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Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

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58. Kapitel

Die Diskussion war noch eine Weile so weiter gegangen. So schnell wurde man sich nicht einig, wenn es galt seine Angst in den Hintergrund zu kämpfen und sich auf einer sehr viel realeren Ebene in echte Gefahr zu begeben. Von sich aus und nicht, weil man von außen dazu gezwungen wurde. Angriff war nicht immer die beste Verteidigung. Das sahen auch viele der anwesenden Hexen so und Paige musste ihnen sogar Recht geben. Es war ein Unterschied, ob man sich versteckte und soviel tat, dass man selbst und andere geschützt waren oder ob man sich in den trotz allem unvermeidlichen Kampf stürzte.

Und dennoch hatten die meisten am Ende dem losen Plan zugestimmt, sich umzuhören, mehr Informationen zu sammeln, um über Boudiccas Handlanger an diese grausame Hexe heran zu kommen, die sich in mysteriöse Zurückhaltung hüllte. Paige brannte es unter den Nägeln zu erfahren, warum diese Frau sich nicht selbst um ihre Drecksarbeit kümmerte. Gerade wenn man bedachte, wie sehr sie an Ryon und das Amulett heran wollte. Es war schon irgendwie eigenartig, dass Boudicca Fehler von anderen riskierte, anstatt sich selbst auf die Suche zu machen und sich zu holen, was sie wollte. Oder konnte sie das aus irgendwelchen Gründen gar nicht tun?

In Grübeln versunken sah Paige aus dem Seitenfenster des Wagens. Sie war hinten eingestiegen, um der Hexe vorn Platz zu machen. Es war diejenige, die sich als Erste dazu durchgerungen hatte, Ryon und Paige eine Chance zu geben. Genauso wie der ganzen Aktion, Boudicca endlich das Handwerk zu legen.

Da war es kein großer Schritt gewesen Sally, so hieß die Dame, ein Stück mitzunehmen. Ansonsten hätte sie allein nach Hause laufen müssen. Und sie wollten ohnehin mehr oder weniger in die gleiche Richtung.

Indem sie das Fenster ein winziges Stück herunter kurbelte, ließ sie so viel Frischluft herein, dass die Duftzungen zerstreut wurden, die ihr schon wieder das klare Denken erschweren wollten.

Ryon saß am Steuer, durch die Autositze von ihr getrennt. Aber doch viel zu nah, um seine Anwesenheit ignorieren zu können. Vorhin, als sie eingestiegen waren, hätte Paige sich beinahe den Arm abbeißen müssen, um bloß nicht wie nebenbei seine Schulter zu berühren oder sich ihm sogar noch mehr zu nähern. Es war auch nicht mehr weit. Sobald sie Sally abgeliefert hatten, konnten sie nach Hause fahren.

Gerade als sie sich an diesem Gedanken mit Vorfreude festklammern konnte, bogen sie in dem Wohngebiet mit kleinen Zweifamilienhäusern um die Straßenecke. Paige hatte das Gefühl ihr Herz müsse stehen bleiben. Sie waren bereits vorbei, doch als sie sich vorsichtig umdrehte, war nur zu klar, dass sie sich nicht getäuscht haben konnte. Einem der beiden Männer in schwarz, die sich zielstrebig die Straße hinunter bewegten, war Paige schon einmal begegnet. Und sie erinnerte sich nicht gerade gern an dieses Zusammentreffen.

Beinahe hätte sie Ryon ins Lenkrad gegriffen, als der Sallys Anweisungen folgend auf die Bremse trat und in eine Hofeinfahrt bog, um schließlich vor einem in rosa gestrichenen Haus anzuhalten.

„Sally, ist das gesamte Grundstück durch einen Zauber geschützt? Oder nur das Haus?“

Von der Frage völlig überrumpelt drehte sich die Hexe um und sah Paige an, als wüsste sie nicht, was diese meinte. Allerdings schien der Ausdruck in Paiges lodernden Augen zu genügen, um eine Antwort auf ihre Zunge zu befördern.

„Das Grundstück. Bis zum Bürgersteig, aber...“

„Gut. Es tut mir Leid Sie zu beunruhigen, aber ich möchte, dass Sie ins Haus gehen. Drehen Sie sich am besten nicht um und zögern Sie nicht. Einfach reingehen. Und was auch passiert, kommen Sie nicht wieder raus, bis wir Sie angerufen haben.“

Paige hatte ihr Handy gezogen und sah Sally auffordernd an, die begriff und ihr eine Telefonnummer diktierte.

Im Angesicht dessen, was in wenigen Minuten passieren würde, hatte Paige sogar die Stärke, Ryon in die Augen zu sehen.

„Bring Sally zum Haus. Es sind zwei. Einen davon habe ich schonmal gesehen. Keine Ahnung, wer sein Partner ist.“

Damit war sie selbst schon aus dem Wagen gesprungen und lief die Einfahrt hinauf, um den Gehsteig hinunter zu spähen. Die beiden Männer hatten ihre Schritte beschleunigt und kamen auf das Haus zu, wie dunkle Rächer. Ihre Mäntel flatterten und Paiges grimmiges Lächeln wirkte vollkommen fehl am Platz. Aber es hatte seinen Grund. Der Zweite war nicht der Eisdämon, dem sie das letzte Mal nur so haarscharf entkommen war.
 

Ryon war dankbar, dass er fahren konnte, denn so musste er ein gewisses Maß an Konzentration unter allen Umständen beibehalten. Würde nicht das Leben von Paige und auch das von Sally auf dem Spiel stehen, wenn er einen Unfall baute, er hätte nicht einmal dazu die Kraft aufgebracht. Er konnte nur noch an das eine denken, woran Männer mindestens ihr halbes Leben lang dachten, während sie die andere Hälfte verschliefen und es wurde immer schlimmer. Als würde diese unsichtbare Macht, die ihn so vollkommen im Griff hatte, langsam aber sicher ihrem Höhepunkt zustreben und sich dabei immer weiter verstärken.

Als er jedoch um eine weitere Ecke bog, die Sally ihm angewiesen hatte, vernahm er sofort die kleinste Veränderung in Paiges Duft. Etwas stimmte nicht und als Ryon sie fragen wollte, was denn los sei, da kam sie ihm auch schon mit ihren Worten zuvor.

Sofort war er in höchster Alarmbereitschaft und wo zuvor noch ein roter Schleier der Erregung um seine Sinne gehangen hatte, herrschte nun vollkommene Klarheit.

Automatisch umfasste er das Lenkrad fester und versuchte die Straße im Auge zu behalten, während er durch den Rückspiegel auch immer wieder Paige beobachtete.

Endlich erwiderte sie seinen Blick und zog ihm mit ihren nächsten Worten beinahe den Boden unter den Füßen weg.

Er sollte Sally zum Haus bringen? Und was tat sie?

Keine Sekunde später bekam er auch schon die Antwort, als sie einfach so ausstieg, obwohl der Wagen, wenn auch langsam, immer noch fuhr.

Ryon hätte beinahe das Lenkrad verrissen, als nicht nur menschliche Panik ihn zu überrennen drohte, sondern auch der Tiger sich in seinem Kopf wild gebärdete. Sein Verstand hämmerte ihm ein, Sally einfach hier zu lassen und sofort zu Paige zu eilen, denn sie musste in Gefahr schweben. Er hatte es im Gefühl!

Ein weiterer Blick in den Rückspiegel und er trat statt auf die Bremse, wie er es eigentlich vorgehabt hatte, aufs Gas, um die letzte Strecke zu Sallys Haus so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Paige hatte ihn darum gebeten und nur deshalb würde er es tun. Kein Leben ging über das seiner Gefährtin. Wirklich keines.

Sally quietschte leise, als sie dank der harten Vollbremsung direkt in ihren Gurt geschleudert wurde, doch sie kam gar nicht dazu, sich wieder zu fangen, da hatte Ryon auch schon ihre Seitentür von außen geöffnet und den Gurt einfach durchtrennt.

Er warf sie sich wie ein Gepäcksstück einfach über die Schultern und vermutlich war es nur der nahezu greifbaren Gefahr zu verdanken, dass die Hexe sich nicht lautstark darüber beschwerte. Vielleicht hatte sie aber auch nur zu große Angst.

Ryon hatte die Frau auf alle Fälle schon vergessen, kaum, dass er sie durch das Gartentor geschoben hatte. Die nötigen Anweisungen hatte Paige ihr bereits gegeben. Er hatte dem nichts hinzuzufügen, sondern musste so schnell wie möglich mit ausgefahrenen Krallen, wildem Blick und mordlüsternen Gedanken zu seiner Gefährtin!
 

Der Abstand zwischen ihr und den beiden Männern schrumpfte zusehends. Sie kamen nun fast schon im Sprint näher und die Augen des Wasserdämons funkelten aufgebracht, als er Paige erkannte. Vermutlich hatte er damals nur einen kurzen Blick auf sie erhaschen können. Ihr Abgang war überraschend und schnell genug gewesen, um einer gepflegten Vorstellung zu entgehen. Dennoch schlug ihr der Hass so stark entgegen, dass ihre Panzerung unter der Kleidung sich noch verstärkte. Sie wäre auch sauer, hätte man sie einfach so über den Haufen gefahren. Außerdem war davon auszugehen, dass die Dämonen ganz schönen Ärger mit ihrer Chefin bekommen hatten, nachdem ihnen Paige entkommen war.

Je näher die beiden kamen, desto seltsamer kam es Paige vor, dass sich niemand in irgendeiner Weise äußerte. Weder die beiden Männer noch sie selbst gaben einen Ton von sich. Was hätten sie auch sagen sollen? Ein freundliches 'Hallo' würde es sicher nicht geben. Es reichten die Blicke, in denen die verschiedenen Elemente loderten. Ihr selbst wäre es bloß lieb gewesen, wenn sie in den grünen Augen des anderen Kerls erkannt hätte, welche Art von Gegner sie vor sich hatte. Eis war es nicht. Dafür war seine Haut nicht durchscheinend genug. Wasser war auch eher unwahrscheinlich. Aber was dann?

„Hey!“

Endlich hatte sich der Wasserdämon doch dazu durchgerungen, die Stille mit einem Wort zu durchschneiden. Nicht sonderlich kreativ, aber immerhin.

Etwa im Sicherheitsabstand von drei Metern vor ihr blieben die Männer stehen. Abschätzend sahen sie prüfend an Paige hinauf und hinunter.

„Du, heh?“

Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er bis drei zählen konnte oder ob ihm dann sein Kopf aua aua machen würde.

„Verzieht euch.“

Dumpfes Lachen, das vom typischen Keuchen des halben Kiemenatmers unterbrochen wurde. Der Andere schien auch nicht sehr viel bewanderter in höflicher Konversation zu sein. Aber ein paar Worte mehr als sein Kumpel konnte er doch aneinander reihen.

„Und wer will uns dazu zwingen? Du und welche Armee?“

Es war unglaublich, völlig Fehl am Platz und dumm. Aber Paige prustete los, als Ryon genau in diesem Moment neben ihr auf der Bildfläche erschien. Groß, breit und so nah daran den Tiger auf die Männer stürzen zu lassen, dass der Vergleich sehr treffen war.

Sie fing sich keine Sekunde später und starrte den beiden Dämonen in die Augen.

Da habt ihr eure Antwort.
 

Ryon, der ohnehin nicht mehr sehr klar denken konnte, da in ihm einfach nur noch eine riesen Wut im Bauch war und der ungebändigte Drang, seine Gefährtin vor diesen Männern zu beschützen, verstand absolut nicht, was Paige so amüsierte, aber da sie im nächsten Moment auch schon wieder ernst wurde, konnte es nicht von großer Bedeutung gewesen sein.

Sein Körper straffte sich noch etwas mehr, während er sein Gewicht so verlagerte, dass er sofort losspringen könnte. Seine Krallen waren zum Angriff gekrümmt und obwohl seine Lippen regungslos aufeinander lagen, hätte man beinahe meinen können, das aggressive Knurren des Tigers hinter seinen Augen zu erkennen.

Ryons Atmung ging schwer und dehnte seinen angespannten Brustkorb jedes Mal bis zur Grenze der Belastbarkeit. Es gab keinen Muskel in seinem Leib, der nicht für einen Kampf bereit war, es fehlte nur noch der Funke, der ihn explodieren ließ. Denn es ließ sich nicht verleugnen, dass der Cocktail aus Verlangen, Begehren, Wut, Hass, Rachsucht und Beschützerinstinkt hoch explosiv war.

Schon unter normalen Umständen konnte Ryon gefährlich sein, aber gerade in dieser heiklen Phase, in der sich seine Beziehung zu seiner Gefährtin befand, war er absolut tödlich. Da sein nüchterner Verstand nur noch wenig mitzureden hatte.

Ein tiefes, bedrohliches Knurren vibrierte durch seinen Brustkorb, krallte sich seine Kehle entlang nach oben und wurde durch strahlendweiße, gefletschte Zähne, die seine sich zurückziehenden Lippen entblößten, nur noch untermalt.

Eine einzige falsche Bewegung und er würde den Tiger auf die beiden Männer ohne Rücksicht auf Verluste loslassen. Einen anderen Gedanken gab es einfach nicht.
 

Die beiden kapierten sofort. Ryons Knurren brach sich so derart bedrohlich durch die Nachtluft, dass selbst Paige sich die Nackenhaare zu Berge stellten. Wie hatte sie sich nur irgendwann auf ihn stürzen und glauben können, dass sie ihn besiegen konnte?

So schnell, wie er gekommen war, verdrängte Paige den Gedanken. Denn Bedauern wollte in ihr hochkommen, wenn sie an das Mal in Ryons Handfläche dachte. Eine Narbe, die er nie wieder loswerden würde. Und die er ihrem Feuer verdankte.

„Wir wollen nur eine Freundin besuchen. Was geht euch das an?“

Paige musste aussehen, als hätte ihr Gegenüber ihr gerade eröffnet, er sei ein Handelsvertreter für Wollknäuel. Dachte dieser Kerl denn wirklich, dass sie so dumm waren? Mit dieser müden Ausrede hatte er doch nicht gehofft sich aus der Affäre ziehen zu können.

„Die Freundin will euch nicht sehen. Und sie will auch nicht in Boudiccas illustre Gesellschaft eintreten, verstanden? Ich wiederhole mich nur ungern. Also zieht Leine.“

Die Augen des Wasserdämon huschten zwischen Paige und Ryon hin und her. Offensichtlich ging von dem Zweimetermann die größere Gefahr aus. Ein Irrglaube, den sie nachvollziehen konnte. Aber Paige würde nicht zulassen, dass Ryon sich auch so verhielt, als müsse er diesen aufziehenden Kampf allein schlagen.

Ihr Geduldsfaden spannte sich ins Unerträgliche, als die beiden Männer ein paar Schritte auseinander wichen. Nur ganz langsam, bedrohlich langsam, denn die Gesten ließen vermuten, dass es ein geplantes Manöver war. Paige Schuppen begannen langsam aber sicher unter der wachsenden Anspannung in ihrem Körper zu rebellieren. Erst recht, als sich der glänzend blaue Gegenpart über die menschliche Haut des Dämons ausbreitete. Schillernd wie ein Fisch sah er aus, in blau und Grüntöne gehüllt. Paige sah es kommen.

Die Wassergeißeln flitzten wie messerschafte Zungen auf sie zu. Aus den Fingerspitzen des Dämons schossen sie heraus und trafen Paige am Oberarm, wo sie ihren Mantel und den darunter liegenden Pullover aufrissen, ohne allerdings ihre Schuppen durchbrechen zu können. Das war genug.

Feuer umzüngelte ihren Körper, ließ die gesamte Kleidung in schwarzen Fetzen von ihr abfallen, die sich um sie verteilten und scheinbar orientierungslos ein wenig von der Hitze getragen in der Luft segelten, bevor sie zu Boden fielen.

Ohne genaue Vorstellung, was sie tun sollte, rannte Paige vorwärts, auf den Gegner zu, der ihr immer wieder Schläge verpasste, die ihre Flammen bedrohlich zischen ließen. Es hörte sich so an, als schütte jemand unablässig große Schlucke Wasser auf eine siedend heiße Herdplatte.

Sie erwischte ihn am Bein. Mit einem flammenden Tritt, der auch den Stoff seiner Hose in Feuer aufgehen ließ. Was den Dämon allerdings wenig beeindruckte. Eine Wasserfontäne prallte gegen Paiges Brust und raubte ihr den Atmen, schob sie zurück, bis sie keuchend mit dem Rücken auf dem Boden aufschlug.

Statt sich sofort erneut auf den Kerl zu stürzen, huschte ihr Blick für Sekundenbruchteile suchend umher. Wo war Ryon? Und wo – nein, noch wichtiger – was war der zweite Angreifer?
 

Obwohl Ryon beide Angreifer im Auge behielt, so richtete er seine volle Aufmerksamkeit eher auf den Mann, der Paige unangenehm fixierte. Seinen stillen Partner konnte man leichter vergessen, aber nicht vollständig.

Mit aller Gewalt rüttelte der Tiger an seinen Ketten, brüllte voller Wut und Hass, während er verzweifelt versuchte, sich zwischen seine Gefährtin und der Bedrohung zu stellen.

Nicht einen einzigen Kratzer sollte sie davon tragen, doch Ryons inzwischen sehr schwach gewordener, rational denkender Teil wusste, dass er Paige nicht vor allem beschützen konnte. Zumindest nicht alleine und wenn sie hier heil heraus kommen wollten, dann musste er ihr einfach vertrauen. Bedingungslos vertrauen und darauf hoffen, dass sie wusste, was sie tat.

Als der Wasserdämon jedoch den dummen Fehler machte, sie anzugreifen, rissen die Ketten des Tigers und auch noch der letzte Funke von rationalem Denken, war wie von einer heißen, brodelnden Welle aus kochender Wut und eiskaltem Hass weggespült.

Im gleichen Moment, als Paige neben ihm in Flammen aufging, explodierte sein Fleisch, seine Kleider wurden in Fetzen gerissen, noch während er zu einem Sprung ansetzen wollte, um den Dämon zu Fischstäbchen zu verarbeiten.

Doch anstatt die Pranken des Tigers in den Brustkorb des Wasserdämonen zu jagen, riss ihn etwas so hart von den Füßen, dass selbst seine Verwandlung einen Moment lang den Atem anzuhalten schien, ehe die Raubkatze sich mehrmals überschlug und einen Moment verwirrt und benommen liegen blieb.

Kaum eine Sekunde später kam der Tiger jedoch schon wieder auf die Beine, fauchte den zweiten Angreifer bedrohlich an, ehe es ihn förmlich wieder zum Kampf der Elemente zurück trieb, wo Feuer auf Wasser traf.

Wieder traf ihn etwas. Dieses Mal an der Schläfe und deutlich schwächer als noch zuvor, aber es ließ den Tiger gereizt herum fahren.

Sein Angreifer grinste ihn belustigt an und obwohl sich der zweite Treffer genauso echt angefühlt hatte, wie der erste, stand der Mann zu weit weg, um es selbst gewesen zu ein. Aber als der Tiger sich einen Moment lang umsah, erkannte er nichts, was man als Waffe hätte benutzen können.

Erneut fiel sein Blick auf den Kampf zwischen seiner Gefährtin und dem Wasserdämon. Wieder wollte er ihr zu Hilfe eilen, doch ein weiterer schwerer Schlag, der ihn im Rücken traf, verhinderte, dass er auch nur einen Satz nach vor tun konnte. Ein Stück Beton rollte ihm vor die Vorderpfoten und als er sich nach dem Angriff kurz schüttelte, rieselten kleine Steinchen von seinem Fell.

Warf der Kerl etwa mit Steinen nach ihm?

„Na, komm! Miez, miez, miez.”

Wenn der Tiger nicht ohnehin schon so unglaublich wütend gewesen wäre, spätestens jetzt stand das Todesurteil für diesen Mann fest. Tiger waren nicht ohne Grund die größten Raubkatzen der Welt. Sie wurden ihrem Stolz nur allzu gerecht.

Mit einem Brüllen, das ihm selbst durch Mark und Bein ging, stürzte er sich auf seinen Angreifer. Denn je schneller er diesem Idioten, die Kehle durchbiss, umso schneller konnte er seiner Gefährtin beistehen.

Obwohl das Raubtier wie eine gewaltige Dampflok mit Krallen auf den Mann mit den leuchtend grünen Augen zu donnerte, blieb dieser unbewegt stehen, noch immer mit diesem überheblichen Grinsen auf den Lippen.

Es würde dem Tiger eine Freude sein, ihm dieses Lächeln aus dem Gesicht zu fetzen.

Mit einem gewaltigen Satz sprang er mit voll ausgefahrenen Krallen direkt auf seinen Gegner zu, nur um zu spät zuerkennen, dass dieser genau darauf gewartet hatte.

Im Augenwinkel konnte der Tiger erkennen, dass etwas Großes, von schwarzgrauer Farbe seitlich auf ihn zuschoss und ihn förmlich aus der Luft fischte.

Ihm blieb die Luft weg, als das steinerne Geschoss seine Lungen zusammen quetschte und ein rasender Schmerz seine rechte Schulter hoch schoss, ehe er erneut im Staub auf dem Boden landete und noch ein kleines Stück über den Asphalt schlitterte.

Fassungslos, mit keuchender Atmung und einer sich ausbreitenden Taubheit in seiner rechten Vorderpfote, starrte er seinen Gegner mit gründlich musterndem Blick an, während er sich langsam wieder aufrappelte.

Der Asphaltbrocken, der nicht unweit von ihm auf dem Boden lag, war größer als der Kopf dieses Mannes und selbst wenn er nicht zu schwer zum Werfen gewesen wäre, sein Angreifer war direkt vor ihm gestanden, wie hätte er das Geschoss da von der Seite abfeuern können? Es sei denn, auch der Kerl war kein gewöhnlicher Mensch. Eigentlich hätte er damit rechnen müssen.

Der Tiger brauchte nur einen kurzen Blick auf den Kampf zwischen seiner Gefährtin und ihrer eigenen Bedrohung zu richten, um die nötige Kraft aus seiner erneut hoch schießenden Wut zu tanken. Wieder griff er den seltsamen Typen an, dieses Mal mit kleinen, kurzen Sätzen und dabei Haken schlagend, da ihn weitere Steingeschosse daran hindern sollten, näher zu kommen.

Wenn dieser Mann kein Dämon war, dann müsste das bedeuten, dass dieser sich nicht einfach mit einem Schuppenkleid schützen konnte und auch wenn er offenbar Stein beherrschte, so würde sein Körper doch immer noch bluten können.

Der Tiger würde es auf einen Versuch ankommen lassen.

Ohne auf die kleineren Geschosse zu achten, die er nicht rechtzeitig sehen konnte und ihn wie golfballgroße Hagelkörner trafen, schoss er unbeirrt auf seinen Gegner zu, dem das Lachen inzwischen vergangen war. Stattdessen traten Schweißperlen auf dessen vor Konzentration zerfurchte Stirn und ließen durchblicken, dass er nicht mehr allzu sicher war, einen großen Vorteil in diesem Kampf zu besitzen.
 

Mit einer Rolle entging Paige den Geißeln, die neben ihr einschlugen und den Asphalt aufrissen wie mürbes Leder. Sie kam auf die Füße und musste sich in der nächsten Sekunde ducken, um nicht noch weitere Schläge einzustecken, die langsam aber sicher blaue Flecken auf der Haut unter ihren Schuppen hinterließen.

Erneut stürzte sie vorwärts, warf dem Dämon Feuerbälle entgegen, von denen er die ersten mit einem massigen Wasserschild abwehrte, bevor die beiden letzten es durch die Barriere schafften, bloß um dann an seiner nassglänzenden Brust zu verdampfen.

Paiges Wut schraubte sich in die Höhe mit der Erkenntnis, dass diese Distanzangriffe nichts bringen würden. Dafür war ihre elementare Seite nicht gut genug ausgeprägt. Also noch näher ran.

Sie sprintete auf ihren Gegner zu, der wieder Fäden aus hartem Wasser auf sie einschlagen ließ. Doch was sie aus dem Tritt und fast zu Fall brachte, war das Brüllen, das irgendwo hinter ihr erklang. Paiges Haare zogen eine hell leuchtende Spur in die Nachtluft, als sie sich reflexartig nach Ryon umsah. Ihr Herzschlag war so hart und ängstlich, dass es ihr sofort Tränen in die Augen trieb, die sich in Wasserdampf auflösten, kaum dass sie über die Schwelle ihrer Lider getreten waren.

War er verletzt?

Das nächste was sie spürte, waren die schmerzhaften Folgen des Fehlers, den sie begangen hatte. Eine Wassergeißel, so dick wie ihr Handgelenk wand sich um Paiges Brust, drückte sie zusammen und ließ ihre Rippen bedrohlich knacken. Die Atemluft wurde aus ihr heraus gepresst, wie aus einem Luftballon und Paige wusste, dass es nichts brachte, um sich zu schlagen. Ihre brennenden Finger rutschten durch die Wassersäule, die doch so materiell war, um das Leben aus ihr heraus zu würgen.

Schmerzen schossen durch ihre Brust, brachten sie zum Keuchen, während sie in die Höhe und auf ihr Gegenüber zu gerissen wurde. Er schlug ihr gnadenlos mit der Faust ins Gesicht. Paiges Wange schien regelrecht in gleißendem Schmerz zu implodieren, während sie sich so stark auf die Lippen biss, dass Blut sich über ihr Kinn ergoss, bevor es blubbernd auf ihren Schuppen verkochte.

Der Druck um ihren Brustkorb verstärkte sich, ließ sie gequält aufstöhnen und vor Schmerzen und fehlendem Sauerstoff fast die Besinnung verlieren. Als er sie noch einmal mit voller Wucht ins Gesicht schlug gingen ihre Flammen zurück. Paiges Kopf rollte zur Seite, bevor sie wie betäubt in dem Klammergriff der Geißel hängen blieb.

Ihre Augen flackerten über den trüben Pupillen, während der Wasserdämon sie mit einem höhnischen Blick noch näher an sich heran zog.

„Ein Kätzchen und eine... was bist du, heh? Ein kleiner Feuersalamander, der gern ein Dämon wäre?“

Er hob ihr Kinn an, über das nun doch Fäden aus blutigem Speichel rannen. Im nächsten Moment veränderte sich sein Gesicht. Aus dem überheblichen Grinsen wurde Verwirrung, dann Erkennen, das sich in Todesangst wandelte, als er endlich begriff, dass es zu spät war sie loszulassen.
 

Der Tiger schaffte es nur, dem Kerl einen oberflächlichen Kratzer in die Brust zu ritzen, ehe dieser ihn mit einem weiteren Steinhagel zurück auf den Erdboden beförderte, dennoch sog dieser Mistkerl scharf die Luft ein, offenbar nicht an Schmerzen gewöhnt. Mochten sie noch so gering sein, im Vergleich zu dem, was der inzwischen geschundene Raubtierkörper alles hätte spüren müssen. Doch kein Schmerz war stark genug, um ihn daran zu hindern, den Mann immer wieder zu attackieren.

Zuerst hatte er noch versucht, den Steinschlägen auszuweichen, war dabei aber nie nahe genug an seinen Gegner heran gekommen, jetzt nahm der Tiger keinerlei Rücksicht mehr auf seine eigene Gesundheit.

Obwohl er sich mit seinen linken Läufen gegen den Aufprall der nächsten Steinschlägen stemmen musste, um nicht einfach umgenietet zu werden, schaffte es der Tiger seine rechte, inzwischen vollkommen kraftlose Pfote noch ein letztes Mal zu heben, um seinem verhassten Feind ein ordentliches Stück Fleisch aus dem Oberschenkel zu fetzen.

Sofort hörte der Angriff auf ihn auf und nichts konnte ihn mehr davon abhalten, dem Mann die Kehle durchzubeißen. Der Tiger straffte sich bereits für den tödlichen Angriff, als die einzige Sache der Welt, die ihn doch noch daran hindern hätte können, ihn erstarren ließ.

Das gekeuchte Stöhnen seiner Gefährtin ließ ihn herum wirbeln und als seine scharfen Raubtieraugen sahen, wie der Wasserdämon ihr mit der blanken Faust ins Gesicht schlug, drehte sein ohnehin schon angeknackster Verstand nun vollends durch.

Ohne noch weiter auf das klägliche winselnde Häufchen zu achten, dessen Blut ihm noch immer in der Nase hing, nahm er seine letzten Kräfte und wetzte auf den Wasserdämon zu, der seine Gefährtin quälte und somit sein Leben endgültig verwirkt hatte.

„Friss das … Scheißkatze‼“, brüllte der Steinbändiger hinter ihm her. Der Tiger reagierte nicht darauf. Nicht einmal, als etwas so dicht an ihm vorbei zischte, dass die Stelle, an der ihn das Geschoss berührte, brannte. Aber es brauchte schon mehr, um ihn aufzuhalten.

Ein verzweifeltes Schnauben entkam seinen gebleckten Zähnen, da er sich unbedachter Weise so weit von seiner Gefährtin entfernt hatte. Es waren zwar nur wenige Sekunden, die er brauchen würde, um sie zu erreichen, aber für ihn schienen sie sich in die Ewigkeit zu ziehen.

Erneut hörte er ein Zischen, auf das sofort ein weiteres, dieses Mal stärkeres Brennen in seiner linken Flanke aufflammte. Es tat nicht genug weh, um sich sorgen machen zu müssen und hinderte ihn auch keinen Moment lang am Weiterlaufen. Zumindest solange nicht, bis ihn eine ganze Salve davon erwischte. Überall kleine brennende Stiche, die in ihrer Anzahl ihn schließlich zuerst trudeln ließen, bis sein kraftloses Bein vollkommen unter ihm wegknickte und sein massiger Leib der Länge nach hinschlug.

Sofort rappelte er sich wieder auf, nur um daraufhin festzustellen, dass seine Muskeln ihm nicht mehr bereitwillig gehorchen konnten. Er fiel wieder hin.

Seine Sicht verschwamm vor seinen Augen. Schwarze Flecken tanzten um ihn herum und obwohl er nicht mehr weit von seiner Gefährtin entfernt war, die erneut einen Faustschlag hinnehmen musste, schaffte er es nicht, sich hoch zu kämpfen. Selbst dann nicht, als humpelnde Schritte von hinten auf ihn zu kamen.

Als der Tiger den Kopf drehte, um seinem Feind ins Gesicht zu blicken, erkannte er nur einen auf sich zurasenden Stiefel, der seinen wuchtigen Schädel zur Seite schleuderte.

„Es wird mir ein Vergnügen sein, dir jeden einzelnen Knochen zu brechen, nachdem deine Schlampe tot ist.“

Das Lächeln war wieder auf den Lippen des Mannes zurück gekehrt, als er erneut zutrat und die schwarzen Flecken vor den Augen des Tigers endgültig die Oberhand gewannen.

Die tiefe Verzweiflung über sein Versagen als Gefährte, die sein Herz auffraß, war unerträglicher, als alles, was er je verspürt hatte. Der Gedanke, nun auch Paige zu verlieren, brachte ihn schier um. Zumindest war das das Letzte, woran er denken konnte, als alles schwarz und still wurde.
 

Paige hörte Schritte hinter sich, jemanden, der schlurfend auf sie und den Wasserdämon zukam. Dieser fand seine Stimme wieder. Allerdings war sie schrill und von Panik verzerrt.

„Mach sie fertig!! Los, bring sie um!!“

Das Kreischen des Mannes ging nahtlos in einen Schmerzensschrei über. Die Augen wollten ihm aus den Höhlen treten, während er verzweifelt versuchte seine Hand von Paiges Kinn zu ziehen.

„Darf ich dir helfen... Dämon?“

Ihre Finger schlossen sich um sein Handgelenk, griffen fest zu und rissen seine Hand von ihrem Gesicht. Die Handfläche war nicht mehr als eine verkohlte, aufgerissene, blutende Masse, von der aus sich blubbernde Brandblasen seinen Arm hinauf zogen. Seine Haut platzte auf, verfärbte sich und gab seine Muskeln frei, die sich in Sekundenschnelle in verbranntes, kohlendes Fleisch verwandelten.

In seiner Todesangst zog der Wasserdämon seine Geißel noch einmal fester. Doch Paige legte ebenso unbarmherzig ihre Arme und Beine um ihn. Wie ein brennender Todesengel schlang sie sich um ihn, presste ihre Schuppen an seine, und ließ alle Schmerzen und Wut hinaus, die sich in ihrem Inneren zusammen gerottet hatten und für die er selbst verantwortlich war.

Paige spürte einen harten Schlag gegen ihren Rücken, der aber nicht verhindern konnte, dass sie in einem Ball aus Feuer aufging. Die Verteidigungsversuche des Wasserdämons verpufften im wahrsten Sinne des Wortes auf ihren gleißenden Schuppen. Ihre Panzerung leuchtete wie schmelzendes Glas, während sich der Dämon in Paiges Umklammerung unter gellenden Schreien immer weiter auflöste.

Sie sanken zusammen. Zu einem Häufchen aus schwelenden Knochen und Muskelresten, die einmal ein Dämon gewesen waren.

Paiges Schuppen bedeckter Körper hockte über ihm, sah auf das hinab, was vor Momenten noch ein Mann gewesen war. Einer, der sie nicht nur hatte töten, sondern auch beleidigen wollen. Und dabei hatte er von den beiden Angreifern noch den kleineren Fehler begangen.

Auf den Fußballen drehte sich Paige langsam herum. Ihr Blick fiel auf den zusammen gesunkenen, blutenden Körper des Tigers und dann auf den Mann mit dem verletzten Bein, der nur wenige Schritte von ihm entfernt stand.

Er hatte seine Augen auf das Häufchen rauchenden Drecks geworfen, das einmal sein Partner gewesen war.

Paige sah die gleiche Angst in seinem Gesicht, wie zuvor bei seinem Freund. Sie erhob sich. In wirbelnde Feuerzungen gehüllt ging sie gemächlich, mit fast schon elegantem Hüftschwung auf ihn zu, während der Kerl erst nach Sekunden realisierte, was passierte und erschrocken zurück taumelte.

Er schrie nicht, stattdessen winselte er um sein Leben. Er warf Steine nach ihr, spitz und hart. Solche mussten auch Ryon getroffen haben, dessen Flanke an vielen Stellen von den Angriffen gezeichnet war und blutete. Paige ignorierte sie einfach, auch wenn die scharfen Kanten es auch bei ihren Schuppen schafften Risse und Schnittwunden zu hinterlassen.

Der Mann ließ größere Geschosse auf Paige hinab regnen, die neben der leblosen Gestalt des Tigers stehen geblieben war und auf ihn hinunter sah. Er lebte. Doch sein Atem ging raspelnd und unruhig...

Ein angestrengtes Stöhnen ließ sie hoch und in die Richtung des Kerls blicken, der es gewagt hatte, Ryon zu verletzen. Zwischen ihnen schwebte ein Stein in der Größe eines Amboss in der Luft, erhob sich zitternd über Paiges Kopf, bevor der Kerl ihn losließ. Das Geschoss schlug dort ein, wo sie gerade noch gestanden hatte. Paige rannte vorwärts. Doch das hatte der Typ anscheinend voraus gesehen. Größere Brocken und scharfkantige Kiesel trafen sie im Gesicht, wollten ihren Lauf bremsen, bis der Mann einsah, dass sie sich nicht abhalten lassen würde. Sie wurde am Kopf getroffen, taumelte aber dennoch weiter. Der Angreifer ergriff die Flucht, rannte, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her und schaffte es doch nicht, sich vor Paige in Sicherheit zu bringen, die sich mit einem Grollen, das aus ihrem tiefsten Inneren kam, auf ihn stürzte. Sie riss ihn zu Boden und deckte ihn zu. Mit einer Decke so warm, dass es seine Lungen verbrannte, die für einen letzten, erstickten Schrei nach Atem rangen.
 

Ein unmenschlicher Schrei riss an seinem Bewusstsein. Ließ seinen ohnehin schon rasenden Herzschlag wie Hammerschläge auf einem Amboss dröhnen und zwang seine verklebten Augenlider auseinander. Ein blutiger Schleier lag vor seinem Blick, der nicht viel mehr sah, als einen Haufen von etwas, das anhand einzelner Schenkelknochen noch als Mensch zu identifizieren sein konnte.

Ryons Verzweiflung schlug erneut mit voller Wucht zu, trieb ihn den Atem aus der Lunge und ließ einen unerträglichen Schmerz in seinem Brustkorb explodieren.

Der Schleier, der während des Angriffs des Tigers auf seinem Bewusstsein gelegen hatte, war verschwunden und auch wenn er sich ganz seiner tierischen Hälfte hingegeben hatte, so konnte er sich doch an alles haargenau erinnern.

Wo war Paige?

Verzweifelt versuchte er erneut auf die Beine zu kommen, oder wenigstens seinen Kopf zu heben, aber dieser schmerzte ebenso sehr, wie sein gepeinigtes Genick und der Rest seines wunden Körpers. Blut verklebte sein Fell, Staub und Dreck ließ seine Wunden brennen und die Tritte gegen seinen mächtigen Raubtierschädel schienen immer noch dröhnend dagegen zu donnern. Aber nichts war gegen die Pein, nicht zu wissen wo seine Gefährtin war!

‚Paige?‘

Es kam nur ein Laut, ebenso unmenschlich aber weniger laut, wie der, den er vorhin noch hatte hören können, über seine Lefzen und er sackte wieder in sich zusammen, da jede noch so kleine Bewegung sich so anfühlte, als würden kleine Seeigel in seinen Muskeln und unter der Haut stecken, die ihn bei jeder noch so kleinen Regung quälten.

Das Gewicht seines Schädels war zu schwer, um ihn weich zurück auf den Boden zu legen, stattdessen knallte er wieder auf den Asphalt und ließ Sterne hinter seinen Augenlidern explodieren, ehe die Dunkelheit und die Ungewissheit ihn erneut schluckte.
 

„Hätte er sich nicht noch wandeln können, bevor er k.o. ging?“

„Tyler!“

Paige half den beiden Männern dabei, Ryons schweren Raubtierkörper auf eine Trage zu hieven, um ihn ins Haus zu schaffen.

Es hatte keine zwanzig Minuten gedauert, bis Tyler und Tennessey nach Paiges telefonischem Hilferuf bei ihr gewesen waren. Man konnte fast sagen, dass sie wie die Notärzte auf dem Schlachtfeld erschienen waren, um die Verletzten einzusammeln. Paige selbst hatte es nicht großartig erwischt, mal von den blauen Augen und Blutergüssen abgesehen, die sich schillernd bunt auf ihrer Haut zeigen würden, sobald sie das Schuppenkleid fallen ließ.

Wie genau sie den massigen Körper des Tigers in den Kofferraum und die vorgeklappte Rückbank des Mercedes bekommen hatten, konnte Paige sich nicht erklären, aber das war auch weniger wichtig. Er war davon jedenfalls nicht aufgewacht. Und auch jetzt, da sie ihn über den Kiesweg einigermaßen holprig ins Haus bugsierten, wachte er nicht auf. Paiges Kopf wollte von ihrem ängstlich hämmernden Herzschlag explodieren. Sie hatte das Gefühl bereits die Risse fühlen zu können.

„Tennessey, ich weiß...“

„Ich muss ihn mir erst in Ruhe ansehen, Paige.“

Der Arzt sah sie ebenso besorgt an wie seinen bewusstlosen Patienten. Denn das Blut, das jener über dem Ohr im Fell kleben hatte, kam größtenteils von Paiges gerissenen Lippen, die nun höllisch brannten. Die ganze Fahrt über hatte sie beruhigend und doch voller Sorge auf ihn eingeredet. Er solle bloß nicht auf die Idee kommen, sie allein zu lassen!

„Na, also dann...“

In seinem Reich angekommen, knipste der Arzt die Untersuchungslampe an und machte sich so automatisch an die Arbeit, dass Paige direkt leichter ums Herz wurde. Wären die Verletzungen sehr viel bedenklicher als alles, was Ryon bisher nach Hause gebracht hatte, sie hätte es Tennessey bestimmt angesehen. So gut kannte sie den älteren Mann nun doch. Und außerdem glaubte sie nicht, dass er ihr etwas über Ryons Gesundheitszustand unterschlagen würde.

Trotzdem saß sie völlig verkrampft und nervös da, stand dann auf, lief im Zimmer umher, um sich dann wieder zu setzten und keine zwei Minuten später wieder von vorn anzufangen.

„Es geht ihm nicht so schlecht, wie es den Anschein hat. Keine Sorge. Das hält er schon aus.“

Die Augen des Doktors prüften nun doch sehr sorgfältig auch Paiges Gestalt. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich grübelnd zusammen.

„Ist da noch mehr, was ich unter den Schuppen nicht sehen kann? Wie heißt es doch in meinem Beruf so schön: Sie dürfen sich bitte für die Untersuchung frei machen.“

Paige gehorchte nur, weil Ryon – nun etwas ruhiger atmend – eine Spritze bekam und im gleichen Raum weiter schlief, in dem Tennessey sie untersuchte.

Und auch wenn ihr das alles viel zu lange dauerte, war sie froh, als der Arzt auch ihr etwas gegen die Schmerzen gab, damit sie schlafen konnte.

„Wo sollen wir denn? Ich meine...“ Etwas Hilfe suchend sah sie Ryons Freund an. Er würde ihn doch nicht auf der Trage weiter schlafen lassen?

„Lass' das mal unsere Sorge sein.“
 

Paige hatte ihren Rücken vorsichtig an den weichen Bauch des Tigers gekuschelt. Am liebsten hätte sie ihre Arme um ihn geschlungen, um sich tief in seinem köstlich duftenden Fell zu vergraben. Aber das Risiko ihm Schmerzen zuzufügen war viel zu groß. Es war ohnehin schwierig gewesen ihn auf den Fußboden zu legen, ohne seine Seite zu stark zu belasten.

Tyler und Tennessey waren so nett gewesen, die Matratze ihres Bettes auf den Boden zu legen, damit sie es zumindest nicht so unbequem hatte. Räumlich auch nur einen Meter von ihm getrennt zu schlafen, das hätte Paige niemals gekonnt.
 

Ryon musste lange geschlafen haben. Traumlos, gefühllos … gedankenlos. Doch sofort, als sein Bewusstsein zurückkehrte und noch ehe er die Augen aufschlagen konnte, traf ihn alles wieder mit voller Wucht.

Er zuckte vor dumpfen Schmerz zusammen, als sich seine Pupillen nicht im hellen Licht des Tages zusammen zogen, wie sie es eigentlich hätten tun sollen, nachdem er seine Lider geöffnet hatte. Tennessey musste ihm schon wieder eine dieser höllischen Spritzen verpasst haben, denn obwohl seine Pupillen noch immer von den Drogen geweitet waren, so hatte er doch Schmerzen. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass sie nicht körperlich waren.

Etwas bewegte sich an seinem Bauch, vorsichtig und langsam, das ihn zuerst erstarren und dann ebenso vorsichtig seinen Kopf heben ließ.

Die schiere Erleichterung, die sich bei Paiges Anblick in Ryon ausbreiten wollte, verwandelte sich rasch in Wut und dann bitterer Enttäuschung über sich selbst.

Ihr Auge war geschwollen, ihre Lippe aufgeplatzt, auf ihrer Wange prankte ein Veilchen und wenn er sich so den Rest ihres Körpers ansah, der in einem großen Schlafshirt steckte, wurde ihm so dermaßen schlecht, dass er automatisch Ausschau nach der nächsten Topfpflanze hielt. Doch statt dem Gefühl nachzugeben. Schluckte er den bitteren Geschmack hinunter und schmiegte stattdessen voller Reue und um Vergebung bittend, seine breite Stirn sanft gegen Paiges Schläfe.

Ihr Geruch herrlicher, schöner und berauschender denn je, war ihm ein unendlicher Trost. Er hatte sie schon verloren geglaubt und nun schlief sie an seinen Körper gekuschelt bei ihm, eine Hand in sein dichtes Fell fest unterhalb seines Vorderlaufs gekrallt.

Ryon hätte weinen können, wenn er dazu in dieser Gestalt fähig gewesen wäre. Doch auch so, klangen seine leisen Laute traurig, entschuldigend und erleichternd zugleich.

Er hätte es nicht überstanden, wenn er sie tatsächlich verloren hätte. Das war eine Erkenntnis, die ihm dieser Kampf und der schreckliche Anblick von Paige, der man Gewalt angetan hatte, nur noch bestätigte. Ohne sie, könnte er keinen weiteren Atemzug mehr tun.
 

Tennessey hatte sich bereits im Voraus bei Paige entschuldigt. Mit der Dosierung für Ryon kannte sich der Arzt inzwischen so gut aus, dass er die Spritze mit dem Beruhigungsmittel im Schlaf aufziehen konnte. Aber der Halbdämonin wollte er nichts verpassen, was ihr am Ende auch noch schaden könnte. Also hatte er sich auf menschliche Maßstäbe beschränkt.

Was dazu führte, dass Paige wach lag. Sie war vollkommen müde und erschlagen, hatte das Gefühl nicht einmal die Augenlider heben zu können und doch war ihr Körper rastlos. Bleischwer und doch voller Energie, die dafür sorgte, dass sie sich herum warf, bloß um so immer wieder auf unangenehme Weise daran erinnert zu werden, dass nicht nur Ryon in diesem Kampf Einiges abbekommen hatte.

Er schlief neben ihr. Beruhigend tief und fest, mit gleichmäßigen Atemzügen, die seine gestreifte Brust hoben und senkten. Paige schaffte es ein paar Mal, die Augen zu öffnen und ihn immer wieder interessiert im Mondlicht zu betrachten. So lange war sie noch nie in Gegenwart des Tigers gewesen. Und irgendwie war es seltsam, dass er nicht bei Bewusstsein war und sie somit vielleicht den Mann im Inneren erkennen konnte. Ihre zähen Gedanken bildeten die Frage, ob sie Angst vor ihm haben sollte. Immerhin war er ein Raubtier, vollkommen orientierungslos, wenn er aufwachte. Und vermutlich noch auf die Ereignisse eingestellt, von denen er nicht wusste, dass sie längst vorüber waren.

„Es ist alles in Ordnung, hörst du?“

Sie konnte ihre Stimme selbst kaum hören, so leise und belegt klang sie.

Aber es war auch nicht nötig, dass sie noch länger mit ihm sprach. Denn eins wusste Paige, auch wenn ihr logisches Denken ihr sagte, dass sie es eigentlich gar nicht wissen konnte: er würde ihr niemals wehtun. Egal in welcher Form.

Also schloss sie wieder die Augen und streichelte mit einer Hand seinen weichen Bauch, das warme, helle Fell, das sich zwischen ihren Fingern einfach himmlisch anfühlte. Es beruhigte sie so sehr, dass Paige irgendwann doch Schlaf fand. Und wenn sie wieder aufgeschreckt wurde, von Träumen oder einem schmerzhaften Druck auf ihren Rippen, dann konnte sie sich an ihn schmiegen, den warmen Duft einatmen und ihn weiter streicheln.
 

„... bin wach...“

Ein warmes Schnauben strich über ihre Wange und ganz nah an ihrem Ohr hörte sie gurrende, aber dennoch nachdrückliche Laute.

Paige hatte keine Lust aufzustehen.

Wie sie es immer tat, wenn sie zu spät ins Bett gekommen war oder einfach nicht hatte schlafen können, rollte sie sich spielerisch zu einem Ball zusammen und vergrub sich im nächstbesten, was sie finden konnte. Normalerweise war das ein Kissen oder eine Bettdecke. Diesmal war es weiches, duftendes Fell.

Es traf sie so hart, als hätte man einen Kübel eiskalten Wassers über ihr ausgeschüttet. Paige löste zwar ihre Hände nicht vom Bauch des Tigers, streckte sich aber so weit aus, dass sie ihm in die großen, goldenen Augen sehen konnte. Sie schienen beide über die Situation etwas ... verwirrt. Paige genauso wie der Tiger, hinter dessen Augen sie versuchte Ryon zu sehen. Die beiden waren eins und doch so unterschiedlich.

„Geht's dir gut?“

Zur Antwort erhielt sie nur ein recht träges Blinzeln, aber sie wusste, was er vorhatte.

„Warte.“

Eine Wandlung hätte ihm nur noch mehr Schmerzen verursacht. Etwas, das Paige ganz sicher nicht wollte. Um den Tiger zum Bleiben zu bewegen, drückte sie ihren Stirn sanft an seine, rieb ihren Nase an seinem Fell und schlang ihre Arme um seinen Hals.

„Du musst nicht immer sofort Platz machen. Ich hab euch beide gern...“, flüsterte sie ihm ins flauschige Ohr, bevor sich ihre Finger daran machten, ihn dort ausgiebig zu kraulen.
 

Als sie ihn darum bat, zu bleiben, obwohl er im Augenblick nichts lieber getan hätte, als Paige mit seinen menschlichen Armen fest zu halten und sie nie wieder los zu lassen, tat er, worum sie ihn gebeten hatte.

Ihre Finger in seinem Fell fühlten sich gut an und als sie die Stelle hinter seinem Ohr kraulte, die ihn am Hals des Mannes ebenfalls besonders wahnsinnig machte, hätte er nur zu gerne vor Wonne geschnurrt, erst recht, als er ihre Worte vernahm, aber stattdessen wuchsen seine Schuldgefühle ins Unermessliche.

Er – sowohl Tiger wie auch Mann waren sich in diesem Punkt einig – hatten diese Frau nicht verdient, denn sie waren nicht in der Lage gewesen, sie zu beschützen. Schon wieder.

Erst Marlene und nun Paige… Wie könnte er sich jemals wieder ins Gesicht sehen?

Langsam ließ er seinen Kopf wieder auf eine seiner Vorderpfoten sinken und starrte ohne zu blinzeln die Tür an. Inzwischen hatte er sich so hingelegt, dass er nicht mehr ganz auf der Seite sondern hauptsächlich auf dem Bauch lag. So konnte er leichter den Raum überblicken, ohne sich anstrengen zu müssen.

Ganz automatisch hatte er seine Beine näher an sich heran gezogen und somit Paiges Körper halbmondförmig eingekeilt.

In diesem Augenblick wollte er vor Scham und Frustration im Erdboden versinken oder sich wenigstens an Paiges Bauch kuscheln und sein Gesicht darin vergraben. Doch weder das eine noch das andere würde passieren. Viel mehr zwang er sich dazu, ihr wieder ins Gesicht zu sehen, sich dem schmerzlichen Anblick ihrer Verletzungen zu stellen und ihr tief in die Augen zu blicken.

‚Es tut mir so leid, Paige. So unendlich leid‘

Seine Worte kamen als leise vibrierendes Summen aus seinem geschlossenen Maul, während sich seine runden Ohren förmlich nach unten und hinten zogen, wie auch sein Kopf sich leicht senkte. Voller Reue und doch, als er sie vorsichtig mit seiner Nase seitlich gegen ihre gesunde Wange stupste und ihr sachte ins Ohr atmete, war Reue nicht alles was er empfand.

‚Ich liebe dich.‘ Er schnurrte es fast und ließ dann seine große lange Zunge über ihren Hals gleiten. Nicht wie eine Katze oder der Tiger der er war, sondern langsam und hingebungsvoll, wie er – Ryon – es sonst immer allzu gerne getan hatte und immer noch tat.
 

Paige hielt ihre Hand still und beobachtete genau, was der Tiger tat. Er legte die Ohren an und senkte den Kopf, um sie von unten her mit einem Ausdruck anzusehen, den sie absolut nicht deuten konnte. Es war wesentlich schwerer in dieser Gestalt mit ihm zu kommunizieren, auch wenn sie wusste, dass er jedes ihrer Worte verstehen konnte.

Und doch konnte sie auch in diesen Augen sehen, dass es ihm nicht gut ging. Paige hatte das sichere Gefühl zu erkennen, dass es nicht unbedingt die körperlichen Schmerzen waren, die ihn quälten. Was sich nur noch verstärkte, als er ihr so nahe kam, wie in dieser Form noch nie zuvor.

Wieder konnte sie seinen Atem an ihrem Ohr spüren und wäre trotzdem beinahe zusammen gezuckt, als sie die leicht raue Zunge des Tigers auf ihrem Hals spürte. Es war ... etwas ganz Besonderes und Paige ließ sich diese sanfte Behandlung nur zu gern gefallen. Sie legte ihr Gesicht auf einer der weichen Tatzen des Tieres ab und hielt ihm ihren Hals hin, damit er weiter machen konnte. Dabei fielen ihr nach einer Weile wieder die Augen zu.

"Ich liebe dich auch...", brachte sie noch zustande zu sagen, bevor sie nur zu dankbar noch einmal in den Schlaf hinüber glitt. Trotzdem schaffte sie es noch zu hoffen, dass Ryon sich ebenfalls ein wenig Ruhe gönnen würde.



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