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Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

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28. Kapitel

Als er erwachte, geschah es nicht willkürlich, oder zögernd und vor allem war es nicht schwierig. Ryon schlug einfach die Augen auf.

Der Schleier vor seinen Augen hatte sich stark gelichtet, wenn auch nicht vollkommen verzogen. Er erkannte Farben und Formen und somit auch das Chaos, das sich vor ihm wie ein eigentümliches Schlachtfeld ausgebreitet hatte.

Zwar tat sich sein Gehirn noch etwas schwer, richtig in die Gänge zu kommen, doch seit der Druck auf seine Schädeldecke nachgelassen hatte, fiel es ihm leichter einen klaren Gedanken zu fassen. Dass dort überhaupt Druck geherrscht hatte, bemerkte er nur durch das Gefühl der Erleichterung, die er jetzt empfand. Aber das war vermutlich nicht der einzige Grund, wieso seine Stirn so heftig pulsierte, als hätte sie ein eigenes Herz.

Ryon musste nicht die Hand heben, um die Platzwunde an seiner Stirn zu fühlen, die inzwischen mehr oder weniger geschlossen sein müsste, wenn auch noch nicht ganz verheilt. Immerhin hatte sein Körper andere Schlachten zu schlagen gehabt. Schwerere und langwierigere.

Das Blut an der Kante des Waschbeckens und an einigen Stellen auf dem Boden war Beweis genug dafür, dass er sich ordentlich den Schädel angeschlagen hatte. Aber das war bestimmt nicht alleine der Grund, weshalb er sich nur verschwommen daran erinnerte, wie er auf den Boden gekommen war.

Sein Körper lag auf der Seite, was das verspannte Gefühl seiner Schulter erklären dürfte, sollte er schon länger in dieser Position verharrt haben. Immerhin war der Untergrund hart, aber wenigstens nicht sehr kalt, da seine eigene Körperwärme die Fließen angewärmt hatte.

Als er versuchte, sich in eine bequemere Position zu bringen, um seine Schulter etwas zu entlasten, hielt er plötzlich mitten in der Bewegung wie erstarrt inne. Erst jetzt fiel ihm die schlanke Hand auf, die sich im Stoff seines Hemdes direkt über seinem pochenden Herzen verkrallt hatte. Kühler, wohltuender Atem schlug ihm regelmäßig an der Stelle entgegen, wo er die Knöpfe am Kragen wegen der Hitze nicht ganz geschlossen hatte.

Langsam, als wäre das nur ein Trugbild, das sich sofort verflüchtigen könnte, wenn er es ansah, neigte er den Kopf, um an sich hinab zu blicken.

Schwarzes, zerzaustes Haar hatte sich über seinen angewinkelten Oberarm ergossen, auf dem auch der dazu gehörige Kopf gebettet da lag.

Ohne es bis jetzt richtig mitbekommen zu haben, registrierte er, dass sein Unterarm an Paiges Rücken entlang verlief und seine Hand auf ihrer Taille lag, damit sie im Schlaf nicht einfach von ihm wegrutschen konnte, obwohl die Hände, die sich selbst jetzt noch in sein Hemd krallten, das gewiss nicht zugelassen hätten.

Seine andere Hand hatte ihren Nacken in einer beschützenden Geste umschlungen und auch jetzt zog er sie nicht von dort weg.

Er konnte einfach nicht. Genauso wenig wie er dazu im Stande war, den Blick von ihrem Haar abzuwenden, das jede Sicht auf ihr Gesicht verbarg.

Ihr Körper zitterte leicht in seinen Armen, wie das wild klopfende Herz eines verängstigten Kaninchens. Für seine Verhältnisse fühlte sie sich regelrecht kalt an, aber das kam ihm nur so vor, weil er noch immer einem langsam abkühlenden Hochofen glich. Selbst wenn die Hitze ihn nicht niedergerungen hätte, er würde immer wärmer als sie sein.

Der Gedanke führte zu weiteren Gedanken, die ihn an das Chaos im Badezimmer erinnerten, das er vorhin beim Aufwachen gesehen hatte. Überall hatten Handtücher, Pflegeartikel und allerlei andere Sachen herum gelegen, als wären sie willkürlich auf den Boden geworfen worden oder einfach runter gefallen. Er selbst war in Handtücher und Laken gewickelt, wie er nun fest stellte.

Der Stoff war kaum noch feucht und hatte somit die Wirkung verloren, die er eigentlich hätte erzielen sollen. Dafür waren Paiges Sachen noch immer nass, außer an den Stellen, an denen er sie mit seiner Haut berührte. Kein Wunder, dass sie zitterte. Sie musste frieren, wenn auch weit nicht so schlimm wie damals in den Tunneln. Außerdem war es eine ganz und gar unbequeme Stelle, um zu schlafen. Sein Rücken tat inzwischen an jeder erdenklichen Region weh, die man sich nur vorstellen konnte. Auch an Teilen, wo er gar nicht gewusst hatte, dass es sie bei ihm gab.

Dennoch ignorierte er das Gefühl. Genauso wie den bohrenden Hunger und den fast schon qualvollen Durst.

Eine Flasche voll Wasser stand ganz in der Nähe. Er hätte nur seine Hand danach ausstrecken müssen, um sie zu erreichen, doch stattdessen schlang er seine Arme enger um Paige und zog sie näher an sich heran.

Ryon vergrub sein Gesicht in ihren Haaren und schloss noch einmal die Augen. Während ihr Duft sich wie süßer Honig auf seine Atemwege legte und selbst die Kopfschmerzen zu einer lästigen Nebensächlichkeit verwandelte, hörte er tief in sich eine Stimme widerhallen.

‚Noch nicht…‘, bat diese fast schon verzweifelt flehend. Es war sein eigener Klang. Sein eigenes Empfinden, das regelrecht darum bettelte, noch einen Moment länger so verharren zu dürfen.

So oft war er schon erwacht, alleine und verlassen. So oft schon hatte er niemanden mehr gehabt, über dessen Schlaf er hätte wachen können. Und so viele weitere Male würde dies geschehen, dass ihm das Wissen alleine in diesem Augenblick fast das Herz zerriss.

Es war etwas, das er schon vor langem akzeptiert hatte. Aber in diesem Moment, in dem alles an ihm hilflos und ungeschützt hier an der Seite dieser Frau lag, fühlte er sich so sicher und geborgen, wie schon sehr lange nicht mehr.

Die vergangenen Stunden mochten für ihn vielleicht immer verschwommen bleiben, aber dass sie jetzt hier war, bedeutete, dass sie ihn nicht alleine gelassen hatte. Dass sie es war, die ihm die Hitze aus dem Körper gezogen hatte, in dem sie ihn in diese Tücher gewickelt hatte.

Selbst jetzt noch, da der Schlaf sie fest umklammert hielt, war sie da, um für ihn zu sorgen. Wenn auch auf eine Weise, die man nicht mit den Augen sehen konnte.

Paige war vielleicht nicht in der Lage, das klaffende Loch in ihm vollständig auszufüllen, aber dass sie es wenigstens versuchte, schnürte ihm förmlich die Kehle zu und selbst als widerstrebende Gefühle in ihm hoch sprudeln wollten, kämpfte er sie erbarmungslos nieder. Nein. Die Stimme in ihm hatte Recht. Noch nicht!

Er wollte noch nicht zurück in die Sklaverei seines eigenen Verstandes. Er wollte noch nicht aus dieser Wärme gerissen und zurück in die Kälte seines eigenen Wesens geworfen werden. Er wollte sich noch nicht damit befassen, was genau hier alles geschehen war und was es vielleicht noch bedeuten würde. Er wollte sich noch nicht mit den Konsequenzen auseinandersetzen und vor allem, wollte er das hier noch nicht beenden.

Trotzdem, selbst wenn er sich lieber die Hände abgehakt hätte, anstatt zu riskieren, Paige aus ihrem erschöpften Schlaf zu reißen, schlug er entschlossen die Augen auf.

Ryon hatte nur ein Ziel.

Paige sollte nicht länger auf diesem verdammt unbequemen Boden liegen müssen und er selbst wollte es auch nicht länger tun.

Sie selbst hatte vielleicht nicht die Kraft besessen, seinen Körper zu bewegen, aber im Gegensatz zu ihm, war sie so leicht und zierlich, dass ihm dieser Unterschied erst jetzt so offensichtlich auffiel, als sie ihm so nahe war.

Allerdings verstand er nach einigen Momenten nur zu gut, was für einen Brocken er für sich selbst darstellte.

Seine Beine waren viel zu schwach, um sie gebrauchen zu können. Seinen Armen erging es nicht besser, aber seine Entschlossenheit war stärker, als die Schwäche. Weshalb es ihm auch Stück für Stück gelang, Paige vorsichtig, um sie nicht zu wecken, mit sich zu ziehen, so dass er auf dem Rücken und sie halb auf seiner Brust lag. Die Tücher und Laken hatte er abgestreift, taten sie ohnehin keine allzu große Wirkung mehr.

In Millimeterarbeit arrangierte er Paiges Körper so auf sich, dass keines ihrer Körperteile mehr den Boden berührte. Danach begann er mit ihr zusammen rückwärts zu kriechen. Was nicht nur verdammt mühsam war, sondern auch sehr viel Zeit in Anspruch nahm.

Doch die unzähligen Pausen, die er gezwungenermaßen machen musste, nutzte er dazu, sicher zu gehen, wie tief Paige noch schlief.

Anhand ihres blassen Gesichts, den dunklen Augenringen und der Art ihrer Regungslosigkeit musste sie so tief schlafen, dass schon eine Bombe neben ihnen hätte hochgehen müssen, um sie aufzuwecken. Aber selbst einer Stecknadel hätte er es nicht erlaubt, neben ihr auf zu kommen. Ganz zu schweigen von seiner Atmung, die immer lauter wurde, je mehr er sich überanstrengte.

Doch sein Ziel, das Bett im Nebenraum war nicht mehr so weit entfernt, wie vor seinem Aufbruch. Dennoch dauerte es weitere quälende Minuten, bis er vollkommen ausgelaugt auf dem dicken Teppich daneben sank und sich mit geschlossenen Augen für einen Moment ausruhte.

Auf das große Kingsizebett kommen zu wollen, käme dem Wunsch gleich, den Mount Everest erklimmen zu wollen. Es war schier unmöglich.

Da der dicke und weiche Teppich zusammen mit dem großen Kopfkissen, das in Griffnähe auf dem Boden lag, tausendmal bessere Umstände bot, als der geflieste, nasse Badezimmerboden, beschloss Ryon hier ihr Lager aufzuschlagen.

Er konnte ohnehin nicht mehr weiter. Seine Muskeln zitterten stark von den Anstrengungen und fühlten sich schwach und kraftlos an. Selbst der kleine Griff nach oben, um die Tagesdecke vom Bett zu zerren, verlangte ihm schon fast mehr ab, als er noch aufbringen konnte. Aber er schaffte es.

Noch immer äußerst vorsichtig und langsam, obwohl die Wanderung Paiges tiefen Schlaf nicht im Geringsten gestört hatte, arrangierte er eine Hälfte der Decke neben sich auf dem Boden, ehe er sie langsam darauf legte. Sein Arm umschlang das große Kissen, ehe er Paiges Kopf sanft darauf legte, um es ihr bequemer zu machen. Danach schlug er die Decke über ihrem Körper zusammen und verwandelte den Stoff zu eine Art Kokon, aus dem nur noch ihr Kopf hervor sah.

Diesen Kokon zog er dicht an seine Seite, ehe er ebenfalls seinen bleischweren Kopf neben ihr auf das Kissen ablegte.

Zwar war Ryon vollkommen fertig von dieser Pilgerreise, dennoch blieben seine Augen offen, während sein Blick über Paiges Gesichtszüge glitten.

Ohne es recht mitbekommen zu haben, hatte seine freie Hand damit begonnen, ihr Haar Strähne für Strähne wieder mit streichelnden Bewegungen zu glätten. Selbst als ihm auffiel, was er da tat, machte er weiter. Das Gefühl war einfach sehr schön. So weich und bei jeder Bewegung stieg ihm ein Schwall dieses angenehmen Dufts in seine Nase.

Irgendwie erinnerte er ihn an Sandelholz, einem Bouquet aus getrockneten Sommerblumen und ihrem vollkommen eigenen Aroma. Süß und schmackhaft, wie reife Beeren.

In ihren Augenwinkeln hatten sich kleine Sandkörnchen gebildet, die er ihr vorsichtig weg strich. Der Geruch von Salz und Meer drängte sich ihm auf. Zusammen mit einer sehr verschwommenen Erinnerung daran, Schluchzen gehört zu haben. Wenn auch völlig verzerrt und verbogen, als hätte es unendlich viele Umwege gehen müssen, um an sein Gehör zu gelangen.

Paige hatte geweint. Nicht nur die Sandkörnchen verrieten es ihm, sondern auch ihre rot geschwollenen Augen.

Diese Frau hatte nicht nur wegen ihm, sondern auch um ihn geweint. Wie konnte so jemand wie er nur so etwas verdienen? Genauso wie die Fürsorge, mit der sie ihn bedacht hatte.

Ja, einige Erinnerungen waren vollkommen für ihn verloren, aber das hieß nicht, dass er ein vollkommenes Blackout bei den vergangenen Stunden aufweisen konnte. Er erinnerte sich sehr wohl an den Klang ihrer Stimme, wenn auch nicht an deren Bedeutung. Ihr Duft war immer präsent gewesen, als hätte sie ihn keinen Moment alleine gelassen und genau das war der Grund, weshalb er nicht die Kraft auf brachte, sie nicht zu berühren. Denn auch sie hatte ihn berührt. Seine Wangen, seine Stirn, sein Haar und etwas, das man nicht mit Händen fassen konnte. Sie hatte einen Teil seiner Seele berührt.

Minuten verstrichen wie Sekunden bar jeglicher Bedeutung. Er wurde es nicht müde, ihr über die glänzenden Haare zu streicheln, die nun nicht mehr zerzaust ihr Gesicht umrahmten. Genauso wenig, wie er ihrem Anblick überdrüssig wurde.

Egal wie lange er ihr nun schon beim Schlafen zugesehen hatte, er könnte es noch stundenlang weiter tun.

Aber seine Augen waren müde und brannten, weshalb er sie schließlich gezwungenermaßen doch schloss, als er sie nicht mehr länger offen halten konnte. Doch er schlief nicht ein. Wollte es nicht, stattdessen zog er Paige näher an sich heran, so dass ihr Atem wieder gegen sein Brustbeins chlug und ihre Stirn den Ansatz seines Halses kühlte, während er sein Kinn an ihren Kopf schmiegte und seine freie Hand sich wieder um ihren Nacken schlang.

Zärtlich massierten seine Fingerkuppen jede hartnäckige Verspannung, die er dort erwischen konnte, während er leise und gedämpft vor sich hin schnurrte, um ihr noch länger einen erholsamen Schlaf zu gewähren. Denn nun war er es, der über sie wachte. Selbst wenn die Welt in diesem Augenblick untergehen würde, er würde nicht von ihrer Seite weichen.

Noch nicht…
 

Ihre Schlaf wurde mit der Zeit leichter. Weniger bleiern lastete die Erschöpfung auf ihr und gab sie in erholsames Dösen frei, bei dem sich sogar ihre Gesichtszüge zufrieden entspannten.

Paige spürte die kuschelige Decke um ihren Körper und wie sie ihr Wärme spendete. Ihre Kleider klebten nicht mehr so stark und kalt an ihrem Körper, wie noch vor wenigen Minuten. Oder waren es Stunden gewesen? Es interessierte Paige ungefähr so sehr, wie sie sich darüber wundern wollte, wie sie überhaupt zu der Decke gekommen war.

Auch das Gefühl in ihrem Nacken hätte ihr eigentlich Fragen aufwerfen sollen. Aber Paige hatte keine Lust und auch zu wenig Energie, um sich damit zu beschäftigen. Lieber kuschelte sie sich an Ryons ebenfalls warmen Körper, spürte und schmeckte sie doch, dass die Hitze nicht mehr verheerend war. Ihm drohte keine direkte Gefahr mehr von dem Hitzschlag, den er erlitten hatte. Kein Grund jetzt schon aufzuwachen...
 

Ob es wieder nur Minuten oder doch länger gewesen war, wusste Paige nicht. Aber langsam konnte sie ihren Körper nicht mehr dazu zwingen abzuschalten. Ihr Hirn flackerte immer wieder auf wie ein Wecker, den sie vergessen hatte für's Wochenende abzustellen. Und es sagte ihr, dass sie nach Ryon sehen sollte. Ob es ihm inzwischen besser ging oder er immer noch Kühlung brauchte.

Mit einem kleinen Laut schob Paige ihre Finger unter der Decke hervor und wischte sich über die verklebten Augenlider, bevor sie sie blinzelnd öffnete.

Eigentlich hätte sie sich darüber wundern sollen, dass sie immer noch direkt neben Ryon lag, an ihn gedrückt, wie sie auch eingeschlafen war. Es war voller Panik und widerstrebend gewesen. Aber ihr Körper hatte sie letztendlich zu ihrem eigenen Besten in die Knie gezwungen.

Sie wunderte sich keineswegs über ihre Position, in der sie eine Hand immer noch in den Stoff seines Hemdes gekrallt hatte. Auch seine Hände auf der Decke um ihren Körper und seine streichelnden Finger in ihrem Nacken ließen sie nicht aufschrecken.

Doch etwas Anderes brachte ihr Herz dazu lauter und schneller zu schlagen. Etwas, das eigentlich dazu gedacht war, genau das Gegenteil zu bewirken.

"Bist du wach?", wollte sie mit einem Flüstern wissen, das sie kaum selbst hören konnte.

Eigentlich war die Frage falsch gestellt.

Sie wollte wissen, ob er bei Sinnen war. Ob Ryon wusste und begriff, was hier gerade vor sich ging.

Sie brauchte zwei Sekunden, um sich innerlich darauf vorzubereiten, dass er sich zurück ziehen würde. Gleich würde sie den Kopf heben, in seine matten, schwarzen Pupillen sehen und alles wäre vorbei. Die vergangenen Stunden, die Berührungen... Alles würde er mit einem Blick auslöschen und ungeschehen machen.

Am liebsten hätte Paige niemals ihren Kopf von seiner Brust genommen und zu ihm aufgesehen. Sie erwartete es, aber genauso gut wusste sie, dass die Zurückweisung weh tun würde.

Wie in Zeitlupe und als würde sie gegen eine große Kraft ankämpfen, bewegte sie sich. Legte ihren Kopf in den Nacken, um aufsehen zu können.

Ihre Augen trafen seine. Vorsichtig und abwartend, ein wenig eingeschüchtert sah sie zu ihm hoch.

"Geht es dir ein bisschen besser?"
 

Selbst als sie sich zu regen begann, behielt er die Augen geschlossen, das Vibrieren in seiner Brust, blieb regelmäßig und auch seine Fingerspitzen in ihrem Nacken ließen sich nicht aus dem Takt bringen. Doch alles war irgendwie mit einem Mal erzwungener. Man merkte vielleicht keinen Unterschied, aber Ryon war sich darüber im Klaren, dass er sich dazu brachte, einfach weiter zu machen, denn alles andere hätte in diesem Augenblick sofort dazu geführt, dass seine Frist abgelaufen wäre.

Dabei war er, wenn auch nur für diesen Moment, in seinem Inneren so ruhig und friedlich, wie schon lange nicht mehr.

Vieles mochte mit seiner körperlichen Erschöpfung zu tun haben, die sich erst sehr langsam verflüchtigte, da sein Körper einiges an Anstrengungen hatte auf sich nehmen müssen und das alles seine Zeit brauchte.

Zeit, die er in diesem Zustand der Ruhe verbringen wollte, wo es keine Gewissensfragen, keine Distanz und Schluchten gab, die ihn dazu hätten bringen können, die Nähe dieser Frau zu meiden.

Niemals könnte er sie verschmähen, aber wenn er einmal mit dem Denken anfangen würde, dann würde er auch wieder den Mantel der Einsamkeit über sich werfen und die Maske der Emotionslosigkeit überstreifen.

Dann würde er sich von ihr fern halten.

Als hätte Paige seine Gedanken gespürt, wurde sie mit einem Mal noch etwas aktiver und ihre Worte drangen zu ihm hindurch.

Das Vibrieren in seiner Brust erstarb, seine Finger kamen zum Erliegen und seine Augen öffneten sich langsam, nur um den ihren zu begegnen, die zu ihm hinauf blickten.

Ryon wollte sich etwas aufrichten, um leichter antworten zu können, doch er hob lediglich einen Moment lang etwas den Kopf an, ehe er ihn wieder zurück auf das Kissen sinken ließ. Er war so schwer.

„Davon abgesehen, dass mich in diesem Augenblick selbst meine verstorbene Urgroßmutter im Armdrücken schlagen könnte… Ja, es geht mir besser.“

Seine Stimme war rau, tief. Leicht heiser, als hätte er schon lange nicht mehr gesprochen. Aber es lag auch jene Ruhe in ihr, die er noch immer in sich selbst spürte.

Einen Moment schwieg er, während seine Augen über Paiges Gesichtszüge glitten. Sie sah noch immer leicht blass und erschöpft aus, aber auch so voller Leben, wie er sie kannte. Dass er ihr sein eigenes Leben verdankte, war keine Frage, sondern eine Tatsache. Ohne sie, hätte er diesen Hitzestau sicherlich nicht überlebt, mochte sein Körper noch so hohe Temperaturen ertragen können. Manches war auch für ihn einfach zu viel.

„Diesen Umstand habe ich dir zu verdanken, nicht wahr?“

Der Ausdruck seiner Augen wurde sanfter, je beklommener er in seinem Inneren wurde.

Er wollte sich noch mehr Zeit erhaschen. Noch mehr der kostbaren Sekunden, die ihm noch blieben, ehe das alles hier unwiederbringlich vorbei sein würde. Denn das es so sein würde, war ebenfalls eine Tatsache. Das ließ sich nicht leugnen.

Seine Finger begannen zu zittern, als er sich körperlich dagegen zu wehren begann, in sein altes Glaubensmuster zurück zu fallen. Sein logisches, eiskaltes Bewusstsein wollte sich ihm aufdrängen, ihm Vorwürfe für diese Situation machen, in der er sich so leichtfertig gebracht hatte.

Gewissensbisse hämmerten gegen seinen Verstand, die sein Herz schneller schlagen ließen, je eindringlicher sie wurden.

Wieso nur, war ihm nicht ein Moment des Seelenfriedens vergönnt?

„Und wie geht es dir?“, wollte er leise wissen, um die lautlosen Attacken seiner negativen Gefühle noch etwas länger von sich fern zu halten.

Schuldgefühle, weil er hier mit einer Frau so eng umschlungen auf dem Boden lag, ließen seine Brust immer weiter zusammen schnüren, egal wie sehr er versuchte, sich einzureden, dass das alles hier völlig harmlos war. Er betrog niemanden und doch war es genau dieses Gefühl, das ihm die Ruhe völlig zerstören wollte.
 

Sie waren so interessant.

Goldgelb und direkt um die Pupille herum mit anderen Farben gesprenkelt. Blau konnte Paige sehen, ein wenig grün sogar und Brauntöne, die sich in geschwungenen Schlieren zum Rand hin im Gold verloren.

Wie schade, dass Ryon seinem Umfeld den Anblick nur so selten gönnte. Selbst jetzt konnte Paige sehen, dass er darum kämpfte, seine Eiseskälte zurück zu gewinnen. Mit jedem Moment, dem sie ihm weiterhin tief in die Augen sah, wurde die Pupille ein wenig größer. Man hätte den Blick als flackernd beschreiben können, auch wenn das für Paige aus unerfindlichen Gründen nicht der korrekte Begriff zu sein schien. Immerhin konnte sie noch immer nicht hinter diese Augen und in Ryons Verstand hinein sehen, um zu erkennen, was dort vor sich ging.

Vielleicht wollte sie es auch lieber gar nicht wissen.

"Keine Sorge, du musst auch mit niemandem Armdrücken oder Ähnliches."

Den Kommentar, dass sie dafür gesorgt hatte, dass er noch am Leben war, überging sie einfach. Auf Lorbeeren war sie bestimmt nicht aus.

Allerdings musste sie sich etwas Anderes eingestehen, was ihr durchaus seltsam vorkam.

Wenn es irgendwie möglich war, wollte sie noch ein wenig bei ihm bleiben. Nicht nur im selben Zimmer, um nach ihm zu sehen und darauf zu achten, dass er keinen Rückfall bekam. Nein, sie wollte hier bleiben. Genau an diesem Fleck. Eingerollt in die weiche Decke und am liebsten hätte sie die Augen noch einmal geschlossen und viele Stunden hier neben Ryon geschlafen.

Es war so viel bequemer als...

Paiges Augen wurden groß und ihre Hand krallte sich etwas mehr an Ryons Hemd und den darunter liegenden Muskeln fest, als sie sich auf einen Unterarm stemmte, um über ihn hinweg sehen zu können. Dass sie eindeutig nicht mehr auf die kalten, harten Fliesen im Bad lagen, war aber auch so klar gewesen.

Erstaunt, aber auch gehörig strafend sah sie ihn nun von oben herab an. Sie konnte sich mit keinem einzigen Gedanken erklären, wie er es geschafft hatte, sich selbst, geschweige denn auch noch sie hierher zu bringen. Noch dazu, ohne dass sie bei der ganzen Aktion aufgewacht war.

"Deine Urgroßmutter könntest du aber locker schlagen, wenn du es geschafft hast, uns beide hierher zu zerren. Geht's dir auch wirklich gut?"

Ganz automatisch hatte ihre Hand nach seinem Gesicht gegriffen, hatte sich vorsichtig um seine Wange geschmeichelt. Weniger um seine Temperatur zu fühlen, als vielmehr, um ihre Sorge mit einer Berührung schrumpfen zu lassen.

Das Schwarz in seinen Augen nahm von Augenblick zu Augenblick immer mehr zu. Paige wusste sehr genau, dass sie damit aufhören musste, so zu sein, wie sie es gern ihm gegenüber wollte. Warum auch immer es so war... es spielte keine Rolle.

Deshalb nahm sie ein wenig wehmütig, langsam die Hand von seiner Wange. Ihre Finger streiften noch einmal ganz leicht seine Haut, wie etwas Wertvolles, von dem man sich verabschiedete, da man genau wusste, dass man es nicht behalten durfte. Was sie dabei empfand, machte ihr erstaunlicher Weise zumindest im Moment keine Angst.

"Meinst du, dass du was Essen kannst?", fragte sie sanft.

"Etwas Heißes hört sich für dich wahrscheinlich gerade höllisch an, aber eine Hühnerbrühe wäre gut, damit wir deinen Salzvorrat wieder auffüllen."

Sie hätte hinüber ins Bad gehen können, um die Flasche mit dem isotonisch angereicherten Wasser zu holen. Aber noch schimmerte ihr so viel gold entgegen, dass sie hier bleiben wollte. Dass sie das Gefühl hatte, hier so nah bei ihm bleiben zu dürfen, bevor es so weit kam, dass er sie von sich stieß.

Angespannt von der im Zimmer schwebenden Stimmung legte sie sich vorsichtig wieder hin. Um Ryon nicht unnötig auf die Pelle zu rücken, zog sie die Decke erneut um sich, fast bis zur Nasenspitze hinauf und legte ihren Kopf ihm gegenüber auf das Kissen.

War es denn so falsch, dass sie es mochte, sich mit ihm zu unterhalten, solange er mehr als ein paar emotionslose Worte mit ihr wechseln wollte?

"Und keine Sorge... mir geht's gut. Ein bisschen müde vielleicht."

Die Untertreibung des Jahrhunderts. Auf der Stelle hätte sie wieder einschlafen können. Bei dem Gedanken daran, dass er sie in wenigen Minuten in ihr eigenes Zimmer und ihr großes, kaltes Bett schicken würde, wurde ihr richtiggehend schlecht.
 

Einen Moment lang zuckte er überrascht zusammen, als er Paiges Finger deutlich auf seiner Brust spürte und wie sie sich selbst durch sein Hemd hindurch an ihm fest hielt. Es war nicht so sehr ihre Berührung, die ihn einen flüchtigen Augenblick lang erschrocken hatte, sondern ihre Reaktion. Allerdings schien sie nur verblüfft darüber gewesen zu sein, wie sie hier her gekommen war.

Gut, dass sie nicht wusste, wie genau er sie hier her gebracht hatte. Vielleicht hätte ihre Besorgnis darüber ein ganz anderes Gesicht bekommen.

Als Ryon ihre kühle Hand an seiner Wange spürte und wie diese sorgenvoll darüber strich, zog sich sein Brustkorb gequält zusammen.

Sein erster Impuls wäre gewesen, die Augen zu schließen, sich dagegen zu schmiegen und das Gefühl zu genießen.

Auch jetzt, da er diesen Impuls unterdrückt hatte, wollte er es immer noch tun, würden nicht so viele Gründe dagegen sprechen.

Wo war nur sein Tier, wenn er es einmal brauchte? Wo war das instinktgesteuerte Wesen, das keiner logischen und vernünftigen Denkweise folgte?

Natürlich war sein Tier immer noch da, sonst würde er sich nicht gerade so hin und her gerissen fühlen, zwischen dem was er wollte, dem was richtig war und dem was er niemals haben konnte. Aber es hielt sich so auffallend zurück, als wäre er in diesem Augenblick wirklich nicht mehr als ein ganz gewöhnlicher Mensch, mit ganz gewöhnlichen Gewissensfragen.

Bevor Ryon sich allerdings zu irgendetwas entschließen konnte, nahm Paige ihm diese Entscheidung von sich heraus ab. Einen flüchtigen Moment noch, berührte sie ihn, ehe sie sich wohl selbst bewusst wurde, was sie tat und sich wieder zurück zog.

Fast hätte er nach ihrer Hand gegriffen, um sie fest zu halten.

Deutlich unkonzentriert versuchte Ryon ihren Worten zu folgen, die das Thema nicht nur gründlich wechselten, sondern ihn auch wieder ernüchtern ließen. Zumindest soweit, dass er sich wieder bewusst wurde, weshalb sie hier überhaupt auf dem Boden lagen.

Schwach schüttelte er den Kopf und ließ ihn noch tiefer ins Kissen sinken.

„Nein, danke. Im Augenblick nicht.“

Alleine der Gedanke daran, etwas Warmes oder gar Heißes zu essen, bescherte ihm wieder einen Hitzeschauer, der ihm über den Rücken jagte.

Paige, die vorhin noch fast so ausgesehen hatte, als würde sie lieber aufspringen und so schnell wie möglich von ihm wegkommen, legte sich daraufhin wieder neben ihn und bettete sogar ihren Kopf so, dass er sie nun direkt und gerade heraus ansehen konnte.

Warum es ihn störte, dass sie ihre Decke fast bis zur Nasenspitze hochgezogen hatte, wusste er nicht. Aber da sein schlechtes Gewissen ihm gerade gehörig den Marsch blies, konnte er es sich schon denken.

Doch sein Gewissen irrte sich. Er und Paige waren Partner bei der Suche nach einer Lösung für ihr Hexenproblem. Vielleicht sogar inzwischen so etwas wie Freunde, denn der Wunsch, sich gegenseitig zu beschützen war deutlich gegeben. Das konnte keiner von ihnen beiden leugnen. Nicht nach dem, was nun schon alles vorgefallen war.

Ja, sie waren Freunde. Nicht mehr als das und auch nicht weniger. Deshalb war es auch okay, dass sie hier so eng nebeneinander lagen. Sich dadurch gegenseitig vergewisserten, dass es dem anderen gut ging und dafür zu sorgen, dass das auch so blieb.

Freunde durften sich berühren, sich umarmen, sich festhalten. Das war nicht verboten und auch sein schlechtes Gewissen ließ sich damit etwas beruhigen, aber eben nicht vollkommen. Denn der geheime Wunsch, Paiges Lippen sehen zu können, war nicht etwa der, dass er ihr gerne beim Sprechen zu sah, sondern ein ganz anderer. Einer, den er nicht einmal vor sich selber zugeben konnte, ohne entsetzt und verwirrt zu sein.

„Paige, du untertreibst.“, stellte er nüchtern fest, um nicht noch weiter seine Gedanken zu verfolgen, die in eine gefährliche und schier unmögliche Richtung verlaufen wollten.

„Du siehst ungefähr so aus, wie ich mich fühle und das ist leider kein Kompliment.“

Nun ja, eigentlich sah sie richtig zugänglich aus, mit den leicht wirren Haaren, die ihr Gesicht einrahmten, den müden, glänzenden Augen, dem relativ entspannten Gesichtsausdruck und die Art, wie sie es sich da neben ihm auf dem großen Kissen bequem gemacht hatte, direkt auf seinem Arm, der unter dem Kissen immer noch verborgen lag. Als hätte sie nicht vor, jeden Moment aufzustehen und Abstand zwischen sie beide zu bringen.

Vielleicht wäre genau das besser für sie beide, aber in Ryon hallten, trotz der Gewissensbisse immer noch die Worte ‚noch nicht‘ wieder. Nein, er wollte noch nicht und er würde auch nicht. Er könnte es auch nicht einmal. Dafür war er sowohl geistig als auch körperlich zu schwach.

Ryon schloss für einen Moment lang die Augen, um sie auszuruhen. Immerhin war die Aktion, sie hier her zu bringen, ganz schön an die Substanz gegangen, was fast schon lächerlich war. Weil er in normal gesundem Zustand, Paige nicht nur locker vom Bad ins Schlafzimmer hätte tragen können, sondern mit Garantie auch ohne Probleme auf das Bett bekommen hätte.

„Paige … wir beide sind müde … lass uns alles andere auf später verschieben, okay…? Sehr viel später…“

Seine Worte waren gegen Ende hin immer leiser geworden und obwohl er darum kämpfte, gelang es ihm nicht mehr, seine tonnenschweren Augenlider zu heben. Sie blieben fest verschlossen, dennoch sah er immer noch Paiges Gesicht auf seiner Netzhaut. Ein Bild, das langsam verblasste, ihn jedoch sehr entspannte.

Im bereits halb schlafenden Zustand legte er seinen Arm wieder richtig um Paige und vergrub seine Finger in ihrem seidig weichem Haar.

Während er instinktiv dem Duft ihres Körpers folgte, der sich für ihn sehr sicher anfühlte, seufzte er leise und zufrieden, ehe er in tieferen Schlaf sank und sich seine Gesichtszüge nun vollends entspannten.
 

Paige gähnte so heftig in die Decke, dass sie Ryons erste Worte gar nicht mitbekam. Aber als sie seine geschlossenen Augen sah, sein Gesicht, das sich immer mehr entspannte... Da wusste sie auch so, dass sie ganz seiner Meinung war.

Ebenfalls müde schloss sie die Augen und kuschelte sich noch etwas bequemer in die Decke, bevor sie ein weiteres Mal gähnte.

Allerdings ließ Ryons Hand auf ihrem Nacken sie noch einmal die Augen aufreißen. Überrascht und auf eine unerklärliche Weise abwartend sah sie ihn noch einmal an. Aber es war alles, was er tat. Ryon nahm sie in den Arm und war wohl keine zwei Atemzüge später eingeschlafen. Ersteres hätte Paige selbst nach all den Strapazen der letzten Nacht und seinem Verhalten in den letzten Minuten beileibe nicht erwartet.

Aber wehren würde sie sich garantiert nicht. Stattdessen kuschelte sie ihren Kopf mit einem zufriedenen Lächeln in das große Kissen und gleichzeitig an Ryons Hand, während sie wieder die Augen schloss.

Ryon war ohnehin nicht in dem Zustand, dass ihre Suche weitergehen konnte. Und selbst wenn, er hatte so Recht: Es konnte warten!
 

Ein leises Klopfen und eine Stimme in gebrochenem Englisch ließen Paige hochschrecken. Den Lichtverhältnissen nach musste es früher Nachmittag sein. Vielleicht auch schon später. Auf alle Fälle hatten sie Glück gehabt, dass die Putzfrau nicht schon früher aufgetaucht war, um das Zimmer zu säubern.

Schnell aber dennoch so vorsichtig wie möglich zog sie ihren Arm von Ryons Seite und kämpfte sich aus der Decke. Noch bevor sie richtig auf den Füßen war, hörte sie den Mechanismus der Schlüsselkarte.

Mein Gott, wenn die Angestellte das Bad sah, würde sie höchstwahrscheinlich in Ohnmacht fallen!

Noch bevor die Tür ganz offen war, hatte Paige sich ins Sichtfeld der kleinen Frau mit Kopftuch geworfen, um auch Ryon auf dem Boden einigermaßen vor deren Blick abzuschirmen. Was allerdings, dem amüsierten Lächeln der Dame nach, nicht ganz gelang.

"Entschuldigung, entschuldigung.", meinte die Frau grinsend und erst jetzt wurde Paige bewusst, wie zerzaust sie selbst aussehen musste.

"Kein Problem. Aber Sie brauchen das Zimmer heute nicht sauber zu machen. Es ist alles in Ordnung, danke."

Ein zuckersüßes Kichern, das ihr mit einer derartigen Herzlichkeit entgegen sprang, dass Paige selbst nicht anders konnte, als zu Grinsen, machte die kleine Frau sehr sympathisch.

"Sie wollen frische Handtücher? Alte einfach auf Boden."

Paige merkte, wie sie von einer Sekunde auf die Andere zuerst bleich und dann rot wurde. Bis sie langsam begriff, was gemeint war.

"Ja, ja, vielen Dank. Wir werfen die benutzen Handtücher einfach auf den Boden. Dann können Sie sie Morgen mitnehmen."

Mit vielen 'Danke' verabschiedete Paige die Frau, brachte die frischen Handtücher ins Zimmer und legte sie auf dem völlig verschobenen Bett ab, neben dem Ryon immer noch lag. Von außen sah das Ganze bestimmt allein ohne den Anblick des Badezimmers ziemlich wild aus.

Bei dem Gedanken, was wohl jeder zuerst denken würde, musste Paige noch mehr grinsen.

Als ob sie jemals mit Ryon..!

Am liebsten hätte sie schallend gelacht.

Stattdessen griff sie sich das Telefon, das noch wacker auf dem Nachttisch stand und setzte sich neben Ryon auf den Fußboden. Sie hob bereits den Hörer an und wählte die Nummer des Zimmerservice, als sie fragte: "Irgendwelche Sonderwünsche? Ansonsten bestelle ich einfach einmal die Karte rauf und runter. Ich habe einen Bärenhunger!"
 

Als heftig Bewegung in die Person neben ihn kam, fuhr auch Ryon hoch. Allerdings weniger schnell, dafür aber umso träger und langsamer.

So schnell aus dem tiefsten Schlaf seines Lebens gerissen zu werden, musste er erst einmal verarbeiten. Weshalb er auch nicht einmal mit einem halben Ohr, dem Gespräch an seiner Zimmertür lauschte, sondern sich stattdessen die Augen rieb.

Nachdem er so weit war, sich langsam aufzusetzen – erstaunlicherweise gelang ihm das sogar schon beim ersten Versuch – war Paige bereits wieder bei ihm, mit dem Telefon und einer verschnörkelten Karte in der Hand. Die Speisekarte, wie sie ihm sofort zu verstehen gab.

„Alles bis auf Meeresfrüchte und Junge. Also kein Lamm, Kalb oder dergleichen.“ Ansonsten konnte er das mit dem Bärenhunger nur teilen. Bis dahin könnte er aber auch einen ganzen See leer trinken. Sein Hals war so unglaublich trocken.

Während Paige den Zimmerservice anrief und Ryon immer noch das Gefühl hatte, irgendwie hinter her zu hinken, da er so schnell aus dem Schlaf gerissen worden war, schielte er immer wieder zur Minibar hinüber. Allerdings schien ihm der Weg bis dorthin viel zu weit zu sein.

Aus gutem Grund vertraute Ryon seinen Beinen immer noch nicht, obwohl er inzwischen so weit erholt war, dass er von alleine aufrecht sitzen konnte, ohne sofort wieder einen Schwindelanfall zu bekommen.

Aber so richtig erholen, würde er sich erst wieder, wenn er genug getrunken und gegessen hatte. Bis dahin, kostete alles nur unnötig Energie, die er seinem Körper nicht zuführen konnte.

Also blieb er sitzen, rieb sich noch einmal über die Augen, um auch das letzte Sandkörnchen daraus zu entfernen und betrachtete Paige dabei, wie sie die ganze Menükarte dem unbekannten Teilnehmer am anderen Ende der Telefonleitung herunter rasselte.

Ihre Haare waren ungefähr genauso zerzaust wie seine. Ihre Klamotten schienen noch nie ein Bügeleisen gesehen zu haben, aber wenigstens sahen sie inzwischen wieder trocken aus.

Ein schmunzelnder Zug lag immer noch um ihren Mund, obwohl er nicht so recht verstand, weshalb er dort war. Allerdings entspannte das die Situation sehr. Weshalb er sie auch weiterhin fasziniert ansah, obwohl es eigentlich nichts gab, was er nicht schon einmal in ihrem Gesicht gesehen hätte. Oder vielleicht doch?

Hätte man Ryon vor ein paar Tagen gesagt, dass er einmal hier in Ägypten mit Paige neben seinem Bett auf dem Boden sitzen würde und er ihr dabei zu sah, wie sie voller Elan für sie beide Essen für eine ganze Armee bestellte, er hätte es nicht geglaubt. Genauso wenig, wie er glauben würde, dass er – ohne es zu wissen – diesen fröhlichen Zug um ihren Mund erwiderte. Wenn auch in äußerst abgeschwächter Form. Aber das flüchtige Lächeln war da, ehe er geistesabwesend den Blick senkte, um sich und seine eigenen Klamotten zu betrachten. Er sah noch schlimmer aus, als sie.

Doch wenigstens überzog ihn nun wieder ein leichter Schweißfilm, obwohl er sicher bei weitem noch nicht genug getrunken hatte. Allerdings konnte das dennoch als ein gutes Zeichen gewertet werden. Das Schlimmste war überstanden und das spürte er auch.

Wieder vollkommen ernst, suchte er nach der Fernbedienung für dieses Zimmer, die nicht nur den Fernseher einschalten konnte, sondern auch so manch andere Dinge. Halb unter dem Bett fand er das kleine silberne Gerät, so dass er sich nur zu strecken brauchte, während er sich auf einem Arm abstützte.

Als er endlich die Bedienung in der Hand hatte, musterte er noch interessiert die vielen Knöpfe, bis er schließlich einen davon drückte und abwartete, was passierte.

Über ihm machte es ein leises Klicken und schon ging der Deckenventilator an.

Eine kühle Brise wehte über seine Haut und ließ ihn einen Moment lang völlig vergessen wo er war. Stattdessen lehnte er sich mit dem Rücken an das Bett, den Kopf im Nacken und die Augen geschlossen.

Oh ja, das tat so wahnsinnig gut!

Die Fernbedienung landete in seinem Schoß, als er sie einfach fallen ließ, um die Knöpfe seines Hemds mit leicht zittrigen Bewegungen zu öffnen. Jetzt, da es staubtrocken war, war es nur noch ein Teil mehr, dass bei ihm die Hitze staute, die trotz allem immer noch spürbar da war.

Als der Stoff von seinen Schultern rutschte und der Wind ungestört über den Schweißfilm seiner Haut streichen konnte, hätte er beinahe zufrieden geseufzt, da fiel ihm mit einem Mal Paige wieder ein, die er in diesem Augenblick völlig ausgeblendet hatte.

Um nicht auch noch irgendeine verräterische Bewegung zu machen, die deutlich zeigen würde, dass ihn seine Aktion vor ihren Augen durchaus beschämte, obwohl er als Mann damit eigentlich keinerlei Probleme haben dürfte, hielt er die Augen geschlossen, um sie nicht ansehen zu müssen.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut das tut.“, versuchte er zu erklären, während seine Ohren förmlich glühten.

Wie schon einmal erwähnt, obwohl er ein Gestaltwandler war, war er es nicht gewöhnt, halb nackt vor anderen Menschen herum zu laufen. Dort wo er herkam, hatte man ihn dazu erzogen, immer korrekt gekleidet aufzutreten und bei den Wetterverhältnissen seines Heimatortes wäre man auch lebensmüde gewesen, hätte man so viel nackte Haut gezeigt. Zumindest außerhalb der sehr kurzen Sommermonate.
 

Ohne im Geringsten darauf zu achten, tat Paige das einzig Natürliche, als sie Ryons leicht gehobene Mundwinkel sah. Sie grinste strahlend zurück und war im gleichen Augenblick schon wieder damit beschäftigt weiter zu bestellen. Der freundliche, aber leicht überforderte Herr am anderen Ende der Leitung schien eifrig mitzuschreiben, während Paige versuchte in den Worten der Speisekarte so viel zu erkennen, dass sie Ryons Vorbehalten entsprechen konnte. Zwar waren die einzelnen Gerichte mit englischen Angaben der Zutaten versehen, aber manche waren so wörtlich übertragen worden, dass Paige nicht schlau daraus wurde. E

in Gericht bestellte sie vor allem gerade deshalb, weil sie keinen blassen Schimmer hatte, was sie bekommen würde. Es hörte sich exotisch an, konnte aber genauso gut ein Omelette sein. Sie würden es sehen.

Zum Schluss bestellte sie zwei Liter Wasser und Saft. Wenn man bedachte, was Ryons Körper mitgemacht hatte, würde er erstmal sämtliche Reserven auffüllen müssen. Und sie selbst hatte auch Durst.

Erst als der Deckenventilator anging, sah Paige überrascht nach oben und bedankte sich dann bei dem netten Bediensteten des Hotels, bevor sie auflegte.

"Ist der von selbst..?"

Kurz zuckte Paige zusammen und musste sich selbst daran erinnern, dass Ryon trotz seines schlechten Verhältnisses zu seinem Tiger ein Wandler war.

Er entsprach normalerweise so selten dem Bild, das sie von Gestaltwandlern hatte, dass er sie gerade kalt erwischt hatte. Damit, dass er sich so mir nichts dir nichts vor ihr das Hemd ausziehen würde, damit hätte sie nun am allerwenigsten gerechnet.

Eigentlich riss sie sich sehr am Riemen, versuchte nicht zu starren und auch keinen Kommentar auf seine Worte fallen zu lassen. Immerhin konnte er damit mehrere Dinge meinen.

"Doch, kann ich.", meinte sie schließlich schmunzelnd.

Um sich von dem Anblick der Bauchmuskeln loszureißen, die sie leider so gar nicht unbeeindruckt ließen, stand Paige schließlich auf. Das Essen war bestellt, auch Wasser würde geliefert werden und Ryon saß aufrecht. Etwas, das ihre Sorgen allmählich etwas verschwinden ließ und dafür sorgte, dass sie sich einen kurzen Moment um sich selbst kümmern konnte.

Mit wenigen Schritten war sie im Bad und vermied angestrengt den Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. Wahrscheinlich hätte sie sonst die kleine, noch unberührte Flasche Wasser nicht packen und sie Ryon bringen können.

"Ich stell dir das Wasser und das Glas hier hin. Bitte entschuldige mich kurz."

Damit ging sie ins Bad zurück und schloss die Tür hinter sich, um sich ein wenig frisch zu machen. Beim Anblick in den Spiegel musste sie tatsächlich ein wenig kichern, bevor sie ihr Gegenüber streng ansah.

"Du siehst furchtbar aus.", meinte sie natürlich nur halb ernsthaft. Schließlich konnte sie nichts für die immernoch recht dunklen Ringe unter den Augen und die zerzausten Haare. Und sie würde es auf jeden Fall wieder tun.
 

Erst als Paige das zweite Mal im Bad verschwunden und die Tür hinter ihr zugefallen war, öffnete Ryon langsam die Augen. Er sah zu der geschlossenen Tür hinüber, um sicher zu gehen, dass sie wirklich zu war, ehe er erleichtert aufatmete und sich rasch wieder gerade aufsetzte. Hastig versuchte er sich wieder in die Ärmel seines zerknitterten Hemdes zu zwängen, ehe er an der Knopfleiste herum nestelte, um es wieder ganz zu schließen.

Es war nicht so, dass er sich hier für irgendetwas zu schämen bräuchte, immerhin war er keine Frau und trug somit kein besonderes Statussymbol vor sich her, dennoch war da dieses deutliche Unbehagen gewesen. Dabei hatte er nur einen flüchtigen Moment lang vergessen, dass Paige ganz in der Nähe war und ihn somit sehen könnte.

Frustriert vergrub Ryon sein Gesicht in seinen Händen und seufzte leise. Vermutlich machte er gerade aus etwas total Banalem ein Drama.

Paige war sicherlich die letzte Frau, die an ihm Interesse zeigen würde, das hatte sie früher oft genug klar gemacht. Immerhin hatte er nicht umsonst die kleine Narbe in seiner rechten Handinnenfläche und wenn man auch noch die Rückreise von Paris dazu rechnete, konnte er froh sein, dass sie ihm überhaupt geholfen hatte. Sie hätte ihn auch ohne weiteres einfach verrecken lassen können, doch das hatte sie nicht getan…

Wieder hob Ryon den Blick, sah das dunkle, auf Hochglanz polierte Holz der Tür an, das sie beide voneinander trennte und war sich genau in diesem Augenblick bewusst, dass seine Gnadenfrist nun endgültig abgelaufen war.

So sehr er es nach all diesen einsamen Jahren auch genossen hatte, umsorgt, gehalten und verwöhnt zu werden, genau deshalb musste das alles nun ein Ende haben. Denn es hatte ihm einfach zu gut gefallen und genau das durfte es nicht.

Sein schlechtes Gewissen, das Gefühl Marlene betrogen zu haben, diese wohltuende Nähe durch Paige, das alles war so neu und zugleich auch sehr verwirrend. Niemals hatte er je das Gefühl gehabt, seine Gefährtin zu betrügen. Niemals hätte er auch nur den geringsten Anlass dazu gehabt, etwas zu tun, das ihr weh tun könnte und doch war gerade jetzt, da sie schon seit Jahren nicht mehr sein Leben mit ihm teilte, dieses Gefühl so stark, dass es ihm beinahe Angst machte.

Vielleicht waren die Umarmungen, die Streicheleinheiten und der Trost noch vertretbar gewesen, als er krank und verwirrt gewesen war und er die Schmerzen nicht hatte anders ertragen können. Doch nun war er auf dem Weg der Besserung. Er konnte ihr einfach nicht mehr nahe sein. Selbst wenn er das alles nur im Lichte der Freundschaft betrachtete, es konnte und durfte nicht sein. Alleine schon wegen der Tatsache, je enger er sich an Paige band, je größer würde auch der Verlust sein, wenn sich ihre Wege wieder trennten.

Nein, noch einmal könnte er es nicht ertragen. Sein Herz musste kalt bleiben. Sein Verstand berechnend. Nur so konnte er weiter machen, wie bisher. Nur so konnte er sich selbst am Leben erhalten und einen Tag nach dem anderen überstehen. Wenn schon nicht für sich, dann doch wenigstens, um derjenige zu sein, der Marlene und ihre Tochter bis zu seinem Lebensende niemals vergessen würde. Er würde ihr Andenken weiter tragen, bis auch seine Zeit gekommen war. Alles andere war nur eine Fußnote in seinem beschissenen Leben. Auch Paige machte da keine Ausnahme, denn sie würde schließlich sein Leben verlassen, sofern sie beide überhaupt so weit kamen.

Es klopfte an seine Zimmertür und eine Männerstimme kündigte das bestellte Essen an. Paige war noch nicht wieder aus dem Bad zurück gekommen, weshalb sich Ryon zusammen riss, um selbst an die Tür gehen zu können.

Obwohl es so aussah, als hätte hier jemand wilde Dinge nicht nur im Bett sondern auch auf dem Boden getrieben, ignorierte Ryon diese Tatsache einfach. Stattdessen kämpfte er sich hoch.

Seiner reinen Willenskraft war es zu verdanken, dass er überhaupt auf die Beine kam, allerdings würde dieser Zustand nur wenige Augenblicke anhalten, weshalb er keine Zeit verlor. Stattdessen wankte er wie ein Schiff bei hohem Wellengang zur Tür, öffnete sie und ließ den Angestellten samt einer ganzen Wagenladung voller duftendem Essen eintreten.

Während der Mann den Wagen ins Zimmer schob, lehnte Ryon in lässiger Manier neben der Tür an der Wand und suchte unauffällig in seiner Jacke, die er über einen Stuhl neben der Tür gehängt hatte, nach Trinkgeld.

„Lassen Sie den Wagen bitte einfach hier. Den Rest bewerkstelligen ‚wir‘ schon alleine.“

Da das Zimmer ohnehin Bände sprach und sein eindeutiger Tonfall auch noch dazu bei trug, dieses Bild zu unterstützen, lächelte der junge Mann freundlich und bedankte sich großzügig über das gute Trinkgeld, ehe er sich auch schon wieder aus der Tür schob und Ryon alleine ließ.

Keinen Moment später sackte er auch schon an der Mauer entlang zu Boden. Seine Beine fühlten sich wie Gelee an und hatten auch ungefähr die gleiche Tragfähigkeit.

Eine Schweißperle lief seine Schläfe hinab, die er sich aber rasch mit dem Ärmel seines zerknitterten Hemds fort wischte. Sein Atem ging schnell und flach, während helle Lichter vor seinen Augen tanzten.

Nach und nach ließ das Schwächegefühl wieder etwas von ihm ab, aber wenn er nicht bald etwas zu Essen bekam und auch ausreichend trank, konnte er sich gleich die Kugel geben.

In diesem Zustand war er absolut nicht zu gebrauchen und das war kein sehr schönes Gefühl. Ganz im Gegenteil, es machte ihn allmählich wütend.

Bevor er allerdings einem so starken Gefühl nachgeben konnte, machte er dem Ganzen endgültig ein Ende. Er schob die altvertraute Maske wieder über seine Gefühle und musste feststellen, dass es sich anfühlte, als würde man in altvertraute, eingelaufene Turnschuhe schlüpfen, nachdem man sich einen ganzen Abend lang in neuen und schicken Ausgehschuhen die Füße wund gescheuert hatte. Zwar sahen sie gut aus, machten was her und sorgten auf alle Fälle für Abenteuer, aber letztendlich war es eine schmerzhafte Erfahrung, die man nur zu gerne wieder gegen die altgewohnte Langeweile eintauschte.

Ryon fühlte sich inzwischen einfach wohler damit, nicht ständig mit seinen Gefühlen konfrontiert zu werden und damit umgehen zu müssen. Manchmal, aber nur manchmal, war es ihm einfach lieber, gar nichts zu empfinden. Dass der Tiger ihn inzwischen auch von sich aus in Ruhe zu lassen schien, machte die Sache nur noch einfacher. Wenn es auch mehr als seltsam war.

Da nun allerdings sein Gefühlsleben nur noch gedämpft zu ihm durchdrang, begann sein Verstand wieder in zielgerichteten Bahnen zu arbeiten.

Das Erste, was nun wichtig war, war wieder zu Kräften zu kommen. Sonst konnten Paige und er ohnehin nicht dem nachgehen, weshalb sie in Wirklichkeit in Ägypten waren. Vielleicht ließ sich seine Genesung und die Suche ja verbinden. Immerhin hatte er Namen von Orten und Personen in dem Buch, das Paige ihm gegeben hatte. Zusammen mit dem Internetanschluss und seinen Fähigkeiten auf dem Computer, würde sich bestimmt ein weiterer Hinweis auf dieser Schnitzeljagt ergeben. Außerdem war da auch noch seine Begleiterin. Es ließ sich nicht leugnen, dass sie ihm bisher eine große Hilfe gewesen war. Vor allem, was ihn selbst anging.
 

Im Gegensatz zur vergangenen Nacht ging Paige schon fast andächtig mit den kleinen Pröbchen, Utensilien und Ryons Sachen um, als sie versuchte im Badezimmer einigermaßen Ordnung zu machen.

Die Handtücher würden Morgen, wenn die nette Dame von der Putzkolonne wieder kam, schon trocken sein und daher nicht weiter auffallen. Davon, dass sie gleich alle auf einmal gebraucht hatte, würde sie sich bestimmt nicht irritieren lassen.

Alles fand irgendwo einen einigermaßen ordentlichen Platz, bevor Paige mit dem trockensten Handtuch, das sie finden konnte die paar übrigen Wasserpfützen zusammen wischte und anschließend alle Tücher über den Rand der Badewanne zum Trocknen aufhängte. Immerhin sollte Ryon sich hier in ein paar Stunden, wenn er wieder auf kräftigen Beinen stand, auch bewegen können, ohne auf Mini-Seifenpäckchen oder Ähnliches zu treten.

Nur gedämpft nahm sie Stimmen aus dem Nebenraum wahr und dachte sich erst etwas dabei, als die Tür zum Flur sich schon wieder geschlossen hatte. Mit einem lauten Geräusch ließ sie Ryons Zahncreme ins Waschbecken fallen und war so schnell wieder im Zimmer, wie sie konnte.

Dass ihr Blick nicht sofort auf ihm landete, als sie ihn auf die Stelle richtete, an der Ryon gerade noch gesessen hatte, schlug ihr Herz schneller. Und als sie um die Ecke lugte und ihn auf dem Boden neben der Tür an die Wand gelehnt sitzen sah, wurde es auch nicht besser. Er sah schon wieder blasser aus. Und seine Atmung zeugte ebenfalls von Überanstrengung.

„Ich hätte doch aufgemacht.“, meinte sie etwas auf den Schlips getreten und schnappte sich noch die Wasserflasche vom Fußboden, bevor sie zu ihm hinüber ging.

„Hier, trink das, du siehst -“

Etwas in ihr drin schrie auf.

Vor Überraschung oder mehr so einer Empfindung wie Entsetzen, konnte Paige nicht sagen. Die Gefühle schienen in diesem Moment viel zu nah nebeneinander zu liegen. Vielleicht war es auch beides, was sie spürte, als ihr Ryons Aura mit der für sie bereits verdrängten Eiseskälte entgegen schlug.

Eine Gänsehaut krabbelte ihre Unterarme hinauf und legte sich für wenige Sekunden über ihren gesamten Körper, bevor sich Paige wieder im Griff hatte.

„Du siehst durstig aus.“, beendete sie den angefangenen Satz und stand dann aus ihrer kauernden Position auf, um sich um das Essen zu kümmern, das inzwischen bereits eingetroffen war.

Paige konnte ihr Spiegelbild, das sich gebogen und verzerrt in den Abdeckhauben auf dem Speisewagen zeigte, nicht belügen. Sie hatte sich hauptsächlich deshalb umgedreht, weil sie es nicht sehen wollte.

Nach dieser Nacht voller Strapazen, aber auch gegenseitigem Näherkommens war es einfach zu überraschend gekommen. Noch wollte sie diese furchtbar leeren Augen nicht sehen. Sie wollte nicht glauben, dass das vorhin nur...

Und dabei hatte sie sich selbst noch davor gewarnt.

„Zweite Wahl“, murmelte sie unhörbar vor sich hin, bis sie sich innerlich straffte und eine der riesigen Platten an beiden Griffen anhob und sie mitsamt der Haube vor Ryon auf dem Boden abstellte.

Dafür, sich an den Tisch im leicht abgegrenzten Bereich des großen Raumes zu setzten, war Ryon noch zu schwach. Dass er es an die Tür geschafft hatte, war das reinste Wunder.

Paiges Mund fühlte sich gleichzeitig fusselig und pelzig an.

Jedenfalls so, als wolle er ihrem Bedürfnis nach Kommunikation nicht Folge leisten. Er wollte sich so sehr gegen die neue und zugleich gewohnte Situation sperren, wie der Rest von ihr. Aber es half ja nichts. Und es war nicht das erste Mal, dass sie sich zurück nahm.

„Wollen wir einfach mit dieser Platte anfangen? Oder soll ich alle runter stellen, damit wir mehr Auswahl haben?“
 

Es ließ sich nicht leugnen.

Als Paige ins Zimmer gerannt kam, vermutlich weil sie mitbekommen hatte, wie Ryon dem Boden wieder gefährlich unelegant näher gekommen war, da verspürte er reflexartig den Drang, sie zu beschwichtigen. Ihr mitzuteilen, dass alles in Ordnung sei und sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, doch ein Blick in ihr Gesicht und er senkte sofort schweigend den Kopf.

Obwohl auch sie ihn nicht lange genug angesehen hatte, damit sich ihre Augen begegnen konnten, so wusste er doch, was er gesehen hätte. Nämlich sich selbst. Kalte, schwarze, seelenlose Augen, in denen nicht ein einziger Funken von Gefühl glimmte und genau das hatte sie gespürt.

Deswegen hatte sich ihr Körper einen Moment lang versteift und waren ihre Worte mitten im Satz abgebrochen. Er hatte sie überrascht. Kein Wunder, nach alle dem, was sie in den letzten Stunden so alles von ihm mitbekommen hatte. Aber eigentlich war es trotz allem nicht anders zu erwarten gewesen.

Auch Paige schien das zu wissen, denn sie reichte ihm das Wasser und beendete ungerührt den begonnenen Satz, ehe sie sich abwandte, um ihm eine Platte voller Essen vor die Füße zu stellen.

Ein schwaches Gefühl von Schuld flammte in ihm auf, wurde aber sofort von seinem Verstand niedergekämpft. Er schuldete niemanden etwas. Zumindest nicht, was sein Gefühlsleben anging.

Bevor Ryon antwortete, öffnete er die Wasserflasche, wobei er all seine Kraft aufwandte und trotzdem kurz davor war, einfach aufzugeben, da er den Deckel so schwer aufbrachte. Danach nahm er einen kräftigen Schluck, um seinen Mund wieder richtig zu befeuchten, damit ihm das Sprechen etwas leichter fiel.

„Nein, das Essen wird sowieso nicht überleben. Warum wählerisch sein? Setz dich doch … bitte.“

Ryon stellte die Flasche neben sich auf den Boden, lehnte sich nach vor und griff mit beiden Händen nach der Abdeckung der Platte, um von vornherein genug Kraft anwenden zu können. Die Aktion mit der Wasserflasche war schon schlimm genug gewesen. Er wollte sich nicht auch nicht mit einem deutlichen Beweis seiner fehlenden Kräfte den Rest geben. Paige wusste zwar, dass er geschwächt war, aber wie schwach, das wollte er ihr nicht auch noch unter die Nase reiben. Obwohl sie das sicher verstanden hätte.

Nachdem das Geheimnis der Speise vor ihnen erst einmal gelüftet und der Duft in seine Nase gedrungen war, vergaß er einen Moment lang all die Dinge, die in seinem Kopf herum schwirrten. Er starrte einen Augenblick lang das köstlich aussehende Essen an, ehe er seine Gabel nahm und mit zitternder Hand ein Stück Truthahnfleisch mit Soße aufspießte, nur um es sich dann nach einem ‚guten Appetit‘ in den Mund zu schieben und genüsslich zu kauen.

In diesem Moment war er vollkommen selig und milde gestimmt, während er seine Augen halb schloss und sich den Geschmack auf der Zunge zergehen ließ.

Natürlich war Tylers Küche nicht zu verachten, ganz im Gegenteil, aber Ryons letzte Mahlzeit schien schon Ewigkeiten her zu sein, weshalb ihm das hier wie das reinste Festmahl vorkam, wobei es das vermutlich auch war.

Doch trotz allem, er war auch verdammt hungrig, weshalb die Platte schnell leer war, während sie in der Zwischenzeit kein einziges Wort gewechselt hatten.

Erst als Ryon seinen schlimmsten Hunger bezwungen hatte, schnappte er sich wieder die Wasserflasche und lehnte sich zurück an die Wand.

Er trank in ausgiebigen Schlückchen und hatte dabei das Gefühl, er wäre ein Fass ohne Boden. Schließlich war die Flasche leer, aber er würde noch lange nicht genug getrunken haben. Doch für den Augenblick brauchte er eine Pause.

So energiebringend das Essen auch war, es zu sich zu nehmen war ebenfalls anstrengend, weshalb er nicht wieder die Gabel zur Hand nahm, sondern stattdessen seine Hand flach auf den Bauch legte und endlich wieder den Blick anhob, um Paige anzusehen.

„Ich danke dir.“, durchbrach er überraschend sanft für seinen derzeitigen Zustand die Stille.

Auch wenn es bei weitem emotionsloser klang, als seine Worte gestern kurz vorm Einschlafen, so gelang es ihm nicht vollkommen das Gefühl seiner aufrichtigen Dankbarkeit in sich nieder zu ringen. Das spiegelte sich auch in seinem Tonfall wider.

„Ich danke dir für alles. Nicht nur für das Essen und den Service, sondern auch für deine Pflege und…“

Ryon suchte nach den richtigen Worten, die beschreiben könnten, was er nicht zu fühlen versuchte. Eine schwierige Situation.

„…und für deine Umsicht. Ich kann mich nicht an alles erinnern, aber … bestimmt war ich ab und zu etwas … schwierig…“

So ganz ohne seine Beherrschung, würde ihn das zumindest nicht wundern.

Ryon fasste sich unwillkürlich an seine Stirn, dort wo er noch immer eine Beule spürte und sich Schorf auf seiner aufgeplatzten Haut gebildet hatte.

Bei manchen Momenten tappte er wirklich vollkommen im Dunklen. Nur Paige wusste, ob und wie er sich aufgeführt hatte. Hoffentlich war nichts dabei, wofür er eines Tages Rechenschaft ablegen musste.

„Ich hoffe, ich habe dir nicht zu sehr zugesetzt.“, fügte er noch leise hinzu, während er die Hand wieder herunter nahm und seine Finger betrachtete.
 

Paiges Appetit schien mit ihrem Hunger in entgegen gesetzte Richtungen zu laufen. Ihr Magen knurrte inzwischen beim Anblick der großen Platte mit allerlei Köstlichkeiten laut vor sich hin. Aber sie musste sich völlig dazu zwingen die zweite Gabel zu nehmen und sich irgendetwas zu essen auszusuchen.

Etwas, das so aussah, als könne man es sich in winzigen Stückchen nicht allzu auffällig hinunter zwingen. Denn irgendwie schien sich ihr Magen zugeschnürt zu haben.

Ryon war wieder der Alte.

Die Gabel drehte sich blinkend in ihren Fingern über einem Teller mit eingelegtem Gemüse, während sie nachdachte. Und dabei war es ganz einfach.

Er war schwer krank gewesen. Wegen des Hitzschlags nicht ganz bei Sinnen oder zumindest sehr viel angreifbarer als sonst. An seinen Augen hatte sie es ablesen können; sie hatten denen des Tigers ähnlicher gesehen, als denen des Mannes. Soviel Paige über Wandler wusste, waren ihre Gefühle sehr stark, wenn nicht vollkommen mit ihrem Tier verbunden. Also war es vielleicht auch nur er gewesen, der sich an Paiges Gegenwart gelabt hatte. Nach so einer langen Zeit ohne Beachtung, durchaus möglich.

Inzwischen kaute sie lustlos auf ein paar Tintenfischringen herum, die sie normalerweise sehr gerne aß, die heute aber hauptsächlich nach Gummi zu schmecken schienen. Aber dem Koch war deswegen kein Vorwurf zu machen. Das wusste Paige nur zu gut.

Dass ihr Magen sich so anfühlte, als hätte Ryon wortwörtlich eine Packung Eis hinein geschüttet, kam von der Erkenntnis, das es nur eine kurze Episode gewesen war. Genauso wie damals dieser kurze Moment in den Tunneln unter Paris.

Danach hatte Paige von Tennessey und Tyler erfahren, warum Ryon so war, wie er nunmal war. Und sie hatte eingesehen, dass er sich nicht ändern würde. Dass er sich gar nicht ändern konnte. Das lag so zu sagen in seiner Natur.

Ja, er hätte sie als zweite Wahl betrachten können. Aber nicht einmal das würde er tun. Marlene würde immer die Einzige sein.

Mit einem tiefen Atemzug sah Paige hoch. Eigentlich konnte man es als romantisch bezeichnen. Wenn die Tragik nicht in einem Maße überwiegen würde, der ihr bei dem Anblick dieser matten Augen fast das Herz zerriss. Den Ryon, den sie vor wenigen Stunden noch neben sich gehabt und im Arm gehalten hatte, den hätte Paige sehr gern haben können. Leider ließ er sie nicht.

Das zeigten seine nächsten Worte nur zu deutlich, in denen er davon sprach, dass er sich mit seinem Verhalten daneben benommen hatte. Wäre er ein Anderer, hätte er das vielleicht nicht so gesehen.

„Ich denke nicht, dass ich für meine 'Umsicht', wie du es nennst, Dank verdient habe. Du standest ziemlich neben dir...“

Bei den nächsten Worten sah sie ihm fest und tief in die Augen.

„Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, hättest du dich für dein Verhalten vor mir nicht schämen müssen.“

Mit ein wenig mehr Appetit aß sie die letzten Calamares auf ihrem Teller und fügte wie nebenbei etwas hinzu, das ihr allerdings viel wichtiger war, als es den Anschein machte.

„Außerdem würde ich etwas, von dem ich weiß, dass du es als Schwäche betrachtest, nie jemandem erzählen. Ich falle Freunden nicht in den Rücken.“

Als diese Tatsache ausgesprochen war, sah sie das als Startschuss für den zweiten Gang und holte diesmal gleich beide Platten zu ihrem Picknickplatz auf dem Teppich herunter. Denn unter einem der beiden Deckel musste sich der Nachtisch verstecken.
 

Ryon blickte sein Gegenüber eine ganze Weile schweigend an. Weder aß er etwas, noch rührte er sich, stattdessen ließ er sich Paiges Worte stumm durch den Kopf gehen, während er sie beobachtete.

Bevor sie sich unter seinen intensiven Blicken jedoch unwohl fühlen konnte, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Essen, allerdings ohne etwas erkennen zu können. Seine Gedanken waren weit fort, was sich in der Reglosigkeit seines Körpers widerspiegelte.

Als sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie Freunden niemals in den Rücken fallen würde, da hatte sich sein Puls leicht beschleunigt, sein Herz schlug etwas schneller und ein Gefühl rauschte ihm durch die Adern, das er letztendlich als Freude bezeichnen konnte. Ja, obwohl er es nicht empfinden wollte, verspürte er dennoch den Widerhall seiner Freude darüber, dass sie ihn ebenfalls als Freund ansah. Das war so viel besser, als lediglich Partner zu sein und doch wusste er, dass genau das der erste Schritt ins Verderben sein könnte. Begann nicht jeder Verlust mit einem Gewinn?

„Ich danke dir trotzdem.“, fügte er schließlich nach einer Ewigkeit hinzu, bevor er wieder lustlos seine Gabel zur Hand nahm und sich sorgsam das nächste Stückchen aussuchte. Banane in Schokoladencreme.

„Gerade weil du mich in einer Ausnahmesituation erlebt hast, in der ich nicht mehr für mich alleine sorgen konnte, hast du dir mit deiner Fürsorge mein Vertrauen verdient. Ich bin froh, dass du da warst und eines sollst du wissen…“

Ryon hob den Blick, um nun Paige tief in die Augen zu sehen, so wie sie es getan hatte.

„…auch ich falle meinen Freunden nicht in den Rücken. Egal was passiert.“

Auch wenn die vergangenen Stunden sich niemals mehr widerholen durften, so wäre er doch immer für Paige da, so wie sie für ihn dagewesen war. Nicht etwa aus Pflichtbewusstsein, sondern weil er es von sich aus so wollte.

Selbst wenn er dabei Gefahr lief, sich eines Tages noch enger an diese Frau zu binden. Wenn es sein musste, würde er selbst das riskieren. Doch im Augenblick konnte er nur versuchen, die Grenzen zwischen ihnen wieder klar zu definieren, da sie sich stark verwischt hatten, als er ‚neben sich gestanden‘ hatte. Wie Paiges es so dezent ausgedrückt hatte.

Hoffentlich fand sie nie heraus, dass er sich an das meiste zwar undeutlich, aber dennoch erinnern konnte. Dass er jedoch lediglich nicht im Stande gewesen war, seinen Bedürfnissen Einhalt zu gebieten, da er sich so elendiglich gefühlt hatte, wie schon sehr lange nicht mehr und den Trost, wenn auch nur in diesen wenigen Stunden, hatte annehmen können.

Ein Teil in ihm sehnte sich immer noch danach. Wollte zurück zu dem Augenblick, als die Zeit und die Welt stehen geblieben war und er mit Paige im Arm hatte ruhig schlafen können. Aber dafür war es zu spät. Nie wieder durfte es so weit kommen, auch wenn es ihm schon jetzt bei dem Gedanken daran, den Brustkorb zuschnürte. Seine Gefühle konnte er einfach nicht mehr tief genug verdrängen, um sie ganz auszuschalten. Aber sie waren erträglich. Im Augenblick noch.

Da Ryon nicht wusste, was er dem Gespräch sonst noch hätte hinzufügen sollen, aß er still weiter, während er seine langsam zurückkehrenden Kräfte spürte.

Die Gabel in seiner Hand zitterte nicht mehr, so wie sie es zu Anfangs noch getan hatte. Vielleicht würde er jetzt sogar schon eine Flasche Wasser wieder problemlos öffnen können, aber diesen Versuch wollte er auf später verschieben. Erst einmal aß er sich so satt, dass nichts mehr hinein passen würde. Danach noch ein paar Stunden Schlaf, um die ganzen Kalorien umzuwandeln und die Welt würde schon wieder anders aussehen. Sie könnten sich also schon bald wieder ihrer eigentlichen Aufgabe widmen. Allerdings musste er dieses Mal wesentlich vorsichtiger sein, was die Hitze des Tages anging.
 

Paige sah erneut von ihrem Essen hoch und hoffte nicht so verwundert zu wirken, wie sie es war. Im übertragenen Sinne hatte sie ihm mit ihrer Aussage die Hand gereicht. Ohne allerdings zu wissen oder auch nur lange darüber nachzudenken, was sie als Reaktion erwartete. Ob er sie nun annahm oder wegschlug.

Mit seinen Worten hatte er, nach der Reaktion ihres Körpers zu urteilen, nicht nur ihre imaginäre Hand ergriffen, sondern sie sogar umarmt.

Es fühlte sich gut an, wieder zu lächeln. Nach dem Bangen, dessen Größe sie sich gar nicht eingestanden hatte, zu wissen, dass es nicht alles nur auf den Hitzschlag zurück zu führen war. Im Delirium hatte er Dinge getan, die er jetzt nicht noch einmal tun würde. Aber das hieß nicht, dass er es bereute. Zumindest hoffte Paige das inständig.

Wieder gut gelaunt, beugte sie sich über eine Schüssel mit Früchten.

„Ich mag kein Puddingzeugs. Schade, dass sie die Früchte darin ertränkt haben.“

Mit dem Servierlöffel, der grazil aus der kleinen Schale schaute, schob sie ein paar Äpfelstückchen hin und her und fand am Grund noch ein paar Feigen, die wenig von der Vanillesauce abbekommen hatten. Vorsichtig, um das nicht doch noch zu ändern, fischte Paige sie heraus und legte sie vorsichtig auf ihrem Teller ab, um dann noch kleine, heiße Teigbällchen und Schokoladenecken dazu zu legen.

„Backt ihr an Weihnachten eigentlich zusammen Plätzchen? Ich meine Tennessey, Tyler und du?“

Wie sie jetzt genau darauf kam, wusste sie selbst nicht. Vielleicht, weil sie die Schokoecken an eine ihrer Lieblingsplätzchensorten erinnerten.

„Ich backe normalerweise nicht besonders gern. Aber die vorweihnachtliche Zeit stürzt mich meistens in eine Backphase. Bei euch im Wald mit viel Schnee stelle ich es mir sehr gemütlich vor.“

Die Ecken schmeckten nicht annähernd so, wie sie der Form nach vermutet hatte. Was Paige wieder grinsen ließ. Aber sie waren nicht schlecht.
 

„Kein Problem. Ich mag Pudding.“

Weshalb er sich auch die Pudding verseuchten Früchte schnappte, die Paige nicht haben wollte. Immerhin konnten sie das Essen ja nicht verkommen lassen. Da war es nur praktisch, dass sie offenbar unterschiedliche Geschmäcker hatten. Zumindest die Tintenfischringe hätte er schon einmal absolut nicht angerührt.

Gerade als Ryon sich wieder halbwegs zu entspannen begann, da Paige gelächelt hatte und irgendwie alles etwas leichter zwischen ihnen geworden war, machte sie mit ihren nächsten Worten alles zunichte.

Sie konnte es nicht wissen, weshalb sie keine Schuld daran trug, aber wenn sie eine ehrliche Antwort von ihm wollte, dann würde sie leider damit leben müssen und gerade das wollte er vermeiden. Wo doch gerade für sie Weihnachten anscheinend auch eine besondere Jahreszeit war, wie für so viele andere Menschen auf dieser Welt.

Statt zu sagen, dass er Weihnachten hasste, gab er ihr daher eine weitaus weniger bittere Antwort.

„Ich habe seit sieben Jahren kein Weihnachten mehr gefeiert. Aber als ich früher noch mit Tyler zusammen gelebt habe, hat er jedes Jahr wie wild gebacken. Ich denke, diese Tradition wird er nicht fallen gelassen haben, jetzt wo das Haus wieder so … voll ist.“

Eigentlich hasste er nicht nur Weihnachten, sondern den ganzen Herbst und den Winter. Nicht nur, dass diese Jahreszeiten fürs Auge absolut trostlos und kalt waren, für ihn waren sie auch in seinem Herzen dazu geworden. Der Frühling war ihm dahingehend am liebsten.

Genau dann, wenn nach einem langen Schlaf wieder alles erwachte, konnte man hoffen, dass es im Leben auch einmal wieder gute Tage geben konnte. Der Tod war nicht endgültig. Der Frühling bewies das jedes Jahr aufs Neue, nur konnte Ryon nicht wirklich daran glauben.

„Außerdem backe ich nicht. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass das Feuer im Kamin nie ausgeht und immer genügend Holz da ist. Das war schon immer so. Seit ich eine Axt halten konnte, hat mich Tyler dafür eingeteilt.“

Vermutlich da Ryon weder so schnell kalt wurde, noch so schnell die Kräfte verließen.

Während er die Vanillesoße von einer Frucht sog, ehe er diese ebenfalls in den Mund steckte und kaute, fragte er sich, ob dieses Jahr Weihnachten vollkommen anders sein würde, als in den letzten Jahren.

Wenn Paige und Ai noch da wären, wäre vielleicht mehr los im Haus und wenn man bedachte, in welchem Monat die werdende Mutter war, könnten sie zu Weihnachten sogar ein weitaus größeres Geschenk bekommen, als man je kaufen könnte.

Allerdings wurde ihm alleine bei dem Gedanken daran, Ai könnte ihr Kind in seiner Nähe bekommen, ganz anders.

Natürlich hoffte er, sie wäre in Sicherheit, wenn es so weit war. Bestimmt würde Tyler nicht von ihrer Seite weichen, während Tennessey auf Mutter und Kind achtete und Paige sich ebenfalls um ihre Freundin kümmerte. Aber Ryons Rolle in diesem Fall war klar. Er würde mit Abwesenheit glänzen. So viel stand fest.
 

„Oh...“

Paige biss sich so stark auf die Zunge, dass ihr beinahe die Tränen in die Augen stiegen. Aber das 'verstehe', das sich nach diesem kleinen Wörtchen hatte aus ihrem Mund stehlen wollen, konnte sie so zumindest aufhalten.

Ryon wusste nicht, dass ihr sofort der Grund für seine Antwort wie ein elektrischer Schlag durch den ganzen Körper schoss.

Wahrscheinlich hatte sie Weihnachten gemocht. Wer tat das nicht? Gemütlich zu Hause auf dem Sofa zu sitzen...

Wie sie bereits gesagt hatte, so eingeschneit in dem großen Haus im Wald musste es sehr schön gewesen sein. Bestimmt vermisste er sie zu Weihnachten besonders...

Paige hätte sich für ihr unüberlegtes Geplapper am liebsten selbst geohrfeigt. Hätte sie sich doch wirklich denken können!

Wütend auf sich selbst legte sie die Gabel weg und räumte zwischen dem Geschirr herum, das sie beide auf der Platte und dem Teppichboden verteilt hatten.

Es sah wirklich nach einem ausgiebigen Picknick aus, für das sie der Besitzer des Hotels bestimmt gern vor die Tür gesetzt hätte. Kein Wunder, wenn man beispielsweise den Schokofleck neben ihrem eigenen Fuß mitten auf dem weißen Teppich bedachte.

„Ist auch eine blöde Idee. Weißer Teppich in einem Hotelzimmer...“, grummelte sie leise vor sich hin.

So in Gedanken versunken und bis zum Zerreißen konzentriert darauf nicht noch mehr Falsches zu tun oder zu sagen, bekam sie ihr Gegenüber gar nicht mehr richtig mit.

Erst als sie die kleinen Teller und Schälchen fein säuberlich auf die glänzende Platte zurück stellte, fiel ihr auf, dass sie die Unterhaltung schon fast rüde unterbrochen hatte.

Diesmal wagte Paige nicht wegen Ryons Emotionslosigkeit, sondern wegen ihres eigenen Unvermögens ihre ganz zu verstecken, ihm nicht in die Augen zu sehen.

„Naja, es gibt wohl auch wenig bessere Möglichkeiten das Haus im Winter zu heizen.“

Keine Äußerungen über gemütliches Ambiente. Kein Hinweis darauf, dass es bestimmt schön war, am Kamin zusammen zu sitzen. Sie musste sich zusammen reißen!

Und das nicht nur, weil sie Ryon vielleicht damit wehtun könnte. Irgendwo hatte die Pinzette in ihrem Inneren einen weiteren Ansatzpunkt gefunden. Es ziepte so sehr, dass Paige sich am liebsten an die Stelle gefasst und gerubbelt hätte, damit es aufhörte.
 

Auch wenn er nichts sagte oder andeutete, so spürte er doch Paiges plötzliche Unruhe, was auch noch durch ihr Handeln untermalt wurde. Sie begann damit etwas für Ordnung auf dem Boden zu sorgen, flüsterte sogar irgendetwas von einem Teppich, während er ihr dabei zusah und in Ruhe weiter die letzten Früchte aus seiner Schüssel aß.

Was auch immer sie dazu bewog, sich plötzlich so unwohl zu fühlen, dass sogar für ihn das sehr deutlich wurde, es machte ihn misstrauisch. Es gab bestimmt genug Menschen auf der Welt, die Weihnachten ebenfalls nicht feierten, aus ganz verschiedenen Gründen. Das konnte sie also nicht so sehr aus dem Konzept gebracht haben, dass Paige sich mit einem Mal so dringend mit irgendetwas beschäftigen musste. Aber was war es dann?

Ryon hatte ihr nie gesagt, weshalb er so war wie er war und würde ihr auch jetzt nicht den genauen Grund dafür nennen, weshalb er Weihnachten so sehr verabscheute, aber warum hatte er dann das Gefühl, dass sie über irgendetwas Bescheid zu wissen schien?

Mit einem seltsamen Prickeln, dass seine Wirbelsäule hinab lief, sah Ryon Paige einen Moment lang aus völlig neuen Augen an.

Einmal angenommen, sie wüsste einiges mehr, als er annahm, dann stellte sich doch die Frage, woher und weshalb sie es wusste.

Aber eigentlich war das wie und warum nicht so sehr wichtig in diesem Augenblick. Stattdessen fragte sich Ryon, ob es irgendetwas an ihrer Meinung über ihn ändern würde. Wenn er sich selbst als Außenstehenden betrachtete, dann müsste er sich als kalt und herzlos titulieren, da man an ihm nichts anderes erkennen konnte. So war es Paige sicher auch gegangen, bis er versucht hatte, sie auf seine Weise auf eine andere Bahn zu lenken. Damit sie erkennen konnte, dass er nicht das Monster war, das er vorzugeben versuchte, obwohl er im Grunde dennoch genau das blieb. Sein Tier war eine Bestie und er somit auch. Das ließ sich nicht leugnen.

Wenn Paige jetzt aber einmal rein hypothetisch betrachtet, wusste, was in ihm vorging, wie würde sie darüber denken?

Ryon konnte es nicht sagen, aber er wusste ganz genau, was er sicherlich niemals von ihr wollte … Mitleid.

Er hatte sich in seinem Leben schon oft genug selbst leid getan, so dass es andere nicht auch noch ebenso ergehen musste. Nein, Mitleid wäre das letzte, das er annehmen könnte und im Endeffekt hätte es auch nichts gebracht. Jemand wie er verdiente kein Mitleid, schon gar nicht von Außenstehenden.

Da das aber ohnehin alles nur reine Spekulationen waren, die im Grunde zu nichts führten, beließ er es dabei. Paige hatte nicht angedeutet, dass sie mehr wüsste, als er gewollt hätte, weshalb er auch keinen Sinn darin sah, dem weiter nachzugehen. Stattdessen versuchte er einfach die plötzlich angespannte Atmosphäre mit Gelassenheit zu überbrücken.

Gewissenhaft putzte er den Inhalt der Schüssel aus, ehe er sie auf eine andere stapelte und danach wieder nach seiner neuen Flasche mit Wasser griff.

„Selbst wenn uns das Holz ausgehen sollte, wir hätten es auf alle Fälle schön warm im Winter. Dafür sorgt die Erdwärme und die Fußbodenheizung im ganzen Haus. Das würde sich auch nicht ändern, wenn plötzlich der Strom ausfällt, da wir für solche Fälle einen Generator haben. Aber das ist bekanntlich auch nicht wirklich der Grund, weshalb wir den Kamin benutzen. Wie du schon sagtest, es ist … gemütlich.“ Was auch immer das noch für ihn bedeuten mochte. Vielleicht würde wenigstens dieses Jahr der Platz vor dem Kamin nicht leer bleiben. Das wäre doch zumindest ein Gedanke, an den man sich gewöhnen könnte.

Einen Moment lang herrschte Stille, während Ryon seinen Gedanken nach hing und immer wieder an dem Wasser nippte, da kam ihm plötzlich etwas in den Sinn.

So schnell, dass er gar nicht lange über seine Frage nachdenken konnte, bevor er sie auch schon stellte.

„Läufst du gerne Schlittschuh? Im Winter ist der See hinterm Haus immer so dick zugefroren, dass man darauf bedenkenlos gehen kann. Ich kann es also nur weiterempfehlen. So viel Platz für sich alleine hat man selbst in einer Eishockeyhalle nicht.“
 

Paige beantwortete die neue Frage nur allzu gern. So froh, wie sie darüber war, dass das Gespräch nicht ins Stocken geraten war oder er ihr an der Nasenspitze angesehen hatte, was sie dachte, musste sie wieder lächeln.

Und das, obwohl ihr das nächste Thema nicht wirklich so leicht über die Seele und die Lippen kam, wie sie es inzwischen gelernt hatte an Andere weiter zu geben.

„Als kleines Kind war ich öfter mal mit meiner Mutter Eislaufen. Sie war ziemlich gut und hat mir wirklich tolle Schlittschuhe gekauft. Solche, die man ganz fest binden kann, damit man nicht umknickt.“

Paige erinnerte sich inzwischen mit einem Lächeln daran. Erinnerungen musste man schätzen. Es war schön, dass man welche hatte.

„Ich befürchte aber, dass ich nicht sonderlich talentiert war. Später, allein, hab ich mir nicht die Mühe gemacht, besser zu werden. Und dann hab ich's irgendwann aufgegeben.“

Mit einem gedankenverlorenen Lächeln zupfte sie eine Weintraube aus einer Schüssel und dachte an den See hinter Ryons Haus. Dort hatten sie ihre Partnerschaft mit einem Handschlag besiegelt. Wenn sie jetzt daran dachte, dann erschien es Paige so, als wäre das schon Monate und nicht nur wenige Wochen her.

„Auf dem See ist es bestimmt schön. Aber schwieriger als auf einer gepflegten Eisfläche. Kannst du es denn gut?“
 

Das war wieder einmal einer der seltenen Momente, in denen Paige etwas von sich und ihrem Leben einbrachte. Allerdings wurde Ryon das erst jetzt so richtig bewusst, weshalb er sie auch aufmerksam ansah, während sie ihm von ihrer Mutter erzählte.

Was bedeutete es wohl, dass sie meinte, später hätte sie es alleine nicht mehr richtig weiter versucht?

Einmal hatte sie etwas von ihrem Vater erwähnt, allerdings war da eine deutlich andere Stimmung hinüber gekommen. So als hätte sie zu ihrer Mutter eine wesentlich bessere Beziehung gehabt.

Da Ryon nicht wusste, ob er näher auf sie und ihre Mutter eingehen sollte, beschloss er es vorerst bleiben zu lassen und sich stattdessen auf das eigentliche Thema zu konzentrieren.

„Eigentlich finde ich es nicht wesentlich schwieriger. Wenn man nichts anderes gewöhnt ist, fällt es wohl nicht besonders schwer, auf einer natürlichen Eisfläche zurecht zu kommen.“

Während er das sagte, versuchte er einzuschätzen, wie gut er Eislaufen konnte. Natürlich fielen ihm diverse Momente ein, an denen sein Hintern ganz schön etwas hatte mitmachen müssen, aber eigentlich hielten sich diese Stürze in Grenzen.

„Da wo ich herkomme, herrschen relativ raue Winter. Weshalb ich schon auf Eis zurecht kommen musste, bevor ich richtig gehen konnte. Bei mir waren es auch meine Eltern, die es mir beigebracht haben. Ich denke, ich bin gar nicht mal so schlecht. Zumindest schaffe ich es, nicht wie Bambi auf der Eisbahn auszusehen.“ Obwohl das bei seiner Größe schon ab und zu für einige Lacher gesorgt hatte. Immerhin konnte auch er nicht verhindern, manchmal hin zu fallen.
 

Paige überlegte, wie sie ihre nächsten Sätze formulieren sollte. Immerhin wusste sie ja, wie schlecht Ryon auf sein Tier zu sprechen war. Allerdings war Ryon nicht bewusst, wie genau sie es wusste. Aber er hatte aus ihren bisherigen Reaktionen und der Tatsache, dass er ihr nur ein einziges Mal im Pelz gegenüber gestanden hatte, schließen können, was sie dachte.

„Dann ist es tatsächlich so, dass deine Wandlergestalt deine Herkunft entspricht?“

Das machte bloß Sinn, aber dann drängte sich ihr die nächste Frage natürlich geradezu auf.

„Wie hat es dich dann auf unsere Insel verschlagen? Da du keinerlei Akzent hast, würde ich sagen, du bist recht früh von zu Hause weg... Sind deine Eltern dann auch in England?“

Paige war mit ihrer Vorgeschichte schon immer ein wenig neidisch auf diejenigen gewesen, die sich eine gesamte Familie erhalten konnten. Für sie wäre es niemals verständlich auf diesen Rückhalt zu verzichten, wenn man ihn denn wirklich ohne Weiteres in Anspruch nehmen konnte.
 

„Was mich und meine Natur angeht, hast du Recht. Ich komme nicht von der Insel, spreche aber deshalb nicht mit Akzent, da ich zweisprachig aufwuchs, da meine Eltern es für besser hielten, in einer Region zu leben, wo ich den Umgang mit vielen Menschen lernen konnte. Sie haben den Umzug schon geplant, da war ich gerade einmal ein paar Monate alt. Weshalb sie mir von Anfang an auch Englisch beibrachten. Als ich dann fünf war, sind wir schließlich umgezogen, damit ich etwas von der Welt sehen und daneben auch erstklassige Schulen besuchen konnte. Sie wollten mir trotz des Familienvermögens einen guten Start ins Leben mitgeben und mir die Möglichkeit bieten, Karriere zu machen, damit ich auch ohne das Geld auskommen könnte. Das war ihnen sehr wichtig, weil dort wo ich her komme, es dafür nur begrenzte Möglichkeiten gab. Inzwischen leben meine Eltern wieder in Russland. Genauer gesagt in einer abgelegenen Gegend im Amurgebiet. Weshalb die korrekte Bezeichnung auch Amurtiger lautet und nicht sibirischer Tiger. Aber daran nimmt von uns schon lange keiner mehr Anstoß.“

Warum auch? Ob so oder so, sein Tier blieb die größte Raubkatze der Welt. Das konnte man nicht schmälern.

„Als ich mit meinem Studium fertig war und … ausgezogen bin, war ihre elterliche Pflicht erfüllt. Natürlich hätte ich sie begleiten können, aber…“

Er zögerte, da es dafür sogar mehr als nur einen Grund gab.

„Ich hatte es mir schließlich anders überlegt.“

Seine Eltern hatten das natürlich akzeptiert. Immerhin liebten sie ihn bedingungslos und wollte nur, dass er glücklich war, selbst wenn das bedeutete, dass sie sich nur noch ein oder zweimal im Jahr sehen würden.

Doch inzwischen hatten sie nicht einmal mehr die Möglichkeit, sich bei ihm zu melden. Nachdem er alle Kontaktmöglichkeiten abgerissen hatte, um ihnen nicht zeigen zu müssen, was aus ihrem Sohn geworden war, hatte er nicht mehr versucht, sich bei ihnen zu melden. Sie wussten, er war am Leben, aber seine Abwesenheit war vermutlich weitaus besser, als seine Veränderung. Sie würden ihn kaum wieder erkennen.

Allerdings hielt diese Tatsache sie nicht auf, ihm jedes Jahr zu gegebenen Anlässen zu schreiben. Die Briefe landeten zuverlässig in seinem Postkasten, wo Tyler sie entgegen nahm und für ihn aufhob. Immerhin wussten sie sehr wohl, dass er ein Haus gebaut und eine Gefährtin gehabt hatte. Auch, dass Marlene tot war. Tyler hatte es ihnen nicht verheimlichen können, obwohl Ryon das lieber gewesen wäre.

Dennoch sah er keinen Grund dafür, die Briefe zu erwidern, nachdem er Jahrelang nicht einmal bei seinem Haus vorbei geschaut hatte, um überhaupt zu wissen, dass sie ihm geschrieben hatten. Es war einfach besser so.

„Nun ja, das erklärt zumindest, weshalb mir Kälte lieber ist als diese Hitze.“, fügte er noch hinzu, um das Thema zu beenden. Er wollte nicht länger über Familie sprechen. Zumindest nicht über seine eigene.

Als er sich sicher war, dass er nicht wie ein Baum im Wind schwanken würde, raffte er sich auf und war wirklich dankbar dafür, dass seine Kräfte durch das reichliche Essen schneller wieder zurückkamen, als angenommen. Es war zwar immer noch anstrengend, aber seine Beine fühlten sich schon kräftiger an.

„Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mich gerne duschen und mir frische Sachen anziehen. Trotz deiner Pflege fühle ich mich immer noch wie im Regenwald und vermutlich sehe ich auch genauso aus.“

Kein Wunder, dass seine tierischen Verwandten in den Tropen gerne schwammen. Ihr Fell war einfach nicht für die heißen Bedingungen geeignet, weshalb sie im kühlen Nass regelmäßig nach Abkühlung suchten. Er verstand dieses Bedürfnis in diesem Augenblick einfach nur zu gut. Außerdem fühlte er sich nicht wohl in den verknitterten Sachen, die er nicht nur vollkommen durchgeschwitzt hatte, sondern die auch immer wieder nass geworden waren.
 

Paige konnte es gar nicht richtig machen. Egal, was sie sagte, egal welche Frage sie stellte oder welches noch so unschuldige Thema sie anschnitt, es würde immer auf 'sie' hinauslaufen.

Alles und jedes in Ryons Leben lief auf das zu, was den größten Eindruck hinterlassen hatte.

Mit schwerem Herzen, da es weder ihrer Natur entsprach, noch sie es irgendwie vor sich selbst rechtfertigen konnte, beschloss sie, keine Fragen mehr zu stellen.

Es schwang so viel Egoismus in ihr mit, dass sie beinahe böse mit sich wurde.

Ja, Marlene gehörte immer noch zu ihm. Ryon wurde von dieser Frau, die schon seit sieben Jahren tot war bestimmt. Sein Tun, sein Lassen, sein gesamtes Leben. Alles Andere war so unwichtig, dass die Welt neben ihm untergehen könnte, er würde trotzdem nur an seine Gefährtin denken.

Und Paige würde es wissen. Jedes Mal, wenn er eine Pause machte, um zu überlegen, wie er ihren Namen umgehen konnte. Jeder gedankenverlorene Blick... Das alles schrie so laut 'Marlene', dass Paige es durch den tosendsten Sturm gehört hätte. Wüsste Ryon davon, hätte er sie wahrscheinlich kurzerhand vollkommen aus seinem Leben verbannt.

Er hatte gesagt, dass er sie als Freundin betrachtete. Aber in diesem Teil seines Lebens hatte sie ohne sein Wissen Einblick genommen. Vielleicht hatte er sogar Recht damit, dass er sie eines Tages dafür hassen würde. Denn genau das würde passieren.

„Ist gut.“

Ihre Stimme war von ihren lauten Gedanken ganz kleinlaut geworden. Sie bot ihm das Nächste nur an, weil sie wusste, dass er es vermutlich sowieso ablehnen würde.

„Wenn du möchtest, kann ich hier warten. Solltest du einen Rückfall bekommen, wäre ich hier. Oder fühlst du dich kräftig genug?“

Bei den letzten Sätzen war sie aufgestanden und hatte die beiden leeren Platten auf den Servierwagen gestellt.

Weiter brauchten sie sich nicht darum zu kümmern. Er würde stillschweigend und unauffällig abgeholt werden. Genauso wie das Zimmer aufgeräumt wurde, bis keine einzige Spur der letzten Nacht mehr vorhanden war.

Genauso, wie es bereits Ryon für seinen Verstand getan hatte. Paige fühlte Neid in sich aufflammen.
 

„Ich denke, es wird schon gehen und du brauchst sicher auch einmal deine Ruhe. Immerhin habe ich dich in den letzten Stunden ganz schön in Anspruch genommen.“ Das klang jetzt etwas zweideutig, aber sie wusste, was er meinte.

Vorsichtig, aber relativ sicher auf den Beinen, ging er zu dem Kleiderschrank hinüber, in denen seine wenigen Sachen hingen, die er für die Reise mitgenommen hatte.

Er suchte sich eine bequeme Pyjamahose aus Seide in feurigem Rot heraus, die er zum Schlafen mit genommen hatte, denn genau das würde er nach der Dusche tun müssen. Eigentlich konnte er gar nicht genug Schlaf aufholen wie er brauchte. Zumindest fühlte es sich so an.

An der Tür zum Bad blieb er noch einmal stehen, ohne sich umzudrehen. Ein paar Mal atmete Ryon tief ein, ehe er den Mut dazu aufbrachte, die Worte über seine Lippen kommen zu lassen. Sie blieben dennoch sehr leise.

„Ich werde deine Hilfe nie vergessen, Paige. Auch nicht, wenn sich unsere Wege irgendwann wieder trennen werden.“

Mit diesen Worten schob er die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.

Seine Atmung war erzwungen tief, während seine goldenen Augen einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand fixierten, um den Halt nicht zu verlieren.

Er hatte diese Worte los werden müssen, obwohl er deutlich gespürt hatte, dass es ihn aufwühlte, wenn er es aussprach, denn die Erinnerung an jene Stunden mit ihr, waren frisch. Frischer als alles, was er schon so lange nicht mehr hatte haben können. Darum waren sie auch umso intensiver.

Zu glauben, er könne so einfach wieder die Maske aufsetzen, war ein Fehler und das sollte er sich besser früher als später eingestehen. Was auch immer dazu beitrug, dass er seine Gefühle nicht mehr ganz ausschalten konnte, er sollte am besten Schnell eine Lösung dafür finden, denn wie lange er alles in sich ansammeln und zurück halten konnte, wusste er nicht.

Nun, da noch andere Faktoren hinzu kamen, mit denen er nicht gerechnet hatte, wurde es immer schwieriger, seine Fassade aufrecht zu erhalten.

Dass Paiges Fürsorge und Nähe ein Grund für diesen Zustand war, wusste er, weshalb er ihr nicht mehr nahe kommen durfte, wollte er nicht einen noch viel größeren Verfall riskieren!

Ein paar Minuten lang, stand er einfach nur so da, versuchte an nichts zu denken und sich wieder in den Griff zu bekommen, bis er sich endlich soweit gefangen hatte, dass er sich ausziehen und unter die Dusche steigen konnte. Das kalte Wasser würde ihm hoffentlich den Kopf frei machen. Es gab andere Dinge, um die er sich Gedanken machen sollte.
 

Paige stand einfach nur da und sah Ryon dabei zu, wie er zum Schrank ging, sich irgendein Kleidungsstück in rot herausholte und sich dann auf den Weg zum Bad machte.

So vorsichtig, wie er sich bewegte, war Paige nur froh, dass sie in dem Raum schon aufgeräumt hatte. Sonst hätte er am Ende doch noch einen Ausrutscher auf einem kleinen Fläschchen haben können. Sein Schädel musste so schon genug dröhnen, wenn man die Platzwunde bedachte, die immer noch auf seiner Stirn prangte. Wenn auch sehr viel weniger bedenklich, als sie bei einem normalen Menschen ausgesehen hätte.

Obwohl er nicht sonderlich geschäftig vorging, fühlte Paige doch nur zu deutlich, dass es Zeit war, zu gehen.

Mit nervösen Hände strich sie ihre Oberschenkel hinunter und lächelte etwas verunsichert. Von einem Fuß trat sie auf den Anderen und hätte um ein Haar ihr Gleichgewicht verloren, als sie Ryons leise Worte hörte.

Es schwang für sie selbst so viel darin mit, was Ryon vielleicht gar nicht bedacht oder gemeint hatte. In den letzten Stunden und auch noch bis jetzt hatte Paige nicht mit einer Faser ihres Hirns daran gedacht, dass sie einfach wieder aus seinem Leben verschwinden würde.

Ihr eigener Begriff von Freundschaft sah anscheinend anders aus, als der von Ryon. Denn selbst wenn ihre Partnerschaft in irgendeiner Weise zu Ende gehen sollte, hieß das für Paige nicht, dass sie auf nimmer Wiedersehen die Kurve kratzen würde. Freunde meldeten sich, kamen ab und zu vorbei, um ein bisschen zu reden; sich Gesellschaft zu leisten. Aber wahrscheinlich war das selbst bei der Tatsache, dass Ryon sie als Freunde bezeichnet hatte eine utopische Vorstellung. Für ihn waren sie Freunde, solange das Problem mit dem Amulett reichte. Danach würde jeder sein Leben weiter leben. Ohne den Anderen.

„Da hast du zwei der besten Sorte zu Hause sitzen und weißt immer noch nicht, was es heißt Freunde zu haben.“, meinte sie sehr leise. Inzwischen sprach sie schon mit der Badezimmertür, die Ryon hinter sich geschlossen hatte.

Zeit zu gehen.

Auf dem Weg in ihre eigenes Zimmer kramte sie aus ihrer völlig verknitterten Hose ihre Schlüsselkarte, las ihre Handtasche vom Boden auf und stand kaum zwei Minuten später in ihrer eigenen Suite. Ohne recht zu wissen, was sie nun mit sich anfangen sollte.

Jetzt, wo sie allein war, wurden die Gedanken so laut und überschlugen sich derartig, dass an Schlafen nicht zu denken war. Natürlich verlangte ihr Körper nachdrücklich nach etwas Ruhe. Die Nacht mochte für Paige nicht so anstrengend gewesen sein wie für Ryon, aber mitgenommen hatte sie es trotzdem. Allerdings hatte sie noch genug Energie mit sich selbst anders umzugehen, als es ihm vergönnt war.

Ryon würde sich im Schlaf erholen, seine Batterien aufladen und dann wie der Phönix aus der Asche auferstehen, als wäre nichts gewesen.

Paige wollte dann nicht dastehen, als würde sie den vergangenen Stunden irgendwie nachtrauern.

Sie mochte jemand sein, der auf Gefühle sehr viel wert legte. Der sie gerne mit Anderen teilte. Aber Paige verstand auch etwas von Selbstschutz.

Mit neuer Entschlossenheit zog sie sich aus, warf die in Mitleidenschaft gezogenen Klamotten in die Ecke und stieg kurz unter die Dusche.

Für Entspannung ließ sie sich keine Zeit, während sie sich einseifte, sich die Haare wusch und kurz nach ihrer Narbe an der Seite sah. Ein paar Schuppen waren so stark eingewachsen, dass sie sich auch in ihrer menschlichen Form zeigten.

Paige zupfte so lange daran herum, bis es weh tat. Das würde Tennessey sich ansehen und die Schuppen professionell entfernen müssen. So konnte nunmal auch keine gesunde Panzerung nachwachsen. Und eine derartige Schwachstelle konnte und wollte Paige sich nicht leisten. Schon gar nicht, wenn sie bedachte, was seit ihrer Begegnung mit Ryon schon alles passiert war.

Sauber und für's Erste erfrischt, zog sie sich an, band ihre Haare hoch und steckte Handy und Geldbörse ein, bevor sie das Hotel verließ. Untätig herumzusitzen war noch nie eine von Paiges Stärken gewesen.



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