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Der unerwünschte Mieter

von

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Kapitel 2

Kapitel 2
 

Weil ich es nicht besser weiß, sehe ich meinem unerwünschten Gast dabei zu, wie er meine letzten Vorräte in sich hineinschaufelt. Eigentlich sollte ich die Polizei rufen und ihn abführen lassen, aber ich halte das irgendwie für übertrieben. Es sollte sich auch eine friedliche Lösung finden lassen, denn mir kommt der Typ immerhin nicht gefährlich vor. Wenn er mir was antun wollte, hätte er das schon längst getan.

Etwas resigniert rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her und schürze die Lippen. Dann räuspere ich mich und frage: “Magst du mir nicht endlich die Wahrheit darüber erzählen, wie du an den Schlüssel gekommen bist? Hast du irgendjemanden darauf angesetzt, einen Abdruck von meinem machen zu lassen? Bist du bei Herrn Hilkers eingebrochen und hast den Generalschlüssel geklaut?”

Er hält nicht mal im Kauen inne, geschweige denn, dass er mich ansieht. Unbekümmert isst er weiter und reagiert überhaupt nicht auf mich. Seine Hände gehen aber erstaunlich sanft mit Messer und Geschirr um. Ich hätte erwartet, dass er wie ein Schmied das Messer über den Teller schrubbt, dass es nur so quietscht – schließlich sind es ja nicht seine Sachen –, aber er verursacht kaum Geräusche.

Warum bin ich nicht überrascht, dass er mir nicht antwortet? Vielleicht sollte ich meine eben spontan aufgestellte Theorie auch etwas überdenken. Welches Interesse sollte dieser Typ auch haben, sich ausgerechnet in meine Wohnung einzunisten? Bisher sind wir uns nie begegnet, zumindest nicht, dass ich wüsste.

“Kannst du mich wenigstens ansehen, wenn ich mit dir rede?”, füge ich doch etwas entnervt hinzu. Es ist einfach eine Unart, seinen Gegenüber nicht anzusehen, wenn man angesprochen wurde.

Für einen kurzen Moment blitzen seine tiefgrünen Augen auf, aber es wäre auch verwunderlich, wenn er Manieren hätte. Das Seufzen, das dann von allen Wänden widerhallt, kommt eindeutig von mir.

“Okay gut”, setze ich erneut an. “Dann verrate mir wenigstens, wie du heißt.”

Mit Namen und Internet kann man schließlich viel herausfinden. Facebook, MeinVZ, Xing, Homepages von Sportvereinen und was es nicht alles so gibt heutzutage. Man wird doch überall vernetzt, selbst wenn man oft davon gar nichts erfährt. Wirklich erstaunlich, was man da manchmal über sich selbst findet. Sei es nur, dass ein ehemaliger Professor dich Jahre später namentlich in einem Paper erwähnt. Und nicht alle Namen gibt es hundertfach in Deutschland.

Plötzlich ziert schon wieder dieses verächtliche Grinsen seine Mundwinkel, mit dem er mich eine Weile bedenkt. Dafür hat er sogar mit einem Mal vergessen, mich komplett zu ignorieren, seit er sich auf meine Kosten den Magen vollschlägt. “Gerade du müsstest doch wissen, dass Namen nicht gleich Namen sind.”

Seine Worte lassen mich schlucken und genau diese meine Reaktion genießt er in vollen Zügen. Genüsslich schleckt er sich ein paar Finger ab, obwohl ich an ihnen keine Butter oder sonstige Essensrückstände erkennen kann, und visiert mich mit einer Intensität, die mich frösteln lässt. Ich spüre regelrecht, wie sich meine Nackenhärchen aufstellen.

“Oder siehst du das etwa anders, M-i-l-l-y?” Meinen Namen buchstabiert er fast.

“Ich habe keine Ahnung, wovon du redest”, wehre ich bemüht lässig ab, obwohl mir schon etwas mulmig wird. Milly ist nur mein Spitzname und diesen kennt mein Vermieter nicht. Also woher dann er? Alissa, also mein wahrer Name, klingt Milly schließlich nicht im Entferntesten ähnlich. “Geh dir lieber die Hände waschen!”, fahre ich ihn aus meiner Irritation heraus an. “Es ist widerlich, wenn du mit deinen abgeschleckten Fingern auf meinem Glastisch herumtatschst.”

So langsam werde ich wieder ich selbst, einigermaßen schlagfertig und ein wenig frech. Wird aber auch höchste Zeit, denn ich habe mich schon genug von ihm herumschubsen lassen. Wir befinden uns hier in meiner Wohnung und nicht auf neutralem Terrain, wo jeder einfach aufstehen und gehen und damit mir nichts dir nichts aus dem Leben des anderen verschwinden kann. Ich würde ja gerne ...

“Interessant, dass du richtig bissig sein kannst.” Anerkennend nickt er, büßt aber immer noch nicht das arrogante Lächeln ein, das ihm permanent anzuhaften scheint.

“Du weißt gar nichts von mir”, entgegne ich lapidar und beginne damit, die Essensreste einzusammeln. Dies ist nur ein Reflex und gar nicht gewollt meinerseits. Doch nachdem ich damit ohnehin schon angefangen habe und mir seines noch breiter werdenden Grinsens bewusst bin, kann ich damit auch weitermachen. Ich kann es eben einfach nicht leiden, wenn alles herumsteht; solche Eigenarten wird man nicht los, da kann man sich gegen wehren wie man will. Soll er sich doch köstlich über mich amüsieren.

Als ich dann aufstehen möchte, zucke ich zusammen. Die Muskelreizung in meinem rechten Bein veranlasst mich dazu, mich sofort zurück auf den Stuhl sinken zu lassen und das restliche Essen wieder auf den Tisch zu stellen. Mit zusammengebissenen Zähnen reibe ich über meinen Oberschenkel und blende kurz aus, dass ich dabei neugierig beobachtet werde. Aufgrund der ganzen Aufregung hatte ich ganz vergessen, dass mein Bein noch nicht wieder alle Bewegungen schmerzfrei mitmacht, dafür macht es sich nun umso deutlicher bemerkbar. Lautlos zähle ich bis drei und halte mein Bein dabei ganz still. Aus dem Augenwinkel heraus kann ich sehen, wie er und mir eine Hand reicht.

„Joshua“, meint er freundlich. Perplex starre ich seine Hand an. Während ich noch überlege, ob ich sie schüttele, beugt er sich zu mir hinab und sucht meine Rechte, umfasst sie fest. „Sehr erfreut“, wispert er nahe meiner Wange und sein Atem streicht sanft über meine Haut hinweg. Allzu deutlich nehme ich wahr, wie seine Finger meine berühren und sein Haar meine Stirn kitzelt.

Ich kann nicht in Worte fassen, was mir gerade durch den Kopf geht. Es ist Alles und Nichts.

„Mach Platz!“, herrsche ich ihn an und befreie ruckartig meine Hand aus seiner. Trotz des Pochens in meinem Bein stehe ich abrupt auf, stoße ihn dabei unsanft beiseite und schieße an ihm vorbei gen Küche. Dort löse ich eine Schmerztablette aus einem Streifen, gieße mir ein Glas Leitungswasser ein und schütte es mit einem Zug hinunter.

Joshua ... der Name hallt unentwegt in mir wider. Joshua ... Joshua …

Wie kann dieser Kerl nur einen meiner Lieblingsnamen tragen? Das ist ungerecht. Immer wenn ich mir einen netten jungen Mann ausmale, dann schwirrt sofort Joshua in meinem Kopf herum. Aber niemals habe ich da an einen selbstherrlichen, egozentrischen Typen gedacht, der eines Tages in meiner Wohnung auftaucht und mich ganz kirre macht.

Das Leben spielt einem manchmal wirklich mies mit.

„Du hast was vergessen“, meint er vorwurfsvoll und stellt Geschirr und Dosen neben mir ab.

„Du weißt, wo alles hingehört“, brumme ich nur und beachte ihn nicht weiter.

Wie erwartet lässt er alles einfach stehen und verschwindet wieder.

Warum nur Joshua?
 

Wenn ich meine Wohnung vor dem Schlafengehen wieder für mich haben will, dann muss ich schleunigst etwas unternehmen, was Wirkung zeigt. Egal, wie ich auf ihn reagiere, er macht sich einen Heidenspaß daraus. Bin ich still, bringt er abfällige Bemerkungen. Entgegne ich etwas, ziert dieses arrogante Lächeln seine Lippen und er kommentiert mich von oben herab. Okay, mit Freundlichkeit habe ich es noch nicht versucht, aber es ist auch schwer, jemandem offen und freundlich gegenüberzutreten, wenn man sich übergangen und überfallen fühlt.

Ich krame in meiner Hosentasche nach meinem Handy und suche Jessis Nummer in meinem Telefonbuch. Obwohl mir es schon wie eine Ewigkeit vorkommt, dass ich nach Hause gekommen bin, ist nicht mal eine Stunde vergangen und es ist erst viertel nach fünf. Deshalb habe ich keine Hoffnung, Jessi zu erreichen, aber ich lasse es dennoch bei ihr anklingeln. Da sie schon wieder ihren Anrufbeantworter deaktiviert hat, rolle ich die Augen und greife auf eine Kurzmitteilung zurück. In der SMS versuche ich so kurz und bündig wie möglich zu beschreiben, was bei mir los ist und dass ich dringend ihre Hilfe brauche. 160 Zeichen sind immer viel zu schnell erschöpft. Und Jessi sieht einfach nicht ein, sich endlich ein neues Handy zuzulegen, das nicht gleich streikt, wenn sich im Posteingang eine SMS befindet, die eigentlich aus zweien besteht. Also tippe ich:
 

Hallo Jessi! Brauche Hilfe! Dringend! In meiner Wohnung ist ein Kerl, der behauptet, nun hier zu wohnen. Melde dich! LG Milly
 

Mhh, 125 Zeichen. Perfekt. Ich hoffe nur, dass sie mich erst anruft, ehe sie die Polizei auf ihn hetzt. Als Anwältin – auch wenn sie noch nicht lange im Geschäft ist – wird sie täglich mit Drohungen, Schlägereien und Gewalt konfrontiert, da entwickelt sie eine gewisse Härte, aber sie sollte eigentlich wissen, dass es mir gut geht. Sie müsste es an der Art meiner Wortwahl erkennen. Hoffentlich! Naja, wenn nicht, dann werde ich Joshua – warum gerade dieser Name!?! – eben auf unsanfte Art und Weise los. Würde ihm vermutlich auch nicht schaden.

„Könntest du endlich meine Sachen aus dem Treppenhaus holen?“, ruft er laut vom Wohnzimmer aus. Ich schiele um die Ecke und sehe ihn schon wieder auf meinem Sofa flacken, die Arme hinterm Kopf verschränkt und die Augen geschlossen. Normalerweise habe ich nichts einzuwenden, wenn man sich bei mir wie zuhause fühlt, vielmehr heiße es ich es willkommen, weil ich dann weiß, dass man sich bei mir wohlfühlt, aber bei ihm habe ich eine Menge dagegen.

Mit schon wieder etwas Wut im Bauch stapfe ich zu ihm und funkele ihn an. „Du kannst dich gerne zu ihnen gesellen.“

„Mach es mir doch nicht so schwierig“, stöhnt er.

„Ich dir? Dass ich nicht lache. Wer liegt denn hier, obgleich er nicht hierher gehört?“

Obgleich“, wiederholt er und setzt das Wort mit seinen Fingern in Anführungszeichen. Die Augen hält er dabei immer noch geschlossen. „Sei so nett und verwende nicht immer die schwulstigsten Wörter deines Vokabulars. Davon wird mir ganz schlecht.“

Aus einem Impuls heraus schnappe ich mir eines der vielen Kissen, die auf dem Sofa liegen, und schmeiße es nach ihm. Wirklich schade, dass meine Kissen rund und kuschelweich sind. Seine Reaktion fällt auch sehr mager aus: Er zuckt zwar kurz zusammen, aber das war's auch schon.

Ich balle meine Hände zu Fäusten und unterdrücke mir krampfhaft einen Schrei, der mir tief in der Kehle sitzt. Wie eine wildgewordene Furie will ich dann doch nicht vor ihm auftreten. Diesen Triumph werde ich ihm niemals gönnen. Niemals!

Stattdessen setze ich mich neben ihn aufs Sofa und starre ihn an. Irgendwann wird er sich schon unter meinen Blicken winden und sich so unwohl dabei fühlen, dass er von alleine geht.

Es ist mucksmäuschenstill in meiner Wohnung und ich höre von draußen nur die Flugzeugmotoren brummen. Ein leises fast schon stetes Geräusch, das mich immer an ein weit entferntes Donnergrollen erinnert. Sobald das eine Flugzeug abgehoben hat, macht sich das nächste schon zum Start bereit. Normalerweise nehme ich die Geräusche, die vom Flughafen in meine Wohnung dringen, gar nicht mehr wahr, nicht mal dann, wenn ich lese und dabei keine Musik höre, aber heute ist alles anders. Konzentriert horche ich und nach einigen Minuten kann ich sogar ausmachen, wann ein Flugzeug landet und wann eines abhebt. Das plötzliche und laute Schlagen der Kirchturmuhr lässt mich aus meinen Gedanken fahren und erinnert mich daran, dass ich gerade eine ganz andere Mission habe, als über Flugzeuggeräusche zu philosophieren. Ich konzentriere mich nun wieder voll und ganz auf Joshua und beobachte das gleichmäßige Auf und Ab seines Brustkorbs.

DAS KANN DOCH NICHT WAHR SEIN!

Ist der Kerl etwa ...?

Vorsichtig taste ich mich an ihn heran und stupse ihn mit meiner Rechten an die Schulter. Das wiederhole ich immer und immer wieder und verstärke dabei unentwegt den Druck meiner Finger.

Ich fasse es nicht. Der ist mir hier tatsächlich eingepennt.

Ein diabolisches Grinsen macht sich auf meinem Gesicht breit. „Rache ist bekanntlich ja so süß, mein lieber Joshua“, raune ich und erhebe mich langsam, mit Acht auf mein Bein. So leise es mir möglich ist, schleiche ich ins Bad – das ist am weitesten vom Wohnzimmer entfernt – und lasse eiskaltes Wasser in meinen Zahnputzbecher ein. Das mag kindisch sein, aber das ist mir so was von egal. Der Kerl hat eine Abreibung verdient und was besseres fällt mir gerade nicht ein. Am liebsten würde ich ja meinen Putzeimer füllen und ihn damit duschen, aber dazu ist mir mein Sofa zu schade.

Auf leisen Sohlen gehe ich zurück, stelle mich vor ihn und drehe den Becher in meiner Hand um. Der kleine Schwall Wasser landet direkt in seinem Gesicht.

Und was dann folgt, lässt mich derart in Lachen ausbrechen, dass ich mir kurz darauf den Bauch halten muss und mir die Tränen kommen. „Du hättest dich sehen sollen“, stoße ich zwischen mehreren Lachsalven hervor. „Deine Mimik, einfach genial!“, pruste ich und lasse mich auf den Stuhl fallen, der neben dem Sofa steht. „Dass ein Mensch derart das Gesicht verziehen kann und dann wie ein Fisch nach Luft schnappt. Auf zu auf zu auf zu ...“

Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis ich mich wieder fange, aber ich koste jede einzelne Sekunde voll aus, in der diese Glücksgefühle in mir ausgelöst werden. Es ist aber auch zu herrlich gewesen, wie sein Mund ständig auf und zu ging.

Ich glaube, er findet das alles andere als lustig. Mit steinernem Gesichtsausdruck läuft er an mir vorbei, reißt kurz darauf die Wohnungstür auf und stürmt hinaus.

Wie? Geht er?

Ich vernehme nur noch Rascheln, ein paar Schritte, dann wieder Rascheln. Dann schlägt meine Wohnungstür wieder zu.

War's das jetzt?

Angespannt horche ich.

Stille.

Skeptisch schwenkt mein Blick hin und her.

Nein, das glaube ich nicht.

Wenn das so einfach wäre, hätte ich ihm vorhin schon ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet.

Wie in Trance stehe ich auf und setze einen Fuß vor den anderen und lasse dabei die Ecke, hinter der die Wohnzimmertür liegt, die zum Flur führt, nicht aus den Augen. Gerade als ich um die Ecke luken möchte, fliegt ein schwarzes Etwas haarscharf an mir vorbei. Einer von Joshuas Schuhen prallt von meiner Schlafzimmertür ab und landet auf dem Boden. Mit klopfendem Herzen sehe ich, wie er sich dort einmal überschlägt und dann regungslos liegen bleibt.

„Sag mal, spinnst du?“, entfährt es mir und ich biege nun um die Ecke, auch auf die Gefahr hin, von dem nächsten Trum, das er nicht bei sich behalten kann, getroffen zu werden. „Dich wie ein Vollidiot aufführen, kannst du woanders! Verschwinde! Sofort! Nimm deine Sachen und geh!“

Erst dann realisiere ich, dass er wie ein Häufchen Elend an der weiß lackierten Wohnungstür lehnt und mich mitleidvoll aus seinen tiefgrünen Augen ansieht. Wie er so dasteht in seinen blauen Jeans, seinem weißen Hemd und seinen leicht strubbeligen braunen Haaren, durch die man gerne mit der Hand hindurchfahren würde, bläst mir jeglichen Wind aus den Segeln. Mit herunterhängenden Armen stehe ich da und mir wird ganz übel, wenn ich daran denke, dass ich gerade vorhatte, so lange auf ihn einzuprügeln, bis er freiwillig geht.

Das ist so unfair. Eben war ich noch derart in Fahrt und nun plagt mich ein schlechtes Gewissen.

„Wo soll ich denn hin?“, fragt er verzweifelt. „Wenn ich jetzt gehe, dann habe ich gar nichts mehr.“

Kraftlos lässt er sich an der Tür hinabgleiten. „Milly, komm schon. Hab' ein Herz.“

Entmutigt wende ich mich von der Szenerie ab, mache die Tür zum Flur zu und fahre mit meinen Fingern über die vielen Postkarten, die an der silbernen Magnettafel an der Wand hängen. Ihn hinter der Tür wissend, seine Augen durch das matte Glas der Tür auf mich gerichtet, macht mich ganz stutzig. Ich verschiebe einen schwarzen Magneten und nehme eine Karte ab. Mein Blick schweift über die handgeschriebenen Zeilen meiner besten Freundin. Als ich das zweite Mal Milly lese, weiß ich plötzlich, woher er meinen Spitznahmen kennt. Er hat während meiner Abwesenheit also sogar meine private Post gelesen.

Arrogant.

Selbstherrlich.

Egoistisch.

Unverschämt.

Alles Adjektive, die ihn treffend beschreiben.

Warum regt sich dann in mir so was wie Mitgefühl?

Kaum zu glauben, wie viele verschiedene Emotionen er bereits in mir hervorgerufen hat. Hatte ich innerhalb einer Stunde jemals so viele Gefühle durchlebt? Nicht, dass ich mich daran erinnern könnte. Vor allem nicht in letzter Zeit, wo ich eher deprimiert zuhause gelegen habe und mir nutzlos vorgekommen bin. Die Verletzung hat mich total zurückgeworfen und ließ mich viel über mein bisheriges und das zukünftige Leben nachdenken. Da mühe ich mich die letzten Jahre ab, um mir eine einigermaßen ansehnliche Figur zu erarbeiten, bin endlich auf dem besten Wege, und dann bin ich beim Sport nur eine Sekunde unachtsam und anschließend monatelang verletzt. Der permanente Schmerz hat mich dermaßen zermürbt, dass ich nicht mal mehr imstande war, innige Freude zu empfinden. Und nun, als es wieder mit mir aufwärts geht und ich wieder anfange, an mich selbst zu glauben, stoße ich auf diesen Kerl, der alles durcheinander bringt. Er hat in den vergangenen 60 Minuten mein gesamtes Inneres aufgewirbelt und es fällt mir schwer, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Bei ihm fahre ich dazu noch viel schneller aus der Haut als üblich. Weiß er eigentich, was er mit mir macht?

Um mir Klarheit über ihn zu verschaffen, gehe ich zu ihm zurück und setze mich vor ihm auf die weißen Fliesen. „Reden wir Klartext“, sage ich und ziehe mit meinem Finger eine unsichtbare Linie auf dem Boden, exakt zwischen uns. Joshua, der sich bis eben anscheinend keinen Zentimeter bewegt hat, richtet seinen Oberkörper auf und sieht mich erwartungsvoll an. „Da du auch jetzt mit Sicherheit nicht von deiner Geschichte abrückst“, beginne ich mit fester Stimme, „wirst du nun zusammen mit mir zu Herrn Hilkers gehen, der deine Variante entweder bestätigen oder widerlegen wird. Du wirst dich weder weigern noch wie ein Vollidiot aufführen wie bisher. Bis wir meinen Vermieter gesprochen haben, will ich kein Wort der Widerrede mehr von dir hören. Haben wir uns verstanden?“

Er legt den Kopf etwas schief. „Und wenn nicht?“

„Dann rufe ich die Polizei und du wirst die Nacht hoffentlich hinter Gittern verbringen.“ Eigentlich habe ich das gar nicht sagen wollen, aber mein Mund war schneller als meine Gedanken. Aber nachdem es nun raus ist und die Drohung anscheinend bei ihm fruchtet, ist es nun auch egal. Jedenfalls nehme ich sie nicht zurück, so viel ist sicher.

„Es sind nur 10 Minuten Fußweg“, erkläre ich und ziehe mir meine Sandalen an.

„Er wird bestimmt noch nicht zuhause sein“, erwidert Joshua, streift aber dennoch seinen einen Schuh über. Den anderen, den er nach mir geschmissen hat, muss er sich erst noch holen.

„Egal, wir versuchen es trotzdem. Und notfalls warten wir vor seiner Haustür, bis er heim kommt. Wage in der Zwischenzeit ja nichts falsches. Ich sitze am längeren Hebel und das werde ich von nun an ausnutzen, ob es dir passt oder nicht.“

Wenige Minuten später befinden wir uns tatsächlich auf dem Weg in die Zurter Allee, in der das Haus meines Vermieters steht.

„Darf ich dich was fragen?“ Er beschleunigt seinen Schritt, dreht sich um 180 Grad und schaut mich nun rückwärtsgehend an. Seine Hände stecken in seinen Hosentaschen, doch er wirkt dennoch irgendwie galant.

„Wenn es sein muss“, seufze ich.

„Was machst du, wenn Herr Hilkers meine Geschichte bestätigt?“

Und da ist es wieder. Dieses arrogante Lächeln, das allein mir gebührt.

Zweifellos ist das eine gute Frage. Zum Glück habe ich noch ein paar Minuten Zeit, mir über die möglichen Folgen Gedanken zu machen.



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