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Eine Art Lebenslauf oder Liebeserklärung

von

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Es ist Mittwoch und ich könnte kotzen. Diese unbestimmte Langeweile gepaart mit dieser unbestimmten Unruhe. Dieses unbestimmte Wetter, diese unbestimmte Sehnsucht nach etwas, irgendetwas - Nur was? Alles ist so unbestimmt. So Milch-Beige mit Milch-Grau zwischen Milch-Weiß. Milchig und unbestimmt. So sehen meine Tage aus, so sieht mein Leben aus. Ich könnte etwas dagegen tun, ja, sicher. Könnte aufräumen, staubsaugen, die Wäsche aufhängen, das Fahrrad reparieren... Lauter viele Kleinigkeiten, aber nichts Wichtiges, nichts von Bestand und Aussagekraft.

"Und, was hast du in deinem Leben so gemacht?"

"Die Wäsche aufgehangen."

"Hat es was gebracht?"

"Nein, ist trotzdem wieder schmutzig geworden."

Super!

Ich will etwas in meinem Leben bewegen, etwas verändern, etwas revolutionieren, etwas Großes vollbringen! Ein Nobel-Preis wäre nett. Für die erfolgreiche und andauernde Heilung eines Krebspatienten im G3-Stadium. Oder zumindest etwas, an das man sich erinnert. Über das man nachdenkt, darüber schmunzelt mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Endlich die Soziale-Wende vollbringen, alle Hungernden ernähren mit einer selbstbesporenden, gesundheitsfördernden Ernährungspaste mit allen Vitaminen, Proteinen und Nährstoffen, die der Mensch - Ach, jedes Säugetier so braucht, die komplett ohne Wasser, Sonne oder Erde wächst! Jawohl! Ich will unsterblich werden!

Ich hab aber gerade mal Abi. Und das ist nicht mal gut. Ich habe keine Ausbildung, kein Studium, keine Arbeitsstelle, bin 23 Jahre alt, ohne Motivation, Ziel und Begeisterung - Nicht mal Geld! - und will wie jeder andere Mensch doch einfach nur einmal wirklich glücklich sein. Wenn es schon mit dem Nobel-Preis nicht klappt, dann bitte wenigstens glücklich sein.

Ich dachte, ich hätte mein Glück gefunden, damals, als wir Internet bekommen haben. Ich war dreizehn, neugierig und ungeduldig. Ungeduldig sein ist nicht schwierig bei einer LAN-Verbindung mit gefühlten 2 Kilobytes pro Sekunde. Die reichten aber aus, um die ersten privaten Homepages zu entdecken, von anderen 13-Jährigen im Pokémon-Fieber und Entdecker-Wahn und die ersten illegalen Downloads - In begrenzten Maßstäben. Ein Lied brauchte bis zu unserem Rechner gute 2 1/2 Stunden, dann war die Festplatte so voll, dass es gerade noch so gereicht hat, um das Lied auf CD zu brennen. Auf Diskette haben sie ja nicht mehr gepasst. Ich hatte ungefähr einhundertzwanzig CDs mit nur einem Lied drauf, im Mp3-Format, mit dem meine Mutter zum Glück noch nichts anfangen konnte. - Und eine Internetverbindung von 2Kb/s reichen aus, um zu chatten. Beepworld-Chat, das war mein Fenster in eine neue Welt, zu ganz neuen Möglichkeiten! An einem Abend konnte man dort ein ganzes Leben durchmachen. Sich verlieben, streiten, heiraten, Kinder adoptieren, Familien zerreißen, betrügen, sich scheiden, sich streiten - sich einen neuen Nick geben und alles von vorne durchspielen. Ja, so etwas habe ich getan und nein, da bin ich nicht stolz drauf. Ich hatte zwei, drei, an manchen Tagen sogar vier Freundinnen gleichzeitig, musste mir irgendwann die Namen aufschreiben, um den Überblick nicht zu verlieren. Und mit steigendem Alter meiner 'Opfer' stieg auch mein Ego. Ein Dreizehnjähriger kann sich ungeheuer viel darauf einbilden, seiner (angeblich) 34 Jährigen, (angeblich) weiblichen Chat-Partnerin den virtuellen Slip ausziehen zu dürfen. Natürlich habe ich nie gesagt, dass ich 13 bin. So wie alle anderen auch nicht. Ich war glücklich in der Zeit, weil ich beliebt war, begehrt, umstritten und gehasst. Weil ich Ich-Selbst sein konnte und in aller Konsequenz die Reaktionen darauf bekam. Wirkliche Konsequenzen hatte das Ganze allerdings nur einmal. Als mich meine virtuelle Freundin tatsächlich besuchen kam.

An dem Tag, an dem ich sie in Köln am Bahnhof abgefangen habe, um sie zu meiner Cousine zu bringen, bei der sie schlafen sollte, wurde ich zum zweiten Mal glücklich. Weil ein Teil meines virtuellen Erfolges real wurde. Aus geschriebenen Küssen wurde echter Sex, mit damals 15 Jahren sogar noch unter dem Durchschnitt meiner real-coolen und real-beliebten Klassenkameraden. Ich war glücklich und wurde unglücklich. Es wurde langweilig. Sie war nur ein einziger Mensch und ihre Küsse schmeckten immer gleich, der Sex mit ihr war, nun, immer gleich unangenehm und anstrengend und irgendwann kam die Nummer 2.
 

Eigentlich war es mehr ein Unfall. Mein erster Kuss war ein Unfall, warum also nicht auch meine zweite Freundin? Wir waren in der zehnten Klasse, der erste Jahrgang, in dem - außer in Religion - die Kurse selbst gewählt und klassenübergreifend gemischt wurden. Ich habe Informatik gewählt. Ja. Weil ich doch so computerinteressiert war und irgendwie nicht mitbekommen habe, dass Informatik eigentlich nur ein Pseudonym für Mathematik ist. Der Unterricht war schrecklich und die Gruppenarbeit grausam. Ich kannte niemanden aus meiner Gruppe, die aus mir und einem arrogantem, unnahbarem, besserwisserischem Mädchen bestand. Erst auf den vierten oder fünften Blick erkannte ich, dass sie nicht arrogant, sondern stolz und würdevoll war, nicht unnahbar, sondern unsicher und verletzlich und nicht besserwisserisch, sondern wirklich intelligent war. Und vor allem erkannte ich erst auf den neunten oder zehnten Blick, dass ihr Prinzip der Arbeitsteilung ("Du machst das fertig und bringst es mir vorbei!") nur ein unbeholfener Versuch der Annäherung war. Irgendwie kamen wir uns über die Faszination und das Gezeter trotzdem näher und eines Tages standen wir in ihrem Zimmer, in der kleinen Appartement-Wohnung ihrer Mutter, die nebenan staubsaugte, unter dem billigen Ikea-Lampion, der viel zu tief für mich hing und küssten uns. Es war der bis Dato beste Kuss meines Lebens, ungeachtet der Tatsache, dass meine neue, heimliche Freundin unsere Beziehung geheim halten wollte und ich musste, weil ich ja noch eine andere, offizielle Freundin hatte. Aus irgendeinem Grund konnte ich damals nicht die moralischen Skrupel aufbringen, die mich heute eingeholt haben. Und während ich nur zwanzig meiner dreißig, wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis angeordneten Sozialstunden im Garten des städtischen Studentenheimes ableistete, textete ich mit beiden Frauen gleichzeitig und versicherte ihnen meine Liebe. Ich war glücklich.

Nun, es kam wie es kommen musste. Obwohl Nummer 2 unsere Beziehung weiter auch vor unseren Freunden geheim halten wollte, bestand sie dennoch darauf, die Beziehung zu Nummer 1 zu beenden, weil sie sich sonst an meiner statt schlecht fühle. Ich bewunderte diese infantile Doppelmoral, beendete die Beziehung zu Nummer 1, verlor Nummer 2 an ein Auslandsjahr und irgendeinen Kiffer in Amerika, war klein und einsam und ungeliebt und hatte es gerade eben so, irgendwie wieder auf die Beine geschafft, als Nummer 2 zurück kam. Aus Amerika. Und mir mit Tränen in den ach so braunen Augen beichtete, sie habe den Kiffer nur genommen, um über mich weg zukommen, könne sich aber trotzdem keine Beziehung mehr zu mir vorstellen, weil sie sich weiterentwickelt habe und ich nicht. Halleluja. Ein Gutes hatte dieses legendäre Gespräch im dunklen, verlassenen Stadtpark mit alten Kerzen und betrunkenen Küssen: Ich raffte meinen Arsch zusammen und zog zu Hause aus. Zum dritten Mal in meinem Leben war ich irgendwie glücklich.
 

Ich war siebzehn, hatte echte Freunde, eine Frau, die mich begehrte aber nicht haben konnte, eine Wohnung mit meiner großen Schwester und einer Freundin und ein Auto. Wir waren in der zwölften Klasse und die wenigsten Schulstunden verbrachten wir tatsächlich in der Schule. Die meiste Zeit des Sommers waren wir damit beschäftigt, bei mir in dem kleinen Zimmer mit dem Umzugskarton vor dem Fenster zu sitzen, König der Löwen und Super Mario Kart auf dem alten Supernintendo zu spielen, billigen Wein zu trinken, Shisha zu rauchen und fettes Essen zu essen. Ein Leben wie von Königen. Man hätte meinen können, dass die Monate uns gemästet hätten, aber im Gegenteil verloren wir endlich den Babyspeck des Familiären-Einzugsfeldes und wurden so etwas ähnliches wie erwachsen.

Dann kam der Winter und mit dem ersten Schnee fielen die ersten Abmahnungen in der Schule auf uns. Wegen Fehlstunden, Fehlverhalten und fehlenden Noten. Ich war der Einzige, der den Ernst der Lage nicht begriff und statt die Schulbank auf die Tränendrüse drückte. Aus dem Kollektiv, das wir waren wurde ich. Ich alleine vor dem Supernintendo, ich alleine mit zu viel Wein, ich alleine, der ja gar nicht kochen konnte. Das Grau des deutschen Winters drückte auf mich herab, wenn ich alleine versuchte in meinem alten Mazda 323 Shisha zu rauchen, ohne den ganzen Wagen in Brand zu stecken, während meine Freunde zur gleichen Zeit nur 200 Meter entfernt im Klassenraum saßen und ihre Vor-Abi-Noten retteten. Die Welt war scheiße. Unsere WG brach auseinander, das kurze moralische Hoch einer Hochgeschwindigkeits-Affäre mit Nummer 2 wurde von der ewigen Tristesse der ewige Ersatz zu sein hinweg gespült und zu allem Überfluss konnte ich Nummer 2s neuen Macker sogar recht gut leiden.
 

Und wieder hatte ich es gerade eben so, irgendwie wieder auf die Beine geschafft, es durch den dunklen, kalten Winter geschafft und sogar den ersten Lachkrampf des Frühlings erlebt, da kam sie. Wie der letzte Schubs in die Brandung, der gut gemeinte Tritt in den Rücken, die kurzgeschlossene Heizdecke auf den letzten, grau-melierten Februar-Resten des Rinnstein-Schnees. Und wieder war es eigentlich ein Unfall. Wir lernten uns auf einer Party kennen. Sie zu Besuch bei einer Freundin, ich mit bescheidener Laune von eben jener Freundin und dem ganzen Rest unseres wieder zusammengerauften Kollektivs mitgenommen. Sie, auf den ersten Blick so überhaupt nicht mein Typ. Ich, auch noch auf den zweiten Blick, ein chronisch unsicherer 18-Jähriger, der selbst mit Ausweis noch kein Bier bekam. Die Mischung stimmte. Wir unterhielten uns eine Weile ganz gut. Sie saß auf dem Schoß eines gemeinsamen Bekannten, was mich ungemein beruhigte. Ich versuchte beinahe verzweifelt den beiden ihre Ruhe zu lassen, was von vornherein zum Scheitern verurteilt war, weil sie nur von dem Kerl in Ruhe gelassen werden wollte. Als zu später Stunde dann schließlich der inzwischen zu einem gängigen Synonym gewordene Spruch "Du hast da was..." fiel, zog ich mich endgültig zurück. Ich wollte dem Bekannten, den ich nicht mochte, keinesfalls im Weg stehen, die Dame zu erobern, die ich seltsam fand. Seltsam und faszinierend.

Der Abend verging und endete wie gewohnt alleine und in absoluter Stille auf der Matratze meines von spät-pubertären Einflüssen durchzogenen Zimmers. Der Eindruck, den diese Wände hinterließen, schwankte beständig zwischen 'Ich will erwachsen sein' und dem kontroversen, aber ehrlicheren Anspruch 'Lasst mich Kind sein!' Da reihte sich ein Schau-Schwert an Spongebob-Sticker auf dem Fernseher, Polaroid-Fotos meiner Freunde waren neben den ausgeschnittenen Abbildungen teurer Ferraris an die Wand gepinnt und in den zwei Fächern meines Regals, in dem Bücher standen, teilten sich Lektüre-Hilfen, Geschichtsbücher, spät-antike Romane, Lucky-Luke-Comics und Jugendbücher den Raum. Ich vergaß die seltsame Bekannte unter diesem Einfluss noch in der selben Nacht.

Bis am nächsten Tag mein Handy klingelte und die gemeinsame Freundin aus der Nachbarstadt anrief und mich nach Köln einlud. Ich hatte keine Lust. Ich war schlecht gelaunt, fühlte mich mit 18 wie in einer Midlifecrisis und wollte eigentlich nur trinken, Shisha-Rauchen und Nintendo spielen. Das Essen versuchte ich aus Geldmangel einfach ganz aufzugeben. Ich lehnte die Einladung ab, natürlich mit freundlicheren und optimistischeren Worten, als ich sie hier benutze, denn wie die meisten Teenager wollte auch ich nicht, dass irgendwer bemerkte, wie unwahrscheinlich beschissen es mir ging. Damals gab ich mich noch der Illusion hin, dass es wirklich funktionierte. Heute weiß ich es besser.

Eine halbe Stunde nach dem Telefonat berichtete ich meiner Schwester davon. Ihre einzige Reaktion war ein wissendes Lächeln und ein unverschämt eindringlicher Blick. "Was?", fragte ich gereizt und knetete den Krokodil-Radiergummi von ihrem Schreibtisch in der Hand. Sie sah mich weiter stumm an. Im Hintergrund lief die Musik, die meistens bei ihr lief. Selbst zusammengestellte Sampler aus meiner Musik, möglichst verschreddertem Punk, und uralten 'Klassikern' die niemand kannte, den ich kannte. Außer ihr. "Was?!", fragte ich lauter und gereizter und brach den Radiergummi versehentlich in zwei Hälften. Sie nahm ihn mir behutsam aus den Fingern und bat mich, ja, _bat_ mich wirklich: "Fahr nach Köln." In diesem Moment begann ich vielleicht zum ersten Mal zu begreifen, wie gut mich meine Freunde eigentlich durchschauten und wie wenig ich ihnen vorspielen konnte, dass es mir gut ging. Die Wut fiel von mir ab und stattdessen bettelte ich solange, bis sie zustimmte mit mir zu fahren. Also rief ich die gemeinsame Freundin wieder an, dass wir kommen würden und wir verabredeten uns. Als wir ankamen, war niemand da. Wir warteten, niemand kam. Ich versuchte anzurufen, aber das Handy war ausgeschaltet. Es dauerte, bis der Rückruf kam, vielleicht 2 Stunden oder länger. Meine Schwester war genervt aber um Geduld bemüht ich versuchte gelassen und souverän zu tun, als ich hörte, dass die anderen beiden schon wieder zu Hause waren. Es ist übertrieben zu sagen, dass ich mich an den Rückweg nicht mehr erinnern kann, weil die Nachricht zu ernüchternd und enttäuschend gewesen sei. Fakt ist jedoch, dass ich mich wirklich nicht mehr an den Rückweg erinnern kann, genauso wenig wie an den Hinweg.

Ein oder zwei Tage später meldete sich die Freundin der gemeinsamen Freundin bei mir per ICQ. Und, was soll ich sagen? Von da an fühlte ich mich besser. Ein wenig auch an meine erste Zeit im Internet erinnert, an Chaträume und kleine Dramen und ich weiß bei Gott nicht mehr ansatzweise, was ich ihr alles erzählte, ich weiß nur noch, dass es großer, großer Schwachsinn war. Ich wollte cool sein, stark und mutig, wollte sie auf Teufel komm raus beeindrucken. Meine Geschichten waren so übertrieben, dass sie niemand glauben _konnte_ und die Intention, die in ihnen steckte zu deutlich, um sie ernst zu nehmen. Wie auch immer, wir hatten einen wirklich guten Monat mit Gesprächen, die bis tief in die Nacht dauerten, philosophischen Exkursen und Lachanfällen, die mir um 4 Uhr morgens Ärger mit meinen Mitbewohnern bescherten. Aber vor allem hatte ich eins: Die Erkenntnis, dass diese Frau nicht seltsam, sondern wahnsinnig intelligent und selbstbewusst war. Sie kannte ihren Weg, wo ich noch in selbst geschaffener Dunkelheit tappte, trug dies aber nicht mit Stolz und Würde, sondern einer Selbstverständlichkeit zur Schau, die jeden mit sich riss. - Nun ja, _mich_ riss sie mit, wie es anderen ging, wusste ich ja nicht. Sie war kreativ - und wenn es etwas gibt, womit man mich beeindrucken kann, dann ist es Kreativität. Egal ob es Zeichentalent, ein Instrument oder eine Singstimme ist. Ich war fasziniert. Aber ich muss gestehen, diese Faszination beschränkte sich aufs Virtuelle.

Diese Intelligenz, die nicht selten an Weisheit kratzte, das Wissen um den eigenen Weg, um sich selbst, worum ich sie wahnsinnig beneidete, all das konnte in meiner Welt nicht existieren. In meiner Welt war es dunkel. Und wenn ich Glück hatte, kam ab und zu jemand mit einer Taschenlampe vorbei, durstig und hungrig von den langen Irrwegen und machte bei mir eine kurze Pause, zerrte mich mal in die eine, mal in die andere Richtung ein Stück mit. 'Luft holen von der Welt der Verantwortung und noch einmal kurz Kind sein'. So ähnlich hat man es mir einmal formuliert. Für einen eigenen Weg war es für mich noch zu früh. Wenn ich sage, dass ich mich benutzen ließ, dann meine ich es ohne Boshaftigkeit, Rachegefühle oder Vorwürfe. Es war Fakt und ich ließ es zu. Eine Frau wie sie, die mir Raum gab, die mir einen eigenen Weg zugestand und mich als Jemand sah, der mehr war, als ich mich fühlte - So ein Mensch war zu viel für meine Realität.

Und als wir uns nach einem Monat wiedersahen, war es für mich, als würde ich einem anderen Menschen begegnen. Weder enttäuschend, noch verwirrend, einfach ein anderer Mensch. Ich hatte ja nie erwartet, dieser virtuelle Frau jemals zu begegnen. Die Frau, der ich nachträglich zum Geburtstag eine Flasche Met schenkte, war einfach eine andere Freundin. Eine gute Bekannte. Und auch, wenn ich heute oft erzähle, dass ich mit Wachs auf die Tischdecke gemalt habe, weil ich ihre Aufmerksamkeit erregen wollte - dem war nicht so. Ich war nervös. Wir redeten über Nonsense und ich dachte an diese perfekte, virtuelle Frau, die so unerreichbar für mich war, dass es weh tat, dass der Rest der Welt um mich herum unwichtig wurde. Denn da war dieses eine Licht, dieser eine Mensch und ich schaffte es nicht, die Augen richtig zu öffnen und diese beiden Menschen, diesen virtuellen Traum und diese reale Frau miteinander zu vereinen.

Bis - Ja, ich weiß gar nicht so genau, wo an diesem Abend der Bruch war. Ich erinnere mich nur noch daran, dass wir auf einmal zusammen im Hof saßen, in einer Fensternische, mitten zwischen Hundert Menschen und doch abseits. Wir hielten uns an der Hand und ich kann mich bis heute nicht an den Zeitpunkt erinnern, an dem wir nach der Hand des anderen gegriffen haben. Wir redeten und mit jedem Wort über Musik, Filme, Philosophie und was weiß ich noch nicht alles, schoben sich die beiden Bilder übereinander. Virtualität wurde zu Realität. Meine Freunde fuhren, wir blieben. Stunden später saßen wir noch weiter abseits, waren ein Stück in den Park gelaufen, noch immer Hand in Hand, und saßen auf einer kleinen Mauer zwischen Sträuchern und Bäumen. Sie hatte einen Umhang um uns beide gelegt, ich einen Arm um ihre Schultern. "Ich fühl mich, als würde ich fallen", murmelte sie, nach gestandenen zwei Flaschen Met mit unsicherem Lächeln. Irgendwo auf dem Weg dorthin hatte ich den Punkt verpasst, an dem sich unsere Rollen getauscht hatten. Ich fühlte mich selbstbewusst, groß und stark. "Lass los", flüsterte ich selbstsicher. "Ich fang dich auf."
 

Wir küssten uns an dem Abend. Natürlich, möchte ich fast sagen. Seit dem sind 5 Jahre vergangen. Ich weiß, es ist gelogen wenn ich sage, dass ich das vierte Mal in meinem Leben glücklich war und sich seitdem nichts geändert hat. Aber bei dieser Nummer 3 ist es geblieben. Meine anfängliche Selbstsicherheit war schnell wieder verflogen. Aber sie ist bisher noch jedes Mal wiedergekommen und das nicht nur, weil ich älter und reifer geworden bin. Sie - _Du_ gibst sie mir jedes Mal wieder. Weil du mich glauben lässt, dass da wirklich irgendetwas an mir ist, was gut ist. Weshalb du mich liebst. Was es ist habe ich bis heute nicht feststellen können, und werde es wahrscheinlich auch nie wirklich raus finden. Aber fest steht, dass ich die Male, die ich in meinem Leben vor dir glücklich war, _wirklich_ glücklich, an einer Hand abzählen kann, und die Male, die ich seit dem mit dir glücklich bin nicht.

Es ist nicht so, als seien diese fünf Jahre eine einzige Blase aus Glück gewesen. Es gab Tage, an denen wir kein einziges Wort miteinander gesprochen und in grimmigem Schweigen nebeneinander, den Blick stur geradeaus, vor den PCs gesessen haben. Es gab Momente, in denen wir uns am liebsten geschüttelt und angebrüllt hätten. Es gab eine Zeit, in der ich dich verlassen wollte. Eine Auszeit. Pause. Und die Reaktion, die ich auf diese Worte bekam, hat mich bis Heute am meisten beeindruckt. Du hattest den Mut und die Kraft es in Ordnung zu nennen und um mich, nicht mal uns, sondern allein um mich zu kämpfen. Mit mehr Mut und Kraft, als ich dir bis dahin zugetraut hätte. Ich weiß nicht, wie viele Male ich mich in diese Frau verliebt habe, aber ich weiß, dass dieses eine Mal das wichtigste Mal war. Wir sind fünf Jahre zusammen und noch nie warst du mir langweilig. Und Langeweile ist mein größter Feind.
 

Du warst mein Vorbild, als ich für meine Abiturprüfungen gelernt habe, denn ohne dich hätte ich noch sehr viel schlechter abgeschnitten. Du warst mein Vorbild im Studium und dank dir weiß ich, dass man manchmal Dinge einfach tun muss, auch wenn man nicht weiß, wie sie ausgehen. Das haben wir uns gegenseitig beigebracht. Und auch wenn nicht alles so gekommen ist, wie wir oder ich es wollten, wenn ich heute hier stehe und nicht weiß wohin ich gehe, weil ich ein mittelmäßiges Abitur habe, aus dem Studium geflogen bin und meine Ausbildung abgebrochen wurde, bevor sie begonnen hat - Wir wissen beide, dass es weitergeht. Auch wenn ich vielleicht deinen Ansprüchen nicht entsprechen kann, wohl nie der Familienernährer sein werde, nie wirklich sesshaft sein und wahrscheinlich auch nie etwas bis zum Ende durchziehen kann. Der Wunsch, in meinem Leben etwas Großes zu tun, etwas zu bewegen und in Erinnerung zu bleiben, bleibt. Aber seit ich angefangen habe, dies hier zu schreiben, habe ich etwas sehr wichtiges gelernt. Das eine hast du mir beigebracht, dass man nichts Großes tun muss, um wirklich glücklich zu sein. Dass das kleine Glück beständiger ist. Die zweite Lektion war härter und das witzige ist, ich wollte sie jemand anderem beibringen, damit derjenige zu seinem Glück findet.
 

Es ist Freitag und diese unbestimmte Langeweile ist noch immer da. Die milchig-graue Welt ist nicht verschwunden und diese unbestimmte Sehnsucht brennt noch immer. Vielleicht noch schlimmer, weil die Erkenntnis, wahrscheinlich nie etwas Großes, etwas Bewegendes erreichen zu können, nie den Nobel-Preis für ein Krebsheilmittel oder für die Wunderpaste gegen Hunger zu erhalten echt beschissen runterzieht. Und wenn ich zurückschaue weiß ich nicht, wie ich hierher kommen konnte. Wie ich mir all diese Sachen selbst versauen konnte und wie ich all dieses unverdiente Glück haben konnte. Ich stehe wieder im Dunkeln, mit einer flackernden 2,50€-Taschenlampe aus dem Louis-Store und nichts als meinem guten Willen in der Hand. Und selbst der ist sich manchmal nicht sicher.

Aber dann will ich dir eine SMS schreiben, weil du weit weg bist und ich ein schlechtes Gewissen habe nicht bei dir zu sein. Und bevor ich das letzte Wort getippt habe, rufst du an. Lachst und sagst 'Wusst ich!'. Erzählst mir von deinem Tag, von Zombies und Drachen und vielen schwitzenden Kriegern, die faule Eier sammeln. Und wenn deine Stimme wieder verklungen ist, ist die Welt noch immer milchig-grau und unbestimmt. Aber es ist mir egal. Meine Taschenlampe flackert, aber zehn Meter weiter stehst du im Dunkeln und deine Taschenlampe scheint ein wenig heller. Es ist lange her, dass ich deine Hand genommen und gesagt habe, ich würde dich auffangen und inzwischen müssten unsere Hände elendig verschwitzt und klebrig und eklig sein, wie sie so ständig aneinander halten. Du hast mich nie an mein Versprechen erinnert, aber ich habe es nie vergessen. Und ich werde dich nicht loslassen, bis unsere Hände verdammt nochmal aneinander festgewachsen sind.
 

Ich könnte noch mehrere Seiten lang solche Sachen sagen. Wie sehr ich dich bewundere, dich liebe und verehre, manchmal auch hasse. Was du mir und für mich alles bedeutest, was ich dir verdanke und wohin du mich gebracht hast. Aber das wird noch kommen. Ich habe kein Geld und keinen Job, weiß nicht besonders viel von der Welt und bin nicht immer leicht zu ertragen. Aber ich habe dich. Und deine Liebe. Und das macht Tage wie diese erträglich. Macht andere Tage gut. Macht gute Tage zu besonderen. Ich liebe dich. Und wenn ich dir schon kein Geld bringen kann, keine schönen Basteleien oder Gemälde, keine Lieder für dich singe oder wenigstens hübsch aussehe, werde ich dich trotzdem immer, egal unter welchen Umständen auffangen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Vogelfisch
2011-07-31T11:03:57+00:00 31.07.2011 13:03
just: <3


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