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Der unerwünschte Mieter

von

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Kapitel 19

Kapitel 19
 

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, der Boden schwanke unter mir, dabei sind es meine Beine, die gerade Mühe haben, mich aufrecht zu halten. Ich sinke immer tiefer hinab in das kräftige Grün und lasse mich bereitwillig treiben. Mit jeder Faser meines Körpers spüre ich die Wärme seiner Hände an meinem Mund und an meiner Hüfte. Von dort, wo sie mich berühren, strahlt eine unermessliche Hitze in alle Himmelsrichtungen aus, die mich im Gleichtakt zu meinem rasanten Herzschlag durchströmt.

Die untergehende Sonne lässt Joshuas Augen zum Teil orangen schimmern. Ein grüner See, der die letzten Strahlen des Tages reflektiert.

Ein Wort, ein klitzekleines Wort, pocht wie wild gegen meine Stirn. Immer wieder schreit es Wunsch in mir.

Joshua hat mir versprochen, mir alles zu erzählen und meinem zweiten Wunsch nachzukommen, wenn ich ihm zuhöre. Wenn es nach mir geht, möchte ich nichts mehr aus seinem Mund hören, seit ich ihn vorhin bei der Probe gesehen habe, aber laut ihm habe ich noch nicht alles erfahren.

Wem soll ich nun vertrauen, Joshua? Dir oder mir? Heißt es nicht so schön: Wenn man sich auf andere verlässt, ist man verlassen?

Ich spüre nur allzu deutlich seine Finger an meiner Wange. Weich, sanft und doch nachdrücklich.
 

„Bist du nun bereit mir zuzuhören?“, fragt er gerade so laut, dass seine Worte nur mich erreichen und nicht Aurel, der gut drei Meter rechts von uns steht.
 

Wunsch!
 

Wunsch!
 

Noch immer stemmt sich dieses Wort vehement gegen meinen Verstand.
 

Ich deute ihm an, dass er mich nun loslassen kann. Quälend langsam lösen sich seine Hände von mir und hinterlassen einen kühlen Luftzug, der mich frösteln lässt. Und obwohl ich wirklich neugierig bin, welche Lügengeschichten er mir jetzt auftischen möchte, obwohl ich ihn am liebsten anfallen und küssen möchte, stoße ich ihn mit aller Kraft, die in mir steckt, von mir. Er stolpert ein paar Schritte rückwärts, während er überrascht nach Luft schnappt.

„Was fällt dir ein?“, fahre ich ihn an, doch lange nicht so wütend, wie ich es gerne hätte. In meiner Stimme schwingt eindeutig zu viel Melancholie mit. „Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich dir nicht zuhören werde. Daran ändert auch dein Annäherungsversuch nichts.“

Mit jedem Wort werde ich leiser, obwohl mir nach Schreien zumute ist.
 

Unstet zuckt mein Blick zwischen ihm und Aurel hin und her. Der eine schaut mich pikiert an, der andere nickt mir aufmunternd zu.

Mein Herz brennt und verlangt von mir, Joshua zu mir zurückzuholen und ihn erneut an mir zu fühlen. Ich würde ja gerne … wirklich gerne … und doch zögere ich.

Ich schaue zur Tür, durch die vielen Fenster hinaus ins Freie, doch auch dorthin kann ich jetzt nicht mehr einfach gehen. Hätte er mich nicht einfach meinen Wunsch aussprechen und verschwinden lassen können? Diese verdammte Nähe bringt mich grundsätzlich ins Wanken...
 

Verzweifelt vergrabe ich die Finger meiner Rechten in meinem Haar und sinke auf meine Knie. Warum? Warum nur kann ich mich weder auf das eine noch das andere einlassen?
 

„Milly!“ - „Alissa“, dringt es wie aus meinem Mund, als ich mir auch noch meinen pochenden Oberschenkel reibe.
 

„Bleibt weg, beide!“, raune ich.
 

Meine linke Hand hält noch immer das weiße Papier umklammert, das in seinem Innern ein Abbild von Joshua enthält.
 

Ich war eben so in Fahrt und hätte ihm ohne mit der Wimper zu zucken meinen dritten Wunsch an den Kopf geknallt. Doch jetzt kann ich das nicht mehr. Gehen kann ich nicht. Ihn anschreien kann ich nicht. Ihm zuhören auch nicht.
 

Was dann?
 

Welche Wahl bleibt mir denn dann noch?
 

Wenn ich mir jetzt wünsche, dass er mich aus seinem Leben streichen soll, sehe ich ihn nie wieder.

Wenn ich ihm jetzt zuhöre, dann lullt er mich wieder ein und ich werde blind vor Liebe.
 

Schwarz oder weiß. Das eine Extrem oder das andere.
 

Wo sind die Grautöne?
 

Was sind die Grautöne?
 

Mensch, dass ich die bisher auch immer gekonnt ausblenden musste!
 

„Habe ich nicht gesagt, dass ihr euch von mir fernhalten sollt?“, knurre ich und fuchtele um mich, als sich ein schwarzer Schatten nähert.
 

„Gehört sie zu dir, Aurel?“, ertönt eine mir bereits bekannte tiefe Männerstimme direkt neben mir.
 

Mein Kopf dreht sich schlagartig und meine Augen erblicken Moritz, wie er in seiner vollen Größe neben mir steht. Ich schlucke. Dass aber auch immer ich solch unverschämtes Glück haben muss.
 

Aurel und Joshua schauen sich gegenseitig an, aber keiner sagt etwas. Na toll, jetzt bekennt sich keiner zu mir, nur weil ich wie ein Schluck Wasser in der Kurve auf dem Boden hänge. Männer werden echt nie erwachsen und entwickeln auch kein bisschen Rückgrat!
 

Während ich meine Augen verdrehe und den Kopf schüttele, rappele ich mich zurück auf meine Füße und halte Moritz meine Hand hin. „Alissa, sehr erfreut“, würge ich hervor, immer noch zerstreut und leicht verzweifelt. Dabei vergesse ich auch ganz, meinen Nachnamen zu nennen.
 

So aus der Nähe betrachtet, wirkt der Regisseur gar nicht mehr so einschüchternd, denn in seinen hellbraunen Augen liegt so viel Freundlichkeit, dass einem ganz warm ums Herz wird, wenn man in sie hineinblickt.
 

Er nimmt meine Hand und drückt sie fest. „Moritz, ebenfalls sehr erfreut.“ Sein Blick schweift zu Joshua. „Joshua, ich erwarte von dir mehr Konzentration. Aurel? Hast du einen Moment?“
 

Als Aurel an mir vorbeiläuft, um Moritz zu folgen, der unvermittelt und ohne weitere Worte mit großen Schritten davonläuft, möchte ich ihn am liebsten festhalten. Doch meine Hoffnung, nicht mit Joshua allein zurückgelassen zu werden, schwindet mit jeder Sekunde, in der die Schritte in dem großen Raum nachhallen.

„Es liegt an dir“, flüstert er mir noch schnell zu, ehe er Moritz nacheilt und aus meinem Blickfeld verschwindet.
 

Ach, als ob ich das nicht selbst wüsste!

Immer liegt es an mir! An wem auch sonst?

Dennoch … so ein bisschen Unterstützung wäre im Endeffekt dann doch nicht schlecht gewesen.
 

Es gibt kein Zurück, jetzt nicht mehr.
 

„Also gut“, seufze ich und drehe mich zu Joshua um. „Unter einer Bedingung höre ich mir an, was du zu sagen hast.“
 

„Die wäre?“ Er tritt an mich heran und sucht meinen Blick.
 

Kann er das nicht mal lassen, mir so nahe zu kommen und mich so intensiv anzustarren? Ich brauche jetzt einen kühlen Kopf und nicht schon wieder unbändige und unkontrollierbare Hitze in mir.

Ich gehe einen Schritt zurück und erwidere bemüht ruhig seinen Blick.
 

„Meine Bedingung ist, dass du mir vorher einen guten Grund gibst, deinen Worten Glauben zu schenken.“
 

Er zuckt mit den Schultern. „Ich könnte dir viele Gründe nennen, doch ich bezweifele, dass du sie anerkennst.“
 

„Wenn das so ist.“ Ich wende mich schweren Herzens gen Eingangstür und laufe schnurstracks auf sie zu. Ein Wunder, dass mich meine Beine tragen.
 

„Jetzt lauf' nicht einfach davon!“
 

„Und warum nicht?“, fahre ich herum und stiere ihn an. „Darin bist du doch Experte oder nicht? Wer hat mich denn immerzu stehen gelassen ohne ein Wort der Erklärung? Wer hat mir denn was vorgespielt und mir dann nur diese schäbige Broschüre hinterlassen? Also warum solltest du das dürfen und ich nicht?“
 

„Weil du nicht eher ruhst, bis du alles weißt.“
 

Meine Arme fallen zu meinen Seiten herab, die ich eben noch angespannt vor mir gehalten habe. Er hat recht, ich würde daheim keine Ruhe finden und alles und jeden verrückt machen, zumal ich tief in meinem Innern die ganze Zeit spüre, dass es da noch etwas gibt, das er mir noch nicht gesagt hat.

Kann ich nicht einmal standhaft sein und meinen Plan von vorhin, meinen dritten Wunsch zu äußern, in die Tat umsetzen und dann verschwinden?

Aber nein, ich muss ja geradewegs auf die kleine Sitzgruppe in der linken vorderen Ecke der Halle zusteuern und mich dort niederlassen und seelenruhig dabei zusehen, wie sich Joshua mir gegenüber hinsetzt.
 

„Ich möchte dennoch zuerst einen Grund hören“, fordere ich.
 

„Du bist nicht Hannah“, antwortet er gelassen.
 

Und damit will er mir was sagen?

„Welch eine Erkenntnis! Und dennoch bin ich für dich niemand anderes gewesen, oder?“
 

Seine Mundwinkel zucken und er beginnt zu lächeln. „Das ist so typisch für dich. Du hast immer erst mal was entgegenzusetzen anstatt kurz darüber zu sinnen, was der andere in Wahrheit meinen könnte.“
 

„Sind Männer nicht dafür berüchtigt, dass sie immer das sagen, was sie meinen, und sich über Frauen aufregen, die das eine sagen und das andere meinen?“

Ist doch wahr! Ich finde, das Recht, in Rätseln zu sprechen, sollte ganz allein uns Frauen gebühren. Wir denken eh schon so komplex und über alle möglichen Gehirnwindungen hinweg, da wäre es einfacher, wenn Männer bei ihrem einfach gestrickten Muster bleiben.
 

Wobei … das ganz und gar nicht meiner üblichen Einstellung entspricht.

Ob er das weiß?
 

Diese ständige Nähe, die mich so betört, hindert mich daran, seinen Worten zu folgen. Bei diesem ernüchternden Gedanken verengen sich meine Augen und ich seufze. „Welchen Grund hast du noch parat?“
 

„Selbst wenn man seinem Namen alle Ehre macht, so bedeutet das noch lange nicht, dass dies gut für Jedermann ist, für einen selbst manchmal schon gar nicht.“
 

Na toll. Und damit soll ich jetzt mehr anfangen können. Hat er immer noch nicht kapiert, dass ich in seiner Gegenwart nicht klar denken kann?

Ich lege meinen Kopf schief und sehe ihn an. Wie aus dem Nichts läuft eine Szene, die wir gemeinsam in meiner Wohnung erlebt haben, vor mir ab, und die mich stutzen lässt.

„Wie nennen dich deine Freunde?“, frage ich und sehe ihn auf einem meiner Esszimmerstühle sitzen, von dem er plötzlich aufspringt und mitsamt ein wenig Geschirr in der Küche verschwindet.
 

„Hinter Worten steckt meist so viel mehr als man zunächst erahnt. Und doch meinen sie oft leider einfach genau das, was sie bedeuten.“
 

Der macht mich gerade echt wahnsinnig! Doch mit einem Mal stützt er seine Ellbogen auf seinen Knien ab und bettet seinen Kopf in die Hände und sieht mich mit einer derart beklemmenden Offenheit an, die mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.
 

„Joshua, der Confector. Was so viel heißt wie Joshua, der Zerstörer.“

Da ich nichts erwidere, fügt er an: „Nette Freunde, nicht wahr? Nicht wenige haben bereits am eigenen Leib erfahren müssen, wie es ist, wenn ich in meinem Beruf vorankommen möchte und dabei manchmal kurzzeitig den Sinn für Moral und Achtung verliere.“
 

„Mh ...“ Ich nestele am Reißverschluss der Tasche an der Seite meiner Hose, direkt neben meinem Knie. „Du siehst deine Antwort allen Ernstes als das überzeugende Argument an, dir zu vertrauen?“

Also, wenn es nach mir geht, sollte er das noch mal überdenken.

Normalerweise müsste ich spätestens jetzt aufstehen, meinen letzten Wunsch äußern und gehen. Und doch sitze ich weiterhin da und warte auf einen akzeptablen Grund, um ihm zu vertrauen.

Bescheuert, nicht wahr? Ich nicke unmerklich, obwohl die Frage eigentlich rein rhetorischer Natur war.
 

Aurel hat ja so recht gehabt. Ich bringe es einfach nicht übers Herz, Joshua hier einfach sitzen zu lassen.
 

„Okay, ich versuche es noch mal anders...“, meint er ruhig. „Hinter jedem Spiegel steckt eine Welt, die es zu entdecken gilt. Wenn du nur hineinsiehst, siehst du dich selbst. Wenn du ihn aber anhebst und hinter ihn blickst, siehst du alles andere.“
 

Ich schaue aus meinen Gedanken gerissen abrupt auf.

„Und Lukas ist der Spiegel, richtig?“
 

In seinen Augen blitzt etwas auf. „Ich wusste, dass du es verstehst.“
 

Ich reibe meine Lippen kurz gegeneinander und atme dann laut aus. „Und wie kann ich mir sicher sein, dass du nicht wieder in irgendeine Rolle geschlüpft bist?“
 

Er nimmt seine lederne Kette ab und hält sie mir hin. „Nimm sie als Beweis.“
 

Ich beobachte, wie die silberne Schlange, die sich um einen Halbkreis windet, hin- und herbaumelt. „Ist die Kette eine Versinnbildlichung von Lukas Rolle oder ist sie ein fester Bestandteil von dir selbst?“
 

„Ich habe den Anhänger vor sehr langer Zeit geschenkt bekommen und seitdem nur zum Reinigen abgelegt, womit deine Frage hoffentlich beantwortet ist.“
 

Als meine Finger die Kette berühren, durchzuckt mich ein wohliges Gefühl. Und obgleich ich den Wunsch verspüre, sie mir anzulegen und etwas von Joshua bei mir zu tragen, nehme ich sie nicht an mich, sondern lasse sie weiter in seiner Hand baumeln.

Dann lehne ich mich zurück und spüre die Berührung nach, die meine Finger mit der Kette hatten. Irgendetwas in mir sagt mir, dass ich nachgeben soll. Ich seufze und stütze meinen Kopf in eine Hand.

„In Ordnung“, sage ich, „ich bin nun so weit, um dir zuzuhören.“
 

Für einen Weg muss man sich letztendlich entscheiden. Ob es der richtige ist, weiß man meist erst hinterher. Also, Joshua, dann erzähle mal, ich bin gespannt!
 

„Du hast mir gefehlt.“
 

Vier kleine Worte, die auf einmal vibrierend zwischen uns hängen. Worte, die mich ihn wieder direkt anblicken lassen.

Du mir auch!? Vermutlich mehr, als er sich vorstellen kann.

Mein Blick schweift zu seinen Lippen und bleiben dort für einen kurzen Moment hängen.
 

„Anfangs war es leicht, dich zu provozieren und dir nahe zu sein, dich zu berühren. Es hat mir nichts ausgemacht, deine Haut an meiner zu spüren oder den Duft deines Shampoos einzuatmen. Mein einziges Ziel war, dich immer und immer wieder zu attackieren, ob verbal oder mittels flüchtiger Berührungen. Ich konnte mich voll und ganz in meine Rolle als Lukas hineinversetzen. Doch schon sehr bald änderte sich alles. Als ich merkte, wie du auf mich reagierst, fühlte ich zunächst Triumph, der sich kurz darauf ins Gegenteil verkehrte. Je mehr ich mich bemühte, nur zu mimen, desto mehr realisierte ich, wie viel Freude es macht, mich mit dir anzulegen, wie gerne ich dir dabei zuschaute, wie du dich aufregst und wie bemüht du dich gegen mich wehrst. Du hast deine ganze Energie auf mich verwendet, obwohl du mich jederzeit vor die Tür hättest setzen können. Und die Nähe zu dir wurde zunehmend unerträglicher, weil ich in diesen Momenten immer wieder vergaß, weshalb ich eigentlich bei dir war.“

Mit einer schnellen Bewegung hängt er sich die Kette wieder um den Hals und der silberne Anhänger leuchtet kurz auf, als ihn das allerletzte Tageslicht streift.

Es ist gerade so still, dass ich meinen eigenen Herzschlag höre. Meine Augen hängen immer noch an seinen Lippen, halb verträumt sitze ich da und warte darauf, dass er weiterredet.

„Ich arbeite unentwegt an mir, um irgendwann den Durchbruch zu schaffen. Seit Jahren tue ich alles dafür und auf einmal kreuzt du meinen Weg und erschütterst mich in meinen Grundfesten. Aber noch immer kann ich nicht erfassen, was an dir diese Reaktion in mir auslöst. In gewisser Weise hast du wirklich alles kaputtgemacht, nämlich meine Vorbereitung auf meine Rolle als Lukas.“ Ein kehliges Knurren dringt aus seiner Kehle und er rauft sich die Haare. Währenddessen sitze ich stocksteif da, unfähig, mich zu rühren. Möchte er mir auf diese umständliche Art und Weise sagen, dass …? Also ich meine, er deutet es an, oder etwa nicht?
 

Lautes Klatschen durchflutet den Raum und mein Kopf schnellt nach rechts.

„Respekt, sogar ich hätte dir das beinahe abgekauft.“

Aurel durchschreitet die Halle und klatscht weiterhin in seine Hände.

„Du willst ihm das doch nicht ernsthaft abnehmen, oder?“ Dabei sieht er mich an und zieht die Brauen nach oben.
 

Also naja, um ehrlich zu sein, äh, … ich denke, ich war drauf dran, ihm zu glauben, ja. Ist das so unverständlich? Verunsichert schaue ich zu Joshua, der wie Aurel mich ansieht.

Ich weiß doch auch nicht mehr, was ich noch denken soll. Mein Herz schreit das eine, mein Verstand das andere. Habt ihr denn nicht gemerkt, wie innerlich zerrissen ich bin?
 

„Ist die Kette nicht nur ein Requisit?“, fragt Aurel nun an Joshua gewandt. „Ich meine mich zu erinnern, dass Moritz sie dir vor wenigen Wochen überreicht hätte.“
 

Was? Moment, das muss ich zurückspulen. Die Kette ein Requisit? Unvermittelt beginne ich zu zittern und starre Joshua nun umso mehr an. Das kann nicht wahr sein! Das darf nicht wahr sein! Ist es wahr, Joshua?
 

Doch Joshua antwortet nicht, sondern sieht mich nur mit einem undefinierbaren Ausdruck im Gesicht an. Langsam wird es ganz dämmrig und ich habe Mühe, in seinen Augen zu erkennen, was in ihm vor sich geht.

Ich balle meine Hände zu Fäusten und hauche ein kaum hörbares „Joshua?“
 

„Es tut mir leid, Milly.“
 

Es tut ihm leid!

Ha!

Mehr hat er nicht zu sagen?

Er steht auf und baut sich vor Aurel auf. „Hast du nichts besseres zu tun?“
 

„Moritz verlangt nach dir“, antwortet dieser nur und vergräbt seine Hände in seinen Hosentaschen.
 

Zum Glück sind beide so damit beschäftigt, sich gegenseitig niederzustarren, dass sie nicht merken, wie ich leise aufstehe und zur Tür schleiche. Als ich durch sie hindurchgeschlüpft bin und mich die kalte Abendluft trifft, verpasse ich mir selbst eine Ohrfeige. Wie konnte ich nur hierherkommen? Wie konnte ich nur glauben, dass er meine Gefühle wahrhaftig erwidert?

Zu beiden Seiten springen Lichter an, kleine Laternen, denen ich vorhin gar keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Hinter mir geht die Tür auf. „Milly?“
 

„Lass mich in Ruhe, Joshua.“ Doch ich drehe mich nicht zu ihm um, ich starre lieber den Brunnen an, der ruhig in der Mitte des Platzes weilt.
 

„Wie hätte ich dein Vertrauen gewinnen können? Egal, was ich gesagt hätte, es hätte dir nicht gereicht.“
 

„Ich will nichts mehr hören, verdammt!“ Nun wende ich mich doch um und sehe ihn an. „Es war ein riesengroßer Fehler hierher zu kommen.“
 

Er streckt mir eine Hand entgegen, die ich wütend wegschlage.
 

„Fass mich nicht an!“, schreie ich. „Fass mich nie wieder an! Lass mich für ein und allemal in Ruhe!“

Mit bebender Brust hebe ich eine Hand und strecke einen Finger in die Höhe. „Erstens: Streich mich aus deinem Leben. Zweitens: Nähere dich mir nie wieder. Drittens: Geh! Verschwinde!“

Ich nehme die Hand herunter und lege die Finger um den Stoff meiner Hose. Erst schlucke ich, dann atme ich tief ein und dann hebe ich meine Hand wieder und klebe ihm eine. Kurzzeitig spüre ich die Haut seiner Wange an meiner Hand. Doch dieses Mal hinterlässt die Berührung zwischen uns keine Hitze, kein aufregendes Kribbeln und kein Verlangen nach mehr.

„Ich hoffe, dich nie wiederzusehen“, flüstere ich zum Abschied.



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