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Die große Leere

von

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Marschbefehl

XI. Marschbefehl
 

Debbie wiegte ihre schlafende Enkeltochter zärtlich in ihren kräftigen Armen. „Armes kleines Käferchen“, flüsterte sie, „mein armes Baby.“ Ihr Gesicht war vom Weinen noch immer leicht verquollen. Sobald sich der Schock etwas gesetzt hatte, war sie gemeinsam mit Carl und Emmet zum Haus ihres Sohnes hinüber gefahren. In Zeiten des Schmerzes und der Trauer sollte eine Familie beieinander sein, das wusste sie aus bitterer Erfahrung. Sie hatten auch Ted Bescheid gesagt. Er wollte später nachkommen, er war noch damit beschäftigt, die Räder bei Kinnetic am Rollen zu halten. Debbie hatte zwar dagegen protestiert, aber Ted war hart geblieben. Dem Geschäft waren persönliche Probleme egal, es nahm keine Rücksicht.
 

Michael trat leise zu seiner Mutter und blickte auf das kleine Bündel, das seine Tochter war. „Was wollt ihr jetzt tun?“ flüsterte Debbie. „Ich weiß noch nicht ganz… Es gibt so vieles, um das wir uns kümmern müssen. Und es ist so schwer, es jetzt zu tun… Aber Mel war Gott sei Dank durch und durch Juristin. Sie konnte echt übel austeilen. Aber sie hat auch immer an alles gedacht. Nach der Bombe, bevor sie nach Kanada gegangen sind, hat sie für sich und Lindsay Verfügungen aufgestellt, falls ihnen etwas zustoßen sollte – damit für die Kinder gesorgt ist. Ich habe sie selber nicht gelesen, aber sie hat mir erklärt, dass im Fall ihres… Todes das Sorgerecht für Jenny natürlich an Lindsay gehen würde. Ich würde ein geregeltes Besuchsrecht erhalten. Es hätte auch die Möglichkeit bestanden, sich mit Lindsay neu zu einigen…“, Michael atmete gequält ein. „Falls sie beide vor Jennys Volljährigkeit sterben sollten, würde das Sorgerecht an mich und Ben als meinen Ehemann fallen. Ich hab teilweise nicht alles verstanden, da sie mir ein halbes Wörterbuch Juristensprache um die Ohren gehauen hat, aber irgendwie hat sie so eine Doppelregelung für amerikanisches und kanadisches Recht eingefügt, weil unser geliebtes Vaterland meine Ehe ja nicht anerkennt.“ Er senkte den Kopf.
 

„Du kennst meine Meinung dazu. Ben ist dein Ehemann. Wer das anders sieht, der kann, was mich angeht, zur Hölle fahren.“
 

„Da wird es dann aber ganz schön voll“, erwiderte Michael bitter.
 

„Macht nichts“, antwortete Debbie, „bleibt mehr Platz auf den Wolken für uns. Du bist ein guter Vater, Michael. Und Ben ist ein guter Ehemann. Ihr seid liebevolle Eltern für Hunter und werdet das auch für Jenny sein.“
 

„Das werden wir“, flüsterte Michael.
 

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Justin hielt Gus an der einen Hand, mit der anderen trug er einige Tüten mit dringenden Besorgungen, die sie auf dem Rückweg erledigt hatten. Gus gesamtes Gepäck war im Flieger gewesen. Der Besuch der Kinderabteilung eines Kaufhauses war eine ganz neue Herausforderung für Justin gewesen. Gott sei Dank war Gus sehr folgsam, obwohl oder gerade weil er von den Geschehnissen der vergangenen anderthalb Tage überrollt und verunsichert war. Wenn Gus beim Kleiderkauf ähnliche Verhaltensweisen an den Tag gelegt hätte wie sein Vater, dann wäre Justin wahrscheinlich endgültig dem Wahnsinn anheimgefallen.
 

Im Zoo war Gus etwas aufgetaut. Die exotischen Tiere hatten ihn fasziniert, aber am längsten waren sie vor dem wie eine kleine Stadt gestaltetem Meerschweinchen-Gehege stehen geblieben. Justin hoffte, dass Gus nicht heimlich eines der Tierchen, die es ihm angetan hatten, in seiner Tasche heraus geschmuggelt hatte. Nicht, dass der Kleine etwas zu befürchten hätte. Aber Justin war sich sicher, dass Brian ihm wahrscheinlich den Hals umdrehen würde, wenn er, wenn auch unwissentlich, ein Meerschweinchen mit anschleppte.
 

Sie hatten einen weiteren Stopp im Lebensmittelgeschäft eingelegt, wo Justin einige Waschartikel – es gab Kinderzahnpasta mit Marshmallow-Geschmack, wer hätte das gedacht? – und ein wenig Essen kaufte. Für Brian hatte er einige seiner heißgeliebten Granny Smith erstanden. Wahrscheinlich futterte er diese nur so gerne, weil sie das einzig Süße waren, das er mit seinem Diätplan vereinbaren konnte – und weil er aussah wie die Sünde selbst, wenn er hineinbiss. Justin schüttelte den Gedanken fort.
 

Sie brauchten eine Weile, bis sie vor der Wohnungstür standen. Gus mochte groß für sein Alter sein – aber dennoch waren die vielen Stufen durchaus eine Herausforderung für ihn. Justin war den Aufstieg gewohnt, aber die vielen Tüten ließen ihn auch nicht gerade schneller werden. Brian saß rauchend auf dem Sofa. Er drückte die Zigarette rasch aus, als sein Sohn auf ihn zuschoss und sich auf ihn stürzte. „Ist ja gut Sonnyboy. Ich bin da, wie versprochen, siehst Du?“ Gus nickte tapfer. Dann verzog sich sein Gesicht. „Wo sind Mama und Mama?“ Er starrte aus weit aufgerissenen Augen Brian an, der leicht zusammen zuckte.
 

Brian suchte Justins Blick. Wortlos tauschten sie sich aus. Sie konnten es nicht länger heraus zögern. Sie mussten es ihm sagen. So vorsichtig wie irgend möglich, erklärte Brian seinem Sohn, dass seine Eltern einen Unfall gehabt hatten. Gus Augen wurden riesig vor Angst. „Sind sie im Krankenhaus?“ fragte er mit heller, panikdurchzuckter Stimme. „Nein“, sagte Brian, „sie sind jetzt an einem anderen Ort…“ Oh Gott, er wünschte, er müsste das nicht tun. Oder hätte wenigstens irgendeine vernünftige Erklärung, die Gus verstehen und trösten könnte… aber die gab es nicht. „Wo?“ entfuhr es Gus schrill. „Ich weiß es nicht! Ich wünschte, ich wüsste es – aber ich weiß es auch nicht…“, krächzte Brian. „Wann kommen sie wieder?“ Gus hatte angefangen zu weinen.
 

Unbemerkt war Justin zu ihnen getreten und hatte sich vorsichtig neben sie auf die Coach gesetzt. „Gus“, sagte er leise. Der zitternde Junge schaute ihn an. „Mama und Mama haben dich sehr lieb, das weißt du doch?“ Gus nickte. „Und du weißt, dass sie, egal, was geschieht, immer bei dir sein wollen? Dass es das wichtigste für sie ist, zu dir zu kommen, sich um dich und deine Schwester zu kümmern, euch lieb zu haben?“ Gus nickte erneut, während große Tränen über sein Gesicht rollten. „Zu dem Ort, an dem sie jetzt sind, geht jeder Mensch eines Tages. Aber von dort kann man nicht zurück kommen. Egal, wie sehr man sich das auch wünscht, egal, wie sehr man die Menschen, die man liebt auch vermissen mag.“ Gus bebte. „Aber warum?“ „Ich weiß es nicht“, sagte Justin aufrichtig, „niemand weiß es. Aber ich glaube, es ist ein guter Ort.“ „Kann ich dann nicht zu ihnen gehen?“ „Wir alle werden das irgendwann einmal tun. Aber dazwischen liegt das Leben. Und wenn du jetzt gehen würdest, was würde dann aus Papa werden? Du würdest ihn alleine lassen. Und was soll er denn ohne dich tun?“ Gus schaute seinen Vater an, der ihn um Fassung ringend anlächelte. Gus schlang seine Arme um Brian und sagte zu ihm: „Keine Angst, Papa. Ich gehe nicht weg. Ich bleibe bei dir. Ich lasse dich nicht allein. Du musst keine Angst haben! Ich versprech’s“, sagte er und drückte ihn wild. Brian hielt seinen Sohn fest und murmelte in sein Ohr: „Ich hab dich lieb, Gus.“ „Ich hab dich auch lieb Papa! Aber Du darfst nicht weggehen! Auch nicht an den Ort! Und Justin auch nicht!“ Brian und Justin schauten sich über Gus‘ Kopf hinweg an. „Danke“, sagte Brian heiser.
 

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Zweieinhalb Stunden später saßen Justin und Brian nebeneinander auf dem Tapeziertisch am Fenster und schauten über die Stadt, die langsam in der Dämmerung versank. Gus schlummerte bereits tief und fest, der Tag war anstrengend für ihn gewesen. Für sie alle. Sie waren noch einmal gemeinsam einkaufen gegangen, weil Brian meinte, dringend Kleidung zum Wechseln zu brauchen. Er hatte immer noch die knitterige Armani-Hose an, was zwar keinen außer ihn ernsthaft störte – aber Justin sah ein, dass auch Brian ein Häppchen Normalität verdient hatte. Und sei es, dass er das Gefühl hatte, sich blicken lassen zu können und nicht auszusehen wie der letzte Penner. Da Gus sich weigerte, weder seinen Vater noch Justin aus den Augen zu lassen, zogen sie gezwungenermaßen gemeinsam los. Brian hatte sich ziemlich zusammen gerissen und hatte sich brav auf den Erwerb einiger schlichter Levis und T-Shirts beschränkt, die ihm auch ohne großes Anprobieren passen dürften. Er schnappte sich noch ein paar Unterhosen und Socken dazu.
 

Auf dem Rückmarsch hatte Brian kurz vor einem Sushi-Laden halt gemacht. Justin und Gus hatten die Nase gerümpft und Brian danach gezwungen, auf sie zu warten, während sie sich ein paar Burger und Pommes im benachbarten Diner einpacken ließen. Justin hatte noch ein paar kalte Dosen Bier draufgelegt, dann waren sie wieder die Stufen zu Justins Wohnung hochgekeucht. „Kein Wunder, dass du so dürr bist trotz der Fresserei“, hatte Brian geschnauft, „bei dieser Scheiß-Rennerei!“ „Scheiße sagt man nicht“, korrigierte Gus seinen Vater. Justin musste zum ersten Mal seit langer Zeit fast Lachen. Da kamen ja heitere Zeiten auf Brian zu…
 

In der Wohnung hatten sie ihr Essen postwendend verdrückt. Gus war schon beinahe eingeschlafen, als er noch den letzten Pommes frittes im Mund hatte. Rasch hatte Justin das Bett ausgeklappt und bezogen, während Brian seinem Sohn bei der Toilette half.
 

Sie öffneten sich jeder ein Bier und Brian erzählte von den Telefonaten. Justin zog ärgerlich die Brauen zusammen, als er von Lindsays Mutter berichtete. „So eine dumme Gans! Du hast völlig richtig gehandelt. Du kannst ihnen Gus nicht einfach überlassen! Lindsay und Melanie hätten das niemals gewollt! Du bist sein Vater! Und ein guter dazu!“ Brian verzog den Mund: „Sag das nicht. Ich war bisher für Gus wohl kaum ein Vater, auch wenn ich’s probiert habe. Ich hab auch viel versiebt. Bin zum Lederball geturnt und habe dich mit ihm hängen gelassen zum Beispiel. Ich hab ihn in letzter Zeit kaum zu Gesicht bekommen, denn streng genommen habe ich als Elternteil nicht wirklich gezählt. Ideell, ja – aber auf dem Papier war ich gar nichts. Ich konnte nur auf den guten Willen seiner Mütter hoffen. Und dann sind sie einfach nach Kanada abgehauen. Was hätte ich denn tun sollen? Ich habe eine Firma, Menschen sind von mir abhängig, da kann ich nicht ständig alles stehen und liegen lassen…“ er schluckte und brach ab.
 

„Denk an meinen Vater oder deinen! Würdest du dich Gus gegenüber so verhalten?“ warf Justin ein. „Ich hoffe nicht, dass es einmal so weit kommt mit mir“, entgegnete Brian zweifelnd. „Es kommt nicht darauf an, ob du rund um die Uhr bei ihm warst. Für ihn bist du sein Vater. Er liebt dich! Und du liebst ihn. Egal, was kommt, das ist das Wesentliche.“ „Manchmal reicht das nicht“, sagte Brian leise. Justin starrte an ihm vorbei in die Dämmerung. „Dann musst du dein bestes versuchen“, antwortete er schließlich, „selbst wenn du scheitern solltest. Und das wirst du nicht.“
 

Sie schwiegen ein paar Minuten, während sie langsam ihr Bier tranken. „Was willst du jetzt tun?“ fragte Justin schließlich. „Zurück nach Pittsburgh“, murmelte Brian kaum verständlich. „Wann?“ fragte Justin. „So bald wie möglich. Es gibt viel zu regeln. Ich muss das mit dem Sorgerecht klären, so schnell es geht. Morgen früh. Ich sollte vor der Fahrt auch noch etwas schlafen. Wir können auch in ein Hotel wechseln, wenn wir dich stören.“ Justin starrte ihn an, als habe er den Verstand verloren. Er stellte sein Bier neben sich auf den Tisch und verschwand im Halbdunkel der Wohnung. Brian hörte ihn rumoren. Ihm wurde kalt. War’s das jetzt? Schmiss Justin sie raus? Nein, brachte er sich selbst zur Raison, das wäre völlig unsinnig. Aber ein Teil von ihm konnte von dem Gedanken nicht lassen. Vorsichtig drehte er sich um. Justin stand vor seinem Kleiderregal und stopfte Wäsche in seine verfluchte Duffle Bag. Wie er dieses Teil hasste! Immer, wenn er es zu Gesicht bekommen hatte, war Justin gerade dabei gewesen, ihn wieder Mal sitzen zu lassen. War es das, was gerade passierte? Er durfte bleiben, aber Justin würde sich verdünnisieren, bis er außer Sichtweite war? Aber Justin würde niemals gehen, ohne sich von Gus zu verabschieden…
 

Er ging ein paar Schritte in Richtung des jüngeren Mannes. „Was soll das werden?“ kam es etwas schärfer, als er beabsichtigt hatte. „Ich packe“, sagte Justin nur. „Das seh‘ ich selbst! Und wohin soll die Reise gehen?“ „Ich komm mit“, sagte Justin nur kurz angebunden. „Was? Wieso? Du lebst doch hier! Was willst du in Pitts? Sehsucht nach Mama?“ „Ich hab’s versprochen“, antwortete Justin kurz angebunden und stopfte weiter unverdrossen Hemden in seinen Beutel. „Was versprochen?“ fragte Brian verwirrt. Justin warf ihm einen scharfen Blick von unten herauf zu. „Das ist das letzte, was ich zu Mel und Linds gesagt habe, als ich mit Gus zu dieser elenden Toilette gegangen bin. Ich habe ihnen versprochen, gut auf Gus aufzupassen. Und das werde ich auch gottverdammt tun. Auch wenn es beinhaltet, dass ich hinter dir herjagen muss, um dir, bei Bedarf, kräftig in den Hintern zu treten.“ „Herzlichen Dank, aber ich bin kein Kleinkind!“ „Du vielleicht nicht – aber Gus ist es. Und erzähl mir bitte Mal, wie du es schaffen willst, von heute auf morgen dein ganzes Leben so umzuorganisieren, wie es nötig sein wird, ohne dass Gus zu kurz kommt? Was steht alles an? Die Firma? Die Beerdigungen? Das Sorgerecht? Wo soll Gus wohnen? Hat er überhaupt ein Bett? Wo geht er zum Kindergarten? Muss er zum Arzt? Wer macht ihm was zu essen? Wer kümmert sich um ihn, während du versuchst, diese Kleinigkeiten – und das war nur eine winzige Auswahl von ihnen – zu erledigen? Willst du ihn etwa irgendeiner fremden Person anvertrauen, während er um seine Mütter trauert?“
 

Brian war zusammen gefahren. Ihm wurde etwas schwindelig bei diesen Aussichten. „Aber du hast doch hier Verpflichtungen. Du lebst hier. Ich kann doch nicht von dir verlangen, dass du hier alles stehen und liegen lässt…“ „Tust du auch nicht. Du verlangst hier gar nichts. Ich tue, was ich will und was ich muss. Die Ausstellung läuft, die können mich auch telefonisch kontaktieren, wenn sie etwas von mir wollen. War sowieso so geplant, ich wollte ja eh nach Kanada. Termindruck hab ich aktuell nicht. Wenn ich Glück habe, bekomme ich einen festen Galerievertrag, dann muss ich hier auch keine Klinken putzen mehr gehen. New York kommt auch eine Weile ganz prima ohne mich aus, glaub mir. Und jetzt werde ich fertig packen, dann werden wir die Wohnung soweit auf Vordermann bringen, dass sie noch steht, wenn ich zurück komme, und dann hauen wir uns für ein paar Stunden hin.“ „Mein Gott, wo ist der niedliche kleine Twink hin, der mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen hat und niemals gewagt hätte, mir Kommandos zu geben?“ seufzte Brian kopfschüttelnd. „Keine Ahnung. Kenn ich den?“ erwiderte Justin. Brian sah, dass er ein Grinsen unterdrückte.
 

Na warte…



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  brandzess
2011-08-15T16:02:16+00:00 15.08.2011 18:02
sie haben noch nicht ganz ihr alte dynamik wider weil noch das ein oder andere zwischen ihnen steht aber es ist ein anfang :D
Brian muss unbedingt das sorgerecht für Gus bekommen! wenns diese (zitat Justin:) "dumme Gans" bekommt dann schreie ich!


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