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Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

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47. Kapitel

Sie mochten sich noch nicht allzu lange kennen, aber Paige bemerkte es sofort, als Ryons Hände auf ihrer Haut inne hielten und sein Atem nicht mehr aufgrund ihrer zu erwartenden erregenden Pläne schwer gegen ihren Hals schlug.

Außerdem war sie in den vergangenen Jahren oft genug in der Situation gewesen einen Feind zu erspüren, bevor sie ihn sehen konnte. Sie wäre einige Male beinahe geschnappt worden, hätte ihr Frühwarnsystem nicht so ausgezeichnet funktioniert.

Dem entsprechend juckten auch jetzt ihre Schuppen unter ihrer menschlichen Haut, während sich ihre Augen reflexartig öffnen wollten, um die Gegend abzusuchen. Aber außer einem wagen Gefühl war für sie nichts wahrnehmbar. Bloß Ryons Reaktion, die sich in Sekunden abgespielt hatte.

Jetzt hörte sie seine Worte an ihrem Ohr und wollte sofort protestieren, bis er ihr mit der Nennung von Mias Namen Einhalt gebot. Ryon konnte auf sich selbst aufpassen. Er war schnell, kräftig und erfahren. Wenn er ihre Hilfe wollte, indem sie nach drinnen ging, dann würde sie das tun. Denn Die Bewohner der Hauses konnten sich nicht derart verteidigen, wie es Ryon möglich war.

Mit einem knappen Nicken rannte Paige los und erreichte keine Minute später die Terrasse, wo sie das Babyfon schnappte und die Tür aufriss, um im Inneren zu verschwinden. Für Sekunden stand sie unschlüssig im Wohnzimmer. Noch immer hatte sie keine Ahnung, wo sich Tylers Schlafzimmer befand. Das Haus war eindeutig zu riesig, um jeden möglichen Raum abzuklappern.

Aber da ihr erster Weg ohnehin zu Mia führte, konnte sie sich in dieser Zeit überlegen, wie sie vorgehen sollte.

„Engelchen, es tut mir Leid...“

Mia quängelte leise, als Paige sie hochnahm und auf ihrem Arm wiegte, während sie sich schnell durchs Haus zu Ryons Büro bewegte. Doch das kleine Mädchen konnte die Nervosität so stark spüren, als hätte man sie direkt in eiskaltes Wasser geworfen. Ihr Weinen, das immer lauter wurde, wollte Paige das Herz zerreißen. Sie fühlte sich so hilflos, weil sie nicht wusste, wie sie Mia die Angst nehmen konnte. Es war noch nicht einmal klar, was eigentlich los war.

„Was ist denn hier los? Brennt es irgend-“

Tyler sah im Schlafanzug befremdlich aus, aber in Paiges Gesicht war bestimmt zu sehen, wie froh sie war, dass er vor ihr im Flur auftauchte. Das kleine Mädchen in ihrem Arm vergrub das Gesicht in Paiges Haar und krallte sich in ihren Haare fest, bloß um noch lauter zu weinen.

„Sshhh, Mia. Ist gut...“

Leicht streichelte Paige über den Rücken des Kindes, während sie Tyler fixierte.

„Irgendetwas stimmt nicht. Ryon ist im Wald. Ich soll dich nach dem Notfallplan fragen und wir sollen im Haus bleiben.“

In Paige sträubte sich wieder alles, während ihre Gedanken zu Ryon wanderten. Ja, er war stark und flink. Aber sie hätte trotzdem gern gewusst, mit was sie es zu tun hatten. Oder vielmehr, mit was er sich da draußen allein rumschlagen würde.

Weniger zu Mia, als zu sich selbst flüsterte sie leise in das Haar des Mädchens.

„Er kommt bald zurück. Keine Sorge.“

Tylers Züge schienen sich zu verhärten. Er wirkte weniger jugendlich als Paige es gewohnt war. Bevor sie es aber wirklich fassen konnte, drehte er sich um und verschwand kurz in einem der angrenzenden Zimmer, um mit einer völlig verschlafenen Ai keine Sekunde später wieder aufzutauchen.

„Paige, bring die beiden runter in den Keller. Die Tür neben der Garage. In dem Raum stehen viele Fläschchen mit Tinkturen und Bücher herum. Du wirst es erkennen, wenn du es siehst. Da sind wir sicherer, als in irgendeinem anderen Zimmer im Haus.“

Wieder ein kurzes Nicken und Paige fasste Mia ein wenig fester, schnappte sich mit der freien Hand Ai und lief los.

Ein Raum im Keller, der sicherer war, als jeder andere?

Die beiden Frauen schlitterten die Gänge entlang, schafften es ohne Zwischenfälle zur Kellertreppe und fanden hinunter.

Eine der schweren Türen unterschied sich rein optisch von allen anderen, aber Paiges dämonische Seite konnte auch spüren, dass irgendetwas diesen Raum schützte. Ihr selbst prickelte die Haut unangenehm, bis sie die Türklinke ergriffen und sie herunter gedrückt hatte.

Als sie die Einrichtung sah, die Fläschchen, die Bücher und die Gewürze, die an der Decke aufgereiht zum Trocknen hingen, entkam ihr Marlenes Name mit einem ehrfürchtigen Hauchen. Sie war eine Hexe gewesen. Hier unten konnte man ihre Gegenwart und auch ihr Können noch sehr deutlich spüren.

Ai war so geistesgegenwärtig ihr Mia abzunehmen, während Paige eine Gänsehaut im Nacken kribbelte.

Ihre Hände flammten auf, als sie Geräusche am oberen Ende der Treppe hörte.

„Wir sind's!“, klärte sie allerdings Tylers Stimme auf, der mit Tennessey herunter gepoltert kam. Beide sahen kurz auf die Flammen, die Paiges Finger umgaben, bis sie das Feuer mit einem Wink wieder löschte.

„Und das ist der Plan? Wir sollen uns hier unten verkriechen?!“

Paige war bereits nach dieser kurzen Zeit nah dran zu explodieren. Wenn jemand das Haus betrat, würde er sie früher oder später finden. Ob Marlenes Zaubergrenze dann hielt, war für Paige fraglich. Auch wenn sie der Hexe selbst nach so vielen Jahren noch sehr viel zutraute.

„Ihr bleibt hier. Ich gehe da rauf und werde jedem den Hintern wegbrennen, der hier runter will.“

Sie stürmte davon, ohne irgendjemandem Zeit für einen Einspruch zu lassen. Ryon hatte sie versprechen müssen, dass sie im Haus blieb. Aber sie würde nicht auf dem Silbertablett warten, dass jemand sie holte. Und schon gar nicht darauf, dass die ganze Familie auf einmal gefunden wurde. Wer immer es wagte diesen Leuten ein Haar krümmen zu wollen, würde es zuerst mit ihr aufnehmen wollen. Wenn Ryon ihm nicht ohnehin schon draußen den Kopf abriss.

„Komm bloß unverletzt zurück...“, bat sie zwischen zusammen gebissenen Zähnen, bevor sie in einer dunklen Ecke unweit der Tür Stellung bezog.
 

Zwischen überhängenden Kiefernästen saß der Quell des Gestanks ganz locker in der Hocke, als wäre er ein Spatz auf einer Stromleitung und kein ungefähr 300 Pfund schwerer Mann, dessen wahre Natur er alles andere als gut verstecken konnte.

Das gelbe Grinsen des Kerls war so breit und lüstern, dass Ryon sich nicht einmal die Mühe machte, sich an ihn heran zu schleichen. Der Typ hatte ihn schon kommen sehen, seit dem er Paige verlassen hatte. Das war schon auf dem ersten Blick klar zu erkennen. Was sich jedoch alles andere als offensichtlich zeigte, war die Tatsache, wie der Kerl, der aussah wie die werwölfische Version eines Penners, es auf die Mauer geschafft hatte.

Gut, sie war vielleicht nur drei Meter hoch, aber wenn man bedachte, dass durch Marlenes Zauber von der anderen Seite nicht einmal eine Mauer zu sehen war, war das schon eine ganz schöne Glanzleistung. Trotzdem würde Ryon dafür jetzt sicherlich nicht Beifall klatschen.

Außer Reichweite und doch gut erkennbar, blieb er schließlich stehen und starrte den Eindringling finster an.

Jeder von Ryons Muskeln war steinhart vor Anspannung und seine Kiefer mahlten wie eine Getreidemühle aufeinander, bis ihm die Zähne schmerzten. Dennoch folgte er nicht seinem ersten Instinkt und griff den Penner an, um sein Revier und somit seine Familie zu verteidigen, sondern blieb einfach ruhig stehen und wartete auf eine Reaktion des anderen, um ihn besser einschätzen zu können.

Der hatte sogar ein noch breiteres Grinsen aufgesetzt, als er Ryon auf sich zukommen sah. Allerdings war die Lüsternheit darin von einer Grausamkeit abgelöst worden, die dem Gestaltwandler eine Gänsehaut über den Körper jagte.

„Ihr hättet euch von mir nicht stören lassen müssen.“, begann der Werwolf schließlich mit tiefer, kratziger Stimme zu sprechen, die an alte Scharniere erinnerte, während er seine Finger mit den schmutzigen Krallen streckte und zugleich knacken ließ.

„Ich hätte gerne zugesehen, wie du die Schlampe nagelst, aber offensichtlich bist du einer der Typen, die lieber alles für sich behalten wollen. Wer hätte das gedacht.“

Ryons Augen färbten sich pechschwarz, während er schweigend den Beleidigungen des Köters zuhörte und sich darauf zu konzentrieren versuchte, mögliche Schwachstellen an dem anderen heraus zu finden. Allerdings war das von dieser Position aus nicht leicht zu erkennen. Der Typ saß im Halbschatten.

„Aber ich muss schon sagen, die Kleine hatte schon ein wirklich geiles Fahrgestell. Die würde ich auch nicht teilen wollen.“ Der Werwolf lachte und machte eine Bewegung mit dem Kopf, woraufhin man es deutlich erneut knacken hören konnte, als würde er sich die Nackenwirbel lockern.

Entweder ein Zeichen, dass sich der Kerl für einen Angriff rüstete, oder er wollte nur angeben. Ryon hielt Letzteres für wahrscheinlicher. Bis jetzt konnte der Typ nur zwei Dinge: Scheiße quatschen und bis zum Himmel stinken.

Als wäre der faulige Atem, vermischt mit dem Geruch von verwesendem Fleisch nicht schon genug, schien der Typ auch keine Ahnung zu haben, wozu es Wasser und Seife in Kombination gab.

Der Gestank nach wochenaltem Schweiß, ungewaschenem Körper und wölfisch-männlicher Ausdünstung war für Ryons empfindliche Nase fast wie ein Schock. Andererseits war genau das der Grund gewesen, weshalb er so schnell auf den Eindringling aufmerksam geworden war. Eigentlich sollte er ihm dafür also dankbar sein.

„Ich seh‘ schon, mit Quatschen werden wir hier nicht unsere Zeit verplempern.“

Der Werwolf seufzte und sprang dann überraschend lautlos von der Mauer. Sein Körper, so wuchtig er auch war, federte sich sanft auf dem Boden ab, ehe er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete.

Der Typ war genauso groß wie Ryon, nur mit dem Unterschied, dass er nicht nur ein Berg aus Muskeln, sondern auch deutlich mehr Fett am Leib hatte.

Er trat ins Mondlicht, woraufhin Ryon nun nicht nur das noch immer vorhandene Lächeln sehen konnte, sondern auch den Rest davon.

Wettergegerbte Haut, unzählige verheilte Narben, gelbe Augen, seltsam deformierte Nase, als wäre sie schon unzählige Male gebrochen worden und schwarze verfilzte Haare bis zu den Schultern.

Ryon kannte ihn. Zumindest eine um mindestens zehn Jahre jüngere Version, mit weniger Narben, gepflegterem Aussehen, gerader Nase und nach seiner letzten Bilanz mausetot. Das konnte doch wohl unmöglich ein Verwandter von dem Werwolf sein, den er zuletzt bei einem Job zur Strecke gebracht hatte?

Es schien so, war aber überhaupt nicht wichtig, wenn man bedachte, dass dieser Typ gerade seine Füße auf sein Land gesetzt hatte.

Der Tiger brüllte in Ryons Kopf und krümmte die Krallen, aber ansonsten blieb er immer noch unnatürlich ruhig.

Paige und die anderen brauchten Zeit, sich in Sicherheit zu bringen und die würde er ihnen geben, sofern es überhaupt nötig war, denn lange würde er sich nicht mehr beherrschen können.

„Deinem Blick nach zu urteilen, kommt dir mein Gesicht bekannt vor. Ich schlage also vor, wir kommen gleich zum geschäftlichen Teil unseres kleinen Treffens. Gib mir die Kette, die du da um deinen Hals trägst und ich werde deine Schlampe vielleicht verschonen, nachdem ich mit ihr meinen Spaß hatte. Dich jedoch, werde ich ausstopfen und als Trophäe über meinen Kamin hängen, so wie du es mit meinem kleinen Bruder gemacht hast!“

Ryon stand kurz vor einer Explosion. Der Gedanke daran, dieser Dreckssack könnte Paige auch nur ein Haar krümmen, ließ ihn fast vollständig rot sehen.

Gerade noch so, konnte er verhindern, dass er einen Schritt nach vor und somit einen Schritt näher auf einen Kampf zu machte.

„Ich könnte mich nicht erinnern, jemals einen dreckigen Köter an meine Wand gepinnt zu haben.“, brach Ryon schließlich eisigkalt sein Schweigen und zuckte leicht zusammen, als er vom Haus her Mias Weinen hörte.

Der Blick des Werwolfs – nun wütend, wegen Ryons Worten – glitt zum Haus hinüber und erneut breitete sich ein fast schon diabolisches Lächeln auf dessen Gesicht aus.

„Deines?“, fragte er in gespielt freundlichem Tonfall, als könne der Wichser kein Wässerchen trüben.

„Ich liiiiebe kleine Kinder. Vor allem kleine Mädchen habe ich zum Fressen gern. Wenn ich mit dir fertig bin, werde ich mich einmal deiner Familie höflich vorstellen gehen. Das wird ein Spaß.“

Bevor das fast schon wahnsinnig klingende Lachen des Werwolfs verklingen konnte, riss Ryon endgültig der Geduldsfaden, als Mias Weinen sogar noch lauter zu ihm durchdrang, als wäre es ihre Antwort auf das Gesagte.

Der Tiger drehte völlig durch und Ryon machte keinerlei Anstalten, in zu stoppen.

Der Aufprall ihrer beiden Körper aufeinander war so heftig, dass der ganze Boden unter ihnen zu schwanken schien, bis sie beide als wirres Knäuel auf der Erde landeten und versuchten, sich mit ihren Krallen gegenseitig an die Gurgel zu gehen.

Mit nicht menschlichen Kampflauten griffen sie sich gegenseitig mit Tritten und Fausthieben an.

Ryon landete schon nach kurzer Zeit einen saftigen Treffer am Kinn des Werwolfs, der daraufhin die gelb gefleckten Zähne fletschte und ihm das Knie in den Brustkorb rammte, bis jegliche Luft aus seinen Lungen wich.

Aber auch ohne lebensspendenden Sauerstoff, ließ sich Ryon nicht abschütteln, sondern verpasste dem verdammten Köter ein weiteres Andenken an seine Krallen quer über das Gesicht.

Ein Schlag, der ein Feuerwerk hinter seinen Augenlidern explodieren ließ, war das Dankeschön dafür und brachte ihn zugleich unter den massigen Körper des Werwolfs, der nicht auf das viele Blut in seinem Gesicht achtete, sondern Ryon stattdessen die Krallen einer Hand in den Brustkorb trieb, um ihn fest zu halten und mit der anderen weit auszuholen.

Ryons Unterlippe platzte unter dem Hieb wie eine reife Tomate auf, doch auch ihm machte die Verletzung nichts aus. Ganz im Gegenteil. Der Schmerz ließ seine Sicht wieder klarer und seine gewaltige Wut nur noch größer werden.

Mit beiden Fäusten donnerte er dem Kerl auf die Ohren, bis dieser jaulend von ihm abließ und er somit die Chance bekam, den Tiger nun endgültig von der langen Leine zu lassen.

Von einer Sekunde auf die andere, stand er auf vier Pfoten da und setzte bereits zum Sprung an, als auch der Werwolf die Verschlechterung seiner Lage erkannte und seinem Tier völlig freie Hand ließ.

Werwölfe waren leider nicht mit Gestaltwandlerwölfen zu vergleichen. Sie waren mindestens dreimal größer, als ihre natürlichen Verwandten und auch ungleich stärker, weshalb Ryon absolut kein Gefühl von Triumpf in sich aufkeimen spürte. Für ihn war das bitterer Ernst, als er sich mit einem lauten Brüllen auf den Werwolf stürzte, bis sie erneut als wild um sich schlagendes Knäuel Erde und Dreck aufwühlten, nur mit dem Unterschied, dass sie sich nun nicht gegenseitig mit Fausthieben beschenkten, sondern versuchten, sich mit ihren Krallen gegenseitig aufzuschlitzen und die Zähne um die Kehle des jeweils anderen zu bringen.

Während sie wild fauchend, knurrend und brüllend immer weiter kämpften und sich absolut nichts schenkten, näherten sie sich immer weiter dem Haus. Ryon versuchte zwar immer wieder den Kampf in eine andere Richtung zu lenken, doch das ließ der Werwolf nicht zu. Dieser wollte zum Haus und das gelang ihm leider auch nur zu gut.

Die Blumenkübel und Töpfe auf der Terrasse wurden von ihren massigen Leibern umgeworfen und zerschlagen, das Holz von ihrem Blut besudelt und ihren Klauen zerkratzt.

Ryons Lungen brannten wie unter einem Säurebad und jeder seiner Muskeln zitterte heftig vor Anstrengung. Doch wenigstens war er nicht der einzige, der langsam aber sicher müde wurde. Der Werwolf schien sogar noch schneller schlapp zu machen, als er selbst, was bei dem hohen Blutsverlust auch kein Wunder war. Dennoch, der höhere Fettanteil am Körper des anderen, dämpfte etwas die brutalen Hiebe, die Ryon austeilte, während er selbst mit voller Wucht einstecken musste.

Da er keine Ahnung hatte, wie das hier enden würde und er um keinen Preis seine Familie verlieren wollte, setzte Ryon noch einmal alles daran, den Werwolf fertig zu machen. Es war ihm zwar nicht gelungen, ihm vom Haus fern zu halten, aber wenn er ihn aufhalten konnte, dann hatte er ebenfalls gewonnen.

Mit letzter Kraft, die er noch tatsächlich aufbringen konnte, nutzte er seinen Tiefschlag, als er auf dem Rücken landete und der Wolf ihn angriff, um den Körper mit einem kräftigen Tritt seiner Hinterläufe durch die Glasfront des Wohnzimmers zu befördern.

Es krachte so laut, dass seine Ohren klingelten, doch als er sich wieder aufgerafft hatte, herrschte Stille.

Der Werwolf lag in einem Scherbenhaufen auf dem Parkettfußboden und obwohl er heftig hechelte, rührte er sich doch ansonsten nicht mehr. Dass die Verwandlung zurück in den hässlichen Dreckskerl stattfand, war ein gutes Zeichen dafür, dass dieser Ohnmächtig war. Gott sei Dank. Ryon hätte nicht mehr sehr viel länger mit seinen Kräften haushalten können, denn selbst seine eigene Rückverwandlung zog sich sehr viel länger hin, als es sollte und als er nackt und aus mehreren Kratzern blutend, auf die Beine kam, keuchte er nicht weniger heftig, als der Bewusstlose auf dem Boden.

Mit wutverzerrtem Gesicht stieg er durch die zerbrochene Fensterfront, kniete sich neben den reglosen Werwolf nieder und verpasste ihm noch einen kräftigen Haken, der dem Typen wohl zum x-mal die Nase brach und dafür sorgen sollte, dass er auch noch länger schlief.

Doch selbst dann konnte er sich nicht beruhigen. Ryon zitterte heftig unter dem ganzen Adrenalin und musste sich stark zusammen reißen, dem Kerl nicht einfach die Kehle heraus zu fetzen.
 

Immer wieder zuckte sie heftig zusammen und ihr rasender Herzschlag zwang sie dazu, tief durchzuatmen und zumindest einen gewissen Teil von Beherrschung zu erhalten.

Paige konnte sie hören.

Ob es nun ein Angreifer war oder gleich eine ganze Horde, es hätte sich für sie wahrscheinlich kaum anders geäußert. Jede Faser ihre Körpers wollte da hinaus, sie wollte ihm helfen!

Und wenn sich auch nur die winzigste Ahnung von Verlust in ihr regen wollte, biss Paige sie nieder. Dabei wollte jedes Winseln oder verletzte Knurren, das eindeutig von einer Raubkatze stammte, ihr das Herz zerreißen. Beinahe konnte sie es vor sich sehen, wie er kaum hundert Meter von ihr entfernt verletzt wurde.

Als sie Scheppern und zerbrechendes Inventar auf der Terrasse hörte, war es genug. Mit einem Zischen gingen ihre Hände in Flammen auf und bloß um sicher zu gehen, wurde gleich ihr gesamter Körper von der Schuppenschicht überzogen.

Es war zu nah am Haus! Zu nah an Mia, Ai und den Anderen! Was, wenn Ryon nicht allein mit der Gefahr fertig wurde?

Sie zwang sich langsam zu gehen, auf jede Bewegung zu achten und jedes Geräusch, das sich im Hausflur regte. Immerhin machte sie das Geschehen draußen fast wahnsinnig, aber nicht blind. Es könnte alles ein Ablenkungsmanöver sein, um an Ryons Schwachpunkt heran zu kommen. Seine Freunde, Mia...

Paige hatte auf leisen Sohlen die Küche erreicht, als das Geräusch der zerberstenden Glastür sie zusammen fahren ließ. Ohne nachzudenken rannte sie los. Auf das Wohnzimmer zu, wo sie weitere Schläge hörte. Sie hatte versprochen im Haus zu bleiben. Dem entsprach sie, aber wenn sie hier reinkamen...

„Ryon!“

Der Ausdruck in Paiges Augen wechselte so schnell von aggressiv auf besorgt, dass ihr die Gesichtszüge für einen Moment entglitten. Die schockierende Wucht der Sorge um ihn riss sie nach vorn, über das Sofa, hinter dem sie ihn nur von der Hüfte aufwärts hatte sehen können, bis sie grob zurück geworfen wurde. Flammen leckten über ihr Gesicht, als sie sich den Handrücken vor Mund und Nase hielt und trotzdem hart schlucken musste, um gegen den bestialischen Gestand anzukämpfen, der ihr die Galle hochtreiben wollte.

„Mein... Gott...! Kannst du den Müll nicht draußen lassen?“

Immer noch auf dem Sofa stehen, sah sie Ryon in die Augen. Er stand aufrecht, atmete und schien bei Sinnen. Aber verdammt, wenn der Kerl, der ihn so zugerichtet hatte, nicht nach Verwesung stinkend vor ihr läge, er könnte seine Eier gebraten als Nachtsnack einnehmen.

„Noch alles dran?“, fragte sie sanft, aber etwas unbeholfen. Denn alle anderen Fragen waren ohnehin blödsinnig. Gut ging es ihm nicht und in Ordnung war auch auf keinen Fall etwas. Scheiße, wie hatte dieses Vieh hier reinkommen können?
 

Ryon spuckte Blut auf den Boden, weil das Erstens, ohnehin keinen Unterschied mehr machte. Der Großteil des gemütlichen Wohnzimmers war absolut eingesaut und Zweitens war es nicht sein Blut, sondern das dieses dreckigen Arschlochs und dementsprechend zum Kotzen war ihm auch. Aber er hatte den Würgereflex im Griff und wischte sich stattdessen mit dem Handrücken den blutigen Mund ab.

Einen Moment lang schloss er die tief schwarzen Augen, als er seine verletzte Unterlippe dabei berührte. Es brannte wie die Hölle, aber zum Glück war das Immunsystem eines Wandlers wesentlich erfolgreicher, als das eines Menschen. Ansonsten hätte er sich schon Sorgen machen müssen, dass er sich Tollwut oder etwas ähnlich Schlimmes eingefangen hatte.

Erst dann sah er Paige an, registrierte auf einen Blick die Gefühle in ihrem Gesicht und musste sich mit einem Mal noch sehr viel stärker beherrschen, nicht einfach auf den bewusstlosen Dreckssack einzutreten.

Ihren Kommentar und die Frage überging er einfach, stattdessen warf er noch einmal einen Blick auf den blutigen Fleischberg, ob dieser auch wirklich Dornrösschen Konkurrenz machte, ehe er mit einer Stimme, die er selbst kaum widererkannte, so rau und aggressiv war sie, sich erneut an Paige wandte.

„Hol Tennessey. Der soll diesen Köter so weit betäuben, dass er kurz vorm Einschläfern ist und-“

„Bin schon da.“

Ryons Krallen fuhren mit einem deutlichen Ratsch heraus und er zuckte in Richtung Wohnzimmertür, beruhigte sich aber schnell wieder, als er den Doc erkannte und wie als hätte er es bereits gewusst, hatte dieser auch seine Arzttasche dabei.

„Gut.“ Seine Stimme klang schon etwas ruhiger, aber noch lange weit von normal entfernt.

„Ihr bleibt im Haus. Ich werde mich draußen noch einmal umsehen, ob noch mehr von der Sorte hier sind.“

Das glaubte er zwar nicht, aber der Kampf hätte ihn ohnehin zu sehr abgelenkt, um sich noch auf etwas anderes konzentrieren zu können.

Er schenkte Paige noch einen kurzen Blick, in dem seine Augen einen Moment lang golden flackerten, ehe sie sich wieder verdüsterten und er sich herum drehte.

Obwohl er den Weg über die Glassplitter zur Terrasse ging, war es bis auf die Anstrengung, kein Problem für ihn, sich dabei wieder in den Tiger zu verwandeln. Früher war er sehr geschickt darin gewesen und das hatte sich nicht allzu sehr verändert.

Leicht humpelnd schlich er erst einmal ums Haus, während er mit allen seinen Sinnen in die Nacht lauschte, doch es war alles still. Also folgte er den Spuren ihres Kampfes, bis er an der Mauer angekommen war, an der Stelle, wo der Werwolf gesessen hatte.

Mit einem Satz, der ihm schon sehr viel schwerer fiel, sprang er hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter.

Sein ganzer Körper kribbelte, als er dabei Marlenes Schutzzauber durchquerte, aber das war anhand der momentanen Lage sogar sehr erfrischend.

Auf der anderen Seite angekommen, konnte er die Mauer zwar sehen, aber nur noch verschwommen und schattenhaft, als wäre er auf irgendeiner Droge und würde halluzinieren. Für jene, die nicht wussten, dass sie hier war, würde es wie überall in diesem Wald aussehen.

Mit gesenktem Kopf begann er die Spuren des Werwolfes zurück zu verfolgen. Es waren sehr viele und sie überschnitten sich immer wieder, was darauf schließen ließ, dass der Dreckssack hier eine ganze Weile herum geschlichen hatte, bis er die Mauer irgendwann doch bemerkt haben musste.

Wie genau Marlenes Zauber funktionierte, konnte Ryon nicht sagen, aber eigentlich verspürte ein Eindringling nur wenig Lust, weiter zu gehen, je näher er der Mauer kam. Personen mit schwachen Nerven, würden schon einen Kilometer vorher in Panik davon rennen. Aber schwache Nerven hatte der Werwolf eindeutig nicht gehabt.
 

Tyler war bei Ai und Mia geblieben, um sie zu beschützen, falls Ryon doch nicht alles im Griff hatte, aber Tennessey wurde soeben vom Gegenteil überzeugt. Der Haufen auf dem Boden, der wie ein mehrmals überfahrener Kadaver auf dem Highway im Hochsommer stank, rührte sich bis auf die heftigen Atemzüge nicht mehr.

Während Ryon sich also erneut auf den Weg machte, um den Stand seines Reviers zu kontrollieren, ging der Doc an Paige vorbei, nachdem er eine große Spritze voller Morphium aufgezogen hatte und jagte sie dem Typen schon vom Weiten, in den Hals, damit die Wirkung rasch einsetzte.

„Er wird zwar tiefer als eine Leiche schlafen, aber könntest du auf ihn aufpassen, während ich die für ihn passenden Accessoires hole?“

Paige sah ziemlich mitgenommen aus, aber sie war stark, er konnte sich also ohne weiteres auf sie verlassen, weil er eher zu befürchten hatte, sie würde dem Kerl in seiner Abwesenheit irgendetwas anbraten. Zumindest ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen.

Gut, solange sie den Werwolf nicht umbrachte, war es ihm egal, also ging er die Ketten holen, die sie, obwohl eigentlich normalerweise sehr friedvoll, immer auf Lager hatten. Man konnte ja nie wissen.
 

Nach gut zwanzig Minuten betrat Ryon wieder sein eigenes Reich und ging zum Haus zurück. Inzwischen fühlte er sich unglaublich müde und so hungrig, als wäre selbst eine Büffelherde noch lange nicht ausreichend, um diesen Hunger zu stillen. Das lag an seinen Verletzungen, sie heilten schnell und forderten dadurch ihren Tribut. Aber was er jetzt wirklich unbedingt wollte, war Paige in den Arm nehmen und Mia sehen, damit er sich bewusst wurde, dass es ihnen gut ging und er sich wieder beruhigen konnte. Allerdings sollte er sich vorher duschen. Er stank durch das Blut des Köters fast so schlimm, wie der Werwolf selbst, was wohl trotz des Hungers, seine Appetitlosigkeit erklären dürfte.
 

Paige war auf dem Sofa in die Hocke gegangen und sah mit gezwungen flacher Atmung auf den Werwolf herab, der leicht gurgelnd vor sich hin schnarchte. Tennessey jagte ihm irgendein durchsichtiges Mittel in die Blutbahn und verabschiedete sich dann kurz, um wohl so etwas wie eine angepasst Leine für diese Kreatur zu holen.

Kaum dass sie sicher war, dass der Arzt den Raum verlassen hatte, war Paige mit zwei Schritten vom Sofa herunter und hielt sich den Ärmel ihres Pullis vor die Nase, um sich den Eindringling näher zu betrachten.

Wirklicher Abschaum, wie er einem normalerweise hauptsächlich in den übelsten Spelunken oder den Abwasserkanälen der 'World Underneath' begegnete. Genau das ließ Paige daran zweifeln, dass Boudicca ihn geschickt hatte. Dafür war der Versuch einfach zu plump und der Kerl zu ... ordinär. Wenn man bedacht, wer sich bis jetzt so an Ryons und ihr eigenen Fersen geheftet hatte, entsprach das hier überhaupt nicht dem Stil der Hexenmeisterin.

Weil sie es nicht mehr länger in der Hocke aushielt, ohne dass sie leicht grün um die Nase wurde, stand Paige langsam auf. Allerdings ohne den schlafenden Riesen aus den Augen zu lassen. Es war eigenartig, aber sie fragte sich wirklich, was sie mit ihm anfangen sollten. Wäre Ryon im Kampf nichts Anderes übrig geblieben, als kurzen Prozess mit ihm zu machen, wäre das eben so gewesen. Aber jetzt... Sie konnten ihn doch nicht einfach um die Ecke bringen.

Ihre Gedanken wurden durch das Geräusch von jemandem auf der Terrasse in alle Winde zerstreut. Sofort schnellte Paiges Puls erneut in die Höhe und sie war mit vier ausholenden Schritten bei der Tür, die nur noch aus großen Glasscherben bestand, die noch im Rahmen hingen.

Ryon schien direkt aus dem silbernen Hauch aufzutauchen, der den Tiger wieder in seinen menschlichen Körper verbannte. Im Mondlicht sah er sogar noch geschundener aus, als zuvor, wo sie im Wohnzimmer einen flüchtigen Blick hatte auf ihn werfen können. Der Schock über den ganzen Vorfall und auch Ryons Aggression vorhin, steckte Paige noch in den Knochen. Deshalb versuchte sie auch nicht direkt, ihn anzufassen, sondern stand nur mit offenem Blick in der Tür, um sich um Ryon zu kümmern, wenn er es zuließ.

„So wie ich das vermute, hat Tennessey ihn bis zur Jahreswende ausgeknockt. Er sagte irgendwas von Assessoires...“

Als er kaum noch einen halben Schritt weit von ihr entfernt war, konnte sie nicht mehr. Beherrschung und Zurückhaltung hin und her, der Scheißkerl hätte ihn ernsthaft verletzen können!

Ihre Hände legten sich vorsichtig auf seinen Bauch, während Paige zu Ryon aufsah und dann sanft die Arme um ihn legte. „Du... Bist du schwer verletzt?“, wollte sie leise wissen und die Besorgnis schwang erschreckend klar in ihrer Stimme mit.
 

Oh Gott, Paiges besorgter Duft, war so viel besser, als dieser verdammte Gestank, den er vermutlich wochenlang nicht mehr aus der Nase bekommen würde und obwohl er genau das im Augenblick brauchte, ließ er es nur kurz zu, dass Paige ihn umarmte. Er war voller Blut, Erde und Schweiß. Nicht alles davon, war nur von ihm selbst, weshalb er sich ihr auch schließlich entzog. Sie sollte nicht mit diesem Dreck zu tun haben.

„Alles klar soweit.“, versuchte er sie zu beruhigen, aber bis er wieder im Normalmodus war, würde es noch eine Weile dauern, vor allem, als sich sein Blick auf das schlafende Wölfchen heftete.

„Er war alleine. Ich konnte keine weiteren Spuren finden, wir dürften also vorerst in Sicherheit sein.“

Ryon hob seine Hand, wollte Paiges Wange berühren, weil er das dringende Bedürfnis hatte, ihr nahe zu sein, aber als er das langsam trocknende Blut sah, ließ er sie wieder sinken.

„Ich brauche eine Dusche.“, stellte er resignierend fest und ein Schauder des Ekels ging durch ihn hindurch. Aber vorher wollte er diesen Penner gut verschnürt wie ein Weihnachtspaket sehen.

Der Doc bewies wieder einmal perfektes Timing, denn gerade als Paige fragen wollte, wie lange dieser bereits weg war, kam er auch schon zur Wohnzimmertür herein geschneit. Voll beladen mit Meterweise dicker Ketten, als wollten sie einen Lastwagen abschleppen.

Ryon ging über die Glasscherben, ignorierte es, dass er dabei barfuß war und nahm Tennessey die Ketten ab.

„Du kannst Tyler sagen, dass alles in Ordnung ist und sie wieder aus dem Versteck kommen können. Aber lots sie weit vom Wohnzimmer weg, okay? Ich will nicht, dass sie das hier sehen.“

Verdammt, Tyler würde ihm den Hintern versohlen, wenn er sah, wie das Wohnzimmer aussah. Hatte er sich vorhin wirklich noch ernsthaft Sorgen darüber gemacht, die Couch mit ein paar Schokoflecken zu verunzieren?

„Geht klar. Kommst du zurecht?“

Der Arzt besah ihn von oben bis unten und wartete offenbar auf eine Antwort. Vermutlich, weil er nicht von selbst sehen konnte, wie schlimm es war. Kein Wunder, es war kaum noch ein Zentimeter von Ryons Haut zu sehen, der nicht vor Dreck stand.

„Geh schon, mir fehlt nichts.“

Ohne abzuwarten, ob Tennessey wirklich ging, ließ Ryon den Berg an Ketten neben dem Werwolf zu Boden fallen und begann dann, sehr geschickt und systematisch diesen darin einzupacken.

Daraus würde sich dieser Dreckskerl nicht mehr von selbst befreien können, was Ryon schon etwas mehr beruhigte.

Schließlich, als er zusätzlich noch die losen Kettenglieder mit einem massiven Schloss verband, sah Ryon wieder zu Paige auf.

„Könntest du bitte voraus gehen und darauf achten, dass die Luft rein ist, wenn ich unseren Kumpel hier in den Werkzeugraum neben der Garage bringe?“

Ryon packte mit beiden Händen die Ketten um den Hals des Wolfes und um dessen Körpermitte und warf ihn sich mit einem Ruck über die Schulter.

Verdammt war der Penner schwer und durch das zusätzliche Metall, wurde es auch nicht gerade leichter. Aber er wollte dieses Arschloch nicht länger im Haus haben. Erst recht nicht, wenn er wieder zu sich kam. Was noch eine Weile dauern dürfte, die er mit duschen und essen verbringen würde. Denn am liebsten hätte er sich sofort aus seiner eigenen Haut geschält.
 

Es war wirklich so, als würde der Werwolf aus jeder Pore mit der Penetranz eines Büffels stinken. Paige wollten sich die Nackenhaare kräuseln, als sie ihn sogar ätzend auf der Zunge schmecken konnte. Deshalb verwandelte sie sich auch in ihre rein menschliche Form zurück, um die Sinneseindrücke ein wenig zu dämpfen.

Trotzdem konnte sie den Ekel nicht unterdrücken, der ihr ein Schaudern durch den Körper schickte, als Ryon dem übergewichtigen Kerl die Ketten anlegte. Hätte sie auch nur irgendwie dabei helfen können, außer den Haufen Metall immer wieder so zu entwirren, dass Ryon schnell voran kam, sie hätte sich wahrscheinlich zuerst selbst die Nasenschleimhäute wegbrennen müssen. Paige hatte wirklich schon mit einigen zwielichtigen Gestalten zu tun gehabt, aber der hier war wirklich mit Abstand das Dreckigste, was ihr je unter die Augen gekommen war.

Sie erlaubte sich einen prüfenden Blick, um vielleicht einschätzen zu können, ob Ryon die Wahrheit gesagt hatte. Er bewegte sich nicht schonend oder zuckte bei irgendeinem Tun vor Schmerz zusammen, was Paige als gutes Zeichen wertete.

Allerdings war sie noch lange nicht so weit, dass ihre Sorgen verfliegen würden. Er blutete und vermutlich würde er ein Veilchen und blaue Rippen davon tragen. Genauso wie eine geschwollene Lippe. Er sollte sich bloß weigern die Stellen, an denen man ihm offensichtlich Krallen in die Brust gerammt hatte, von Tennessey untersuchen und behandeln zu lassen. Wenn er sich stur stellen wollte, würde sich der Werwolf als sein kleinstes Problem an diesem Abend herausstellen.

Obwohl Paige nach einem Nicken und einem zustimmenden Laut vorausgehen wollte, entging ihr nicht, dass dem Werwolf blutiger Sabber aus dem Mundwinkel lief. Schnell sah sie weg, um nicht mitzubekommen, wo das Zeug landen würde. Schlimm genug, dass Ryon dieses verschnürte Ekelpaket auch noch herum tragen musste. Der Werwolf musste zusammen mit den Ketten ungefähr doppelt so viel wiegen, wie er selbst.

Mit besorgtem Blick, der gleichzeitig Ryon und der Umgebung galt, spähte Paige in den Flur. Niemand war zu sehen. Der Doktor hatte seine Sache wohl gut gemacht und die Anderen so schnell es möglich war, in den hinteren Teil des Hauses verfrachtet. Dort lagen ohnehin ihre Schlafzimmer, wie Paige nun wusste und Paige hoffte, dass Ai und Mia ein wenig Ruhe bekommen würden. Beiden konnte diese Anspannung nicht gut tun.

„Ok, du kannst.“

Paige winkte Ryon durch den Türrahmen, als würde er mit einem Sattelschlepper in eine Miniparklücke fahren wollen. Aber so ähnlich sah sie das auch. Beide wiederholten sie das Spielchen noch einmal, als sie den kolossalen Werwolf in den kleinen Raum neben der Garage bugsierten und Ryon ihn dort einfach knallhart auf den Betonboden fallen ließ.

Außer ein Stöhnen kam von dem Kerl keine Reaktion.

„Ich hab mir Sorgen gemacht, dass wir ihn nicht hier lassen können... Aber Tennessey scheint sein Handwerk zu verstehen.“, meinte Paige mit echter Hochachtung in der Stimme, während sie mit Ryon die Abstellkammer verließ und er die Tür hinter ihnen verriegelte.

Kaum dass der Gestank mit dem Werwolf einigermaßen hinter die Metalltür verbannt war, sah Paige erneut besorgt zu Ryon auf. Sein Atem ging schwer und Paige konnte nicht feststellen, ob es allein die Anstrengung gewesen war, den Dreckskerl hierher zu bringen oder ob er eine schwere Verletzung vor ihr verbarg.

„Du kannst dir jetzt aussuchen, ob ich dich in die Dusche begleite und dich abschrubbe, oder ob du das allein tun möchtest und ich dir derweilen etwas zu Essen mache. Und außerdem wird sich der Doc die Stichwunden an deiner Brust ansehen.“

Ihr letzter Satz war eine Feststellung und keine Bitte gewesen. Sie sah ihn ernst an, doch ein Zittern in ihren Augen zeigte, dass sie leicht unsicher war. Ryon musste sich von ihr nichts sagen lassen, aber Paige hoffte sehr darauf, dass er sich helfen lassen würde. Das würde ihr helfen, die nagenden Sorgen zumindest ein wenig zu lindern.
 

Er hätte den Typen umbringen sollen, als er es noch so einfach gekonnt hätte. Denn dann müsste er sich nicht mit diesem Müll belasten, der bei jedem Schritt immer schwerer und schwerer zu werden schien.

Ryons Rückenmuskulatur zog und zerrte an seinen Wirbeln, bis er glaubte, es würde ihm endgültig den Brustkasten einschnüren, doch da erreichten sie endlich den Raum, wo Tyler für gewöhnlich das Werkzeug für die Autos, Geräte zur Gartenarbeit und andere Dinge verräumte, die nicht ins Haus gehörte. Perfekt. Der leichte Benzin- und Grasgeruch würde auch dann noch vorherrschen, wenn sie diesen Kerl dort drinnen eine Woche lang vergammeln ließen. Zumindest danach. Währenddessen konnte wohl nichts den Werwolf an Gestank übertrumpfen.

Selbst wenn Ryon keinen Hass auf diesen Kerl gehabt hätte, er hätte ihn trotzdem wie einen Sack Kartoffeln auf den Boden geworfen. Seine Arme konnten ihn einfach nicht mehr länger tragen.

Das Zittern in seinen Händen konnte er vor Paige verbergen, aber sein Atem entging ihr eindeutig nicht. Trotzdem, soweit er selbst die Bilanz ziehen konnte, war er in Ordnung.

Als Paige ihm diesen absolut himmlischen Vorschlag machte – sowohl Essen wie auch Dusche – wollte er sie erneut berühren, dringender als noch zuvor, doch mit einem bitteren Seufzen ließ er es dann doch bleiben.

„Wenn du mir etwas zu Essen machen könntest, während ich mich aus meiner Haut pelle, wäre das einfach wunderbar.“ Dass sie dabei einen ganzen Futtertrog als Mindestmaß verwenden sollte, verschwieg er ihr jedoch. Stattdessen sah er sie eindringlicher an, sah das Zittern in ihren Augen und die Sorge darin.

Ryon war sich sicher, dass es ihm den Umständen entsprechend gut ging, aber wenn es Paige beruhigte, würde er sich von Tennessey genauer unter die Lupe nehmen lassen.

Das versprach er ihr schließlich auch, ehe er sich auf den Weg machte, um wieder als Mensch durchzugehen.
 

Als das lauwarme Wasser seine Haut und die unzähligen Blessuren traf, prallte Ryon fast vor dem Wasserstrahl zurück. Er hatte es wissentlich nicht auf heiß gestellt, weil er mit einem Brennen gerechnet hätte, aber das hier war weitaus schlimmer und dabei war es noch nicht mal richtig warm!

Trotz dem er nun allmählich jeden einzelnen Kratzer und Riss in seiner Haut zu spüren begann, zwang er sich unter die Dusche, damit er wenigstens den Gestank los wurde.

Sofort färbte sich das Wasser zu seinen Füßen Rot, Schwarz, Grau und noch in etliche Brauntöne, als er schonungslos seinen Körper mit den Händen abschrubbte.

Seine Kiefernmuskeln waren so angespannt, dass er Stahlnüsse hätte knacken können, aber immerhin entkam ihm kein Schmerzenslaut, obwohl er am liebsten das ganze Haus zusammen geschrien hätte.

Doch wenn man sich erst einmal an den Ganzkörperschmerz gewöhnt hatte, war es beinahe schon leichter zu ertragen und der Gedanke daran, Paige sehen und berühren zu können, sobald er hier fertig war, spornte ihn noch um ein gutes Stück an.

Eine zusätzliche Folter war die Seife und das Haarshampoo, aber auch ein notwendiges Übel. Nur mit Wasser alleine wäre er den Geruch nicht los geworden.

Schließlich stieg er nackt, tropfend und am ganzen Leib zitternd aus der Dusche.

Während der Badezimmerteppich schon einmal die gröbste Überschwemmung verhinderte, betrachtete sich Ryon im Spiegel und sofort sank seine Stimmung auf den absoluten Nullpunkt.

Erstens, starrten ihn zwei tiefschwarze Augen an, obwohl er sich ganz sicher war, dass er seine Gefühle nicht unterdrückte. Vielleicht lag es aber auch an dem Schmerz, den er nicht wahrhaben wollte und Zweitens sah er wie ein ausrangierter Kratzbaum aus. Es gab nur wenige Stellen, an denen seine Haut unversehrt geblieben war und obwohl sich die meisten Kratzer nur auf leichte, rötliche Linien beschränkten, so war deren Anzahl doch gewaltig. Aber die würden vermutlich schon innerhalb der nächsten Stunden wieder verschwunden sein. Die Schwellungen in seinem Gesicht waren schon jetzt kaum noch vorhanden, da seine Blutergüsse wie ein paar Tage alt aussahen. In menschlichen Maßstäben gerechnet. Trotzdem blutete seine Unterlippe noch leicht und auch ein paar andere Spuren des Kampfes waren weitaus tiefer gegangen, als bisher angenommen.

Den Kratzer auf seiner Brust, würde er sich auf jeden Fall von Tennessey ansehen lassen.

Da blaue Flecke und Blutergüsse seine geringste Sorge waren, konzentrierte sich Ryon volle fünf Minuten lang darauf, seine Augenfarbe wieder zu normalisieren. Es bedurfte dafür viel Atemübung und Entspannung, obwohl er die im Augenblick absolut nicht hatte, bis er sich aus dunkelgoldenen Augen ansehen konnte. Besser als nichts.

Die Tortur mit dem flauschigen Frotteehandtuch ersparte er sich gleich, also zog er sich eine locker sitzende Hose und ein schwarzes T-Shirt an, damit man nicht gleich die Blutflecken sehen konnte, die sich an mehreren Stellen auf dem Stoff ausbreiteten.

Noch ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, ehe er sich schnurstracks auf den Weg in die Küche machte, um Paige zu sehen.
 

Es fühlte sich gut an, irgendetwas tun zu können. Bei der ganzen Aktion war sich Paige nutzlos genug vorgekommen, auch wenn sie bereit gewesen wäre, die Familie mit ihrem Leben zu verteidigen. Aber dazu war es dank Ryons eigenem Opfer nicht gekommen. Jetzt wollte sie ihm bloß dabei helfen, dass es ihm schnell wieder besser ging. Denn dass er litt, mochte er zwar gut verbergen können, aber Paige hatte das Gefühl doch zu wissen, dass er mehr Schmerzen hatte, als er zugab.

„Albernes Heldentum...“, grummelte sie leise vor sich hin, während sie die Masse aus zehn gequirlten Eiern in eine riesige Pfanne rutschen ließ und sofort ein angenehmes Brutzeln die Küche erfüllte.

Sie hatte auch Speckstreifen, Pilze, Tomaten und Frühlingszwiebeln klein geschnitten, die sie nun auf das Omelett streute, bevor sie nach kurzen Warten noch ein paar Hände voll geraspelten Käse zufügte. Eiweiß, Fett, Fleisch... Das sollte hoffentlich ein wenig Ryons Hunger stillen und ihn aufpeppeln. Im Ofen wurden gerade Weißbrotscheiben kross gebacken, die Paige zuvor mit Knoblauchbutter bestrichen hatte. Nichts Großartiges, aber alles ging schnell und würde hoffentlich gut schmecken.

Sie war ohnehin erstaunt gewesen, als sie den Kühlschrank geöffnet und alles in rauen Mengen und frisch vorgefunden hatte. Wie oft Tyler wohl zum Einkaufen fahren musste, um die ganze Mannschaft so durchzufüttern, wie er es tat. Ob es nicht riskant war? Immerhin könnte man ihn beobachten...

Erst als sich Paige überlegte, dass man ihn wiedererkennen könnte, fiel der Groschen. Tyler zeigte es im Haus nicht, vor allem, seit er mit Ai liiert war... Paige hätte daher beinahe seine Natur vergessen. Der Wechselbalg würde nicht so dumm sein und sich immer in der gleichen Gestalt beim Markt zeigen, wenn er einkaufen ging. Es war wirklich faszinierend und in diesem Fall unheimlich praktisch, dass er ohne Probleme in so viele unterschiedliche Rollen schlüpfen konnte.

Mit zwei Pfannenwendern drehte Paige das riesige Omelett um, damit es auch auf der zweiten Seite goldbraun werden konnte und war recht zufrieden mit sich, da es in der Mitte nicht aufbrach. Immerhin hatte sie es bis zum Bersten gefüllt, damit es bloß nicht zu wenig für Ryon sein würde.

Als alles fertig war, drehte sie den Herd ab und stellte den Ofen auf die niedrigste Stufe, um alles auf einem großen Teller warm zu halten. Bestimmt war er schon mit dem Duschen fertig, aber wenn sie seine Wunden bedachte, würde es vielleicht eine Weile dauern, bis er sich angezogen hatte und hierher gekommen war.

Um sich weiterhin zu beschäftigen und ihre Gedanken nicht zu direkt zu dem Raum neben der Garage und dessen Inhalt schweifen zu lassen, füllte sie zwei Gläser mit Saft und Wasser und machte Kakao.

In einer anderen Situation hätte sich Paige wirklich daran freuen können, ein mitternächtliches Mahl dieser Größe für Ryon zu machen. Sie war bloß gespannt, ob es im Vergleich zu Tylers Kochkünsten nicht völlig abstinken würde. Immerhin wusste sie sehr genau, dass sie mit der Erfahrung des Rothaarigen keinesfalls mithalten konnte.
 

So eilig er es auch hatte, in die Küche zu gelangen, als er dabei am Wohnzimmer vorbei musste, blieb er stehen, als er einen roten Haarschopf darin aufleuchten sah und zwar wortwörtlich.

Mit eingezogenem Kopf näherte er sich der Tür und sah Tyler inmitten des Chaos stehen, mit dem Rücken zu ihm und den Händen in die Seite gestemmt. Da der Doc nirgendwo zu sehen war, nahm Ryon an, dieser war jetzt bei den Ladys, um dafür zu sorgen, dass sich alles wieder beruhigte.

„Ich sagte: Schokoflecken auf der Couch sind die Hölle, aber das hier ist…“

Tyler machte mit den Händen einen allumfassenden Bogen, der das Chaos perfekt miteinschloss. Er wusste also, dass Ryon hinter ihm in der Tür stand.

„Du weißt, dass das keine Absicht war, Tyler.“

Ein schwacher Versuch, sich zu rechtfertigen, aber er hatte trotzdem das Bedürfnis dazu.

Mit einem Ruck drehte sich sein Freund zu ihm herum und obwohl in dessen Augen immer noch so etwas wie kochende Wut und Sorge stand, lächelte er doch entzückt.

„Würde es nur um Flecken auf der Couch gehen, hätte ich mich mit Fleckensalz herumschlagen müssen, aber jetzt kann ich das ganze Wohnzimmer neu gestalten. Danke, Ryon. Ich brenne schon lange darauf, etwas Neues in dieses Haus mit einzubringen. Die Umstände hätte ich mir zwar wesentlich besser vorgestellt, aber ich will mal nicht so sein, solange du den Dreck vorerst in der Abstellkammer lässt und dir das nächste Mal einen besseren Zeitpunkt aussuchst, um Panik zu verbreiten.“

Seltsam. Obwohl Tyler offensichtlich sauer war, so war es doch nicht wegen des kaputten Wohnzimmers. Ryon wusste genau, was der wahre Grund für die schlechte Laune seines Freundes war – Ai und der Gedanke daran, dass ihr etwas hätte passieren können. Aber was das anging, so hatten sie beide so ziemlich die gleichen Gefühle.

„Tyler, wenn du was an dem Haus verändern willst, dann kannst du das jederzeit tun. Selbst wenn du die Bude abreißen würdest, wäre es mir egal. Also, ich lass dir vollkommen freie Hand.“

Mit diesen Worten verließ er seinen Freund, um endlich Paige zu sehen. Jeder Nerv in ihm war kurz vorm zerreißen, so groß war das Bedürfnis, sie zu sehen und dabei hatten sie sich erst vor einer halben Stunde getrennt. Aber nach der ganzen Aktion, der Sorge, der Angst und allem was noch so dazu gehörte, stand er kurz vorm Durchdrehen, wenn das so weiter ging.

Ryon traf Paige in der Küche an, während sie gerade Kakao machte. Zumindest roch es so, aber nicht nur danach. Ihm wollte schier das Wasser im Munde zusammen laufen, bei dem köstlichen Geruch nach Eiern, Speck, Pilzen und Knoblauchbrot.

Sein Magen rebellierte heftig vor Hunger, aber das konnte er nur zu leicht ausblenden. Stattdessen stürmte er regelrecht auf Paige zu, schlang seine Arme von hinten um sie und drückte sie an sich. Tief vergrub er sein Gesicht in ihrem Haar und seufzte so erleichtert auf, als wäre ihm soeben ein tonnenschweres Gewicht von den Schultern genommen worden.
 

Sogar Paige hatte ihn herein kommen hören. Diesmal gab sich Ryon gar keine Mühe, katzenhaftes Anpirschen zu verwenden, denn Paige hatte noch nicht einmal Zeit sich herum zu drehen, bevor sie seine Arme um sich spürte und wie er sie fest an sich zog.

Mit einem breiten Lächeln, das nicht einmal ansatzweise so sehr strahlen konnte, wie es das Gefühl in ihrem Inneren verlangt hätte, setzte Paige die Tasse Kakao auf der Arbeitsplatte ab und streichelte vorsichtig über Ryons Unterarm. Auch dort fielen ihr tiefe Kratzer auf, die an den Rändern empfindlich entzündet wirkten. Allerdings so, als würde er sie schon mindestens zwei Tage mit sich herum tragen.

„Wir haben uns zwar erst einmal gesehen, aber ich danke deinem Tiger hiermit offiziell dafür, dass er deine Wunden derart schnell heilen lässt.“

Sie nahm seine rechte Hand und hob sie an ihre Lippen, um einen dankbaren Kuss darauf zu hauchen. Natürlich waren Ryon und sein Tiger nicht getrennt von einander zu sehen. Aber das war für jemanden, der selbst kein Gestaltwandler war, schwer nachzuvollziehen. Denn irgendwie waren sie doch verschieden...

Bevor sie sich weiter den Kopf darüber zerbrechen konnte, ob ihr Dank wohl bei dem Tier in Ryon angekommen war, drückte sie sich leicht an seinen warmen Körper und hob die beiden Kakaotassen wieder an.

„Du hast bestimmt einen Bärenhunger. Ich hab mir Mühe gegeben, aber falls es nicht reicht, kann ich noch mehr machen.“

Mit einem Schmunzeln löste sie sich von ihm, drehte sich herum ... und hätte beinah beide Tassen auf den Boden fallen lassen.

Unentschlossen, ob ihr der Mund vor Schreck offen stehen oder ob sie angespannt die Zähne aufeinander beißen sollte, tat Paige nichts dergleichen, sondern starrte ihn einfach nur unverhohlen weiter an. Vorhin waren ihr die pechschwarzen Augen bereits aufgefallen. Aber in guter Hoffnung hatte sie das nur auf das viele Adrenalin und die Schmerzen geschoben...

Warmer Kakao lief ihr über die Finger, da sie offensichtlich tatsächlich zusammen geschreckt war, ohne es zu bemerken. Was ihr im nächsten Moment, in dem sie Ryons Blick wahrnahm, sehr leid tat.

„Entschuldige... Deine Augen haben mich erschreckt.“

Ihre platte Ehrlichkeit erstaunte Paige selbst. Aber es brachte ja auch nichts, sich aus der Sache herauswinden zu wollen. Ihre Reaktion hatte er garantiert mitbekommen.

„Setz' dich erstmal, ich bring dir das Essen. Im Sitzen redet sich's gerade leichter, denke ich.“
 

Der Dank kam beim Tiger an. Obwohl es völlig unnötig gewesen wäre, denn das Tier in ihm war Paige noch weitaus mehr schuldig, als sie ahnen konnte.

Als sie sich jedoch zu ihm herum drehte und erschrocken zusammen fuhr, setzte sein Herz einen Schlag lang aus, ehe bei ihm erneut das Adrenalin einsetzte und seine ohnehin schon dunkleren Augen noch mehr verdunkelte.

„Es tut mir leid.“, sagte er schließlich leise und nahm Paige die Tassen aus der Hand, ehe er sich setzte und sie auf den Tisch stellte. Danach rieb er sich mit beiden Händen über die Augen, als könne das an der Farbe etwas ändern. Er war noch immer zu aufgebracht und schnell reizbar, als könne jeden Moment ein ganzes Rudel voller Werwölfe die Tür eintreten. Dementsprechend sah auch sein Innerstes aus, was sich wiederum auf seine Augenfarbe auswirken dürfte.

Paige stellte das Essen vor ihm auf den Tisch und im nächsten Moment knurrte sein Magen so laut, als hätte er einen wütenden Bären verschluckt. Das dürfte dann wohl auch wieder etwas die Anspannung lockern.

„Danke, Paige.“

Er lächelte sie etwas verunglückt an, ehe er sich mit unglaublicher Leidenschaft über das Essen her machte. Zum Reden hatten sie auch später noch Zeit. Jetzt erst einmal brauchte sein Körper Kraftstoff und den hatte ihm Paige ausreichend zur Verfügung gestellt.

Er spürte förmlich wie jede seiner Zellen aufatmete, als das Essen seinen Magen erreichte und sich von dort aus nützlich machte. Die Kratzer fühlten sich mit einem Mal weniger schlimm an und die Erschöpfung ließ etwas nach.

Paige war wahrlich eine Göttin!

„Geht es Ai und Mia gut? Ich … hab sie weinen hören…“

Der Gedanke an diesen Laut ließ erneut eine Gänsehaut über seinen Körper laufen. Er hatte Mia schon öfters weinen hören, aber noch nie so voller Angst.

Seine Fingerknöchel knackten, als er seine Hand um das Messer ballte. Der Drang aufzuspringen und sofort zur Garage zu eilen, um es zu beenden, war übermächtig, aber ein Blick in Paiges Augen und er konzentrierte sich wieder auf das Essen. Später.
 

„Ehrlich gesagt, habe ich sie nicht gesehen, seit du unseren ungebetenen Gast durch die Terrassentür geworfen hast. Aber vorhin, als ich sie in die ... in den Raum im Keller gebracht habe, ging es ihnen gut.“

Paige hatte es nicht Kräuterküche nennen wollen. Denn bestimmt war es sehr viel mehr als das gewesen. So etwas wie ein Labor, ein Arbeitszimmer und eben eine Werkstatt und Küche für Salben, Tinkturen und andere magische Dinge, von denen Paige nur sehr wenig bis gar keine Ahnung hatte. Deshalb wollte sie sich auch diese Betitelung nicht anmaßen.

Stattdessen sprach sie weiter und sah Ryon zufrieden beim Essen zu. Der Hunger half bestimmt über einiges hinweg, aber wäre ihre Kochkunst wirklich schlecht gewesen, hätte Ryon sich hoffentlich nicht gezwungen gefühlt seinen Teller derart leer zu putzen.

Um ihm nicht das einzelne Knoblauchbrot zu klauen, das so verführerisch auf dem Tellerrand balancierte, nahm Paige einen kräftigen Schluck Kakao.

„Ich denke, dass wir es erfahren hätten, wenn es den beiden nicht gut ginge. Mia hat einfach einen ganz schönen Schrecken abbekommen. Sie kennt mich noch nicht so wahnsinnig gut und konnte einfach spüren, dass mir die Sache auch nicht geheuer war. Aber sie ist ein starkes Mädchen... Verblüffend, wenn du mich fragst.“

Mit prüfenden und gleichzeitig leicht besorgten Augen sah sie ihn an. Er würde die kleine Mia doch nicht etwa wieder ins Waisenhaus bringen, wenn das alles vorbei war? Es versetzte Paige einen hohlen Stich in der Herzgegend, wenn sie sich an seine Worte darüber erinnerte, dass er keine eigenen Kinder mehr wollte. Aber Mia war etwas Anderes. Sie gehörte schon jetzt so sehr zu ihnen, dass Paige lieber einen waschechten Streit vom Zaun brechen würde, als sie einfach so wieder wegzugeben. Und auch wenn sie sich wegen allem, was mit ihrer Beziehung zu Ryon zu tun hatte, noch nicht hundertprozentig sicher war... Mia würde sie nicht kampflos aufgeben.
 

„Ja, sie musste schon einiges in ihrem jungen Leben mitmachen.“, pflichtete Ryon ihr leise bei und nahm das letzte Knoblauchbrot, ehe er es in zwei Hälften brach und die andere davon, Paige reichte. Er war gerade mal so halbwegs satt, aber das reichte ihm auch schon im Augenblick, weshalb er sich seine Hälfte in den Mund steckte, langsam kaute und hinunter schluckte, um sich anschließend seinem Kakao zu widmen.

„Ich habe vorhin im Wohnzimmer Tyler getroffen. Mal von dem ganzen Stress abgesehen, scheint er sich sogar darüber zu freuen, dass ich die Einrichtung demoliert habe. Aber über Schokoflecken auf der Couch hätte er sich bis zur Weißglut ärgern können. Manchmal versteh ich den Kerl wirklich nicht.“

Nun lächelte er schon richtig. Was wahnsinnig gut tat. Es löste seine Anspannung und die von Paige hoffentlich auch.

Allerdings war alles dahin, als nun erneut der Doc zur Tür herein schneite und seine Arzttasche neben Ryons leeren Teller auf den Tisch stellte.

„Also, ich war gerade bei unseren beiden Ladys. Ihnen geht’s gut, Mia ist inzwischen wieder beim Eindösen und Ai macht auch einen sehr fitten Eindruck. Mutter und Kind geht es ausgezeichnet und was unseren Gast angeht, so hab ich ihm zur Sicherheit noch eine kleine Menge an Beruhigungsmittel gegeben. Damit dürfte er für den Rest der Nacht auf jeden Fall artig sein, bis wir wissen, was weiter mit ihm geschehen soll.“

Tennessey zog sich den Sessel neben Ryon hervor und ließ sich darauf nieder. Dabei machte er einen ebenso geschafften Eindruck, wie es wohl alle anderen von ihnen auch ging. Kein Wunder, er war auch nicht mehr der Jüngste.

„Dann werde ich dich einmal ansehen.“

Wie Paige vorhin, war auch das keine Bitte, sondern eine eindeutige Feststellung und noch bevor Ryon protestieren konnte, hatte der Arzt sein Kinn gepackt und drückte vorsichtig um die Stelle an seiner aufgeplatzten Unterlippe herum.

Ob er ihn darauf hinweisen sollte, dass er gerade gegessen hatte und ihm von diesem Herumdrücken nicht gerade wohl wurde?

Nein, lieber nicht. Darauf sollte sein Freund ruhig selbst kommen.

„Ich frag erst gar nicht, ob das weh tut. Aber keine Sorge, bei deinem Heilungsfortschritt, wird das nur eine kaum sichtbare Narbe hinterlassen.“

Der Doc klopfte ihm mit einem Lächeln auf die Schulter, was Ryon fast zum Fauchen gebracht hätte. Aber er konnte sich gerade noch rechtzeitig zusammen reißen. Es reichte schon, dass seine Gesichtsfarbe merklich blasser wurde.

„Danke.“, knurrte Ryon sarkastisch, ehe er sich auf einen Blick von Tennessey hin, mit dem ganzen Stuhl etwas vom Tisch zurück schob und sich das Shirt über den Kopf zog, das ihn offenbar nur ungern loslassen wollte.

Ein kurzer Blick seines Freundes, ehe dieser seufzend nach seiner Tasche griff, um darin herum zu wühlen, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren.

Wie ein Märtyrer saß Ryon reglos da, die Hände an seinen Seiten zu Fäusten geballt und die Tischplatte anstarrend, während der Doc jeden seiner noch leicht offenen Kratzer zu desinfizieren begann und sich das Beste für den Schluss aufhob.

Dort wo der Werwolf ihn gepackt und mit den Klauen zu Boden gedrückt hatte, ging Tennessey mit dem Desinfektionsmittel noch sehr viel gründlicher vor, wusch die Wunde regelrecht damit aus, damit auch wirklich kein Dreck mehr dort zurück blieb.

Ryons Augen waren so schwarz, wie seine Stimmung. Er atmete flach, stoßweise und verspürte einen unerklärlichen Drang, bei jeder Berührung vom Sessel hoch zu fahren.

Bis der Arzt ihm endlich einen leichten Verband anlegte und seine Sachen wieder verräumte, war Ryon bereit, dem Werwolf jeden Knochen einzeln zu brechen, aber vorher würde er sich zum Dank übergeben.

Ihm war so unglaublich schlecht.

„Du bist dir sicher, dass der Köter auch noch da sein wird, wenn ich morgen nach ihm sehe?“, wollte er mit zitternder Stimme wissen, woraufhin Tennessey ernst nickte und eine Spritze aufzog.

Ryons Augen weiteten sich.

„Wenn die nicht für den Werwolf ist, dann hau bloß ab damit!“

Er stand so schnell vom Stuhl auf, dass ihm einen Moment lang schwindelig wurde. Danach ging er um den Tisch herum, um nach Paiges Hand zu greifen.

„Ich schlage vor, wie lassen den Doc und sein Folterinstrument alleine. Ich will bloß nur noch ins Bett.“

„Komm schon Ryon, du hast Schmerzen. Lass dir doch wenigstens die abnehmen.“, versuchte es Tennessey auf nette Art und Weise.

„Nein. Keine Spritzen.“ Darüber würde er nicht diskutieren.

Sein Freund sah Paige mit einem bittenden Ausdruck an.

„Ich appelliere an die Vernunft. Er muss schlafen, damit er schneller wieder fit ist und seine Wunden besser heilen.“

„Ich werde auch schlafen, ohne das Zeug!“, fuhr Ryon dazwischen, aber Tennessey ignorierte ihn einfach in dem Wissen, dass er den Wandler sehr viel besser kannte, als dieser ahnte.
 

Niemals hätte Paige gedacht, dass ein leichtes Lächeln ihr so viel wert sein könnte. Sie glaubte sogar zu sehen, dass Ryons Augen wieder etwas an Farbe gewannen, als er von den für ihn unverständlichen Eigenarten seines Freundes sprach. Aber dass Tyler besonders war – im Übrigen so wie jeder der Bewohner dieses Hauses – ließ sich auf keinen Fall abstreiten.

Gerade wollte Paige zu einer Antwort ansetzen, als Tennessey den Raum betrat und Ryons Stimmung offensichtlich derart ins bodenlose sank, dass Paige Angst bekam ihre Füße würden zu Eisklötzen gefrieren.

Allerdings erging es ihr nicht viel anders, als er sich den Pulli über den Kopf zog und sie so die ganze Pracht dessen sehen konnte, was der Werwolf angerichtet hatte. Solidarisch zuckte sie jedes Mal zusammen, wenn der Arzt sich einer neuen Wunde zuwandte, sie desinfizierte und Ryon nicht einmal eine Miene verzog. In Paige rumorte es allerdings so deutlich, dass sie glaubte seine Schmerzen bald mitfühlen zu können. Am liebsten hätte sie ihre Arme um ihn geschlungen. Aber das würde es vermutlich nicht leichter machen.

Als er schließlich mit dem Verband dasaß, den Tennessey ihm angelegt hatte und seine Hautfarbe kaum von der des Mulls zu unterscheiden war, konnte Paige kaum noch an sich halten. Sie wollte Ryon nur noch ins Bett stecken, damit er sich ausruhen konnte.

Keine Sekunde später stand sie leicht verwirrt von ihrem Sessel auf und sah zwischen dem Doktor, der Spritze in seiner Hand und Ryon hin und her. Ob es nun lächerlich war oder nicht, auf Ryons Reaktion hin hatte sich Paige automatisch ein wenig zwischen ihn und Tennessey gestellt. Ihr Finger drückten ein wenig Ryons Hand, während sie verständnislos etwas Unbestimmtes in den Augen des Arztes suchte.

„Ist das denn wirklich nötig, Tennessey? Ich meine, muss es eine Spritze sein? Hast du nicht was, das er einnehmen kann, wenn ein Beruhigungsmittel wirklich nötig ist?“

So aufgebracht gegenüber einem Freund hatte sie Ryon noch nie erlebt und wenn er tatsächlich noch eine andere Phobie als die vor Höhen hatte, musste man ihm das doch auch wirklich nicht antun. Auch wenn sie sicher war, dass der Doktor eigentlich wusste, was er tat.
 

Er wollte sich nicht wie ein Feigling hinter Paige verkriechen, aber dass sie sich leicht zwischen ihm und die Spritze schob, rechnete er ihr in diesem Moment sehr hoch an.

Tennessey seufzte.

„Wenn es irgendeine Pille geben würde, die bei ihm auch diese Wirkung erzielen würde, wäre ich sofort dabei. Aber er ist ein Gestaltwandler und die verbrennen solche Substanzen wahnsinnig schnell. Aspirin ist sozusagen wie ein Tropfen auf einer glühend heißen Kochplatte, während eine Spritze einem ganzen Topf voll Wasser gleich kommt. Hält zwar auch nicht lange, aber doch wenigstens lange genug.“

Sein Blick richtete sich auf Ryon.

„Du weißt, dass du mir keine andere Wahl lässt, wenn du dich noch länger gegen diese lächerlich kleine Nadel sträubst. Willst du es auf die sanfte oder die harte Tour?“

Klein? Er nannte dieses Hammerding klein?

„Auf die harte Tour, egal wie sehr ich sie hasse.“, antwortete er ohne lange zu überlegen. Was er seinem Freund damit antat, war kein Trost. Auch nicht in dem Wissen, dass dieser ihm als Ausgleich eine Spritze in den Arm jagen durfte. Keiner hier hatte etwas damit gewonnen, aber freiwillig unterzog sich Ryon dieser Prozedur niemals und das wusste Tennessey.

„Glaub mir, ich hasse es genauso sehr wie du.“

Ja, das wusste Ryon, weshalb er es ihm nicht übel nahm, als der Blick des Arztes plötzlich sehr viel intensiver wurde und Ryon das Gefühl hatte, als würde etwas in ihn hinein schlüpfen. Vertraut zwar und nicht beängstigend, doch er war nicht mehr alleine in seinem Körper.

Der Tiger gebärdet sich in seinem Kopf wie wild, wehrte sich gegen den fremden Eindringling, der dennoch jegliche Kontrolle übernahm, so dass Ryon nun vollkommen ruhig und reglos dastand, während sein Freund um den Tisch herum kam, seinen Arm nahm, die Stelle in der Armbeuge desinfizierte und ihm schließlich die Spritze in eine Vene setzte, ohne dass Ryon auch nur einmal blinzelte. Danach wischte er noch den einzelnen Blutstropfen weg, der sich in der Armbeuge gebildet hatte und verstaute die Spritze wieder in seiner Tasche, so dass der Stein des Anstoßes nicht mehr zu sehen war.

„Siehst du, schon ist es vorbei.“ Der Doc strich ihm sanft über die Schuler, ehe er ihn wieder vollkommen frei gab.

Ryon atmete tief ein, als wäre er gerade von Standby in den Normalmodus gewechselt, danach schüttelte er sich und bewegte seine Finger, als wollte er testen, ob er wieder Herr seines Körpers war. Oh ja, er hasste diese Fähigkeit wie die Pest, wenn Tennessey sie an ihm selbst anwandte. Zum Glück war das nur sehr sehr selten nötig.

„Ich geh jetzt schlafen.“, war alles was er noch zu seinem Freund sagte, da er spürte, wie die Wirkung des Beruhigungsmittels rasch einsetzte. Noch ein Nebeneffekt wenn man ein Wandler war. Wenn man ihm etwas in der richtigen Dosis verpasste, dann ging der Effekt davon auch sehr schnell auf ihn über. Auch wenn es sich ebenso schnell wieder verbrauchte.
 

„Was..?“

Paige begriff überhaupt nicht, was gerade passierte. Völlig überrascht starrte sie nur auf Ryons Armbeuge, während Tennessey nun seelenruhig die Spritze ansetzte und Ryon noch nicht einmal zurück zuckte.

Da die beiden Männer sich nicht an die Kehle gingen, sobald alles vorbei war, beschloss Paige, dass sie manche Dinge nicht begreifen musste, die zwischen den Freunden vor sich gingen.

Allerdings kam sie sich etwas blöd dabei vor, einfach herum zu stehen, wo sie doch gerade noch versucht hatte, sich zwischen die beiden zu stellen.

Das Gefühl änderte sich auch nicht, als Ryon sich direkt abwandte, um seinen Worten Folge zu leisten und ins Bett zu gehen. Dass ihm dabei schon halb die Augen zufielen, ließ Paige noch einen skeptischen, halb angesäuerten Blick auf den Arzt werfen, der ihn ihr aber offensichtlich nicht krumm nahm.

Bereits an der Tür holte sie Ryon ein und verschwand mit ihm auf dem Gang. Wenn er so müde war, wie er aussah, würde er ohnehin fast im Stehen einschlafen und sie konnte vielleicht dann noch das Chaos in der Küche beseitigen. Immerhin bediente Tyler sie schon jeden Tag von hinten bis vorne, ohne Aufhebens darum zu machen. Er sollte nicht auch noch dann hinter ihr her räumen müssen, wenn sie mal gekocht hatte.

An ihrem Schlafzimmer angekommen, hielt sie Ryon die Tür auf und knipste das Licht für ihn an. Da er sich sofort aus seiner Hose schälte, hatte sie gerade noch Zeit, die Decke für ihn zurück zu schlagen, bevor er sich einfach auf das Bett fallen ließ.

Paige setzte sich neben ihn, strich ihm eine Haarsträhne aus dem müden Gesicht und zog ihm die Decke über, bevor sie sich zu Ryon hinunter beugte und ihm einen Kuss auf den am wenigsten mitgenommenen Mundwinkel gab.

„Ich warte, bis du eingeschlafen bist. Dann geh ich noch ein bisschen die Küche aufklaren. Keine Sorge, du wirst garantiert nicht ohne mich aufwachen.“

Nichts lag ihr ferner, als die Nacht nicht an Ryons Seite zu verbringen. Auch wenn sie bei dem Gedanken gern zu Tennessey gegangen wäre, um sich ebenfalls eine dieser Spritzen verpassen zu lassen. Jeder, außer Ryon, würde diese Nacht wohl mit einem wachen und einem schlafenden Auge verbringen. Immerhin hatten sie einen Werwolf im Haus. Und so sehr man den schweren Ketten auch vertrauen konnte, ganz sicher würden sie sich alle trotzdem nicht fühlen.
 

Als Ryon in Paiges Schlafzimmer angekommen war, schwankte er bereits wie eine Boje während eines Taifuns, aber er schaffte es dennoch, aus seiner Hose zu kommen und fiel gerade im richtigen Augenblick ins bereits von Paige vorbereitete Bett, als seine Beine ihn nicht mehr länger tragen konnten.

Er war so unglaublich müde, dass es ihm fast so vor kam, als würde sich ein tonnenschweres Gewicht auf ihn legen und nicht etwa der Schlaf, aber dafür hatte er keinerlei Schmerzen mehr. Ganz im Gegenteil, irgendwie war alles so … vollkommen herrlich…

Tief in seinem Inneren wusste Ryon, dass der Doc ihm eine Dosis verabreicht hatte, die ihn fast schon high machte. Anders wäre es nicht gegangen, dennoch sträubte er sich gegen dieses Glücksgefühl. Es war nicht richtig, auch wenn es sich so anfühlte. Aber wenn er schon keine Schmerzen mehr fühlte, dann wollte er das auch zu seinem Vorteil nutzen, bis bei ihm die Lichter ausgingen.

Zu hören, dass Paige bei ihm sein würde, wenn er erwachte, war einfach wunderbar. Sie war so wunderbar, genauso wie das weiche Bett unter ihm einfach nur wunderbar war und wenn er noch einmal dieses beschissene Wort dachte, dann würde er am nächsten Morgen Tennesseys Hintern wunderbar in die Atmosphäre katapultieren.

Da er seinen Ärger ohnehin nicht mehr heraus lassen konnte, ergriff er schwach Paiges Gesicht und zog sie zu sich heran. Selbst dafür reichte kaum noch seine Kraft aus, aber es war ja nicht so, dass sie sich dagegen sträuben würde.

Ihr Gutenachtkuss hatte ihm lange noch nicht gereicht, weshalb er sie nun richtig küsste, bis ihm schwindlig wurde. Allerdings nicht vor Schmerz. Er spürte gar nichts, nur ihre Wärme auf seiner und der Duft, der ihn umhüllte und davon trug, bis er völlig unvermittelt die Augen niederschlug und im nächsten Augenblick auch schon weg war. Denn je eher er schlief, umso eher würde er Paige wieder sehen, wenn er wieder aufwachte. Oh ja, das war wirklich ein wunderbarer Gedanke…
 

Es war zu einem gewissen Teil erschreckend, wie schnell Ryon einfach wegkippte und seine tiefen, gleichmäßigen Atemzüge zeigten, dass er eingeschlafen war. Hoffentlich nützte dieses Zeug auch wirklich etwas, wenn es ihn schon so völlig von den Socken haute... Aber Tennessey hatte Ryon schon zu lange in Behandlung und wahrscheinlich bereits ähnliche Wunden an ihm gesehen, um sich bei der Dosierung grob zu täuschen. Allerdings hätte es Paige doch interessiert, wie der Arzt Ryon vorhin in der Küche dazu gebracht hatte, auf einmal vollkommen still zu halten, wo er keinen Moment zuvor noch hatte davon laufen wollen.

„Naja, auch nicht so wichtig, solange es dir Morgen wieder gut geht...“, sprach sie leise gegen Ryons Wange, an die sie sich nach seinem Kuss geschmiegt hatte und von der sie sich nur mit Widerwillen löste. Es war ja nicht so, als wäre diese ganze Aufregung spurlos an ihr vorbei gegangen. Der Schreck saß ihr so tief in den Knochen, wie wohl auch jedem Anderen im Haus.

Was es Paige tatsächlich auf gewisse Weise erleichterte, sich wieder aufzusetzen, dem schlafenden Ryon noch über die Wange zu streicheln, die Decke etwas ordentlicher über seinen Körper zu ziehen und dann das Zimmer zu verlassen.

Nicht ohne einen besorgten Blick in die Richtung, in der die Garage lag, ging sie in die Küche zurück, um dort ein wenig aufzuräumen. Der Abwasch war Dank der Spülmaschine schnell erledigt, doch Paige blieb an die Arbeitsplatte gelehnt noch einige Minuten in dem leeren Raum stehen.

Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie das Ganze so derart schockiert hatte. Erst jetzt, als ihr der Schreck langsam aus dem Körper wich, bemerkte sie, wie angespannt sie gewesen war. Nicht nur, dass Ryon verletzt worden war und unter Drogen im Bett lag... Der Werwolf hatte es durch die Barriere geschafft.

Zugegeben Paige wusste nicht viel über diese Sicherheitsmaßnahme, aber Ryon hatte so sicher gewirkt, dass niemand sie überwinden konnte... Das machte ihr wirklich große Sorgen. Sie würden sich früher oder später beide vom Haus entfernen müssen, um sich mit dem Hexenzirkel auseinander zu setzen. Bis jetzt war Paige immer davon ausgegangen, dass die anderen vier der kleinen, inzwischen zusammen geschweißten Gruppe hier geschützt sein würden. Wenn das nun doch nicht der Fall sein sollte, wusste sie wirklich für den ersten Moment weder ein noch aus. Zurück in die 'World Underneath' zu einem ihrer Freunde wollte sie die Familie nicht bringen. Aber sie irgendwo allein zu lassen, war ebenfalls viel zu gefährlich. Genauso wie es unmöglich war, sie mitzunehmen oder immer bei ihnen zu bleiben...

Frustriert seufzte Paige einmal tief, bevor sie sich von der Küchenzeile abstieß und den Raum verließ. Sorgsam löschte sie das Licht und hob kurz den Blick, als ihr auffiel, dass zum wohl ersten Mal, seit sie hier war die Tür zum Wohnzimmer geschlossen war. Durch den Türspalt konnte sie einen leichten Luftzug spüren.

Bei ihrem Zimmer angekommen, schlich sie sich leise hinein, knipste nur die Nachttischlampe an und bedachte Ryon, der sich in ihrer Abwesenheit nicht einmal bewegt zu haben schien, mit einem warmen, liebevollen Lächeln. Hätte sie es vermocht, sie hätte ihm liebend gern jeden Kratzer, jeden blauen Fleck und seine geschwollene Lippe gesund geküsst. Aber Ruhe würde die Aufgabe im Moment besser erledigen.

Also zog Paige sich aus, stellte sich unter die Dusche und sammelte dann Ryons Hose vom Boden auf, bevor sie sich in ihrem Schlafshirt zu ihm ins Bett legte.

Es war wirklich so, wie sie erwartet hatte. Selbst das Licht auszuschalten widerstrebte ihr ein wenig und sie dachte daran, wie sie am schnellsten zu Ai und Tyler kommen würde, um sie über eventuell drohende Gefahr zu informieren.

Mit schweren Gedanken, die sich in der Dunkelheit nur noch verselbstständigten und anwuchsen, warf sie sich eine Weile hin und her. Nicht einmal Ryons gleichmäßiges Atmen half ihr wirklich dabei einzuschlafen. Hinzu kam, dass sie ihn auch nicht zu fest umarmen wollte. Er heilte zwar ungemein schnell, aber Paige wollte das bestimmt nicht unterbrechen, indem sie ihm auf irgendwelche offenen Kratzer drückte.

Nach scheinbar endlosem Herumwälzen brannten Paiges Augen, als sie in die Schwärze der Nacht starrte. Sie musste Ruhe finden, wenn sie am Morgen noch zu irgendetwas zu gebrauchen sein wollte. Was sie wieder zu dem Werwolf brachte, mit dem sie sich am kommenden Tag auseinander setzen mussten. Mit einem Stöhnen rollte sich Paige zusammen, boxte sich ihr Kissen zurecht und zwang sich dazu, überhaupt nichts mehr zu denken.

Ryon holte tief Luft, was sie wieder aufschrecken ließ, und drehte sich langsam und umständlich auf die Seite. Paige spürte, wie er die Decke von sich schob, weil ihm wohl zu warm war. Gott, wie selbst so etwas ihr Herz höher schlagen lassen konnte, würde für Paige immer ein Rätsel bleiben. Eines, das sie in dieser Nacht nicht mehr lösen wollte. Stattdessen schmiegte sie sich nun doch eng an Ryons Rücken und legte ihre Hand sanft und leicht auf seine Hüfte, wo ihr keine Wunde aufgefallen war.

Nach weiteren, sich wie wild drehenden Gedanken, senkte sich der Schlaf endlich bleischwer über sie und Paige ließ sich mit einem erleichterten kleinen Seufzen in traumlose Schwärze fallen. Auch wenn ihr Körper immer noch angespannt lauschte, um nur kein Zeichen von Gefahr zu verpassen.



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