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Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

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13. Kapitel

Als sie von der Autobahn auf die normale Hauptstraße fuhren, die allerdings um diese Tageszeit in Paris nicht weniger vollgestopft war, kam Paige bereits aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

Die schönen Alleen, die sich neben der Straße über Fußwege zogen, Straßencafés, in denen jeder Gast eleganter aussah, als der andere und trotz des anfangenden Herbstes waren überall noch Blumen zu sehen. In ihren Augen schien hier alles kunstvoll arrangiert und was die Deko anging, nichts dem Zufall überlassen zu sein. Eigentlich mochte sie ja keine Zwänge, vor allem nicht, wenn es um so etwas wie die Natur selbst ging, aber hier konnte sie sich an den kunstvoll zusammengestellten Farben und Formen kaum satt sehen.

Als sie eine Weile gefahren waren und in einiger Entfernung ein großes Gebäude in Sicht kam, das wage dem ähnlich sah, was ihr Ryon gezeigt hatte, kam sie sich vor, wie ein kleines Kind auf Entdeckungstour. Selbst das Hotel, das nach den Standards ihres Reisepartners fünf Sterne und irgendeine Mütze für die Küche hatte, war eine Zierde.

Ihr wurde von einem älteren Herrn in Uniform die Autotür geöffnet und eine behandschuhte Hand bot sich ihr an, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Natürlich hätte sie das auch allein gekonnt, aber den Umständen entsprechend ... warum sich nicht helfen lassen?

Hier wurde man wahrscheinlich sowieso nur dann akzeptiert, wenn man so tat, als wäre man ein Schnösel.

Mit einem leicht fiesen Lächeln dachte sich Paige, dass sie sich da lediglich ihrem Begleiter anpassen musste. Der machte den Schnösel mit Bravour vor. Schon allein, wie er dem Taxifahrer einen Haufen Scheine zusteckte, um seine Geldnadel gar nicht erst wieder zu verstauen, sondern gleich dem Herrn in Uniform, der sich um das Gepäck kümmern würde, ein saftiges Trinkgeld zu geben.

Also gut, dann würde Paige das Frauchen mimen. In ihren dunklen Stoffhosen mit Bügelfalte, den hohen Schuhen, einer grauen Bluse unter dem dazu passenden grauen Mantel, ging sie schweigend und mit sanftem, nichts sagenden Lächeln hinter Ryon her.

Das hier war seine Welt und sie würde seinem Beispiel folgen und wenn irgend möglich so wenig wie möglich auffallen. Schon jetzt dankte sie ihm dafür, dass er sie zu mehr als einem eleganten Outfit überredet hatte.

Wenn sie erst einmal in der Unterwelt von Paris unterwegs waren, konnte sie anziehen, was sie wollte. Aber hier oben wäre sie in den Klamotten, die ihr behagten, selbst neben Ryon aufgefallen, wie ein bunter Hund. Und das galt es um jeden Preis zu vermeiden.

Sie gingen zusammen über einen roten Teppich, der sie direkt zu Anmeldung und dann weiter zu den Aufzügen führte. Gebucht hatten sie zwei Zimmer, die nebeneinander lagen, aber irgendetwas war schief gelaufen und jetzt wurden sie durch die gesamte Länge des Ganges getrennt. Was allerdings auch nichts ausmachte. Sie hatten sich weder als verheiratet noch irgendwie verwandt ausgegeben. Flora Burke würde gut allein in ihrem großen Doppelbett schlafen können, ohne einen schnarchenden Wandler im gleichen Raum auf der Couch liegen zu haben.

Kaum auf ihrem Stockwerk angekommen, sah Paige sich nach eventuellen Mithörern um, bevor sie sich wieder an Ryon wandte.

„Was hältst du davon, wenn wir keine Zeit verlieren? In zwei Stunden unten in der Lobby?“

Mal davon abgesehen, dass sie sich hier völlig fehl am Platze fühlte, wollte Paige auch aus anderen Gründen die Tour durch die Unterwelt keinesfalls aufschieben. Je näher sie dem Hinweis auf das Amulett kamen, desto brennender wurde ihr Verlangen das Rätsel zu lösen. Ihre Neugier brannte hell wie ein Leuchtfeuer.
 

Ryon konnte nicht gerade behaupten, dass er die Reise nach Paris genossen hatte. Es war angenehm gewesen, das schon, aber er war schon so lange nicht mehr in der Weltgeschichte herum gekommen, dass er sich erst wieder einmal daran gewöhnen musste. Allerdings kam er schnell wieder hinein, als sie schließlich in ein Taxi stiegen und er die Adresse des Hotels nannte, in dem sie bereits reserviert hatten.

Wie das alles auf Paige wirken musste, wäre sicherlich interessant zu erfahren gewesen, aber er gab sich damit zufrieden, ihr bei ihrer stummen Neugierde zuzusehen.

Paris oder zumindest die Gegend, in der sich Leute seines Standes aufhielten, war wirklich wunderschön. Sauber, gepflegt und kein Schnörkel schien zu viel des Guten zu sein, obwohl alles einen regelrecht anzuziehen schien. Zumindest bekam man immer genug zu sehen. In jeder Jahreszeit.

Sein Französisch war schon ziemlich eingerostet, nachdem er es seit seinem Studium nicht mehr verwendet hatte, aber nur zu schnell fand er wieder hinein und konnte somit ohne Probleme klären, was mit ihrer Reservierung schief gelaufen war. Schließlich hatten sie die Schlüsselkarten, das Gepäck war inzwischen auch hoch gebracht worden, bis sie alleine im Flur standen und er Paige ihre Schlüsselkarte in die Hand drückte.

„Gut. In zwei Stunden dann in der Lobby.“

Ryon verabschiedete sich kurz von ihr, ehe er sein Zimmer betrat und die Tür hinter sich schloss. Es war nicht viel Zeit, aber mehr brauchte er auch nicht, um sich die Reise vom Körper zu waschen, sich etwas zu erfrischen und über ihre nächste Vorgehensweise nachzudenken. Immerhin wussten sie noch nicht, wo sich ‚The Dark Side of Paris‘ befand. Besser gesagt, der Eingang dazu.

Allerdings dürfte das nicht allzu schwierig sein, wenn man bedachte wie man bei ihnen zur ‚World Underneath‘ kam. Dann nur noch dem Geruch des Übernatürlichen nach und sie würden fündig werden. So hoffte er zumindest.

Nur noch mit einem Handtuch bekleidet und feuchten Haaren legte er seinen Koffer aufs Bett, um sich nach den unauffälligeren Kleidungsstücken umzusehen, die er wohlweislich eingepackt hatte: Schwarze Hose, dunkles Hemd und darüber seinen beigefarbenen Mantel, damit zumindest bis zum Verlassen des Hotels der Anschein von Geschniegelt und Poliert erhalten blieb. Das einzig Wertvolle, dass er schließlich noch am Leibe trug, würde das Amulett sein.
 

Ungefähr eine Stunde und fünfzig Minuten später, stand Ryon in der Lobby neben einer großen Topfpflanze mit breiten Blättern. Sie lag etwas abseits, wodurch es ihm möglich war, weniger aufzufallen, er aber dabei die ganze Halle überblicken konnte.

Er sah zu, wie andere reiche Snobs und ihre aufgetakelten Frauen eincheckten, sich andere Damen und Herren ebenfalls wartend umsahen, während das Hotelpersonal permanent wie unsichtbar zwischen ihnen hin und her wuselten, um ihrem Job nachzugehen.

Ein oder zwei von den anwesenden Menschen waren nichtmenschlicher Herkunft. Das erkannte man nicht an ihrem Aussehen, sondern an der Art, wie sie sich bewegten, wie sie ihre Umgebung beäugten und vor allem, wie sie rochen. Es war kein unangenehmer Geruch, aber eben nicht einfach nur der von rein menschlichen Körpern.

An Ryon würde man so einen Geruch inzwischen nicht mehr feststellen. Da er schon seit sehr langer Zeit sein anderes Ich von sich abgekapselt hatte, war auch der Geruch von eben diesem langsam verschwunden. Er roch nun wirklich nur nach Mensch. Manchmal vielleicht sogar, mit ein paar Emotionen hinter der fleischlichen Hülle.
 

„Ich glaube nicht, dass die uns sehr viel weiter helfen werden.“

Paige hatte es als eine Art Spiel angesehen, sich an Ryon heran zu schleichen, ohne dass er sie bemerkte. Ihr war klar, dass sie das unter normalen Umständen niemals geschafft hätte.

Obwohl sie ihn noch nie in seiner tierischen Form gesehen hatte, wusste sie sehr wohl, wie viel besser die Sinnesorgane von Wandlern waren und dass er sie im wahrsten Sinne des Wortes auf weite Entfernung gegen den Wind riechen konnte. Vor allem deswegen, weil er ihren eigenen, persönlichen Geruch inzwischen wahrscheinlich schon unter vielen anderen herauskannte. Diese Eigenschaft war Paige als Halbdämonin nicht zu eigen. Sie konnte Gerüche in Form von Geschmäcker sehr viel intensiver wahrnehmen, wenn sie ihr Schuppenkleid und ihre gespaltene Zunge trug, aber in ihrer menschlichen Form war sie eben nur das – menschlich. Was sie allerdings mit ihrer Übung als Diebin in diesem Fall wettmachte.

Ihr schwarzer Mantel, der sie vollkommen einhüllte, reichte nicht ganz bis zum Boden, damit er nicht um ihre Knöchel flatterte und sie am Gehen oder Rennen hindern konnte. Die Sohlen ihrer Schuhe gaben ebenfalls kein Geräusch von sich, wenn sie es darauf anlegte, wie jetzt, äußerst leise zu sein.

Sie trug ihre Haare in einem Pferdeschwanz und hatte den Mantel trotz des milden Wetters zugeknöpft. Hier im Hotel und wahrscheinlich auch noch auf der Straße, wäre ihr schwarz-weißer Karorock und das schwarze T-Shirt mit der Comicfledermaus darauf sicher aufgefallen.

Lediglich die Tatsache, dass sie sich hier in der Öffentlichkeit und unter vielen Menschen und anderen Wesen befanden, machte es Paige neben ihrem Talent leichter, sich an Ryon tatsächlich unbemerkt heran zu pirschen. Und von ihm zum Dank nicht sofort angegriffen zu werden. In einer angespannten Situation hätte er ihr wahrscheinlich unbesehen den Kopf abgerissen.

So starrte er ihr nur für eine Minute in die Augen, was Paige dadurch unterband, dass sie weitersprach. Sie nickte zu einem mit Goldschmuck und Perlen behangenen Pärchen hinüber, das eindeutig nicht der menschlichen Seite der Welt angehörte, auch wenn sie sich in ihrer jetzigen Form sehr wohl zu fühlen schienen.

„So jemand wie die wird nicht in die Unterwelt gehen. Das heißt, wir werden von hier aus niemandem folgen können. Hast du eine Ahnung, wo wir anfangen sollen zu suchen?“
 

Als ihre Stimme sein Gehör erreichte und er ihre Anwesenheit mit einem Mal auch deutlich spürte, zuckte zwar noch nicht einmal ein einziger Muskel in Ryons Leib, aber um ein Haar hätte er sich zu spät zurück gehalten. Eine einzige Handbewegung hätte genügt und Paige wäre tot gewesen, noch ehe ihr Körper auf dem Boden aufschlug. Selbst ihre faszinierenden Fähigkeiten hätten ihr nicht mehr helfen können. Bestimmt könnte sie bewusst nie so schnell reagieren, wie er es instinktiv und aus reinem Reflex getan hätte.

Ohne ihr von der Gefahr zu erzählen, in der sie gerade noch geschwebt und sein Verstand die Kontrolle wieder übernommen hatte, ging er vollkommen gleichgültig auf ihre Worte ein.

„Das würde ich ohnehin nicht annehmen. Man müsste schon selten dämlich sein, wenn man in dem Outfit in die Unterwelt gehen würde.“ Oder auf der Suche nach etwas Bestimmten, so wie sie es waren.

Allerdings hatte Paige mit ihrer letzten Frage nur zu Recht. Wo sollten sie mit der Suche beginnen? Paris war eine große Stadt mit ebenso vielen Schichten wie Einwohnern. Einen der Eingänge zur Unterwelt zu finden, dürfte daher selbst für Wesen wie sie beide es waren, nicht so einfach werden. Zumal Ryon unmöglich sagen konnte, ob sich die ‚World Underneath‘ sehr von dieser hier unterschied oder nicht. Eines zumindest dürften beide gemeinsam haben: Gefährlich würde es immer sein. Das hatten nun einmal nichtmenschliche Wesen auf einen Haufen zusammen gewürfelt so an sich.

„Lass uns erst einmal ein Taxi rufen.“, schlug er schließlich vor.

Immer einen Schritt nach dem anderen, dann würde sich schon eine Lösung finden. Wie Marlene das alles so einfach geschafft hatte, würde wohl immer ein Rätsel bleiben. Sie mochte zwar eine Hexe gewesen sein, mit übernatürlichen Wesen hatte sie aber hauptsächlich nur dank ihm und seiner Natur zu tun gehabt. Wohin das geführt hatte, konnte man heute sehen…

Der schmerzhafte Stich in Ryons Brust erinnerte ihn wieder daran, seine Gefühle zu kontrollieren. In diesem Sinne war der Schmerz ein sicheres Warnsignal für ihn, sich noch mehr zu beherrschen und sein Wesen noch tiefer in sich zu vergraben. Da aber immer wieder doch noch Gefühle zu ihm durchdrangen, vor allem schmerzliche, war ihm auch das gewaltige Ausmaß dessen bewusst, das er da immer wieder in den letzten Winkel seines Geistes zurück stopfte.

Bald würde dort sicher kein Platz mehr sein. Zumindest hatte er jetzt schon das Gefühl, bald bersten zu müssen. Was dann passierte, sollte wohl besser niemand zu Gesicht bekommen. Vor allem nicht Paige. Sie war die letzte, die er verletzen wollte.

Um seinen düsteren Gedanken und inneren Kämpfe einen Riegel vorzuschieben, marschierte er los, direkt mitten durch die Eingangshalle, hinaus auf die Straße. Die Szenerie draußen hatte sich so deutlich verändert, als hätten sich einige Naturgesetze umgekehrt. Es goss wie aus Kübeln, der Himmel schien kurz vorm Einsturz zu sein, so tief hingen die schwarzen Gewitterwolken und immer wieder erhellte ein Blitzlichtgewitter die sonst so trostlose Stimmung.

Irgendwie passend, fand Ryon zumindest. Aber dass das Wetter so schnell umgeschlagen hatte, war nicht ungewöhnlich. Es war nun einmal nicht zu ändern. Obwohl so heftiger Regen um diese Jahreszeit eher selten war. Vermutlich hatte es schon seit Wochen nicht mehr geregnet und würde auch bald wieder damit aufhören. Wenn sie nicht von oben bis unten durchnässt werden wollten, sollten sie das auch hoffen.

Da ihr Hotel wie es den fünf Sternen auch angemessen war, eine Überdachung vor dem Eingang hatte und somit die ankommenden Gäste auch beim Aussteigen vom Regen schützte, wurden sie nicht nass. Aber die Luft war feucht genug, um winzig kleine Wassertröpfchen auf seinem Mantel, seinem Haar und der Haut zu bilden. Bei Letzterem jedoch, verschwanden sie rasch wieder. Der Hitze seines Körpers waren sie nicht gewachsen.

Ein Taxi war schnell herbei gewunken. Ryon hielt Paige die Tür auf, ehe er selbst einstieg und auf französisch dem Taxifahrer mitteilte, dass er zur nächstmöglichen U-Bahnstation wollte.

Warum lange Zeit mit Suchen verschwenden, wenn sie auch einfach auf gut Glück los fahren konnten? Immerhin lag die ‚World Underneath‘ auch unterhalb des U-Bahnnetzes und die Zugänge meistens ebenfalls in deren Nähe. Vielleicht war es in Paris nicht anders. Ansonsten könnten sie es noch bei den Friedhöfen versuchen. Viele davon waren reinste Touristenattraktionen, auch wenn er das ziemlich schräg fand.

Ryon war sich mehr denn je bewusst darüber, wieso er seinen Körper niemals in Mitten von anderen Leichen eingebuddelt haben wollte. Feuer… Das war das einzig Akzeptable.

Sie fuhren gerade über die Seine, als Ryon seine Aufmerksamkeit von der Landschaft draußen, wieder auf die Frau neben sich richtete. Sie schien trotz des Wetters immer noch sehr von der Stadt angetan zu sein. Kein Wunder, Paris war auch wirklich beeindruckend. Vor allem wenn man noch nie hier gewesen war. Bei ihm war es ebenfalls schon sehr lange her. Damals war er noch nicht einmal volljährig gewesen.

„Irgendetwas Interessantes entdeckt?“, wollte er wissen, nachdem er sie eine Weile beobachtet hatte.

Wieder flammte ein Stich in seiner Brust auf. Neugier zählte definitiv auch zu Gefühlen. Aber das hielt er aus, weshalb er diesem Impuls auch nachgegeben hatte. Zu lange schon war es her gewesen, dass er mit jemanden auf Reisen gegangen war. Dabei hatte er früher einmal behauptet, nirgendwo wirklich zu Hause zu sein, da er das Herumreisen so sehr liebte. Nun, Lieben konnten sich im Laufe des Lebens ändern, bis auf einige wenige.
 

Ob sie etwas Interessantes entdeckt hatte? Paige konnte ihren Blick kaum von der Fensterscheibe und der Szenerie dahinter losreißen, so faszinierend fand sie die Stadt, die an ihnen vorbei zog.

Am liebsten hätte sie die Scheibe trotz des immer noch strömenden Regens herunter gekurbelt, um sich bessere Sicht zu verschaffen. Die Gebäude mit den teilweise sehr verschnörkelten Fassaden gefielen ihr gerade in diesem grauen Licht des Gewitters mit den kurzen Phasen des grellen Lichts, in die Blitze die Umgebung tauchten. Wäre auch nur ein kleines Stück aufgerissene Wolkendecke zu sehen gewesen, hätte die Sonne bestimmt wunderschöne helle Strahlen, wie Lichtspots auf Paris hinunter geschickt. Es fühlte sich für Paige fast so an, als mache ihr die Stadt mit diesem Bühnenauftritt ein Geschenk.

Paige hatte schon fast Mitleid mit Ryon, der sich – wie immer – überhaupt nicht zu freuen schien. Aus dem kurzen Blick, den sie ihm schenkte, bevor sie sich doch lieber wieder dem Ausblick zuwandte, hätte man einiges lesen können, wenn man sie denn ein bisschen besser als nur ein paar Tage lang kannte.

„Leider nichts, was uns weiter helfen könnte. Aber wie zu Hause werden die Franzosen sicher auch kein Ortsschild für ihre Unterwelt aufstellen, nehme ich an.“

Das wäre es doch. Ein blinkendes Schild, das bei der richtigen Straßenabfahrt oder der entsprechenden U-Bahnhaltestelle auf die Welt unter der Stadt hinwies. Wie auf einen richtigen Stadtteil.

Letztendlich hätte jede Ansiedlung von übernatürlichen Wesen, wie auch die 'World Underneath' das Paiges Meinung nach verdient. Sie alle waren Nachbarn, auch wenn die Menschen das einfach nicht wahrhaben wollten und sie lieber ignorierten. Wobei, besser ignoriert als tot oder im Labor unters Mikroskop gelegt.

Wie nebenbei legte sie die Beine übereinander, um zu überprüfen, ob sich die kleine Vorrichtung mit der Glasphiliole noch dort befand, wo Paige sie mit einem speziellen Lederband am Oberschenkel festgemacht hatte. Natürlich war noch alles in Ordnung. So wie immer. Aber man konnte ja nicht vorsichtig genug sein. Auch wenn Paige selbst nicht verstand, warum sie gerade in Ryons Gegenwart und in letzter Zeit immer wieder und nachdrücklicher an die beiden schäumenden Flüssigkeiten erinnert wurde. Normalerweise trug sie die Essenzen nicht ständig am Körper. Sie hatten bis zu seinem Auftauchen ruhig und am Rande des Vergessens im Spülkasten geruht. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie wären dort geblieben.

„Da ist ein U-Bahn-Eingang.“

Das Taxi wurde bereits langsamer, als der Fahrer seinen Zielort ebenfalls erkannte und am Straßenrand anhielt, um sie aussteigen zu lassen. Als Paige die Tür öffnete, während Ryon noch das mit der Bezahlung übernahm, schüttete es immer noch in Strömen und sie wäre um ein Haar in die riesige Pfütze getreten, die sich auf dem Bürgersteig sammelte.

Damit sie sich beide nicht aufhielten und so bloß noch nasser wurden, als ohnehin unvermeidlich war, zog Paige ihren Mantel über den Kopf, so weit es ging und sprintete los. Ein paar Treppenstufen aus hartem Beton hinunter, zwischen Passanten mit Regenschirmen, Einkaufstüten oder Rucksäcken vorbei, erreichte sie eine überdachte Zwischenebene. Hier stellte sie sich unter einen der Fahrpläne und wartete darauf, dass Ryons riesenhafte Silhouette auftauchte.
 

Eigentlich war seine Frage nicht so gemeint gewesen, wie Paige sie beantwortet hatte. Aber vermutlich war es für sie nicht offensichtlich gewesen, dass er nach ihren persönlichen Interessen an der Stadt gefragt hatte. Kein Wunder.

Er sprach meistens so nichtssagend, dass man am besten Fuhr, wenn man ihn einfach wirklich nur beim Wort nahm. Die Sache mit der veränderten Stimmlage und wie viele verschiedene Möglichkeiten in Form und Aussage man dadurch mit jedem Wort erhielt, konnte er einfach nicht mehr. Seine Stimme würde immer glatt wie polierter Marmor sein, ohne lauter oder leiser, tiefer oder höher zu werden. Wie gedruckte Worte auf einem weißen Blatt Papier.

Da Ryon sich nun lieber wieder auf ihre Umgebung konzentrierte, versuchte er auch nicht, erneut ein Gespräch in Gang zu bringen. Es war in Hinsicht auf ihre Aufgabe, ohnehin im Augenblick völlig sinnlos. Auch wenn ein winziger Teil in ihm, sich eingestehen musste, dass er gerne mit Paige sprach. Zumindest war das tausendmal besser, als sich von ihr in einen Braten verwandeln zu lassen.

Der Himmel hatte noch immer seine Schleusen geöffnet, nachdem er den Fahrer bezahlt hatte und ebenfalls ausstieg.

Paige war in dem trüben Dämmerlicht und den Unmengen von Menschenmassen nicht mehr zu sehen, aber er wusste, sie würde nicht weit sein. Dennoch war ihm unbehaglich zumute, sie hier in dieser fremden Stadt alleine zu wissen. Etwas in ihm, stellte sich vollkommen quer, bei der Vorstellung, nicht in ihrer Nähe zu sein, um aufzupassen. Sie hatte es bestimmt nicht nötig, aber wenn schon er nichts an diese Gefühl ändern konnte, dann sie erst recht nicht. Ryon war deswegen mehr verwirrt, als er zugeben wollte. Paige verwirrte ihn.

Da Ryon weder das Wetter kümmerte, noch die Tatsache, dass er trotz seiner Bemühungen seine Gefühle nie ganz unter Kontrolle hatte, sah er sich erst einmal aufmerksam in der Umgebung um, während das Wasser nur so in Strömen auf ihn nieder prasselte.

Bei dieser Nässe konnte er keine Witterung aufnehmen und war somit gezwungen, sich auf seine anderen Sinne zu konzentrieren. Doch es schien keine Gefahr zu herrschen. Niemand hatte sie verfolgt, auch wenn er glaubte, dass das ohnehin keiner tun würde. Zumindest niemand, der von dem Amulett wusste. Boudicca würde sie doch sicherlich nie in Paris vermuten.

Als er nach kaum einer Minute los ging, um nach Paige zu sehen, war er bereits pitschnass und seine Haare klebten ihm in nassen Strähnen am Kopf. Doch unter seinem Mantel war er immer noch trocken. Nicht umsonst war der Stoff imprägniert.

Er fand sie vor einem Linienplan.

„Ich würde vorschlagen, wir sehen uns hier einfach einmal um. Das Untergrundnetzwerk ist ziemlich verzweigt, also ideal, um irgendwo heimlich Zugänge zu verbergen.“

Er schüttelte sich leicht, mehr denn Tier als Mensch, ehe er sich die feuchten Haare zurück strich.

Danach sah er sich den Linienplan genauer an und prägte ihn sich weitestgehend ein, ehe er eine Geste machte, um Paige in einen der Gänge zu führen, durch dem sie zu der Metro gelangten.

Da viele Menschemassen an ihnen vorüber zogen, ging er näher an sie heran, als er es normalerweise getan hätte, aber die Enge und seine Größe waren nur ein Punkt, der ihn dazu trieb. Auf der anderen Seite wollte er sie nicht in dem Getümmel verlieren. Was wäre, wenn das jedoch trotzdem einmal passierte?

„Wir sollten uns einen Plan zurecht legen, falls wir von einander getrennt werden.“, sprach er seine Überlegungen laut aus, ehe er Paige zu einen der Schalter führte, wo er für sie beide je eine Karte ‚Paris Visite‘ kaufte, die ihnen den Zugang für eine Woche zu jeder Linie der Metro gewährte, ohne ständig bei den Metallschranke die Karte durchzuziehen. Auch wenn er nicht annahm, dass sie hier eine Woche mit Suchen zubrachten.

An der Haltestelle angekommen, führte er sie in eine etwas abgelegene Ecke, wo sie alles überblicken konnten und trotzdem nur so aussahen, als würden sie auf die Bahn warten. Auch hier herrschte viel Getümmel, es waren sogar zwei Straßenmusiker hier, die einem die kurzen Wartezeiten mit etwas Musik vertrieben.

Ryon sog tief die kühle Luft in sich ein, da hier genug Gerüche in der Luft waren, um etwas zu wittern. Leider nicht immer nur die besten.

Paris konnte noch so eine saubere Stadt sein, gewisse Dinge änderten sich nie. Weshalb er vorwiegend Urin, Fäkalien und den Gestank von Verwesung wahrnahm. Auch die verschiedensten Düfte von Parfums und Aftershaves waren nicht gerade hilfreich, verdeckten sie doch häufig den Körpergeruch selbst. Aber auch so konnte er ein paar übernatürliche Wesen wahrnehmen, die wie jeder andere Bürger auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause aussahen. Von einem wild knutschenden Pärchen war er sogar ziemlich sicher, dass ER nicht wusste, dass SIE eine Werwölfin war. Aber das einzige wirklich Unverständliche daran war die junge Frau.

Wie alle Tiermenschwesen war sie sehr leidenschaftlich. Menschen konnten da nur selten mithalten, obwohl sich der Kerl wirklich alle Mühe gab, ihrem Hunger gerecht zu werden. Er schien nicht mehr von ihr zu lösen zu sein, selbst als die erste Bahn ankam. Ihre Lippen klebten aufeinander, als wären sie verwachsen und würde sich außer Ryon sonst noch jemand für die beiden interessieren, hätten alle anderen Anwesenden sofort mitbekommen, wie diese Knutscherei unweigerlich enden würde. Die Reaktionen des Kerls waren einfach nicht zu übersehen, von dem Geruch der Lust ganz zu schweigen.

Mit Entschlossenheit wandte Ryon seinen Blick von dem Pärchen ab und beobachtete stattdessen eine alte Dame bei ihren Selbstgesprächen. Sie sah genauso verrückt aus, wie sie sich geben wollte. Aber bestimmt war sie es nicht. Sie nahm die Welt einfach nur mit anderen Augen war. Ein einfacher Mensch, aber auf jeden Fall einer mit geistigen Fähigkeiten. Wie Marlene…

Als sich Ryon zur Ordnung rief, stand er so still und steif da, als wäre er nichts anderes, als der überlaufende Mistkübel in ihrer Nähe. Einen Moment lang blendete er die Frau neben sich völlig aus, während er innerlich schon wieder damit begann, die ganzen Risse und Furchen zu kitten, aus denen ständige diese Gedanken und Gefühle hervor brachen.

Natürlich war klar gewesen, dass ihn hier, so weit weg von dem Haus trotzdem alles an SIE erinnern würde, aber er durfte sich dem nicht hingeben. Es war vorbei. Es gab kein Zurück mehr. Er konnte nichts mehr an der Sache ändern und die Schuld würde ewig auf ihm lasten. Das hatte er bisher akzeptiert und dennoch nahmen diese Gefühlsattacken kein Ende.

Bevor Paige versucht hatte, ihn auszurauben, war er mehr oder weniger auf einem Level stehen geblieben, wo das Leben ihm zwar auch weiterhin scheißegal gewesen war, aber er auch nicht mehr jeden Tag zu jeder Stunde an Marlene hatte denken müssen. Jetzt, nachdem Paige ihn dazu gezwungen hatte, ob nun bewusst oder unbewusst spielte hier keine Rolle, musste er sich wieder mit den verdrängten Problemen abgeben. Dabei wollte er es nicht mehr. Er hatte diesen ständigen Kampf so satt!

Die nächste Bahn traf ein und Ryon entschied sich dazu, sich einfach nur noch auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Alle anderen Gedanken würde er strengstens unterbinden.

„Was meinst du, wollen wir einsteigen und etwas in der Gegend herumfahren?“

Alles war besser, als einfach nur dumm in der Gegend herum zu stehen.
 

Paige war gerade schmunzelnd damit beschäftigt gewesen, dem knutschenden Pärchen auf dem Bahnsteig zu zu sehen. Die Dame war eindeutig nicht menschlicher Natur. Paige hätte aus Haltung der jungen Frau, der gekrümmten, leicht ins Gelbliche gehenden Nägel und der Schuhgröße auf Harpye getippt – in Paris vielleicht eher eine Werwölfin. Jedenfalls schien der Kerl, den sie in den Krallen hatte, durchaus schmackhaft zu sein. Ob er wohl so aus dieser Sache heraus kam, wie sich das sein kleines Hirn in seiner zu engen Jeans vorstellte?

Sie spürte den dumpfen Luftzug, den die Bahn aus dem Tunnel heraus vor sich her schob, bereits in den Haaren, bevor sie auch das Vibrieren und leichte Pfeifen auf den Gleisen hören konnte. Hier war es wirklich so voll, dass sie nur die Möglichkeit hatten, von einem fahrenden Wagen aus Ausschau nach möglichen Zugängen im Tunnel zu halten. Sich einfach über die Absperrung auf den Weg in den Schacht zu machen, war unmöglich.

Paige musterte ihren Partner, der mit leicht zusammen gekniffenen Augen in Richtung der ankommenden U-Bahn sah.

Allein wäre sie in diesem Moment, wo sich jeder auf das Eintreffen des Transportmittels konzentrierte, sehr wohl unbeobachtet in den Tunnel gekommen. Man hätte die Gestalt in dem dunklen Mantel, die sich auf die Gleise schwang, sicher nicht wahrgenommen, wenn sie den richtigen Moment abgepasst hätte. Aber zu zweit und mit einem riesigen Eisschrank an ihrer Seite...

Trotz ihrer geänderten Meinung über Ryon, konnte sich Paige diesen Spitznamen für ihn manchmal einfach nicht verkneifen. Es war zu treffend, um die Bezeichnung einfach fallen zu lassen. Sollte er sich irgendwann als Ausbund an Emotionen oder gar so etwas wie Leidenschaft entpuppen, würde sie ihr Urteil sofort revidieren.

Als er ihr seine eiskalten, schwarzen Augen zuwandte und völlig monoton eine Frage stellte, musste sie grinsen. Auf Leidenschaft konnte sie wohl warten, bis die Hölle oder ihre eigenen Nervenbahnen zufroren.

„Ok, mir fällt für den Augenblick auch nichts Besseres ein.“

Sie ließen sich von den anderen Wartenden in den Wagon schieben und blieben an der hinteren Tür stehen, von wo aus sie einen guten und gleichzeitig wenig auffälligen Ausblick nach draußen hatten. Wenn Ryon sich ein wenig anders drehte, würde noch nicht einmal jemand bemerken, dass sie hinter seinem Körper vor der zweiten Tür überhaupt vorhanden war.

„Was, wenn wir wirklich einen Zugang sehen? Es herrscht zu viel Betrieb, um ungesehen hin zu kommen.“

Sie murmelte nur so laut vor sich hin, dass Ryon sie vermutlich verstehen konnte. Noch immer wusste sie nicht, ob sie es wegen seines inneren Tieres auch bei einem Flüstern hätte belassen können. Aber sie wollte zumindest so weit wie möglich sicher gehen, dass sie niemand belauschen konnte. Dass sie sich hier in einem Land befanden, wo die Bevölkerung eine andere Sprache sprach, hieß ja nicht automatisch, dass niemand sie verstehen konnte.

„Ich glaube eigentlich nicht dran, dass sie den Eingang in die Metro gebaut haben. Wäre viel zu auffällig, wenn jeder Werwolf oder Wandler an den Menschen vorbei müsste, um nach Hause zu kommen.“

Sie hatte ihre Stimme noch mehr gesenkt, sah aber nicht eine angestrengte Muskelfaser auf Ryons Gesicht, das sie konzentriert beobachtete. Er verstand sie also scheinbar noch problemlos. Naja, Erdmännchen hatten ja auch recht gute Ohren.
 

In der Bahn selbst herrschte ein so dichtes Drängen, dass Ryon dazu gezwungen wurde, flach zu atmen. Der ganze Geruchsmix überforderte seine Sinne und ließ leichte Übelkeit in ihm aufsteigen. Denn nicht alle Anwesenden konnten so gut duften, wie seine Begleiterin. Es gab auch durchaus mehr als nur ungewaschene Körper in seiner Nähe, deren Geruch selbst für Menschen nicht verborgen blieb. Was man an dem minimalen Sicherheitsabstand durchaus erkennen konnte.

Paige war zwar alles andere als klein, aber bei dem dichten Gedränge stand er nur zu bereitwillig direkt vor ihr, um als Wellenbrecher zu dienen. Er hatte mit seiner Größe den Vorteil, dass er das ganze Abteil problemlos überblicken konnte und somit jeden Anwesenden gründlich durchmusterte, während Paige sich offensichtlich auf die Gegend draußen konzentrierte. Manchmal war es sehr nützlich vier Augen zu haben, als zwei. Man sah einfach mehr, obwohl auch er natürlich immer wieder nach draußen blickte, wenn eine Station in die Nähe kam, oder die Bahn eine Weile über der Oberfläche fuhr, nur um wieder im dunklen Untergrund abzutauchen.

Als Paige ihm leise etwas zuraunte, musste er sich stark konzentrieren, da ihre Stimme im Lärm vom Rest regelrecht unter zu gehen drohte. Doch nachdem er sich erst einmal auf sie eingestellt hatte, war es kein Problem mehr.

Er selbst senkte nur leicht die Stimme, da er nicht annahm, dass sie ebenfalls so gut hörte, wie er. Was er auf keinen Fall beleidigend meinte, sondern schlicht und ergreifend einfach eine Tatsache sein musste. Im Augenblick schien sie so sehr Mensch zu sein, dass er nichts anderes annehmen konnte.

„Ich bin deiner Meinung. In beiden Punkten. Aber bald ist es ohnehin dunkel...“ Was nicht bedeutete, dass es merklich ruhiger werden würde. Ganz bestimmt nicht, aber es waren garantiert mehr von der anderen Sorte unterwegs.

„Vielleicht treffen wir auf ein paar von uns, an dessen Fersen wir uns heften können.“

Er konnte sich nicht vorstellen, dass all jene, die sich nicht sehr gut als Menschen tarnen konnten, in grellem Licht aufhielten. Dunkle, zwielichtige Orte wären besser dafür geeignet, einmal Frischluft zu schnappen.

Als die Welle der Rushhour nicht mehr zu leugnen war, wurde Ryon zusehends immer dichter an Paige und sie noch weiter zurück an die hintere Wand gedrängt, bis er schließlich beinhart einfach stehen blieb und jedem, der ihn mit Ellenbogen oder Schulter anrempelnd zur Seite schieben wollte, einen Blick zu warf, der töten könnte, auch wenn sein Gesicht dabei genauso emotionslos blieb, wie eh und je. Es machte ihm nichts aus, wenn ihm ständig ein hartes Körperteil in die Seite oder den Magen gebohrt wurde, aber er mochte es nicht, Paige mit seiner Größe zu zerquetschen. Weshalb er ihr alle Leute, sich selbst inklusive, so weit vom Leib hielt, dass er sie nicht einmal berührte.

„Bald sind wir bei der Endstation. Danach können wir umkehren oder zu Fuß weiter suchen.“, gab er schließlich bescheid, während er einen arroganten Geschäftsmann fast gleicher Größe dazu brachte, einen Schritt von ihm weg zu machen, obwohl kaum Platz dafür war. Der Kerl hatte ihm lange genug eine Kante seines Aktenkoffer gegen die rechte Kniescheibe gedrückt. Ryon war inzwischen den ganzen Menschenhaufen samt dem Gestank so überdrüssig, dass er lieber draußen weiter suchen wollte, als noch länger hier in diesem Abteil eingepfercht zu sein.

Nicht mehr lange und er würde irgendjemandem weh tun. Denn obwohl er nichts spürte, was man als gereizt oder total genervt bezeichnen konnte, stand er doch körperlich völlig unter Strom. So lange still zu stehen und sich berühren zu lassen, machte ihn auch ohne seine Psychosen ganz kirre.

Er hasste es, ohne Privilegien angefasst zu werden, selbst wenn es unabsichtlich passierte. Was zu viel war, war einfach zu viel. Weshalb er Paige schließlich einfach bei der nächsten Station hinaus ins Freie schob, ohne auf eine Antwort abgewartet zu haben.

Wie zufällig drängte er dabei auch diesen überheblichen Geschäftsmann zur Seite und plötzlich - oh wie konnte das denn passieren – klappte dessen Aktenkoffer auf und verteilte dessen gesamten Inhalt auf dem Bahnsteig, wo eine Menge Leute ungerührt darüber hinweg trampelten.

Nun, selbst das cleverste Zahlenschloss konnte nichts gegen rohe Gewalt ausrichten. Dabei hatte er dafür nur zwei Finger benötigt.

Erst als der Bahnsteig außer Sicht war, blieb Ryon wieder stehen und entspannte sich etwas, während er seinen Mantel öffnete. Ihm war ziemlich heiß geworden.

„Da drüben sind Schließfächer. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne dort meinen Mantel deponieren.“

Selbst auf die Gefahr hin, dass er ihn nie wieder abholen würde.
 

Paige beobachtete die Felswände, die an ihnen vorbei huschten so lange, bis ihr leicht schwindlig davon wurde. Hellere oder dunklere Stellen in den Grau- und Schwarztönen der Tunnel auszumachen, war von Anfang an ein sinnloses Unterfangen gewesen. Bei ihrer Fahrgeschwindigkeit entdeckte Paige zu ihrem eigenen Bedauern rein gar nichts, was ihnen einen Hinweis auf einen Zugang hätte geben können. Im Gegenteil kamen ihr die Wände hier sogar in den Bereichen, wo kein Passant Zutritt hatte, wie poliert und versiegelt vor.

Mit gerunzelter Stirn drehte sie sich um und stellte erstaunt fest, dass ihr die ganzen Menschen, die sich im Verlauf der Fahrt in den Wagon gedrängt hatten, gar nicht aufgefallen waren. Ryon schirmte sie mit seinem Körper so sehr von allen Anderen ab, dass sie sich vorkam wie in einem Kinderplantschbecken, während der Rest der Anwesenden im Meer schwamm. Und dabei war es doch eigentlich er, der sich nicht gern mit Menschenaufläufen abgab. Oder hatte sie da etwas falsch interpretiert aufgrund seiner abgeschiedenen Lebensweise?

Innerlich zuckte sie die Schultern und verließ an der Endstation mit sämtlichen Passagieren den Wagon.

Hinter sich hörte sie Flattern von Papier und ein paar laute Worte auf Französisch, die sie auch ohne der Sprache mächtig zu sein, als Flüche identifizieren konnte. Keine halbe Sekunde später tauchte Ryon neben ihr auf und übernahm die Führung zu einem Durchgang, in dem sie eine Reihe von Schließfächern erkennen konnte.

„Klar, mach nur.“

Paige wunderte sich, wann er plante, nach ihrem forschenden Spaziergang noch einmal zurück zu kommen. Immerhin wollten sie ja fast ans andere Ende der Stadt. Aber sie konnten genauso gut die letzte Bahn in die Gegenrichtung nehmen, um wieder zum Hotel zurück zu kommen. Hoffentlich dann mit positiven Ergebnissen oder schon den Informationen über das Amulett, die sie suchten.

Während Ryon sich zu einem der Schließmechanismen begab, um für ein paar Stunden zu zahlen und seinen Mantel einzusperren, blieb Paige in dem Bogen stehen, der den Raum von dem Zugang zum Bahnsteig trennte. Mit dem Rücken zur Wand stand sie da und beobachtete die vorbei hetzenden Menschen. Viele von ihnen waren bestimmt auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Zu ihren Partnern oder Familien. Einige bestimmt auch nur zu ihrer Katze.

Paige überlegte sich nicht zum ersten Mal, ob ihr so ein Leben besser gefallen würde. Ob es zu ihr passen würde einen täglichen Job zu machen, von neun bis fünf zu arbeiten und dann heim zu fahren, zu Mann und Kind, um zu kochen und dann vor dem Fernseher einzuschlafen.

Als sie gerade dabei war ihre Antwort in ihrem Kopf zu formulieren, wurde sie von der Seite angerempelt. So stark, dass sie einen Schritt zur Seite, weg von dem Raum mit den Schließfächern wich und sich dann erst denjenigen ansah, der sie geschubst hatte.

Der Mann war klein und entsprach genau dem, was Paige als ihr eigenes stereotypes Bild von einem Franzosen bezeichnet hätte. Schwarze Haare, Schnurrbart, sogar ein Ringelpullover unter der schwarzen Jacke und eine schiefe Mütze auf dem Kopf, der ihn wirklich wie eine Werbefigur aussehen ließ. Allerdings roch er zwei Meter gegen den Wind nach Übernatürlichem.

Paiges Muskeln spannten sich und es juckte verdächtig unter ihrer Haut, während sie dem Mann in die hellblauen Augen sah und ein fragendes Gesicht machte. Er sprach sie auf Französisch an, was ihr schlagartig bewusst machte, wie hilflos sie in diesem Moment in dieser fremden Stadt war. Der Mann hätte alles sagen können, von einer Entschuldigung für sein Verhalten angefangen, bis zu einer Drohung. Paige wurde unwohl, als der Mann offensichtlich auf eine Antwort wartete.

„Es... es tut mir leid. Ich spreche kein Französisch. Ich kann leider nicht verstehen, was Sie sagen.“

Wieder fing er an auf sie einzureden und kam dabei immer näher. Seine Hand zeigte von ihr Weg in Richtung Ausgang, doch Paige wollte dem Wink nicht folgen, um ihre eventuell notwenige Deckung nicht fallen zu lassen.
 

Als Ryon seinen Mantel verstaut hatte und sich zu Paige umdrehte, war sie weg. Gerade eben hatte sie noch am Durchgang gestanden, jetzt aber konnte er sie nicht mehr sehen.

Irgendetwas in ihm drin rastete ein.

Ohne darauf zu achten, wem er im Weg stand und wie viele Leute gerade noch so anhalten konnten, bevor sie gegen ihn prallten – manche taten es tatsächlich – ging er schnurgerade auf die Stelle zu, wo seine Begleiterin gerade eben noch gestanden hatte. Noch bevor er um die Ecke bog, konnte er immer noch ihren Geruch wahrnehmen, allerdings lag auch bereits eine Nuance von ihrer anderen Seite darin. Was seine letzten Schritte nur noch beschleunigte.

Als er schließlich direkt neben Paige auftauchte, die offenbar gerade von einer absoluten Witzfigur angemacht wurde, obwohl sie ohnehin kein Wort zu verstehen schien, strahlte er eine derartige Kälte aus, dass der Kerl mitten in seinem Redeschwall über Paiges offenkundige Schönheit und wie bezaubernd sie doch aussah, stoppte und in mit offenen Mund anstarrte. Gerade eben hatte er noch damit anfangen wollen, dass er ihr die Stadt auf eine Art und Weise zeigen konnte, wie sie es noch nie gesehen hatte.

Ryon unterdrückte nur mit Müh und Not ein deutliches Knurren, als er sich neben Paige stellte. Er wollte nicht so tun, als könne sie sich nicht selbst verteidigen, weshalb er seinem ersten Impuls nicht nachgegeben hatte. Sonst hätte er direkt zwischen den beiden gestanden. Aber auch so machte er klar, dass der kleine Penner die falsche Frau angemacht hatte.

„Hör zu, du möchtegern Casanova.“, begann er absolut ruhig auf französisch zu sprechen, aber es lag ein seltsam vibrierender Unterton in seiner Stimme. Ryon fühlte die auflodernde Wut zwar nicht, da er es nicht zuließ, aber sein Körper war gespannt wie ein Drahtseil. Eine falsche Bewegung und er würde den Kerl noch kleiner machen, als er ohnehin schon war.

„Ich gebe dir eine einzige Chance, dich lebend zu verpissen. Sag mir, wie wir in die Unterwelt kommen und du kannst deinen Schwanz noch länger behalten. Wenn nicht, werden alle weitere deiner Anmachen völlig sinnlos werden und du wirst dir einen neuen Zeitvertreib suchen müssen.“

Der Franzose wurde so bleich, wie eine Leiche und begann am ganzen Leib zu zittern. Zwar klappte sein Mund immer wieder auf und zu, aber er brachte keinen Ton heraus. Ryon trat einen Schritt nach vor und überragte den Kerl somit um mehr als zwei Häupter.

„Im Allgemeinen bin ich nicht gerade für meine Geduld bekannt.“

Eine Lüge, aber das musste der Kerl ja nicht unbedingt wissen.

„P-Père Lachaise - J-Jean-Pierre Augereau 1772–1836…“, stammelte der Kerl schließlich, woraufhin Ryon mit einem Kopfnicken klar machte, dass der Typ verschwinden konnte. Was dieser auch sofort machte.

Erst als der Kerl verschwunden war, ließ Ryon seine angespannte Haltung etwas fallen und drehte sich zu Paige um.

„Ich hoffe, du magst Friedhöfe.“, war alles was er auf diese Szenerie hin sagte. Es war zwar sehr nützlich gewesen, dass Paige diesen Idioten angelockt hatte, aber dennoch billigte er diesen Vorfall auf keinster Weise. Noch einmal würde kein Kerl die Gelegenheit bekommen, sich an sie heran zu machen. Ob sie es nun wollte oder nicht, im Augenblick war sie mit ihm auf Reisen. Punkt.
 

Paige war froh, dass Ryon über kurz oder lang neben ihr und diesem leicht aufdringlichen Fremden auftauchte. Zwar wäre sie selbst schon irgendwie aus der Situation heraus gekommen, aber es machte sie dennoch nervös, dass sie nicht im Geringsten abschätzen konnte, welche Reaktion angebracht war.

Im Fass konnte sie immer sehr gut abschätzen, welcher der Kerle, der sich etwas zu anhänglich aufführte einfach nur betrunken und welcher angespitzt war. Dementsprechend konnte sie reagieren und dafür sorgen, dass sie alle ohne blaues Auge aus der Sache heraus kamen. Hier war das etwas anderes, weil sie überhaupt nicht wusste, mit was sie es zu tun hatte. Außer einem dauergrinsenden, geschwätzigen kleinen Dunkelhaarigen, der große Gesten liebte.

Die aufgebaute Spannung klärte sich allerdings auch mit Ryons Erscheinen nicht. Eigentlich hätten Eiskristalle an seinen immer noch leicht feuchten Haarspitzen hängen müssen, so wie er sich hier aufbaute.

Der Begriff Eisschrank war gerade nicht einmal mehr angemessen. Hatte sie den Kerl, der nun anscheinend seine Stimme verloren hatte, etwa um so Vieles unterschätzt? So wie Ryons matte, leere Augen auf seinem sehr viel kleineren Gegenüber hafteten, überlegte sich Paige ernsthaft, ob sie als nächstes wohl ein Messer zwischen den Rippen gehabt hätte.

Ryon sprach wie immer mit aalglatter Stimme mit dem Mann, auch wenn man an dessen Reaktion ablesen konnte, dass die Worte wohl von Anfang an nicht besonders freundlich gewesen waren. Das Lächeln, das im Gesicht des Franzosen wie festgeklebt gewirkt hatte, verschwand nach Ryons erstem Satz auf nimmer Wiedersehen. Dass sie sich trotz des ruhigen Tonfalls offensichtlich über etwas Ernsthaftes und Wichtiges unterhielten, machte Paige hibbelig.

Ihre Schuppen bewegten sich unter nur noch dünnen Hautschichten und drohten in den nächsten Minuten hervor zu brechen, wenn sie nicht jemand darüber aufklärte, was hier Sache war. In diesem Schwebezustand, in dem ihr Körper bereits die Verteidigung aufbauen wollte, für die ihr Verstand noch nicht bereit war, überkam Paige immer ein ungutes Gefühl. Es war jedes Mal ein wenig unangenehm, wenn sie ihr dämonisches Wesen nach außen ließ. Es schmerzte nicht so, wie ihr einige Gestaltwandler deren Veränderung beschrieben hatten. Denn Paiges Schuppen lagen immer unter ihrer Haut, waren aber stark mit ihrem Nervennetz verbunden, das beim Erscheinen ihres Schuppenkleides ebenfalls in höhere Schichten ihrer Haut gezerrt wurde. Dass Feuerdämonen leicht reizbar waren, lag nicht allein an ihrem Charakter. Auch wenn das keine geringe Rolle spielte.

So stand Paige da und beobachtete die Szene, in denen sie weder die Position des einen, noch die des anderen Mannes genau feststellen konnte. Und anstatt für sie Licht ins Dunkel zu bringen, rannte der Mann mit der Werbeaufmachung davon, als wäre ein Schwarm Hornissen hinter ihm her, während Ryon sich in gewohnt emotionsloser Weise zu ihr umdrehte. Paiges Gesichtsausdruck musste auf seine Andeutung hin so aussehen, wie ein sprichwörtliches Fragezeichen.
 

„Wenn die hier noch mehr Klischees auffahren, dann will ich kein warmes Abendessen. Ich stand noch nie auf Schnecken.“

Sie stapften schon eine Weile nebeneinander her eine breite Straße entlang, die an den Ort führen sollte, den der Mann als Zugang zur Unterwelt genannt hatte. Paige war nicht nur skeptisch – sie war allmählich auch wirklich schlecht gelaunt.

Anstatt weiter die diffuse Stimmung des Wetters im Zusammenspiel mit den grauen Fassaden der Stadt zu genießen, ärgerte sie sich inzwischen nur noch über die Pfützen auf dem Bürgersteig und den Wind, der ihr an dem langen Mantel zupfte.

An Ryons Stelle, der sich tatsächlich dafür entschieden hatte, seinen Mantel in dem Schließfach zu lassen, wäre ihr ziemlich kalt gewesen.

„Wandler müsste man sein. Friert ihr eigentlich nie?“

Eigentlich war ihre schlechte Laune nur darauf zurück zu führen, dass sie sich wirklich so fühlte, als wäre sie auf Ryon angewiesen. Selbst in der Hauptstadt sprach kaum jemand ihre Sprache. Und selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte sie sich wahrscheinlich nicht besonders gut zurecht gefunden. Das hier war wahrlich nicht ihre Welt und das nervte Paige. Schwäche konnte sie sich durchaus eingestehen, aber das hieß ja noch lange nicht, dass sie sie ohne Gemurre einfach hinnehmen musste.

Durch den Eingang des Friedhofs schlug ihr eine Windbö den Mantelkragen zurück und schickte ihr ein Frösteln über den gesamten Körper. Was nicht allein an der Kälte lag. Eins musste man ihnen lassen, wenn sie schon einen Eingang zu ihrer Unterwelt bauten, dann aber bitte an einem Ort mit Stil.

„Klingt es naiv, wenn ich mir wünsche, dass die hier einen Orientierungsplan haben?“, murmelte sie leise, während sie mit Ryon langsam zwischen den Säulen hindurch auf den Hauptweg des Friedhofs trat.
 

Schon seit sie eine Weile an der Oberfläche unterwegs waren, spürte Ryon deutlich Paiges Unmut. Irgendetwas regte sie langsam aber sicher auf, ohne dass er hätte sagen können, was der Grund dafür war. Dieser kleine Franzose konnte es ja wohl kaum gewesen sein. Mit dem hätte sie locker selber fertig werden können.

Dabei war er selbst alles andere als schlecht gelaunt. Eigentlich hätten sie gleich auf die Idee kommen können, einfach ein übernatürliches Wesen nach dem Weg zu fragen. Natürlich war das riskant und nicht jeder hätte Auskunft gegeben, aber von Übermensch zu Übermensch wäre das sicherlich kein allzu großes Problem gewesen.

Trotzdem, auch Ryon grummelte innerlich noch immer vor sich hin. Er war nicht schlecht gelaunt, so wie Paige, sondern körperlich betrachtet noch immer nicht von seiner Anspannung herunter gekommen. Was seine Nerven auf die Dauer ganz schön strapazieren würde. Allerdings nicht bei seiner Begleitung.

„Sollte einmal der Fall eintreten, weiß ich ja, an wen ich mich halten muss, um eine heiße Umarmung zu bekommen.“

Das war natürlich ein Scherz. Er wollte nie wieder von Paige abgefackelt werden, aber er musste seine instinktiven Ängste in dieser Richtung nicht auf einem Pranger vor sich her tragen. Schwäche war für ihn schon immer etwas gewesen, dass er peinlichst genau vor anderen verheimlichte.
 

„Oh mein Gott. Ryon...!“

Sie sah ihn mit großen Augen an und verlangsamte ihre Schritte, die sie nun über den erstbesten breiten Weg auf das Zentrum des Friedhofes zuführten. Er blieb bei dieser Reaktion selbst beinahe stehen und überflog mit seinen Blicken kurz die Umgebung, ehe er sie fast fragend anstarrte.

„Ein Scherz. Du hast gerade tatsächlich einen Scherz gemacht.“

Natürlich zog sie ihn auf. Aber ihre Bestürzung war nicht annähernd so stark gespielt, wie man hätte meinen können. Er hatte sie mit dem kleinen ironischen Seitenhieb wirklich überrascht – sehr im positiven Sinne.

Lachend und mit einem amüsierten Kopfschütteln stapfte sie weiter, während sie ihre Fäuste tief in den Manteltaschen vergrub.

Konnte man vielleicht an einigen Stellen doch ein paar Risse im Eis sehen? Das wäre doch was. Dann könnten sie sich einmal länger als zwei Sätze miteinander unterhalten.
 

Auf der Stelle schrillten in Ryon alle Alarmsirenen los, als Paige so heftig reagierte. Seine Sinne wurden mit einem Schlag noch schärfer, da er sie noch bewusster nach allen Richtungen ausstreckte, doch er konnte keine Gefahr ausmachen, was auch letztendlich nicht der Auslöser für Paiges Reaktion gewesen war. Sondern er selbst.

Offenbar hatte sie ihm bisher nicht zugestanden, dass er auch einen Scherz machen konnte und um ehrlich zu sein, er selbst hätte es auch nicht gedacht. Trotzdem fühlte es sich seltsam an, dass jemand so überrascht auf seinen doch immer noch ziemlich kalten Humor reagierte.

Früher hatte er ohne Probleme sofort die Stimmung eines ganzen Raumes hoch schnellen lassen können. Paiges Lachen zu hören, war daher wie eine zurück gekehrte Erinnerung aus der Vergangenheit.

Ryon fühlte sich mit einem Schlag vollkommen unwohl. Ihr Lachen, so kurz es auch gewesen sein mochte, ließ seine Nackenhärchen zu Berge stehen und ein elektrisierendes Prickeln rauschte durch sein Rückenmark, bis es direkt in seinem Bauch landete. Daraufhin versteifte sich seine Haltung noch mehr.

Er hatte keine Ahnung, warum ihr Lachen ihm so derartig in Mark und Bein ging. Vermutlich, da sie es das erste Mal in seiner Anwesenheit getan hatte.

„Warum frierst du überhaupt?“, wollte er dann doch wissen, um sich selbst abzulenken und da es ziemlich seltsam klang, wenn es von einer Pyromatin kam, die ein paar Eigenschaften von einem Drachen hatte. Im positiven Sinne gesprochen. Charakterlich war sie sicherlich kein alter Drachen.

Als sie durch den Torbogen des Eingangs gegangen waren, verstand Ryon auf Anhieb nicht, wie man so etwas nur schön finden konnte.

Dieser Friedhof war zugepflastert von oben bis unten nur mit ein paar grünen Elementen darin. Er als Wandler konnte diese Art der Bestattung absolut nicht nachvollziehen. Tote Körper gingen wieder zurück zur Natur, nur davon war hier absolut nichts zu sehen. Das war wirklich eine bildhafte Darstellung für die Unmengen von Egoisten, die nie vergessen werden wollten, egal wie unwichtig sie am Ende doch gewesen waren. Hier hatten sie sich auf ihre Art verewigt.

Ryon fand das alles einfach nur geschmacklos und da es auch Nacht und ziemlich trostlos war, erschien der Ort auch noch auf seine Weise ganz schön unheimlich. Bei diesem Wetter waren kaum Leute unterwegs und nicht jeder von den Seitenwegen war beleuchtet. Der Schein vieler Kerzen erhellte zwar das Meiste, aber für ihn stand schon einmal fest. Diese Sehenswürdigkeit würde er nie wieder in Betracht ziehen.

Paige hatte natürlich auch recht, was die Größe dieser Egostätte anging. Pläne gab es sicher und bestimmt auch eine Liste, auf der man einige der berühmten Leute finden konnte, aber um diese Uhrzeit und bei diesem Wetter, würden sie kein Glück haben. Allerdings wollte er es auch nicht für heute sein lassen und es morgen noch einmal versuchen. Jetzt wo sie schon hier waren, konnten sie sich zumindest schon einmal umsehen, während Paige ihm seine Frage beantwortete.
 

„Erstmal bin ich ja keine ganze Dämonin.“

Ein prüfender Blick zur Seite und in Ryons Gesicht sagte ihr nicht, ob er das bereits wusste. Er hatte ihre andere Seite zu sehen und auch schon zu spüren bekommen. Möglicherweise war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie etwas Anderes als eine Feuerdämonin sein konnte. Wäre ja auch die logische Schlussfolgerung.

„Als Mensch ist mir durchaus kalt.“

Wenn man den Rock bedachte, zu dem sie sich hatte hinreißen lassen, war das im Moment sogar noch ein wenig untertrieben. Sie hoffte bloß, dass sie bald diesen Eingang fanden.

„Wie viel weißt du denn über Feuerdämonen? Wir sind... - oh, sieh mal!“

Sie deutete auf eine Gestalt, die wie sie beide gegen den kalten Wind kämpfend ein wenig nach vorn gebeugt, gerade zwischen zwei hohen Grabsteinen verschwand.

Paige konnte zwar nicht riechen, um was für ein Wesen es sich handelte, aber wenn derjenige hier nachts so zielstrebig herumlief, dann konnte das nur etwas Gutes für sie bedeuten. Bestimmt könnte er ihnen sagen, wo sie den Abstieg zur Unterwelt fanden.

Kaum, dass sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, steuerte sie hinter dem Fremden her ein paar glitschige Steinstufen hinauf und dann auf eine Wiese. Dort sah sie kurz an einem der Grabsteine hoch, bevor sie sich zwischen ihnen hindurch schob und nach der Silhouette des Mannes im Zwielicht Ausschau hielt. In dem bisschen Kerzenschein und der Beleuchtung des Hauptweges war für sie nicht viel zu erkennen. Sie sah über ihre Schulter, als sie Ryon hinter sich über das Gras kommen hörte.

„Ich hab keine Ahnung, wo genau er hin ist. Möglicherweise ist er d – AAAAAAAAAH!“

Der Boden kam unter ihren Füßen derart ins Rutschen, dass sie sich nirgendwo festkrallen konnte. Das Gras, an dem sie sich festklammerte, riss einfach aus dem vom Wasser aufgelösten Schlamm. Wurzeln schlugen ihr ins Gesicht, während sie von einer kleinen Schlammlawine mit in ein kleines Loch im Erdreich gerissen wurde. Ein Stück fiel sie sogar und landete unsanft auf ihrer Kehrseite, bevor ein ganzer Schwall Erdreich auf sie hinunter prasselte.

Mit einem Stöhnen setzte sich Paige auf und wischte sich erst einmal den klebrigen, kalten Dreck aus den Augen. Die Umgebung war bis auf das wenige Licht, das von oben herein fiel, stockdunkel. An ihrem Zeigefinger flammte ein Feuerschein auf, der sofort wieder erlosch, als sie erschrocken zusammen fuhr.



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