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Die große Leere

von

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Trauerkekse

XIII. Trauerkekse
 

Als Justin voll angekleidet aus dem Badezimmer trat, fand er Brian und Gus in trauter Zweisamkeit vor dem Fernseher vor. Gus versuchte gerade, Brian die Figuren von Spongebob zu erklären und Brian bemühte sich leidlich, ihm zu folgen, während er in seinem Kaffee rührte. „Kaffee ist in der Maschine“, brummelte er zu Justin, ohne ihn anzuschauen. Justin ließ seinen Blick über die beiden gleiten. Sein Herz tat ihm weh, als er den kleinen Jungen anschaute, der so viel zu ertragen hatte. Und Brian… Justin atmete tief durch. Es war hart, ihm so nahe zu sein, ohne ihm wirklich nah sein zu können. Ihn zu berühren. Zu schmecken. Auch verschlafen und zerknittert von der Nacht, müde und traurig, wie er es gerade war, war Brian für Justin das schönste Lebewesen, das er sich vorstellen konnte. Er wollte sich um ihn wickeln und ihn nie wieder los lassen. Und er wusste, dass er das nicht durfte, sollte ihr Arrangement nicht in einer Katastrophe enden. Und er war hier um Gus‘ willen, mahnte er sich. Das hatte er versprochen.
 

Das Telefon klingelte und Brian nahm ab. „Wann?“ fragte er angespannt. Dann: „Mr. Taylor ist bei mir, ich werde es ihm ausrichten“, „Wir werden da sein.“
 

„Was ist los?“ fragte Justin. Eine Frage, die er sich in den letzten Tagen auf brutale Art viel zu häufig hatte stellen müssen.
 

„Mels Anwälte. Heute Nachmittag ist die Testamentseröffnung von Linds. Wir sollen kommen.“
 

„In Ordnung“, sagte Justin mit gedrückter Stimme.
 

„Du musst dir was Anständiges anziehen.“
 

„Ich hatte nicht vor, nackt zu erscheinen, falls du das befürchtet haben solltest. Ich hab noch nen alten Anzug, den ich bei der Beerdigung meines Großvaters getragen habe. Der müsste noch einigermaßen passen.“
 

„Wann ist er gestorben?“
 

„Als ich sechzehn war.“
 

Brian rollte die Augen. Justin in einem Schuljungen-Outfit war bestimmt nicht das, was für einen Besuch beim Notar angemessen war. Eher für einen Besuch im Strip-Club. Als Hauptakt. „Nix da“, beschloss Brian, „du rennst nicht in Klamotten los, bei denen jeder denkt, du seist minderjährig und ich dein Sugar-Daddy! Ich hab noch deine Maße, ich ruf bei meinem Schneider an und frag nach, ob sie etwas Passendes bis heute Nachmittag zur Verfügung stellen können.“
 

„Würde es Sinn machen, wenn ich protestieren würde?“
 

„Nein.“
 

Jetzt war es an Justin, mit den Augen zu rollen. „Nun gut. Mach, was du willst. Ich werde ein braver Junge sein… Was machen wir mit Gus? Kommt er mit?“
 

„Besser nicht. Ich dachte, dass er solange vielleicht zu Michael und Ben und Debbie… und wer sonst noch grad im Versailles von Stepfordhausen zu Gast ist… kann. Da müssen wir sowieso heute hin. Und Jenny ist Gus Schwester. Die beiden sollten sich sehen, auch wenn sie noch ein Baby ist, das kaum etwas mitbekommt.“
 

Justin stimmte ihm zu. Das Telefon klingelte erneut und Brian meldete sich. „Für dich, die Galerie“, sagte er. Justin nahm ihm den Hörer ab. Das Gespräch war kurz, Justin sagte nicht viel mehr als „Oh“, „Das wäre wunderbar“, „Das Angebot nehme ich an“. Er legte auf und die Spur eines Lächelns legte sich über seine Züge, auch wenn es etwas traurig geriet.
 

„Gute Neuigkeiten ausnahmsweise?“ fragte Brian aufmerksam.
 

„Ja. Meine Bilder gehen weg wie warme Semmeln, die Käufer überbieten sich gegenseitig. Und je mehr sie zahlen desto besser für meinen Bekanntheitsgrad. Und der ist die Währung der Kunstwelt. Und natürlich gut für mein Konto. Sie bieten mir den ständigen Vertrag an.“
 

„Das… das freut mich, Justin. Wirklich. Das ist wunderbar.“ Brian fühlte echten Stolz. Er hatte immer gewusst, wie gut Justin war. Er verdiente es, dass auch andere das erkannten, dass sein Werk, seine Mühen gewürdigt würden. Und es zeigte, dass alles nicht vergeblich gewesen war… Er drückte Justins Schulter, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Es hatte Zeiten gegeben, da wäre es ihnen absurd erschienen, dass ein Schultertätscheln der höchste Grad an Berührung sein sollte, den sie sich bei klarem Bewusstsein erlauben konnten.
 

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Brian hatte ihm einmal gesagt, dass es keine Rolle spiele, was er über Justins Kunst dachte. Das stimmte nicht. Für Justin spielte es eine Rolle. Eine Zentrale. Auch wenn sie sich nie wieder näher kommen sollten als jetzt – Justins Kreativität und seine Gefühle für Brian schöpften aus derselben Quelle. Waren in einigen Bereichen eins. Ohne Brian Zustimmung, was seine Arbeit anging, passte nichts so recht ineinander.
 

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Nachdem Brian und Gus im Bad fertig geworden waren, brachen sie auf. Sie parkten den Leihwagen direkt vor der Haustür der Novotny-Bruckners. Als sie ausstiegen, passierte gerade Monty die Straße, seine jüngere Tochter im Kinderwagen vor sich her schiebend. Er musterte Brian säuerlich. „Mein Beileid“, sagte er, blieb aber nicht stehen. Nun ja, Brian hatte sich auch wirklich nicht bei ihm beliebt gemacht.
 

Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis sie alle Umarmungen, Beteuerungen und Tränen hinter sich gebracht hatten. Inzwischen war auch Jennifer Taylor mit ihrer halbwüchsigen Tochter zu der kleinen Trauergemeinde gestoßen und half, wo sie konnte. Es bedrückte sie, ihren Sohn unter so unschönen Umständen wieder zu sehen. Sie und Molly hatten Justin vor ein paar Monaten in New York besucht, auch telefonierten sie häufig – aber mehr ließen Distanz und vollgestopfte Terminkalender bisher nicht zu. Gus wurde von Debbie unter Beschlag genommen, die ihn unter Brians kritischem Blick knuddelte. Gus wirkte etwas erschlagen von der geballten Aufmerksamkeit. Brian fürchtete, dass der Junge von der emotional aufgewühlten Meute förmlich überrollt wurde. Der Kleine hatte immer noch nicht ganz begriffen, was vor sich ging – wie könnte er auch? Er war sehr tapfer – aber er war ein kleines Kind. Wie viel konnte er ertragen? Justin rettete Gus und trug ihn auf dem Arm zu seiner schlafenden Schwester in den ersten Stock, dass er etwas Ruhe bekommen konnte. Jennys Gegenwart, die zu seinem Alltag gehört hatte, würde ihm vermutlich gut tun. Justin schien einen sechsten Sinn dafür zu haben, was Gus braucht, dachte Brian dankbar. Ihm war klar, dass er ohne Justins Hilfe momentan ziemlich geliefert sein würde. Er musste sich ranhalten – wer weiß, wann Justin wieder verschwand. Bis dahin musste er die Sache einigermaßen im Griff haben.
 

Er kniff die Augen zu und atmete tief durch. Aus dem betroffen hin und her wogendem Gespräch konnte er entnehmen, dass Lindsay und Melanie inzwischen identifiziert worden waren. Oder das, was von ihnen übrig geblieben war… Brian merkte, wie ein entsetztes Schütteln in ihm aufstieg. Er nutzte einen unbeobachteten Augenblick und glitt durch die Tür in den akkurat gepflegten Garten, um sich erst mal eine Zigarette anzuzünden. Er stand ruhig im Licht des Sommermorgens, es ließ die Welt friedvoll und golden erscheinen… wie Justin. Er wünschte, alles könnte wieder heil sein, wieder in Ordnung. Aber nichts war so, wie es sein sollte. Er watete durch einen riesigen Haufen Scherben und war froh über jeden Schritt, den er schaffte, ohne sie die Füße zu zerschneiden. War jemals alles in Ordnung gewesen? Wahrscheinlich nicht. Aber er hatte es sich einreden können. Jetzt ließ sich nichts mehr schönreden.
 

Er hörte das leise Quietschen der Tür und seufzte leise. Er ahne, wer da nahte. „Wie geht es dir, Junge“, kam Debbies Stimme ungewohnt sanft. Er blies den Rauch aus: „Wie soll’s mir gehen? „Zum Kotzen“ wäre wahrscheinlich ein Euphemismus dafür.“ „Klugscheißer.“ „Und spielt es wirklich eine Rolle, wie’s mir geht? Ich bin immerhin am Leben. Und ich muss mich um Gus kümmern, wie auch immer das gehen soll, da kann ich nicht die ganze Zeit rumheulen und deine Trauerkekse mampfen.“ „Natürlich spielt das eine Rolle. Friss ja nicht wieder alles in dich rein, hörst du! Kinder haben feine Antennen dafür, wenn man sie belügt oder ihnen etwas verheimlicht – und das gilt auch für dein Innenleben. Und du hast eins, ob du‘s zugeben willst oder nicht.“ Brian schwieg. Dann setzte er an und sagte, ohne Debbie anzuschauen: „Gus und Justin hat’s auch fast erwischt. Sie sollten auch im Flieger sein. Durch einen dummen Zufall haben sie ihn verpasst.“ Debbie schlug die Hände vor den Mund: „Oh Gott Brian…“ Sie wusste, dass das auch Brians Ende gewesen wäre. „Aber sie leben. Das ist doch, was zählt, oder?“ fragte Brian. „Ja“, antwortete Debbie und legte sacht eine Hand auf Brians Schulter, „vielleicht hatte der große Herr da oben ja ein Einsehen.“ „Wenn er das hätte, würden Mel und Linds jetzt mit ihren Kindern am Frühstückstisch sitzen – und nicht gerade aus Einzelteilen von irgendeinem Forensiker-Freak wieder zusammen gepuzzelt werden.“ Debbie verpasste ihm eine leichte Kopfnuss: „Sag sowas nie wieder!“ „Aber so ist es doch, Debb, auch wenn‘s dir nicht gefällt. Glaubst du etwa, mir gefällt das?“ „Nein, aber man muss nicht darauf herumreiten. Das ist pietätlos, auch wenn es noch so sehr die Wahrheit ist. Und wem hilft es, das zu wissen?“ Brian nahm seinen letzten Zug und drückte die Zigarette aus. „Mmm, keinem wahrscheinlich.“ Er wandte sich, um wieder zurück ins Haus zu gehen. Debbie hielt ihn zurück. „Und was ist mit Justin und dir?“ Brian hob abwehrend die Augenbrauen. „Was soll schon sein? Nichts, wir sind durch mit dem Thema, schon vergessen? Er hat Mel und Linds versprochen, sich um Gus zu kümmern und das zieht er auch eisenhart durch. Und ob er das in meiner oder deiner Gegenwart tut, ist dabei völlig egal.“ „Das glaubst du doch selber nicht“, entgegnete Debbie kopfschüttelnd. Ihre großen schwarzen Plastikohrringe klapperten leise. „Was ich glaube, ist doch völlig egal. Wichtig ist, was ich weiß. Justin und ich sind nicht zusammen. Wir kümmern uns um Gus. Und wenn hier alles wieder in einigermaßen geregelten Bahnen läuft, geht er zurück nach New York. Ich habe mein Leben, er hat sein Leben. So sind die Dinge, mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.“ Er verschwand im Inneren des Hauses. Debbie sah ihm nachdenklich nach. Brian hatte sich seit Justins Fortgang sehr zurückgezogen, sie hatte ihn kaum zu Gesicht bekommen. Aber sie wusste, dass Brian ihr nur eine sehr abgespeckte Version der Wahrheit geliefert hatte. Sie konnte nur hoffen, dass er selbst nicht wirklich daran glaubte.
 

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Kurz nach eins erschien ein Kurier, der Justins Anzug brachte. Emmet hatte mit Jennifers und Debbies Hilfe – Carl hatte sich auch angeboten, war aber wegen Untauglichkeit ausgemustert worden – eine Suppe und Häppchen für alle bereitet, die sie still verzehrten. Sie sprachen über die Verstorben, ihre Erinnerungen an sie, das Gemeinsame, das sie erlebt hatten, ihre Stärken und Schwächen. Gus spielte mit Molly in Jennys Zimmer mit Legosteinen, die Michael übereifrig für seine Tochter besorgt hatte, obgleich diese noch nicht einmal Laufen konnte. Molly war zwar schon fast ein Teenager, aber wohlbehütet, wie sie aufgewachsen war, konnte sie sich in die kindliche Bastelei vertiefen, ohne das als unter ihrer Würde zu empfinden. Zugleich war sie stolz, dass man ihr Gus anvertraut hatte, den sie bisher immer nur flüchtig zu Gesicht bekommen hatte. Sie verstand durchaus, wie wichtig es für den kleinen Jungen war, dass man ihn so normal wie möglich behandelte und auf andere Gedanken brachte, und gab sich der Aufgabe freudig hin. Sie dachte daran, wie sie sich fühlen würde, wenn ihre Familie plötzlich stürbe, und gab sich ihre größte Mühe mit dem Kind. Gus schien sie zu mögen und verfolgte fasziniert, wie sie die bunten Steinchen zu verschiedenen Tierfiguren zusammen fügte. Brian beobachtete sie vorsichtig durch den Türspalt und lächelte ein wenig gequält, als er erkannte, welches Tier Molly da gerade montierte… Aber es war gut zu sehen, wie Gus mit dem Mädchen spielte und ihr Handeln mit großen Augen und vergnügtem Quietschen verfolgte.
 

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Justin schluckte, als er sich im Badezimmerspiegel betrachtete. Der Anzug, den Brian geordert hatte, war pechschwarz, dem Anlass entsprechend. Er hatte sich die Haare zurück gegelt, was ihn etwas älter als mit seiner sonstigen Wuschelfrisur erscheinen ließ. Der letzte Anzug, den er getragen hatte, war der eines Bräutigams gewesen… Es klopfte an der Tür. Es war Brian. „Bist du fertig?“ rief er durch die Tür. „Ich komme“, murmelte Justin und musterte sich ein letztes Mal. Er sah erwachsen aus. Jungenhaft, aber kein Junge mehr. Ein Mann. Wann war das geschehen?
 

Als Justin heraustrat, stand Brian fertig umgezogen im Flur. Auch er trug schwarz. Über seinen eleganten Anzug hatte er einen dünnen farblich fassenden Sommermantel geworfen, der seine breiten Schultern und seine schlanke Hüfte betonte. Auch in so einer Situation konnte Brian es einfach nicht lassen, dachte Justin innerlich den Kopf schüttelnd. Er würde sich zu Tode schwitzen. Geschah ihm recht, dem Fashion Victim. Andererseits war es ein Zeichen dafür, dass Brian sich im Moment zumindest halbwegs gefangen hatte. Die Nerven würde er wahrscheinlich auch brauchen, wenn Lindsays letzter Wille verlesen werden würde. Es ging aller Wahrscheinlichkeit nach ja auch um das Sorgerecht für Gus. Justin betete, dass Brian nicht enttäuscht werden würde. Vor allem auch um Gus‘ willen. Er war sich etwas unsicher, was er mit der Sache zu tun hatte. Die Anwälte hatten nach seiner Anwesenheit verlangt – aber warum? Hatte Lindsay ihn mit etwas bedacht, das mit ihrer Verbundenheit, was die Kunst als Lebensinhalt betraf, zu tun hatte? Das würde Sinn ergeben.
 

Sie wurden noch ein letztes Mal von allen geherzt, was Brian mit einem unwirschen Gesichtsausdruck über sich ergehen ließ, dann brachen sie auf. Gus hatten sie zuvor ein Dutzend Mal versprechen müssen, rasch wieder zurück zu kommen und sich nicht in die Nähe eines Flughafens zu begeben, bis er bereit gewesen war, sich unter Debbies Fuchtel zu begeben. Michael hatte ihn mit einigen seiner heißgeliebten Actionfiguren gelockt, was ihn zeitweise abzulenken versprach. Dennoch war Brian und Justin nicht wohl, Gus alleine zu lassen – aber es ging nicht anders. Was auch immer Lindsay verfügt hatte – es war besser, wenn Gus es später von ihnen erfuhr als in einem kalten Raum voller fremder Menschen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  brandzess
2011-08-15T16:42:54+00:00 15.08.2011 18:42
bin mal gespannt was sie jetzt hören werden.....


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