das entbindet uns alle von jeglicher Schuld. Was hier geschieht, passiert nur, weil das Kapitol es so befiehlt.«

Frierend schlinge ich die Arme um meine Schultern. »Aber ich kann nichts gegen meine Gefühle tun. Es tut einfach weh ...«

»Schätze, das ist auch ok.« Sacht landet Aramis’ Hand auf meinem angezogenen Knie. »Es muss ja nur eine von uns die Böse sein. Und hey, wer weiß – vielleicht mögen die da draußen diese Kombination ja. Sie könnten uns die Schöne und das Biest nennen!«

Vorsichtig linse ich Aramis an. Obwohl es so dunkel in der Arena ist, habe ich das Gefühl, durch ihre Augen geradewegs in ihr Innerstes zu schauen. Als könnte ich in dem kaum zu erkennenden Grün ihrer Iriden wirklich die saftigen Wiesen von Distrikt Zehn sehen. Ein seltsames Ziehen hebt meine Mundwinkel. »Du bist nicht böse. Und auch kein Biest.« Ich zögere. Vor all den Kameras sollte ich nicht zugeben, dass ich mich weder schön noch edel, sondern schlicht schwach finde. Die Sponsoren wollen das nicht hören, wenn sie es eh sehen. »Du hast mich gerettet«, murmle ich schließlich. »Dafür kann ich dir gar nicht genug danken.«

Auch Aramis zeigt ein kleines Lächeln. »Ist doch Ehrensache. Falls ich es nicht bis zum Ende schaffe, dann hoffe ich, dass jemand wie du es tut. Eine Siegerin, an deren Händen kein unschuldiges Blut klebt, das fänd ich ne gute Geschichte.«

Müde schüttle ich den Kopf. »Ich bin keine Siegerin. Ich will nur, dass Pon ...« Mein Blick gleitet über den rabenschwarzen Horizont, dorthin wo eben die Lichter blitzten. Ob er überhaupt noch lebt?

Aramis drückt mein Knie etwas fester. »Der Kleine ist bestimmt nicht so weit draußen unterwegs. Er ist clever. Glaub mir, ich hab ihn lang genug beobachtet beim Training. Er hat nicht dieselben Fehler gemacht wie mein Mittribut.« Jetzt ist es an ihr, hörbar schwer zu schlucken. »Weißt du, ich wünschte, er hätte nicht gleich am Füllhorn sterben müssen. Obwohl ich weiß, dass wir niemals beide hätten überleben können ... im Nachhinein frage ich mich, ob ich mehr für ihn hätte tun können. Immerhin kannte ich ihn mein halbes Leben lang.«

»Ehrlich?« Überrascht schrecke ich auf. Davon hat bisher niemand etwas erzählt und dabei schlachtet Caesar Flickerman solche Dinge doch liebend gerne in seinen Interviews aus.

Aramis zuckt mit den Schultern. »Er hat ein paar Höfe weiter von zuhause gewohnt. Hab ihm das Bullenreiten beigebracht, auch wenn er zwei Jahre jünger war. Und manchmal hab ich von seiner Familie das Pferd geliehen, wenn ich ins Zentrum von Zehn musste.«

Eine Pause entsteht und ich lege die Hand auf ihre an meinem Knie. Ihre Haut ist rau, von Schwielen übersät. Fast ein bisschen wie bei meinem Vater und mindestens genauso warm. »Es macht dir bestimmt niemand Vorwürfe«, erwidere ich aufrichtig. Dennoch klingen die Worte so hohl, wie sie sich im Mund anfühlen. Schließlich weiß ich genau, dass man sich die schlimmsten Vorhalte immer noch selber macht.

Ausgerechnet jetzt muss ich wieder an daheim denken. An Papa, der im Hospital liegt und um sein Leben kämpft. Ja, wenn, dann sollte man mir Vorwürfe machen, dass ich nicht längst Präsident Snows Befehl gefolgt bin und mich Maylin gestellt habe.

»Hey ... du musst meine Hand nicht zerdrücken Annie, so schlimm ist es dann auch wieder nicht.«

»Sorry ... es ist nur – die Karrieros und überhaupt ...«

Rasch will ich loslassen, doch Aramis hält mich zurück. Sie holt kurz Luft, setzt an, etwas zu sagen, und trotzdem bleibt es beim Schweigen. Dafür tätschelt sie meine Finger unbeholfen.

»Ich habe noch eine Rechnung mit ihnen offen«, seufze ich.

Aramis brummt. »Sie hätten die Griffel von deinem Kleinen lassen sollen, da gebe ich dir recht. Glaubst du, er ist bei ihnen?«

Mein Mund klappt auf, aber es kommt kein Laut heraus. Unmöglich, schreit eine dünne Stimme in mir, nur damit sogleich der Zweifel nach ihr schnappt.

»Vielleicht sollten wir uns ... vergewissern«, schlägt Aramis vor.

»Ihre Nähe zu suchen wäre Wahnsinn.«

»Nicht, wenn wir sie ganz vorsichtig beobachten. Aus der Ferne. Wir haben es geschafft, die Sucher zu überlisten, warum dann nicht auch die Karrieros?« Sie legt den Kopf in den Nacken und grinst zum dunklen Firmament hinauf. »Und wer da draußen nicht überzeugt ist, dass wir das können, der kann uns ja was Hilfreiches schicken! Vielleicht Nachtsichtbrillen?«

Schon wieder zieht ein Lächeln an meinen Lippen. Ich fühle all die kleinen Risse darauf aufreißen, weil ich viel zu wenig getrunken habe seit unserer Flucht, aber das warme Gefühl in meinem Bauch ist stärker. »Du hast recht«, flüstere ich und nicke. »Auch wenn du vielleicht nicht recht damit hast, dass wir keine Wahl haben. Ich glaube, genau das hier ist unsere Möglichkeit, uns für das Richtige zu entscheiden. Wir können Pon retten.«

Fast rechne ich damit, dass im nächsten Moment ein Spielmacher auf den roten Knopf drückt und uns eine Mutation auf den Hals jagt, um meine Worte Lügen zu strafen – doch nichts dergleichen passiert. Leider heißt das auch, dass kein Fallschirm mit einem Sponsorengeschenk auftaucht. Davon lässt Aramis sich allerdings nicht beirren. Begeistert ritzt sie eine Karte der Arena in den Boden und gemeinsam überlegen wir bis zum Morgengrauen, wo die Karrieros sich aufhalten könnten. Sobald die ersten Sonnenstrahlen sich über den Bergkamm kämpfen, steht unser Plan.

Nach einem ausgiebigen Frühstück werden wir im Zickzacklauf ins Tal hinabsteigen, um immer im Schutz des Geländes zu bleiben, und uns schließlich der Arenamitte in einem weiten Bogen nähern. Wahrscheinlich sind die Karrieros in Reichweite des Füllhorns geblieben, so wie in 90% aller Spiele, und der Berg dahinter bietet ihnen genug Rückendeckung für eine komfortable Verteidigungsposition.

Ich habe Aramis zwar nicht von dem Problem mit Maylin erzählt, aber mein Magen zieht sich bei dem Gedanken daran, dass es heute so weit sein könnte, dennoch zusammen. Noch habe ich keine Ahnung, wie ich es über mich bringen soll, und ein Teil von mir hofft, dass es sich einfach ergeben wird. Wie mit dem Mädchen aus Neun ...

Immerhin einen Hoffnungsschimmer gibt es: Wenn das erst erledigt ist, kann ich auf das Ende warten. Vielleicht in irgendeiner Höhle, weit weg von jeglichem Geschehen. Meinetwegen auch mit knurrendem Magen. Hauptsache, Pon ist in Sicherheit. Mich macht daran nur traurig, dass sich Aramis’ und mein Weg dann bestimmt trennen wird. Aber so ist das eben in den Hungerspielen.

Die Wolken, die schon in der Nacht die Sterne blockiert haben, bleiben heute auch tagsüber am Himmel. Zunächst sind wir froh über den Schutz vor der gleißenden Sonne, doch rasch stellt sich dies als Trugschluss heraus. Je weiter die Stunden voranschreiten, desto schwüler wird es, sodass man sich die trockene Hitze der letzten Tage glatt zurückwünscht. Jeder Schritt tiefer fühlt sich an, als würden wir durch den Wackelpudding steigen, den es im Trainingscenter zum Nachtisch gab. Trotzdem erreichen wir pünktlich zur Mittagszeit den Geröllstreifen am Fuß des Hanges, ehe das offene Grasland beginnt, welches sich rund um die Arenamitte erstreckt.

Keuchend lassen wir uns auf die Steine fallen – nur um gleich wieder aufzuspringen. Die Quader haben die Wärme gespeichert und sind heiß genug, um einen Fisch zu braten. Fluchend besehe ich mir meine Haut, die damit in Kontakt kam. Unter dem Schweißfilm zeichnet sich besorgniserregende Röte ab. Zum Glück habe ich noch etwas von der Heilsalbe meiner Sponsoren.

Aramis und ich helfen uns gerade gegenseitig damit, die Reste zu verteilen, da zerreißt die empfindliche Stille um uns herum.

ROAAAR!

Es ist ein lautes, dunkles und vor allem wütendes Brüllen, das von den Berghängen widerhallt.

»Fuck!« Aramis reißt die Augen auf. »Fuck, fuck, fuck ...«

Auch mein Herz zieht sich ruckartig zusammen. Ich habe diesen Laut schon einmal gehört ... aus der Ferne. Dieses Mal ist der Übeltäter allerdings ganz nahe.

»Annie, das ist ein Berglöwe!«

Die Cremedose fällt mit einem Plumps zwischen meine Füße.

Das Tier brüllt erneut. Direkt hinter mir.

Ich packe Aramis – und sie mich – und wir werfen uns auf den Boden neben den kochend heißen Steinen. Keine Sekunde zu früh, denn schon landet die Raubkatze auf dem Geröllbrocken, der mir gerade erst die Oberschenkel verbrüht hat. Es handelt sich um ein besonders großes, rot-braunes Exemplar, garantiert genmanipuliert. Sein Fell ist schmutzig, Geifer tropft von den Lefzen.

Aramis streicht sich geistesabwesend über ihre frisch verheilte Wange, während sie das Vieh anstarrt.

»Laufen oder Kämpfen?«, piepse ich.

»Kämpfen. So schnell können wir nicht laufen.« Mit diesen Worten rollt Aramis sich über den Rücken zurück auf die Füße. In derselben Bewegung zieht sie ihren Bogen und legt einen Pfeil an.

Der erste Schuss streift den Löwen an der Flanke. Die Mutation jault auf, doch schon spannen sich die Muskeln unter seiner Haut erneut zum Sprung. In der Ferne grollt es derweil dumpf, wie heute Nacht.

Soll ich den Kopf zwischen die Knie stecken? Den Speer heben und zustechen?

Ich starre den Berglöwen an und er zurück. Nur für den Bruchteil einer Sekunde begegnen sich unsere Augen, meergrün und stechend gelb, aber das reicht. Ein eisiger Schauer durchfährt mich. Mein Arm schießt nach oben, den Speer vorgestreckt. Ich schreie.

Zunächst fühle ich gar nichts, dann folgt ein harter Widerstand. Der Löwe grollt, dass die Berge erzittern. Gleichzeitig dringt mit einem satten Schmatzen ein Pfeil von Aramis in seinen Hals. Wild schlägt die Mutation mit ihrem Kopf umher. Beinahe reißt es mich von den Füßen, doch ich umklammere meinen Speer fester als das Leben. Mit einem Ruck gelingt es mir schließlich, ihn aus der Schulter des Biests zu befreien.

Ein zweiter Pfeil trifft in die Brust des Berglöwen. Nur leider reicht das nicht, um ihn zu vertreiben. Blind vor Pein schlägt er mit seinen Tatzen nach uns, bis ich mich gezwungen sehe, erneut mit dem Speer zuzustechen. Ich versetze ihm Kratzer um Kratzer auf Vorderbeine und Pfoten, die ihn alle nicht wirklich beeindrucken.

Umso gnadenloser ist dafür Aramis. Sie zielt auf seinen Kopf – genauer gesagt die Augen. Und sie hat Erfolg. Auf einer Seite blind werden die Attacken des Löwen immer ungenauer. Damit eröffnet sich mir die perfekte Möglichkeit. Seine Brust ist ungeschützt, von unten könnte ich den Speer direkt hineintreiben ... und doch wollen meine Arme dem Befehl nicht folgen. Selbst wenn es kein Tribut ist, ich kann nicht töten!

»Annie, worauf wartest du? Erledige ihn!« Aramis schmeißt den Bogen auf den Boden und zieht stattdessen das Messer aus ihrem Hosenbund.

In diesem Moment rumpelt es erneut. Nicht in der Ferne, sondern in unmittelbarer Nähe. Der Berglöwe gibt ein erschrecktes Winseln von sich, dann dreht er sich auf dem Absatz um und rennt humpelnd, sowie mit eingezogenem Schwanz fort.

Die Erleichterung währt nicht lange, da es schon wieder donnert. Ich begreife, warum der Löwe geflohen ist, anstatt uns zum Mittag zu verspeisen: Eine Steinlawine droht!

Wo ist der nächste Baum? Hektisch sehe ich mich um. Steine, nichts als Steine und Gras!

Aramis’ Blick begegnet meinem und im selben Augenblick brüllen wir beide »Renn!«.

Ohne auf die Vorräte zu achten, machen wir uns aus dem Staub. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn vor uns wartet nur noch die verlockend grüne Graslandschaft.

Ich halte erst wieder an, als das Grollen wie von Geisterhand verstummt. Schwarze Punkte schwimmen vor meinen Augen und nur dank einer Hand am Speer stütze ich mich ab. Wo ist Aramis? Sie ist doch nicht etwa –

»Annie!«

Erleichtert wirble ich herum. »Aramis!« Halb erwarte ich, sie unter Steinen begraben zu sehen, oder zumindest in eine riesige Staubwolke gehüllt – doch die Ebene ist genauso grün und unversehrt wie zuvor.

Verwirrt schaue ich von links nach rechts. Keine Lawine zu erkennen.

»Was war –«

Es rumpelt erneut. Dieses Mal spüre ich auch die Bewegungen. Die Erde der Arena zittert, direkt unter mir!

Mit einem schrillen Schrei presse ich mich flach auf den Boden. Aramis tut es mir gleich. Das unheilvolle Geräusch ist weder Gewitter noch Steinschlag – sondern ein Erdbeben!

Tränen drängen in meine Augenwinkel, so heftig schüttelt es uns durch. Der Himmel sieht aus, als würde er aus der Fassung fallen, direkt auf uns herab. Ich muss an die Kuppeln denken, die ich auf dem Weg hierher vom Hovercraft aus gesehen habe. Wie stabil ist so eine Arena wohl?

In der Ferne knallt es. Ohne es zu sehen, bin ich mir ziemlich sicher, dass jetzt doch Steine den Berghang herunterpoltern. Aber selbst wenn ich wollte, ich könnte unmöglich aufstehen und weiterrennen. Ich habe überhaupt keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Höchstens den Kiefer kann ich noch zusammenpressen, damit meine Zähne nicht wie Kastagnetten aufeinanderschlagen.

Das muss das Ende sein. Die Welt um mich herum zerfällt in ihre Einzelteile. Bestimmt höre ich gleich die Kanonen, alle nacheinander. War das nicht eben die Erste? Sobald ich die Augen wieder aufschlage, werden wir an einem anderen Ort sein. Vielleicht bringt der Riss, der sich in der Erde unter meinen Fingern ausbreitet, mich ja ins Paradies ...

Ich bette die Stirn auf den rüttelnden Untergrund. So müde ... je länger ich hier liege, desto mehr fühlt sich das Beben an wie ein Wiegenrhythmus. Es muss nur noch jemand das Lied der kleinen Meerjungfrau singen ...

Nein! Das ist meine Aufgabe! Ich muss für Pon singen!

Stöhnend drücke ich mich hoch auf die Unterarme. Es braucht drei Anläufe, bis ich in eine sitzende Position zurückfinde. Nicht weit entfernt kämpft Aramis ebenso darum, ihre Balance zu halten. Auf allen vieren robbe ich zu ihr und strecke eine Hand aus.

Kaum, dass Aramis sie ergreift, scheint das Tempo der Welt sich zu verändern. Von jetzt auf gleich wird das Beben weniger schlimm. Als hätte jemand die Zeitlupe eingeschaltet, um uns eine Atempause zu geben. Aneinandergeklammert ziehen wir uns gemeinsam hoch. Ich habe keine Ahnung wie, doch wir finden den Weg über sich auftuende Risse, obwohl die ganze Welt in Schieflage ist. Wir fliegen geradezu von dannen.

Aramis lässt meine Hand nicht eine Sekunde los. Nicht einmal als das Grollen verstummt und wir immer langsamer werden. Eine ganze Weile gehen wir atemlos nebeneinander her, das Adrenalin ein zweiter Herzschlag in unserer Brust. Das Blut rauscht so doll in meinen Ohren, dass ich mir nicht mal sicher bin, ob das Erdbeben wirklich vorbei ist. Erst als Aramis plötzlich stehenbleibt, höre ich die drückende Stille. Dann schlingt meine Verbündete auch schon ihre Arme um mich.

»Oh verfluchte Scheiße«, japst sie. »Fuck, wir leben!«

Perplex tätschle ich ihre muskulöse Schulter.

»Wir leben«, wispere ich matt zurück.

»So ein kleines Erdbeben kann uns nicht unterkriegen. Hört ihr das da draußen?« Aramis lacht und wirft den Kopf in den Nacken. »Wir sind ein gutes Team! Letzte Chance, uns zu sponsern, bevor wir es den Karrieros zeigen!«

Ich kichere. »Richtige Kämpferherzen sind wir.«

»Genau!« Keuchend und lachend gleichzeitig presst Aramis mich noch einmal fester an sich. »Beschissene Heldinnen sind wir!«

Hand in Hand wenden wir uns wieder der Ebene zu. Die Spuren der Verwüstung hinter uns sind nicht zu übersehen. Lauter Risse durchziehen die trockene Erde wie Adern. Von hier aus ist es schwer zu sagen, doch keiner wirkt groß genug, um einen Menschen zu verschlingen. Aber man weiß ja nie, welche Überraschungen die Arena birgt. Unsichtbare Gase könnten zum Beispiel aus dem Boden austreten.

»Damit ist es wohl eindeutig wohin wir gehen«, seufze ich. »Unser Rückweg ist abgeschnitten.«

Zustimmend brummt Aramis. »Schätze, dass Kapitol weiß genau, wo wir den Karrieros begegnen werden. Also los – lass uns eine Rechnung begleichen gehen.«

 

 

Die 70. Hungerspiele – Liveticker

Dauer: 8 Tage, 2 Stunden, 53 Minuten || Gefallen: 13 || Am Leben: 11
 

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
- Vorläufiges Ende der aktuellen Neubearbeitung [05/24]-
Alle nachfolgenden Kapitel sind das unbearbeitete Original von 2012 – Weiterlesen auf eigene Gefahr. Es kann zu Unstimmigkeiten mit den überarbeiteten Kapiteln kommen, außerdem ist der Schreibstil nicht mehr das Gelbe vom Ei. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Couscous
2012-11-04T17:38:34+00:00 04.11.2012 18:38
Hey ^^
Habe deine FF innerhalb weniger Tage regelrecht verschlungen und bin verzaubert von diesem Paar und deiner Geschichte ^^ Hab zwar gesehen, dass es diese Idee noch ein paar Mal auf Animexx gibt, werde aber wohl keine andere lesen, weil sich deine bei mir festgesetzt hat *lach*
Habe deswegen sogar noch mal Die Tribute 2 und 3 durchgelesen ^^
Irgendwie fand ich es außerdem schade, dass diese FF so wenig Kommentare hat und wollte dich mit einem neuen zum Durchhalten ermutigen ^^ Ich mag deinen Schreibstil sehr, er ist leicht und locker-flockig, selbst wenn du ernsthafte Themen beschreibst. Außerdem bewundere ich es, dass du bereits 29 Kapitel hast und dich noch nicht wiederholst.
Eine Frage: Wie lange wird denn diese FF gehen? Bis zum Ende der Spiele oder auch darüber hinaus?
Ich für meinen Teil, würde nämlich noch gerne sehen, wie es mit den beiden so weitergeht. ^^
Auch deine Charakterwahl ist toll. Aramis, die keine Schwachen töten will, und die Sucher, die zweiten Karrieros, sind eine wahnsinnig tolle Idee *.* Annie erinnert mich sehr an Peeta, v.a. seit ich nochmal gelesen habe, wie Finnick in "Gefährliche Liebe" sagt, dass keiner von den Siegern zufällig gewonnen hat. Außer Peeta. Und eben vielleicht Annie, die ja nicht am Jubel-Jubiläum teilnehmen muss.
Ein Kapitel, das es mir ganz besonders angetan hatte, war das mit dem Countdown. Ich fand es irre spannend und hab gar nicht gemerkt, wie ich die Luft angehalten habe XD
Annies Charakter hast du sehr gut dargestellt, denke ich, so habe ich sie mir vorgestellt.
Und nachdem, was noch vor dir liegt zu schreiben, wünsche ich dir viel Glück dabei ^^
Ich muss dich außerdem zu deiner Wahl der Charakterbilder beglückwünschen. Die Tribute aus den verschiedenen Distrikten ähneln sich auf eine besondere Weise ohne zu ähnlich auszusehen. Besonders angetan hat es mir Annie, die ebenfalls einfach aussieht wie ich sie mir vorgestellt habe. Woher wusstest du das nur? XD
Beschweren muss ich mich leider über Finnick, der bei mir irgendwie komplett anders ist. Blonder... und einfach anders ^^ Und dass Zac Efron David darstellt, jetzt sehe ich immer diesen Kerl vor mir, wenn er in der FF auftaucht XD Kleiner Scherz am Rande .
Ich freue mich auf jedes neue Kapitel deiner FF
Lg
Couscous


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