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All Hallow's Love

Eine Halloween-Story
von

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2010

Entschuldigung: Dafür, dass ihr warten musstet. Und für das, was ich euch gleich zumuten werde; einen absolut absurden Plot; Verschandelungen und unangebrachte, nicht im mindesten verifizierte homoerotische Andeutungen bezüglich der keltischen Mythologie und komplette Hirnlosigkeit. Ich bin des Schwytzerdeutschen nicht mächtig, aber ihr könnt euch den Dialekt sicher vorstellen, wenn es gefordert wird, nicht?

Charakter Info: Habe Himawari bei den Charakteren hinzugefügt. Ich kann einfach nicht ohne sie. Ernsthaft, ich würde sie stehlen und den ganzen Tag knuddeln. Soweit ich weiß, hat sie noch keinen Seelenpartner. XD
 

And I'd give up forever to touch you

‘Cause I know that you feel me somehow

You're the closest to heaven that I'll ever be

And I don't want to go home right now

Goo Goo Dolls, “Iris”
 

So anstrengend das Leben in der Anderswelt auch ist; das ständige Jagen, Schlemmen und unfähigen Untergebenen den Kopf abschlagen; irgendwann fällt sogar dem viel beschäftigten Herrscher von Annwn auf, dass sein zweitjüngster Spross einfach nicht nach Hause zurück kehren wollte. Als Fye zu Samhain nicht zurück kehrte, vermutete sein Vater, dass der Junge nur wieder bis zum letzten Moment gewartet hatte um das Tor zu durchschreiten und dass es bereits geschlossen gewesen war, als Fye zurückzukehren versuchte. Sein Sohn war ein ziemlicher Träumer; eine Eigenschaft, die ganz sicher mit seiner menschlichen Seite zusammenhing. Als aber auch an Beltane darauf kein Anzeichen des Blondschopfs zu sehen war, wurde er unwirsch.

Nein, unwirsch war das falsche Wort; vielmehr war er stinksauer.

Es war nicht so, dass Arawn von Annwn seinen Sohn misste; er war nie ein besonders herzliches Wesen gewesen und das würde sich nach zweitausend Jahren auch nicht mehr ändern.

Er kam sich verarscht vor.

Hinters Licht geführt von seinem eigenen Fleisch und Blut, kann man sich vorstellen, wie sich das auf seinen Ruf auswirken würde? Und wenn es erst hieß, dass er nicht mal sein eigenes Kind (und ein Halbblut noch dazu!) unter Kontrolle hatte, dauerte es nicht lange, bis die ersten Herausforderer auf der Matte standen, die sich mit ihm um den Thron duellieren wollten. Und er mochte es auf seinem Thron zu sitzen, danke der Nachfrage.

So fragwürdig Arawns Vaterqualitäten auch sein mochten, eines wusste er doch über seinen verschollenen Sohn: wenn es jemanden gab, der Fye nicht nur aufspüren, sondern auch dazu bewegen konnte von sich aus heim zu kommen, dann war das Yuui. Für diese Aufgabe gab er seinem jüngsten Sohn genau ein halbes Jahr Zeit – bis zum nächsten Samhain – weil klar war, dass das in den wenigen verbliebenen Stunden von Beltane nichts mehr werden würde. Nichts gegen den Jungen, aber Yuui war in Arawns Augen nun mal ein Schwächling, da konnte man nicht viel erwarten. Aber seine Kinder konnte man sich nun mal nicht aussuchen.

Der König der Anderswelt schwor sich, bei Gelegenheit ein paar reinblütige Nachkommen zu zeugen. So hübsch die Menschenfrauen auch sein mochten, ihre Bälger waren einfach zu unvorhersehbar.
 

Yuui atmete tief durch. Er befand sich direkt vor dem Übergang und er konnte fühlen, dass die Grenzen offen waren. Es bedurfte nur eines kleinen Schrittes um hinüber zu gelangen und doch konnte er sich nicht dazu überwinden. Er hatte seiner Mutter ein Versprechen gegeben, nie wieder einen Fuß in die Menschenwelt zu setzen um kein Unheil über die Sterblichen zu bringen.

„Na, dann lass die doch einfach in Ruhe, wenn du drüben bist“, schlug eine weibliche Stimme hinter ihm vor. Yuui drehte sich um. Das Mädchen hatte grüne Augen und das schwarze Haar war zu einer flippigen, geschlechts-unspezifischen Kurzhaarfrisur geschnitten; außerdem trug sie ein so pompöses Kleid, das schon an Dreistigkeit grenzte.

„Verzeihung, habe ich das laut ausgesprochen?“, fragte er.

„Jepp. Was übrigens kein Grund ist, sich gleich zu entschuldigen. Wenn du dich entschuldigen willst, dann dafür, dass du den Verkehr behinderst.“ Ihr Charakter schien genauso dreist wie ihr Kleid. „Wo brennt’s denn?“

„Mein Bruder ist drüben. Und wenn ich ihn nicht bald zurück hole, dann bekommt er Ärger.“

„Und du meinst also, deine Mutter sähe es lieber, wenn du hier stehst und rum jammerst, anstatt deinem Bruder zu helfen, hä?“

Yuui musste zugeben, dass er das aus dem Blickwinkel noch gar nicht betrachtet hatte. „Aber... woher weiß ich, wie ich mich drüben zurecht finden soll?“

Das Mädchen grinste und klopfte dem Blonden auf die Schulter. „Du kannst mir später danken“, sagte sie. Und gab ihm einen beherzten Schubs.

„Wofür soll ich—UAH!“

Vollkommen selbstzufrieden klopfte Hokuto Sumeragi sich den imaginären Staub von den Schultern und rollte dann mit den Augen über so viel Unsicherheit. „Jungfrauen!“, seufzte sie.[1] Dann folgte sie dem Arglosen.
 

„Siehst du, war doch gar nicht so schlimm, hm?“

„Nicht so schlimm? Du hast mich geschubst“, beschwerte sich Yuui und rieb sich den Sand von der Wange.

„Falsch! Ich habe dir die Entscheidung abgenommen. Ich meine, jetzt wo du schon mal hier bist, wäre es eine Verschwendung unverrichteter Dinge zurück zu gehen, nicht war? Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe ein paar Boutiquen zu durchstöbern, bevor die Läden schließen.“ Und damit zog sie davon, laut lachend. Hokutos Lachen und ihr Kleid hatten eins gemeinsam: sie gehörten verboten.

Einmal drüben angekommen, merkte Yuui, das ein Teil seiner Befürchtungen völlig überflüssig war. Er wurde bereits erwartet.

Yuui war Kohane nie begegnet; seine Halbschwester war lange vor seiner Geburt verbannt worden, aber er konnte fühlen, wer sie war. Es erstaunte ihn nur, sie ganz allein anzutreffen. Fye hatte erzählt, dass sie selten ohne ihre beiden Wächter aus dem Haus ging.

„Guten Abend, Kohane.“

„Guten Abend, Yuui. Ich habe dich erwartet.“

Er nickte, weil es unhöflich gewesen wäre, sie sofort mit Fragen zu bedrängen. Aber wenn die Gerüchte stimmten, beherrschte sie die Fähigkeit den Vogelflug zu deuten. „Ich suche nach unserem Bruder.“

„Das hatte ich befürchtet. Wenn ich dir helfe ihn zu finden... versprichst du mir dann, vor morgen früh keine Schritte zu unternehmen?“ Ihr Haar war fiel ihr in einem sorgfältig geflochtenen Zopf auf den Rücken und nur die Strähnen, die sich darauf gelöst hatten, wehten ein wenig im Wind. Yuui fand ihre Bitte etwas merkwürdig.

Er blickte sich um, um sich ein klares Bild von seiner Umgebung zu machen. Er stand in einer Art Becken aus Sand, aus dem ein stählernes Gerippe aufragte und um das Becken waren in regelmäßigen Abständen Haselnusssträucher gepflanzt worden. In der Ferne konnte er Eichen entdecken. Es waren die zwei mächtigsten Pflanzen, die die alten Druiden gekannt hatten und die Energie, die von Ihnen ausging, war unverwechselbar. Das bedeutete, dass es zwar einfach sein dürfte, diesen Platz wieder zu finden, aber so konnte er seinen Bruder auch schwieriger erspüren.

„Also gut. Vater hat mir Zeit bis Samhain gegeben und ich könnte etwas Hilfe wirklich gut gebrauchen.“

„Nein“, widersprach Kohane, „was du brauchst ist ein Telefon.“
 

Aber nicht irgendein Telefon. Es stand ein sehr schickes im Sekretariat des Kobayashi-Waisenhauses. Sayaka-san war gerade dabei, die Kinder zum Schlafen zu bringen. Nur einer der Li-Zwillinge hatte sich davon geschlichen und versteckte sich an dem Ort, wo die Erzieherin wohl am letzten nachsehen würde – in ihrem Büro. Der Junge hatte es sich mit einem Comicheft auf ihren Stuhl bequem gemacht.

„Guten Abend, Syaoran“, sagte Kohane.

Ein blaues und ein braunes Auge lugten über den Rand des Heftes und der brünette Junge grinste. „Fast, Kohane-chan, fast. Ich bin Syaoron. N’Abend Fye-san. Schicker Mantel.“

Yuui starrte verwundert auf seinen wollenen, weißen Kapuzenmantel. Ihm war der Sarkasmus nicht entgangen; stimmte irgendwas mit dem Kleidungsstück nicht?

„Das ist nicht Fye. Das ist Yuui.“

Syaoran schnalzte in einer ’Hab’ ich’s doch geahnt’-Manier. Tatsächlich gab es nur ein Indiz, an dem man die blonden Zwillinge unterscheiden konnte. Fye trug sein Haar am liebsten offen, Yuui band es lieber zusammen. Er war nämlich im Nacken ziemlich empfindlich und schon ein leichtes Kitzeln dort konnte ihn zusammenzucken lassen.

„Ihr seid Eineiige, nicht? Willkommen im Club. Was kann ich für euch beide tun?“

„Könntest du Fye und Kurogane-san anrufen und sie fragen, ob sie morgen hierher kommen könnten?“, antwortete Kohane für Yuui, der einen sehr verlorenen Eindruck machte. Syaoran ließ den Mann nicht aus den Augen, als er den Telefonhörer in die Hand nahm. „Sicher, ich weiß nur nicht, ob sie so spät noch ran gehen.“ Er wählte. „Ich habe nämlich keine Lust, bei irgendwas zu stören, wenn ihr wisst was ich meine.“

Sie wussten es nicht.

„--- Kurogane-san? Hey, ich bin’s, Syaoron... nein, Sayaka-san lässt mich länger aufbleiben, sag mal, könntest du und Fye-san morgen mal vorbei schauen? ... Irgendwann, wenn es euch am besten passt... okay. ... okay, dann bis dann.“ Der chinesische Junge legte den Hörer auf und zuckte mit den Schultern. „Geht klar. Sie kommen morgen Nachmittag. Hat dein schweigsamer Freund denn schon eine Bleibe?“

„Ich bin gerade erst hier angekommen“, sagte Yuui, einfach nur, damit er etwas sagte. Und nicht wieder als schweigsam bezeichnet wurde.

„Ich hatte gehofft, er konnte heute hier bleiben“, fügte Kohane hinzu. „Ich muss bald zurück, sonst machen Watanuki und Doumeki sich Sorgen.“

Syaoron musterte Yuuis Körpersprache genau. Der Blonde blickte in die Weltgeschichte, als hätte er noch nie in einem Sekretariat gestanden und... hatte Fye-san nicht mal erwähnt, sein Bruder hätte die Anderswelt noch nie verlassen? Er hatte also quasi ein unbeschriebenes Blatt vor sich. Ein kleines, hinterhältiges Grinsen schlich sich auf Syaorons Lippen. All die Jahre hatte er damit verbringen können, seinen kleinen Bruder damit aufzuziehen, dass der in Sakura-chan verknallt war. Nur jetzt, wo sich tatsächlich langsam was zwischen den Beiden entwickelte, ließ sein kleiner Bruder sich nicht mehr so leicht ärgern. Vielleicht war es ja an der Zeit, sich ein neues Ziel zu suchen.

„Aber natürlich kann er hier bleiben.“
 

Wenn man jemanden auf längere Sicht hinweg aufziehen wollte, dann musste man dafür sorgen, dass diese Person einem immer wieder verzieh. Damit man immer wieder von vorn anfangen konnte. Das brachte den zusätzlichen Reiz mit sich, dass man sich ständig einen neuen Scherz einfallen lassen musste, da das „Opfer“ dazu lernte.

Syaoron erkannte rasch, dass Yuui eigentlich niemandem auf lange Sicht böse sein konnte, was ihn zum perfekten Ziel machte.
 

Das Wiedersehen der Zwillinge war äußerst tränenreich. Es war vor allem Fye der weinte, weil er Angst hatte, sein Bruder würde es ihm zum Vorwurf machen, dass er ihn allein gelassen hatte. Die meisten Tränen, die vergossen wurden, flossen also aus Erleichterung, als Yuui erklärte, warum er wirklich gekommen war.

Die nächsten zwei Wochen waren die Brüder wieder unzertrennlich. Nicht einmal Kurogane störte die traute Zweisamkeit, aber nicht aus Zurückhaltung, sondern weil er schmollte. Er weigerte sich standhaft, auch nur ein Wort mit seinem Idioten von einem Freund zu reden, weil der nie erwähnt hatte, dass er und sein Bruder Zwillinge waren. Es kostete Fye einiges an Mühe, seinen Lieblingsmensch wieder versöhnlich zu stimmen, aber mit etwas gutem Zureden und einer Menge Alkohol schaffte er es dann doch. Der einzige Nachteil war nur, dass ihre kleine Küche bald vollgestellt mit Pfandflaschen war.
 

~*+*~

Eine Zeit lang war alles perfekt. Da Yuui nur ein halbes Jahr bleiben wollte, bot Sayaka-san ihm an, dass er im Waisenhaus wohnen konnte, wenn er sich nützlich machte. Er zeigte sich hilfsbereit und wissbegierig und lernte mit beängstigender Geschwindigkeit wie man kochte und buk und steckte mit seiner Begeisterung dafür sogar Kohane an. Nach Jahren des selbst auferlegten Exils ging sie wieder regelmäßig aus dem Haus, nicht nur an Halloween, sodass ihre Wächter bald ihrem Beispiel folgten.

Fye beobachtete die Veränderungen, die in seinem Bruder vorgingen mit einem liebevollen Lächeln. Er hatte schon immer geahnt, dass Yuui viel zu gut, viel zu menschlich für die Anderswelt war, wo man ihnen stets mit unterschwelliger Feindseligkeit begegnete. Aber hier... hier bildete sich eine Symbiose.

Menschen waren großartig. Sie akzeptierten jeden, so lange sie ihm nur etwas beibringen konnten, weil es ihnen schmeichelte, wenn sie sich gebraucht fühlten. Im Gegenzug dafür, dass man ihr Ego fütterte, beschenkten sie einen mit Bestätigung und Unterstützung. Die Menschen in Yuuis Umfeld gaben ihm dadurch das, was er am meisten gebraucht hatte: Selbstwertgefühl.

Das war etwas, das Fye ihm nicht hatte geben können, weil sie sich zu ähnlich waren.

Fye war glücklich, weil Yuui glücklich wurde. Und er schwor bei Gott – dem Gott der Sterblichen – dass er alles tun würde um zu verhindern, dass er und sein Bruder zurück nach Annwn mussten. Er war überzeugt, dass er es schaffen konnte; immerhin hatte er es nach sechs Jahren härtester Wortgefechte sogar geschafft Kurogane dazu zu bringen, sich der Halloween-Tradition des Verkleidens zu beugen. Der Schwarzhaarige war sogar so gnädig gewesen, Fye bestimmen zu lassen, als was er sich verkleiden musste. Dem Blonden hatte da schon so etwas vorgeschwebt...
 

~*+*~

„Rotkäppchen?“, fragte Yuui ungläubig. Er sah es, er begriff es, aber er weigerte sich es zu glauben.

„Ja~ha!“, rief sein Bruder vergnügt aus und drehte sich in seinem Kostüm, sodass das berüschte Röckchen ein wenig hoch wehte. „Und Kuro-sama muss als großes, böses Hündchen gehen.“

„Ich dachte immer, es wäre ein Wolf?“, fragte Watanuki, der sich gerade in der geräumigen Küche des Waisenhauses daran machte, Reis für die Kinder zu kochen.

„Nicht, wenn ich das Märchen erzähle. Außerdem passt ein Hündchen viel besser. Du musst ihn dann unbedingt ansehen, ich habe ihm einen von diesen Haarreifen mit Ohren dran besorgt und eines dieser Hunde-Nietenhalsbänder, wie Punks sie tragen. Auch wenn das leider das Einzige ist, was ich ihm zumuten durfte. Er hat sich geweigert, auch noch den Schwanz zu tragen. Willst du nicht mitkommen, Yuui?“

„Weißt du, es gibt hier noch so viel zu tun und ich wollte eigentlich noch ein paar Plätzchen zum Abschied backen, bevor wir nach Hause gehen.“

„Weißt du...“ Fyes Miene wurde plötzlich ernst, als er sich auf die Anrichte setzte und die Beine baumeln ließ. „Genau darüber wollte ich mit dir sprechen.“

Als das Thema angeschnitten wurde, fiel Watanuki plötzlich ein, dass er noch ein paar Kräuter aus dem Kräutergarten holen musste. Welch Zufall, nicht?

„Bitte sag’ mir nicht, dass du mich allein zurück schickst, nur mit einem Brief bewaffnet in dem du Vater erklärst, warum du nicht mitkommst. Ich glaube nämlich nicht dass er das einfach so hinnehmen wird.“

Fye schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich geh’ heut schon noch irgendwann. Aber ich will, dass du hier bleibst, solange ich drüben bin.“

„Wa—wieso?“

„Weil ich nicht will, dass du dabei bist, wenn Vater heraus findet, dass sein toller Plan nicht aufgegangen ist, sonst gibt er dir noch die Schuld. Außerdem bist du mein Garant, dass ich wieder zurück kann. Wusstest du, dass Vater schon länger darüber nachdenkt, dass Tor zu versiegeln, weil sich an Samhain immer wieder mal Sterbliche nach Annwn verirren? Kohane hat mir davon erzählt.“

„... du meinst, er wartet nur noch darauf, dass wir zurück kommen, um dann dicht zu machen? Aber warum? Ich meine, warum jetzt?“ Ganz zu schweigen davon, dass das die Tourismusbranche der Anderswelt mit einem Schlag zum erliegen brächte.

„Meine Abwesenheit könnte ihn vielleicht erst dazu provoziert haben.“

Yuui seufzte. Er dachte darüber nach während er die Küchenschränke nach einer Schüssel durchstöberte. Mehl, Zucker und Butter für den Plätzchenteig standen schon bereit. „Fein. Dann warte ich eben, bis sich die Sache geklärt hat. Aber zögere nicht zu lang damit, okay.“ Er begann, das Mehl abzuwiegen.

„Mh-hm“, machte Fye und der Betonung nach war es ein Laut der Zustimmung. „Aber Yuui... willst du wirklich unbedingt zurück?“

Der jüngere Zwilling hielt in seinen Tätigkeiten inne. Die Frage nach dem Wollen hatte er sich bis jetzt nie gestellt, weil er nicht glaubte, dass seine Meinung relevant war. Wenn sie zurück mussten – was spielte es dann für eine Rolle, ob er wollte oder nicht? „Wir gehören nicht in diese Welt, Bruder“, sagte er schließlich und wich damit geschickt aus.

„In die andere auch nicht. Aber die Sterblichen haben ein Sprichwort: Zu Hause ist dort, wo das Herz ist.“

„Ach tatsächlich?“

„Versprichst du mir, dass du darüber nachdenkst?“

„Meinetwegen“, lenkte Yuui ein. Nachzudenken tat ja keinem weh, nicht?

Von außerhalb der Küche konnten sie plötzlich Watanukis Gebrüll hören. „HEY, DU TROTTEL, PASS GEFÄLLIGST AUF WO DU HINTRITTST. DU ZERTRAMPELST DIE PETERSILIE!“ Nun, es gab nur eine Person, die eine solche Reaktion erzielen konnte. Die Zwillinge schmunzelten sich an.

Fye jubelte. „Klingt, als wären Kohane und Doumeki-kun endlich da. Ich gehe ’Hallo’ sagen.“
 

Als die kleine Gruppe sich nach dem Abendbrot auf den Weg machte, war noch alles so, wie jedes Halloween, mit der Ausnahme, dass das Ensemble (wenn man sie denn so nennen konnte) eine kleine Veränderung durchgemacht hatte. Syaoron hatte beschlossen, im Waisenhaus zu bleiben, weil er “langsam zu alt für diesen Kinderkram“ wurde – eine Ausrede, die Sakura und Syaoran nicht wirklich gelten lassen wollten; schließlich waren sie genauso alt. Aber Syaorons Dickkopf hatte sich letztlich durchgesetzt. An seiner statt war Doumeki mitgegangen (in menschlicher Gestalt, verstand sich), den Kohane dazu überredet hatte. Die Aufgabe ihres Beschützers war dabei nicht Süßigkeiten abzustauben, sondern sie an vorbei ziehende Kinder zu verteilen.

Kurogane schwieg die ganze Zeit über eisern und versuchte sein bestes, nicht daran zu denken, in welch peinlicher Aufmachung er unterwegs war. Er wusste, dass er darüber stehen sollte, aber es zu ignorieren war gar nicht so einfach. Besonders nicht, wenn ein gewisser blonder Idiot einem immer wieder versichern musste, wie cool man doch aussah.

„Das war das erste und das letzte Mal, dass ich mich von dir dazu habe überreden lassen.“, knurrte der Schwarzhaarige als er Versicherung Nummer 17 über sich ergehen lassen musste.

„Aber du bist ein so gutes großes, böses Hündchen“, kicherte Fye. In seiner Armbeuge baumelte der Henkel eines Körbchens, welcher eine Flasche Rotwein und einen Kuchen beherbergte.

’Versicherung Nummer achtzehn.’ Verdammt, sah er vielleicht aus wie jemand, der permanent Bestätigung brauchte? Wenn das echte Rotkäppchen auch nur halb so anstrengend gewesen war wie sein Rotkäppchen, dann wunderte es Kurogane nicht, dass der Wolf es aufgefressen hatte.

Rotkäppchen und das große böse Hündchen liefen wie immer ein wenig abseits von der Gruppe um ihre Schützlinge besser im Blick zu haben. Sie bemerkten die Krähe nicht, die über ihre Köpfe hinweg flog und selbst wenn sie das Tier bemerkt hätten, hätte ihnen der Anblick nichts gesagt. Einzig Kohane-chan hätte das Omen zu deuten vermocht, aber die Dannan plante gerade mit Sakura-chan eine Umgestaltung ihres kleinen Gartens. Mehr Sonnenblumen mussten her, da waren sie sich einig. Und ein Kirschbaum.

Die Krähe hätte sie warnen können.

Die Krähe hatte sie warnen sollen.

Doch so merkten die beiden erst, dass etwas nicht stimmte, als Sakura einen spitzen Schrei ausstieß.

Grüne Flammen wuchsen aus dem unbelebten Asphalt, schlossen die Kinder ein und streckten sich nach oben. Die obersten Flammenkegel wölbten sich zum Zentrum des Kreises hin, sodass die grüne Feuerwand fast aussah wie eine Kuppel...

Nein, keine Kuppel. Ein Kürbis.

Zwei schwefelgelbe Lichter blitzten in dem Grün auf und unter ihnen klaffte ein horizontaler Riss in dem Flammenmeer, durch den man einen flüchtigen Blick auf die Kinder hatte, die sich panisch zusammen drängten.

Ein Lachen, tiefer als der Mariannengraben war zu hören, dann verschwanden die Flammen. Und zurück blieb nur die leere Straße.

„Was zur Hölle war das?“ Kurogane fiel es schwer, sich zu rühren. Halloween war die Zeit der betrunkenen Halbstarken oder der Teenager, die mit Eiern und Klopapier um sich warfen. Wie bitteschön bereitete man sich aber auf so was vor?

„Nicht was“, flüsterte Fye. Sein Körbchen war ihm aus der Hand gerutscht; die Rotweinflasche war auf dem Asphalt zersprungen und ihr kostbarer roter Inhalt breitete sich um Fyes Schuhe aus. Das Gesicht des Blonden war regungslos; bei ihm setzte sich erst die Erkenntnis, dass er schuld daran war. Dass er die Geduld seines Vaters ein für alle Mal überstrapaziert haben musste, wenn der seinen zuverlässigsten Kopfgeldjäger schickte. „Das war Jack.“
 

Die Luft in der Küche roch nach Vanillinzucker und Karamell, als Yuui im Schneidersitz vor der Ofentür saß und wie ein liebender Elternteil den kornigou – Plätzchen in Form von Geweihen – beim backen zusah. Er liebte die Wärme. Liebte die Düfte. Das würde er aufgeben müssen, wenn er zurück ging.

Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr.

„Keinen Schritt weiter, Mr. Bond. Die Küchlein sind noch heiß; Sie werden sich den Magen verderben.“

Syaoron – in einen Anzug gekleidet und mit einem Wasser gefüllten Martiniglas in der Hand – ließ seine Hand in der Luft verharren. Nur noch ein paar Zentimeter und er hätte das Objekt seiner Begierde, ein Kürbisküchlein, erwischt. „Du bist gnadenlos, Yuui.“

„Und du hast zum Abend gegessen, junger Mann.“, erwiderte der Blonde mit nachsichtiger Strenge.

„Kuchen gegen Rätsel?“, schlug der Teenager vor und stellte sein Glas auf der Anrichte ab. Rätsel waren mittlerweile das Einzige, mit dem er dem Anderen noch etwas vormachen konnte. Das war ein ziemlicher Fortschritt für jemanden, der ihm noch vor fünf Wochen abgekauft hatte, dass Hundekuchen aus Hunden gemacht wurden.

Yuui drehte sich kurz zu ihm um. Das Licht des Ofens ließ sein Haar in einem angenehmen Goldton schimmern. Er grinste, was selten vorkam. Meist konnte man bei Yuui nur ein entspanntes Lächeln sehen; das Grinsen verhieß Siegesgewissheit. „Herausforderung angenommen.“

„Was haben ein Rabe und ein Schreibtisch gemeinsam?“

... Yuuii kannte das Rätsel. Der verrückte Hutmacher hatte es Alice gestellt. Das war in dem Film gewesen, den sein Bruder und er sich angesehen hatten. Doch des Rätsels Lösung... die Lösung... der Hutmacher hatte es selbst nicht gewusst. Hieß das, es gab keine?

„Das ’b’?“, fragte er.

„Nein. Das heißt, schon, aber das ist nicht die richtige Antwort.“ Jetzt war es an Syaoron, siegessicher zu grinsen.

„Kriege ich einen Tipp?“

„Kriege ich einen Keks?“

„Drüben in der Dose. Sie verhandeln hart, Mister Bond.“

Und während „Mr. Bond“ sich einen Keks angelte, sagte er: „Die Antwort ist lyrisch, ja regelrecht poetisch.“

Das half Yuui auch nicht viel weiter. Das Rätsel war schlimmer als die ’Wann ist eine Tür keine Tür’-Frage. Der Blonde stand auf, und klopfte sich den nicht vorhandenen Staub von den Hosen. „Wie lange habe ich Zeit zum nachdenken?“

„Bis die Küchlein ausgekühlt sind.“

Ein Klacken war zu hören. Dann das leise Zischen von ausströmendem Gas. Die Beiden sahen auf den Gasherd und tauschten einen Blick.

„Bist du gerade an den Schalter gekommen?“, fragte Syaoron. In seinem Mundwinkel klebten die ersten Krümel.

Yuui runzelte irritiert die Stirn und schaltete die Gaszufuhr wieder aus. Dann entfernte er sich einen Schritt von dem Herd. „Nein, eigentlich nicht. Das hätte ich gemerkt.“

Multiples Klacken, als dieses Mal die Gaszufuhr von allen vier Platten ansprang. Ohne Zutun. Das Gas fing Feuer und Flammen – grüne Flammen – schossen in die Höhe und wölbten sich nach vorne als wollten sie die beiden jungen Männer verschlucken.

Yuui warf sich zur Seite und zog den Jungen mit zu Boden; keine Sekunde zu früh, denn schon sauste eine grüne Feuerwalze über ihre Köpfe hinweg und fiel etwas abseits zu Boden. Wie ein Quecksilbertropfen rollte das grüne Phänomen zu einer Kugel zusammen und stieg erst dann wieder langsam in die Luft, als aus der Kugel Ranken wuchsen. Die Ranken teilten sich am Boden zu Füßen und aus dem Hauptstrang wuchsen zwei dürre Arme. Der Torso verdichtete sich, verdunkelte sich oder hellte auf, bis es so aussah, als trüge die Gestalt einen Frack. Oberhalb der Kugel wuchs ein Knubbel, der sich schon bald zu einem Zylinder formte. Die Flammen zogen sich zurück; von ihnen blieb nichts weiter als ein dumpfes grünliches Glimmen in einer Kürbisfratze.

Yuui kam langsam auf die Beine. „Hallo, Jack“, sagte er langsam. Und selbst wenn er nichts gesagt hätte, Syaoron hätte das Wesen auch so benennen können, auch wenn er ihm noch nie persönlich begegnet war. Er fand nur, dass das Wesen mehr der kommerziellen Vorstellung entsprach als dem, was man sich der Legende nach so vorstellte. Sein Appetit auf die Kürbistörtchen war plötzlich verflogen.

„Guten Abend, meine Lieben“, sagte Jack O’Lantern und lüpfte seinen Zylinder. Oder besser gesagt lüpfte er seinen Kopf, da die Kürbisfratze fest mit dem Zylinder verwachsen schien. Seine Stimme klang so hohl wie der Kopf aussah; man konnte sogar ein kleines Echo darin hören. „Ich hoffe, die Herrschaften haben ein wenig Zeit zum Plaudern.“

„Syaoron, wärst du so freundlich, den Herd auszumachen?“

Der Brünette blickte hinter sich. An allen vier Kochstellen züngelten die vertrauten blauen Butanflämmchen bei niedriger Gaszufuhr. Er tat, worum er gebeten worden war und ein Teil von ihm war erleichtert, von der unirdischen Gestalt weg zu kommen. Ein anderer Teil schimpfte ihn einen Feigling.

„Ich denke, wir können die eine oder andere Minute erübrigen.“ Yuuis Ton blieb höflich, aber sein Gesicht spiegelte Wachsamkeit wider.

„Ich komme mit einer Nachricht, die du deinem Zwilling überbringen sollst. Ich hatte die ehrwürdige Aufgabe, die Sterblichen zu entführen, die sich momentan in eurer Nähe aufhalten. Auftrag von eurem Paps.“

„Tatsächlich.“ Ohne die Augen von Jack zu lassen rückte der Blonde näher an den Messerblock.

„In der Tat. War aber ’ne ziemliche Pleite, da sich einer der vier als Schoßhund herausstellte und das blonde Mädel als sein Schützling. Soweit ich weiß, darf sie nicht mehr nach Annwn, deshalb überlasse ich sie euch als Zeichen meines guten Willens.“

Jack ließ einen weißen Kürbis aus seiner Hand wachsen, der größer und größer wurde, bis er ungefähr Syaorons Größe erreicht hatte, dann platzte das Gewächs und gab eine hustende und über und über mit Kürbisinnereien besudelte Kohane frei.

Yuuis Hand wanderte zu dem Griff des ihm nächsten Messers.

„Wo war ich? Ach ja, beim Thema Geiseln. Ich soll euch von eurem Vater ausrichten, dass die beiden Menschlein – ein grünäugiges Mädel und ein Bengel, der aussieht, wie der da – an die Hunde verfüttert werden, wenn ihr zwei nicht bald aufkreuzt. Und mit bald meine ich, noch bevor sich das Tor schließt. Du kannst das Messer übrigens sein lassen, Kleiner. Ich habe nicht vor, den anderen Jungen auch noch mitzunehmen.“

Yuui dachte nicht daran, das Messer loszulassen.

„Wie du willst. Ich hab’ meinen Job gemacht. Schönen Abend noch.“ Und mit diesen Worten wurde alles von Jack O’Lanterns Gestalt unterhalb der Hutkrempe in den Zylinder gesaugt. Die Kopfbedeckung schwebte noch ein paar Sekunden in der Luft, dann platzte sie wie eine Seifenblase.
 

Sie hatten sich nicht abgesprochen und doch trafen sie sich am Tor zur Anderswelt.

Kurogane hatte Fye grob am Arm gepackt und machte keine Anstalten, den Blonden je wieder los zu lassen. Er wusste, dass seine bessere Hälfte sonst auf der anderen Seite verschwunden wäre, bevor er auch nur ’Idiot’ sagen konnte. Yuui war mit Kohane und – schweren Herzens – auch mit Syaoron gekommen. Es gefiel ihm gar nicht, noch mehr Sterbliche in die Sache hinein zu ziehen, aber der Junge hatte betont, dass es bei jener Sache auch um seinen Bruder ging, wodurch er bereits involviert war; ob das Yuui nun passte oder nicht.

„Willst du immer noch, dass ich hier bleibe, Fye?“, fragte Yuui. Es lag kein Tadel darin, nur Frage im Rat. Der ältere Zwilling reagierte mit Schweigen. Seine Fäuste wären geballt und sein ganzer Körper zitterte leicht vor unterdrückter Wut.

Yuui reichte das schon aus als Antwort. „Ich will aber nicht, dass du allein gehst.“

„Genau das hab’ ich dem Idioten auch gesagt“, brummte Kurogane.

„Ich habe Watanuki gesagt, er soll im Waisenhaus bleiben, um aufzupassen, dass Jack nicht noch mehr Kinder holt“, sagte Kohane. Ihr blaues Kleid war ruiniert und ihre Haare verklebt aber für den Moment war ihr das egal. Im Moment wollte sie sich einfach nur nützlich machen.

„Warum schlagen wir nicht einen Tauschhandel vor?“, fragte Syaoron. Alle sahen ihn an. „Ich meine, das machen die im Fernsehen auch immer so bei Geiselnahmen. Sie erfüllen die Forderungen erst, wenn ein-zwei Geiseln als Geste des guten Willens frei gelassen wurden. Wie wäre es also, wenn Fye-san zuerst geht und sagt, dass Yuui ihm erst dann nachfolgt, wenn mein Bruder und Sakura wieder auf dieser Seite sind? Dann hätten Sie zwar immer noch Doumeki-kun...“

„... aber er stammt aus Annwn“, pflichtete Kohane ihm bei, „Er müsste allein zurecht kommen.“

Yuui nickte „Das könne vielleicht sogar funktionieren, aber... Kurogane-san, würdest du meinen Bruder begleiten?“

„NEIN!“, rief Fye aus, noch bevor sein Freund antworten konnte. „Nein, er bleibt hier.“

Kurogane ließ den Blonden los, aber nur um ihm eine ordentliche Kopfnuss zu verpassen. „Aber ich darf noch meine eigenen Entscheidungen treffen, was? Jetzt hör’ mir mal zu Nervensäge“ – auch wen es in dem Moment unpassend erschien, musste Yuui sich doch fragen, wie sein Bruder sich nur in jemanden hatte verlieben können, der ’Idiot’ und ’Nervensäge’ als Koseworte benutzte – „Ich bin für dich ebenso verantwortlich wie für die Bälger also versuch gar nicht erst mir einzureden ich hätte dort nichts zu suchen.“

„Und irgendwer muss die Kinder zum Tor führen. Oder willst du das wirklich jemandem anvertrauen, der Vater unterstellt ist?“, meinte Yuui.

Fye schüttelte den Kopf, vermied es aber die Anderen anzusehen. Dann ging er zum Tor.

„Lass dir bloß nicht einfallen, drüben aufzukreuzen“, warnte Kurogane den anderen Zwilling, „Es wird schon schwierig genug, die Kinder und deinen Bruder wieder sicher zurück zu bringen.“

„Wir werden sehen“, murmelte Yuui.
 

Als Kurogane und Fye auf der anderen Seite waren, hieß es nur noch warten.
 

Die Wände von Annwn brannten. Es waren purpurrote Flammen, die an den Wänden leckten und jene, die damit in Kontakt kamen, rannten kreischend davon. Nicht nur war ihnen Feuer in dieser Farbe unbekannt; nein, es brannte. Es war heiß. Die Berührung damit schmerzte und es konnte die Haut versengen.

Die Einzigen, denen es nichts anzuhaben schien waren der (wohl im wahrsten Sinne des Wortes) wutentbrannte Blonde von dem die tödlichen Flammen ausgingen und der Mensch, der ihm folgte. Das erklärte vielleicht, warum die restlichen Tuatha De Dannan anderes im Sinn zu haben als sich darüber zu amüsieren, dass dieses Halbblut von einem Thronfolger Frauenkleidung trug und es zudem noch gewagt hatte einen Sterblichen mitzubringen.

Nein, sie flohen lieber und warten erleichtert nicht diejenigen zu sein, die diesen Zorn geweckt hatten.
 

„Willst du dich nicht lieber auch hinsetzen?“, fragte Syaoron, der im Sandkasten Platz genommen hatte. Zugegeben, es war etwas unheimlich dort, da die Sandkörner leicht vibrierten und sich ständig neue Muster aus der Oberfläche bildeten, aber es war sicher besser als die ganze Zeit im Stehen zu warten. Sogar Kohane-chan hatte sich in der Nähe auf eine Bank gesetzt und behielt den Rest des Parks im Auge. „Da kommt jemand“, rief sie herüber.

Syaoron blickte sich nach der Person um. „Niemand den ich kenne.“

Yuui wollte sich nicht umdrehen. Ihm war egal, was hinter ihm lag, ihn interessierte nur, was vor ihm lag, in diesem wabernden, energie-durchzucktem Nebel.

„Immer noch dabei, den Verkehr zu behindern, was?“

DAS brachte ihn dann doch dazu, sich umzudrehen. Es war dasselbe Mädchen, das ihn beim ersten Mal in die Menschenwelt geschubst hatte. An jenem Abend war sie auffallend schlicht gekleidet; nur ein schwarzes Kleid mit passenden Handschuhen, eine Perlenkette und eine Sonnenbrille. Da er Frühstück bei Tiffany’s nie gesehen hatte, ahnte er nicht, dass das nur ihr Halloween-Kostüm war. Ihre Hände waren voll mit Einkaufstaschen.

„Und ich sehe, diesmal scheinst du sterbliche Begleitung mitgebracht zu haben. Besuch bei den zukünftigen Schwiegereltern, oder was?“ Hokuto kicherte, aber selbst das klang noch aufdringlich bei ihr.

„Wir sind kein Paar!“

„Was?“, rief Syaoron dazwischen und bemühte sich verzweifelt auszusehen. Und melodramatisch zu schluchzen: „Aber du hast gesagt, du liebst mich!“

Yuuii warf dem Jungen einen tadelnden Blick zu. Das war jetzt wirklich nicht der richtige Moment für Scherze.

„Woran scheitert’s denn diesmal?“ Hokuto stellte ihren Einkauf ab.

„Mein Vater erpresst meinen Bruder damit er nach Hause kommt und ich bin der Einlöse-Pfand für die Geiseln, die Vater hält“, antwortete der Blonde knapp und wahrheitsgemäß in der Hoffnung, das Mädchen rasch loszuwerden. Er konnte spüren, dass sie keine Dannan war, aber was sie dann sonst sein sollte ließ ihn kalt. „Berechtigt mich das nicht dazu, den Weg zu versperren?“

„Moment mal... ihr seid die Jungs vom Boss? Die Halblinge? Mann, da habt ihr aber das große Los gezogen. Ich hab’ gehört, euren großen Bruder hat’s letztens bei ’ner Keilerei erwischt. Muss wohl mit der falschen Frau geliebäugelt haben. Wie kann man denn da nicht zurück wollen?“

Erst verstand er nicht, was sie von ihm wollte. Dann dämmerte es ihm. Er und Fye hatten nur einen älteren Bruder gehabt, ein Reinblut noch dazu. Versoffen, streitlustig, so ziemlich der übelste Kerl den man sich vorstellen konnte. Die Zwillinge hatten ihr bestes getan, um ihm aus dem Weg zu gehen. Und nun war er tot. Das machte Yuui und Fye zu den einzigen Anwärtern auf den Thron... Kein Wunder, dass ihr Vater so einen Druck machte.

„Gibt es denn keine Möglichkeit, auf den Thron zu verzichten?“

„Natürlich gibt es die. Den Tod. Oder, was dem noch am nächsten käme, die Sterblichkeit.“

Das machte Kohane hellhörig. Das Mädchen rutschte von ihrer Bank und trat näher an die Fremde. „Soll das heißen, es gibt eine Möglichkeit sterblich zu werden?“

„Wow, ihr Beide seht euch nicht oft den Aktienmarkt an, was? Die Preise für Unsterblichkeit sind in den letzten Jahren enorm in die Höhe geschossen, wegen der großen Nachfolge. Dank Stephenie Meyer und Anne Rice will ja heutzutage jeder zehnte Sterbliche ein Vampir werden. Glücklicherweise haben die meisten völlig falsche Vorstellungen davon, wie das geht und sie sind bereit, Unmengen dafür zu bezahlen um gebissen zu werden. Die hier-“, Hokuto deutete triumphierend auf ihre beiden spitzen Eckzähne, „-haben mir schon so manche Shoppingtour finanziert.“

„Ist ja schön und gut, aber was hat das alles mit den Beiden zu tun?“, fragte Syaoron.

„Na ja, Unsterblichkeit ist wie Energie, die entsteht nicht einfach so, die kann nur übertragen werden. Und zwar möglichst von Halbblütern, da ist die Gefahr einer Abstoßung beim Empfänger nicht so groß. Ist eigentlich ein total simples Verfahren, wenn man die richtige Schattenhexe kennt“, brüstete Hokuto sich. Sie klang wie jemand, der sagen wollte, dass er genau die richtige Schattenhexe kannte.

„Wer?“, hakte Yuui nach. Langsam aber sicher begann sich ein Plan in seinem Hinterkopf zusammen zu setzen.

„Man nennt sie das Sonnenblumen-Mädchen. Aber an eurer Stelle würde ich nicht zu lange warten, sie ist nämlich auch nicht gerade unsterblich. So, jetzt muss ich aber wirklich los, meine Brüder machen sich sonst Sorgen.“ Die Vampirin schnappte sich ihre Einkaufstaschen und stakste in ihren Pumps davon, weitere Fragen geflissentlich ignorierend.

„Soll ich ihr hinterher gehen und fragen, wo...“, setzte Kohane an, aber Yuui schüttelte nur mit dem Kopf und erinnerte sie daran, dass sie keinen Fuß in die Anderswelt setzen durfte.

Syaoron räusperte sich. „Wisst ihr, das klingt vielleicht jetzt absurd, aber zwei Blocks weiter gibt es einen Blumenladen namens ’The Sunflower Girl’. Die Besitzerin heißt Himawari. Mein japanisch ist ja nicht perfekt, aber heißt das nicht auch Sonnenblume?“

Kohane und Yuui tauschten einen Blick aus.

„Fragen können wir ja mal, nicht?“, meinte das Mädchen und zuckte mit den Schultern.

„Fein, wenn wir in einer halben Stunde nicht wieder da sind, darfst du dir Sorgen machen, Syaoron, vorher nicht.“ Die beiden Dannan waren schon halb auf dem Weg aus dem Park, als Yuui sich noch einmal umdrehte und rief: „Die Lösung des Rätsels ist ’Poe’, nicht?“[2]

Syaoron reckte den Daumen in die Luft zur Bestätigung. Als der Blonde aus seiner Sichtweite verschwand, murmelte der Junge: „... sprach der Rabe ’Nimmermehr!’“

Poe war Kinderkram gegen den Mist, den sie gerade durchmachten.
 

Die Anzahl derer, die Fye und Kurogane entgegen kamen wurde immer geringer, denn in der Anderswelt sprachen die Dinge sich schnell herum. Tratschen war ein beliebter Zeitvertreib von Unsterblichen.

Das Tor zwischen den Welten lag in einem Netz von Katakomben; die meisten der alten Gänge führten zu den unterschiedlichsten Bereichen des Schlosses von Annwn… früher oder später. Nachdem man sich verlaufen hatte, verhungert war und die Wachen die eigenen kläglichen Überreste zu entsorgen hatten. Es sei denn natürlich, man kannte sich aus – Fye hätte in weniger als zehn Minuten durch die Gänge rennen können um genau dort heraus zu kommen, wo er wollte. Aber er rannte nicht, auch wenn er seine gesamte Selbstbeherrschung dazu benötigte. Weil der Mann an seiner Seite sich erst die Umgebung ansehen musste. Man konnte auf dem Rückweg natürlich auch einfach den Brandspuren folgen, die der Blonde hinterlassen hatte. Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis sie an ihrem Ziel angekommen waren – dem Ballsaal des Andersweltschlosses, der direkt vor dem Thronsaal lag. Doch die Zeit verging etwas langsamer in der Anderswelt als in der Welt der Menschen, sodass für Yuui und die anderen bereits eine Stunde vergangen war.

Wut war ein unbändiges, verzehrendes Gefühl, schlimmer noch als Leidenschaft und da es so gierig war, hielt es selten lang an. Wenn es dann zu schwächeln begann, strauchelte und in die Knie ging, konnte es schnell von anderen Gefühlen überrannt werden.

Zweifel.

Selbstmitleid.

Schuld.

Angst.

Diese Gefühle bildeten einen gefährlichen Cocktail kurz vor einer wichtigen Konfrontation.

„Hast du eine Ahnung, wo die Kinder sein könnten?“, fragte Kurogane. Er flüsterte, mehr unbewusst als bewusst, was gar nicht so recht zu ihm passen wollte. Die Atmosphäre schien es einfach zu verlangen; die leeren Gänge vermittelten den Eindruck von Lauschern, die sich in den Schatten verbargen.

„Nein, aber ich kann es heraus finden. Gib mir deine Hände.“

’Hmpf. Das wäre das verflucht erste Mal, das Händchen halten jemandem das Leben gerettet hätte’, dachte Kurogane, streckte seine Hände aber nichtsdestotrotz aus. Fye schloss die Augen und summte tonlos. Der Schwarzhaarige hätte nie geglaubt, dass das möglich war; aber ihm mangelte es an einer besseren Beschreibung. Das Summen war nicht akustischer sondern energetischer Natur; er konnte die Vibration auch durch seinen Körper fließen spüren.

Ihm wurde wärmer.

Vibration. Schwingung. Fye atmete langsam und scannte weiter. Er wusste, dass er das nicht allzu lang tun konnte, sonst würde Kurogane Schaden nehmen, denn die Magie, die er benutzte beruhte auf einem ähnlichen Prinzip wie Infrarot-Spektroskopie – und jeder wusste, dass man seine Tiere nicht in die Mikrowelle steckte, nicht? Er ließ Kurogane los und erstreckte die Emission auf andere Bereiche des Saals, hoffend, dass ein ähnliches Signal wie das von Kurogane zurück gestreut werden würde.

Als er die Augen wieder öffnete, waren sie leuchtend golden, aber die Pupillen waren normal.

„Kostümsaal“, wisperte der Dannan. Er schien wie in Trance. „Rechts, die Wendeltreppe nach oben. Dann gerade aus, der zweite Seitengang links. Zwei Frösche vor der Tür.“ Fyes Lider flatterten und sein Blick wurde wieder klar und blau. „Kannst du dir das merken, Kuro-tan?“

„Rechts, dann nach oben, dann nach vorn. Am zweiten Seitengang nach links abbiegen, bis ich Lurche sehe“, wiederholte der Größere brav, wenn auch leicht genervt.

„Gut. Bitte, beeil dich. Und bring dich nicht unnötig in Gefahr.“

„Ich wäre schon längst weg, wenn du nicht ständig mit was Neuem ankommen würdest. War’s das jetzt?“

„Eins noch. Ich...“, Fye schluckte, „ich lie-“

„Vergiss es.“, platzte Kurogane dazwischen, „Das kannst du dir für später aufheben.“ Warum Zeit verschwenden für etwas, das er wusste? Noch dazu war Kurogane nicht dumm; er hatte sich genug Filme mit solchen Klischeeszenen ansehen müssen um zu wissen, dass Liebesgeständnisse kurz vor einem Showdown unweigerlich das Ableben eines der Protagonisten zur Folge hatten. Meistens waren es die Liebchen die verstarben; kurz nachdem der Held seinen Erzfeind besiegt hatte. Und da Fye derjenige mit dem Gegenspieler war, fiel Kurogane die Rolle des Liebchens zu. Das stimmte ihn nicht gerade fröhlich.

Er zog das rote Häubchen von Fyes Kopf und ließ seine Finger durch das blonde Haar wandern, um es wieder etwas zu richten. Nicht, dass es da viel zu richten gab; die Zotteln waren schon immer ein wahres Durcheinander gewesen. Es kostete den Schwarzhaarigen die größte Mühe, seine Hand nicht auf Fyes Wange ruhen zu lassen. Die Versuchung, den Idioten zu küssen nur um ihn ein wenig zu beruhigen war verlockend; aber Kussszenen waren fast so verheerend wie Liebesgeständnisse.

„Jetzt geh’ schon.“ Der Schwarzhaarige nickte zu den Flügeltüren, die den Thronsaal von dem Ballsaal abschirmten.

Fye nickte.

Er wartete noch so lange, bis Kurogane aus seinem Blickfeld verschwunden war, dann wandte er sich den Türen zu. Er hätte sie aufstoßen können, aber mal ehrlich: wenn sein Vater wollte, dass er zurück kam und aufhörte sich wie ein Mensch zu benehmen, warum sollte er die Tür dann wie ein Mensch öffnen?

Er berührte das Holz und konzentrierte sich. Die Maserung wölbte sich, warf Blasen. Die glatt geschliffene Oberfläche wurde rau; doch nicht hart. Was Holz war, fing an zu zappeln, zu strampeln... und zu purzeln. Im Nu war der Boden der beiden Säle voll mit graubraunen Häschen, die in jegliche Richtungen hoppelten. Die Krallen der Nager machten klackende Geräusche auf dem Marmor.

„Hallo, Vater!“, meinte Fye. Nach außen hin wirkte der Blonde sogar ein wenig vergnügt aber innerlich war er so still wie das Herz eines Orkans.

Gefühle waren jetzt fehl am Platze; er musste sich von seiner Intuition leiten lassen.
 

Manchmal, musste man die Dinge wörtlicher nehmen. Diese Erfahrung machte Kurogane, als er in den linken zweiten Seitengang einbog und Ausschau nach Frosch-Schnitzereien oder –Skulpturen hielt.

’Was zur Hölle...’ Er blieb stehen. Vier weitergelbe, nicht auf peripheres Sehen ausgelegte Augen starrten zurück. Die Frösche waren auf ihre eigene Art abstoßend. Mit zweieinhalb Metern Größe waren sie größer als Kurogane. Die feuchtglatte Haut, durch deren Poren man sie atmen hören konnte war von einem blassen grün, so als hätte man sie zu oft gewaschen und in den vierfingrigen Händen ruhte eine Lanze. Keine Prinzessin hätte jene Gestalten küssen mögen; für kein Königreich der Welt. Auf ihren Schultern (die Bezeichnung „um ihren Hals“ war nicht angebracht aufgrund Ermangelung desselben) glitzerten Goldkettchen und ihre Kleidung erinnerte sehr an Möchtegern-Hip-Hopper. Wem das noch nicht reichte um jeglichen Respekt vor den Wächtern zu verlieren, der musste nur abwarten, bis der Erste den Mund aufmachte.

„Was will er?“, fragte der Linke in einem so heftigen Schwytzerdütsch, dass es sogar in diesen Worten herauszuhören war, wo es nicht viel zu verdehnen gab.

„Ja, was ist sein Begehr?“, fragte der Rechte in demselben Akzent.

Ausdruckslos blinzelten sie die Luft über Kurogane an.

„Ich bin hier unten!“, knurrte Kurogane.

Die Frösche gingen in die Knie, bis ihre amphibischen Glubscher auf der Höhe von Kuroganes Gesicht waren. Der machte prompt einen Satz nach hinten.

„’S ist ein Hund“, stellte der Rechte fest, den wir in Ermangelung eines Namens einfach Righty nennen wollen. „Und er ist schwarz wie die Nacht.“ (Es klang wie Nah~chrt)

„Aber Meisters Hunde sin weiß“, gab Lefty zu bedenken.

„Neue Order. Alle Angestellten mit Tiergestalt müssen sich jetzt schwarz färben lassen“, erwiderte Kurogane und rollte mit den Augen. Innerlich verfluchte er den Blonden, dass der ihm diese lächerliche Verkleidung aufgezwungen hatte.

Lefty und Righty sahen sich an.

„Neue Order, was sagt man dazu?“, sagte Lefty.

„Hurtig, hurtig, sagt man dazu!“, antwortete Righty. Beiden ließen ihre Lanzen fallen und hüpften davon. Kurogane stand da wie versteinert. ’Das. Ist. Nicht. Deren. Ernst.’ Die Bemerkung war gar nicht dazu gedacht gewesen, die Wächter zu vertreiben; er hatte zumindest einen Hauch Intelligenz erwartet, wenn die Lurche so wertvolle Geiseln bewachten. So konnte man sich täuschen.

Natürlich war die Tür auch nicht abgeschlossen.
 

„Oh, hallo Sohn. Wo hast du denn deinen Bruder gelassen?“ Arawn, der Herrscher von Annwn warf seinem ältesten (lebenden) Sohn nur einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder dem Schachspiel mit seiner Frau widmete. Er spielte weiß, Morrigan schwarz. Wie passend für eine Krähengöttin, nicht?

Dann gönnte er sich einen zweiten Blick. „Was soll der Rock?“

„Vater, ich bin mit deinem Verhalten nicht einverstanden. Erpressung gehört nicht zum guten Ton in Familien, wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht.“

Der Saal hielt empört den Atem an. Das hieß, Arawn und die Untergebenen, die die Schachfiguren mimen durften. Morrigan zeigte sich gänzlich unbeeindruckt. „Sich zu verstecken ohne auch nur eine Nachricht zu hinterlassen ebenfalls nicht.“ Ihre Stimme glich einem leichten Verwesungsgeruch; süßlich und irgendwie vertraut aber in der Gesamtheit abstoßend.

„Ich...“, begann Fye und stockte, als ihm kein weiteres Wort einfallen wollte. Morrigan war schon immer die größere Gefahr gewesen; die eigentliche treibende Kraft hinter den Entscheidungen seines Vaters und sie war es auch, die er als Kind am meisten gefürchtet hatte. Und als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, war sie auch noch komplett fou. Es konnte doch nicht angehen, dass er das Wortgefecht verlor noch bevor es richtig begonnen hatte! Der Blonde setzte ein Grinsen auf, aber die unstete Art, auf der seine Augen zwischen Vater und Stiefmutter hin und her wanderten, zeugten; wie es hinter dem ruhigen Blau arbeitete. „... hatte kleine Probleme. Die Post der Menschen stellt hier leider keine Briefe zu. Vielleicht sollten wir uns eine Postleitzahl zulegen?“

Sarkasmus sollte man eigentlich nicht verenden um Zeit zu schinden, aber er war verzweifelt.

„Hast du das Gehört, mein Gemahl? Er hat sie ’Menschen’ genannt. Nicht etwa Sterbliche – das klingt fast so, als hätte er diese nutzlose Rasse gern.“

Nutzlose Rasse. Die Personen, die ihn akzeptiert und aufgenommen hatten; denen es wichtig war, wie es ihm ging und was er dachte... sie sollten nutzlos sein? Wesen, die aus vollem Herzen lachen konnten, die trauerten und die liebten. Der Wert eines Menschen erschloss sich daraus, wie viel Raum er in den Gedanken und im Herzen eines anderen einnahm und die Waisenkinder hatten ihm das Gefühl gegeben, geliebt zu werden. Sie hatten ihm das Gefühl gegeben, einen Wert zu besitzen.

„Jeder einzelne von Ihnen ist mehr wert als alle Anwesenden in diesem Saal.“

Die Schachfiguren stöhnten entsetzt auf. Verwirrt über so viel Anmaßung, fingen sie panisch an durcheinander zu laufen. Der weiße König und die schwarze Königin knallten zusammen und purzelten zu Boden; der schwarze König schrie „SCHACH MATT!“, wurde aber ignoriert.

„Wie kannsst du ess wagen...“, ermahnte Arawn. Wie immer, wenn er wütend wurde, fing er an, die s-Laute zu zischen.

„Schweig Vater! Du willst wissen, warum ich lieber dort bin als hier? Dann sag mir, was genau dieser Ort zu bieten hat! Was, außer Schmach und Rivalität, Heimtücken und Intrigen?“

„Leben. Ewiges Leben.“

„Ewiges Leben ist wertlos, wenn man niemanden hat, mit dem man die Zeit sinnvoll nutzen kann. Ich meine, hast du dich mal umgesehen, was du gerade tust? Und wann war das letzte Mal, dass du ein Datum korrekt benennen konntest? Ihr lebt nicht, ihr stagniert vor euch hin und wenn euch langweilig ist, dann quält ihr Menschen. So verhält sich keine überlegene Rasse. Die Asgard haben sich auch aus allem raus gehalten!“

Arawn und Morrigan zuckten zusammen bei dem Namen. Die Asgard waren die Götter, die die Germanen verehrt hatten (diese Idioten) und bis jetzt hatten sie deren Existenz immer für eine Mär gehalten. Aber der Gedanke, dass es noch eine weitere Rasse geben könnte... eine, die ebenso unsterblich war wie sie... und vielleicht auch weiser... Das jagte ihnen schon ein wenig Angst ein. Und dass Fye offensichtlich irgendeine Verbindung zu diesen Wesen besaß, stieg er plötzlich in ihrer Achtung. Das Königspaar setzte sich etwas gerader in ihren Thronen hin.

„Wir haben mit den Belangen der Asgard nichts zu schaffen“, verkündete Arawn steif um seinem Sohn weis zu machen, dass er dieser Rasse ebenfalls begegnet war. Immerhin war er der Herrscher der Anderswelt – wenn es schon unmöglich war allmächtig und allgegenwärtig zu sein, musste man wenigstens den Anschein erwecken als sei man allwissend.

Der Schuss ging nach hinten los, denn es gab keine Asgard. Worauf Fye sich bezogen hatte waren kleine graue, geschlechtslose Männlein, die langsam blinzelten und die sogar angesichts ihres eigenen Untergangs emotionslos bleiben konnten.[3] Sie waren allesamt Besitztum von Metro Goldwyn Meyer. Und wenn man merkte, dass jene, die man jahrelang mehr gefürchtet als geachtet hatte mit so einem schlechten Bluff aufwarten, dann gab es keinen Halt mehr.

„Du wirst mich gehen lassen, Vater. Und zwar mit den Sterblichen, die du gefangen hältst. Es ist mir egal, ob du danach das Tor verschließt oder nicht, solange du mich und die Menschen in Ruhe lässt.“

„Und warum sollte ich das tun?“

„Weil ich sonst dafür sorge, dass der Rest der Anderswelt erfährt, was damals zwischen dir und Pwyll lief.“
 

Der so hochtrabend als Kostümsaal bezeichnete Raum stellte sich als begehbarer Kleiderschrank mit hohem Kuschelfaktor heraus. Die Querstreben waren so dicht mit Kleidungsstücken behangen, dass man keine zwei Schritte gehen konnte ohne sich in einem Kleiderbügel zu verhaken. Man ging und ging und ging und gerade wenn man glaubte, gleich Kiefernnadeln zu riechen und in einer kalten winterlichen Welt aufzutauchen, stieß man auf eine Lichtung.

Der Boden war nicht mit Schnee bedeckt, sondern mit Stilettos. In der Mitte der Schuhwiese hatten sich drei Jugendliche ein wenig Platz gemacht. Sie bildeten einen herrlichen Anblick: ein römischer Legionär, eine junge Frau in einer Toga und... Doumeki. Der stoische Wächter hatte sich nicht erst die Mühe gemacht, sich zu verkleiden. Das Trio bemerkte den Schwarzhaarigen nicht einmal, sie waren beschäftigt.

„Mau“, rief Sakura.

Doumeki sagte nichts, legte aber eine Kreuz Sieben. Syaoran stieß einen Laut der Frustration aus und zog zwei Karten. „Dir ist klar, das du ihr gerade beim gewinnen geholfen hast?“

„Yup.“, sagte Doumeki. Nicht, dass es eine Rolle spielte; Sakura gewann ohnehin jedes Spiel. Außer Scharade.

Die Brünette warf eine Kreuz zehn auf den Stapel und jubelte: „Mau-Mau“.

„Das freut mich aber, dass ihr so einen Spaß habt!“, knurrte Kurogane. Und erst da wurden sich die Anderen seiner Anwesenheit bewusst.

Syaoran ließ prompt seine Karten fallen. „Kurogane-san! Wir haben darauf gewartet, dass uns jemand rettet.“

„Sie haben gesagt, wenn wir zu fliehen versuchen, entführen sie noch Andere“, erklärte Sakura.

Der Größere nickte. Das war wenigstens eine akzeptable Entschuldigung dafür, dass keiner den Versuch gemacht hatte zu fliehen. „Fein. Fye ist gerade dabei, die Sache zu klären aber macht euch bereit, von hier abzuhauen, falls es schief geht.“

Drei Augenpaare weiteten sich merklich.

„Was?“, fragte Kurogane gereizt.

Syaoran und Sakura versuchten ihn zu versichern, dass es nichts sei, aber Doumeki, der sich nie davor gescheut hatte etwas auszusprechen (wenn er denn mal den Mund aufmachte), meinte nur: „Du hast Fye-san gerade beim Namen genannt.“

„... kein Grund gleich so geschockt zu reagieren, verdammt! Und macht euch nach draußen, sonst sitzen wir morgen noch hier!“
 

Die offizielle Geschichte, die sich um Arawn und Pwyll rankt, ist rasch erzählt.

Es gab Tage, da war Arawn es Leid, immer nur in der Anderswelt zu jagen und so machte er sich auf mit seinem Rudel Jagdhunde – schnelle Tiere mit überirdisch weißem Fell und roten Ohren, wie auch Doumeki einer war – in die Welt der Menschen. Dies war zu der Zeit, als die Menschen noch an Übernatürliches glaubten und die Grenzen zwischen den Welten offener waren als heute.

Eines Tages, als Arawn gerade sein Rudel einen starken, kräftigen Hirsch verfolgte, traf er auf einen Sterblichen, der nach demselben Tiere trachtete. Jener Mann vertrieb die Hunde und setzte daraufhin sein eigenes Rudel auf das Tier an.

Arawn war nicht amüsiert.

Als der Mensch, der niemand geringeres war als Pwyll, König von Dyfed, seinen Fehler erkannte, fiel er vor dem Herrscher der Anderswelt auf die Knie und bat um Gnade. Und wie Arawn den stattlichen Sterblichen so vor sich knien sah, fiel ihm ein, dass diese Situation ihm eigentlich ganz recht war. Denn nur wenige Jahrzehnte zuvor hatte er sich ganz schrecklich mit Hafgan, einem anderen Dannan in die Wolle gekriegt und nun bestand Hafgan jedes Jahr auf einem Kampf auf Leben und Tod. Arawn hatte sich bis jetzt immer herausreden können und seinen Widersacher auf einen späteren Termin vertröstet, aber ewig konnte das natürlich nicht gehen.

Arawn verlangte von Pwyll Wiedergutmachung für seine impertinente Tat und so schlug er vor, dass sie für die Dauer eines Jahres die Plätze tauschen sollten. Die Tatsache, dass Pwyll in der Zeit eine Auseinandersetzung mit Hafgan austragen müsse, erwähnte er eher in einem Nebensatz. Er verzauberte sich und den Sterblichen, sodass auch ihr Äußeres vertauscht war und dann zog er von dannen und machte sich einen Bunten. Gut, zugegeben, vorher erwähnte er noch, dass Hafgan nur in einem einzigen Streich zu töten war, weil jeder weitere Schwerthieb die Wunden geheilt hätte.

Kurzum, Pwyll besiegte Hafgan, ließ den Kerl nach dem ersten Streich ausbluten und Arawn war um eine Sorge leichter. Als nach einem Jahr zurück getauscht wurde, stellte er fest, dass sein Reich nicht nur um das Hafgan’s erweitert worden war, sondern seine Frau benahm sich auch noch äußerst zickig, da er sie seit einem Jahr nicht mehr angerührt hatte. Als Arawn erkannte, dass der Sterbliche die Täuschung nicht ausgenutzt hatte, um mit der Königin zu schlafen, imponierte ihm das so, dass er eine enge Freundschaft mit Pwyll schloss, den man fortan ebenfalls als „Herrn der Anderswelt“ bezeichnete.

Soweit die offizielle Version.

Der Grund, warum Pwyll des Königs Frau nie angerührt hatte war simpler: weil ihn Frauen einfach nicht reizten. Und da Arawn zu jener Zeit noch sehr jung, dynamisch und... ’experimentierfreudig’ gewesen war, führte irgendwie eins zum anderen. Und, nun ja, ein wenig ’Spaß’ unter Männern war zwar nicht verpönt, aber eher in den niedrigeren Gesellschaftsschichten verbreitet. Kein Wunder also, dass Arawn nicht unbedingt scharf darauf war, dass das publik wurde.
 

Der König der Anderswelt – konfrontiert mit seiner Vergangenheit – wurde leicht blass. Alle Blicke ihm Raum waren auf ihn gerichtet. Und forderten eine Erklärung.

„Ich habe nicht die geringste Ahnung, was du meinst. Und selbst wenn ich es wüsste – ich würde nichts auf dein Wort geben. Du warst zu jener Zeit noch gar nicht geboren.“

„Sicher. Ich nicht. Aber Yuuko-san schon. Und vielleicht solltest du deine Geheimnisse nicht einer Frau anvertrauen, die mit Informationen handelt, wenn du willst, dass sie geheim bleiben.“ Fye lächelte und seine Unschuldsmiene kontrastierte das eiskalte Kalkül der Erpressung, die er soeben ausgesprochen hatte.

Arawn räusperte sich. „Tja, also, ähm... wo hast du denn deinen Bruder gelassen?“ Der klägliche Versuch, von dem unangenehmen Thema weg zu kommen, weckte nicht einmal die kleinste Änderung im Mienenspiel des jungen Dannan. „Weißt du, Vater, Yuui hat sich bereit erklärt so lange in der Menschenwelt zu bleiben, bis du zumindest die beiden Menschenkinder hast ziehen lassen. Aber ich schätze mal, das ist jetzt nicht mehr so dringend, da du dich ja gnädig zeigen wirst, nicht wahr? Nachdem du schon mich und diese Menschen so geärgert hast wirst du Yuui wohl kaum dazu zwingen, zurück nach Annwn zu kommen. Er könnte eine Verlängerung seines Urlaubs in der Menschenwelt vertragen; das Umfeld tut ihm gut.“

„KOMMT NICHT IN FRAGE!!!“, kreischte Morrigan und sprang von ihrem Thron auf. Sie wandte sich ihrem Gemahl zu, um ihm klar zu machen, was für ein Idiot er war: „wenn du das zulässt, was glaubst du wohl, wie lange es dauert, bis sie den anderen Bengel auch noch umdrehen? Du weißt genau, der Andere ist noch weicher in der Brust – da kannst du sie ja gleich abschieben und deinen Thron in die Welt der Sterblichen verlagern lassen; mal sehen ob die einen unfähigen Trottel wie dich akzeptieren.“

„Aber mein lieblicher Todeshauch...“, murmelte Arawn, was seine Gattin nicht beruhigte.

„Nenn mich nicht deinen Todeshauch, du-“

Weiter kam Morrigan nicht, als die Stimmung im Saal kippte. Sie merkte auf, die vom Wahnsinn und Raserei gezeichneten Augen fixiert auf einen Punkt, der hinter Fye lag.

„Mensch...“, flüsterte die Todesbotin und die anderen echoten; bis das Wort den ganzen Raum durchzog; ein verschwörerisches Flüstern, ein Spinnenetz aus Schall. Der Blonde drehte sich um und seine Augen fingen sofort den ratlosen, stechend roten Blick von Kurogane ein. Aber nicht er und die Kinder waren es, welche die Aufmerksamkeit der Wesen auf sich gezogen hatten.

Es war Kohane.

Das Mädchen sah aus wie immer, sie lief wie immer; der Ausdruck in ihrem guten Auge sprach von Stolzes und Entschlossenheit, den sie in den letzten Jahren wieder gefunden hatte. Sie war noch immer dieselbe; seine ältere Halbschwester; das Kind im Exil, das jetzt heimgekehrt war.

Nur eines war anders: ihre Energie. Ihre Signatur, ihr Spektrum – wie auch immer man es nennen wollte, die Tatsache bestand: das Mädchen verströmte Sterblichkeit. Nicht jenen schwachen Hauch, der noch an einem haftete, wenn man Kontakt zu ihnen hatte; das Signal war primärer Art. Kohane war jetzt ein Mensch. Dem altern ausgeliefert.

Sie trat vor, bis sie auf gleicher Höhe mit ihren Bruder war, dann knickste sie. „Vater. Ich bin hier wegen einer Botschaft von eurem jüngsten Sohn an euch“, sagte sie und blickte erst Morrigan an, bevor sie Arawn fixierte. Der brauchte erst einmal eine Weile um zu merken, dass er derjenige war den man angesprochen hatte. „Wie? Oh, eine Botschaft. Sicher, sicher.“ Er räusperte sich erneut in einem – wie er glaubte – würdevollem Ton. Danach klang seine Stimme zumindest etwas gefestigter. „Wie lautet die Botschaft?“

„ICH bin die Botschaft“, verkündete Kohane und die Dannan japsten. „Wie euch vielleicht aufgefallen sein mag, bin ich ein Mensch. Es ist uns gelungen eine Hexe aufzutreiben, die den Fluch der Unsterblichkeit von uns nehmen kann. Yuui ist im Moment noch bei ihr; doch lässt er ausrichten, dass er jederzeit bereit ist sterblich zu werden und somit jegliche Bande an diesen Palast zu kappen.“

Grüblerisches Schweigen.

Man konnte das laute Klatschen von Haut an Haut hören, als Arawn sich mit der Hand auf die Stirn schlug und ein langes, gequältes Stöhnen von sich gab. „Kinder, Kinder, ich werde zu alt für diesen Scheiß.“ Er ließ die Hand langsam sinken und seufzte. „Also, was genau wollt ihr?“

Kohane blickte Fye an. Der wiederum blickte zurück zu dem schwarzhaarigen Mann, der nach einem Zeichen suchte; ein Zeichen ob sie lieber gleich fliehen oder noch ein wenig ausharren konnten. Fye schenkte ihm ein warmes Lächeln. Dann nickte er Kohane zu.

„Die Möglichkeit unbehelligt in die Menschenwelt abzuziehen. Die Zwillinge sind bereit, jeglichen Anspruch auf den Thron fallen zu lassen und würden das notfalls auch mit der Aufgabe ihrer Unsterblichkeit bezeugen.“

„Kurz gesagt, eine endgültige Verbannung aus der Anderswelt. Du kannst es auch gern so aussehen lassen als wäre das eine Strafe, die du dir für uns ausgesucht hast, dann musst du dir nicht so einen Kopf wegen deinem Image machen“, schlug Fye mit einem gönnerhaften Grinsen vor.

„... Meinetwegen. Verschwindet. Aber denkt dran, deprimiert und geschlagen auszusehen, wenn ihr geht.“

Es sollte ihnen schwer fallen.
 

Die Gruppe zog in Zweiergrüppchen zurück und ihre Aufregung lag greifbar in der Luft, als sie sich durch das Gangsystem des Höhlenlabyrinths unter dem Schloss schlichen. Kohane bildete mit Doumeki die Spitze, sie gaben den Weg vor; dicht gefolgt von Syaoran und Sakura, die den Weg Händchen haltend beschritten. Kurogane, der mit einem gewissen blonden Halbwesen das Schlusslicht bildete, fürchtete seinen linken Arm zu verlieren, da sich ebenjener Blonde so überglücklich daran festklammerte, dass er die Blutzufuhr abklemmte[42].

Leichte Eruptionen erschütterten den Gang. Wasser tropfte von den Stalaktiten und Steinchen rieselten von der Decke.

„Was war das?“, flüsterte Sakura leicht beunruhigt.

„Ach, vermutlich macht Morrigan meinem Vater gerade das Leben zur Hölle, wie ihr Menschen so schön sagt.“

Weitere leichte Eruptionen begleiteten ihre kleine Prozession und sie gewöhnten sich rasch an das Rumpeln im Hintergrund.

Das leise Rumpeln schwoll zu einem Grollen an.

„Bist du sicher, dass das harmlos-“, setzte Kurogane und verstummte, als er das Gesicht seines Freundes sah. Nackte Panik stand in den blauen Augen; der Blick war zur Decke gerichtet. Das nächste, was der Mann fühlte waren die Hände des Blonden auf seiner Brust, bevor sein Blickfeld in blaues Licht gebadet wurde. Eine Druckwelle stieß ihn und die Kinder nach hinten, in Richtung Tor. Gerade noch rechtzeitig, als die Wände der Höhle dort einstürzten, wo sie noch Sekunden zuvor gestanden hatten.

Schmerz explodierte in seinem Rücken, brannte an seiner Wange und ließ seine Ohren klingeln. Nur am Rande bemerkte er, wie er bewegt wurde; jemand versuchte, an seinen Schultern zu rütteln. Er atmete durch die Nase ein und alles, was er wahrnahm, war ein feuchtes und lehmiges Aroma. Staub machte die Luft unsauber und irgendwie war er ein Widerspruch zu dem sonst klaren, kalten Duft.

Die Kinder husteten.

Weiteres Schütteln und Anstupsen.

„-ne-san? Kurogane-san?“ Als das Klingeln langsam abklang konnte er die Sakuras Stimme zu ihm durchdringen hören. Er gab einen Laut von sich, der irgendwas zwischen Grummeln und Stöhnen war und blinzelte. Kurogane stieß sich langsam vom Boden ab und konzentrierte sich dabei auf die Stellen seines Körpers, die schmerzten.

Er hatte sich das Gesicht am Boden aufgeschrammt und zu dem anfänglichen Brennen gesellte sich ein Kribbeln, als das erste Blut aus den oberflächlichen Kratzern quoll. Er war zuerst mit dem Rücken aufgekommen, dann hatte die Wucht der Druckwelle ihn auf den Bauch gerollt, seine Wange hatte dabei noch das Geringste abbekommen. Sein linker Arm schmerzte, vermutlich von einer Prellung aber das war nichts gegen die Reizflut, die seinen Rücken durchströmte wie ein heißer Blitz. Der Schmerz kam so abrupt, dass Kurogane erst glaubte, nicht atmen zu können. Nur irgendwie rang er sich dann doch dazu durch, weil es anders nicht ging. Sein stets überfürsorglicher Lebensgefährte würde sonst...

Fye.

Es war nirgends ein Zeichen von dem Blonden zu sehen. Kein Jammern darüber, dass er sich etwas getan hatte (auch wenn Fye ohnehin nie jammerte, wenn es etwas Ernsthaftes war); kein Paar blauer Augen, die besorgt seinen Körper nach Verletzungen absuchten. Niemand, der sich nach seinem Zustand erkundigte.

„Wo ist er?“ Seine Stimme schien wie die eines Fremden, sein Mund war trocken. Keiner antwortete. Aber es war auch gar nicht nötig. Kurogane starrte die Geröllmassen an, die den Weg versperrten, den sie gekommen waren. Der Blonde musste dahinter sein. Wohlauf und über die Situation dümmlich grinsend. Denn wenn nicht...

Wenn nicht...

Der Schwarzhaarige rannte zu dem Geröllhaufen und fing an, die Steinmassen abzutragen. Zumindest versuchte er es – die meisten Brocken waren zu schwer und zu groß, um einfach heraus gelöst, geschweige denn weg gehievt zu werden.

„Das ist zwecklos“, teilte ihm Kohane mit. Das Mädchen war irgendwo hinter seinem Rücken, außerhalb seines Sichtfelds und schon allein deswegen – weil sie nicht einmal den Versuch machte ihm zu helfen – ignorierte Kurogane sie. Syaoran und Sakura gesellten sich zu ihm, machten sich an die kleineren Brocken und versuchten, die Erde und die Steine unter den größeren Brocken zu lockern, während sie Fyes Namen riefen. Sie erhofften sich ein Lebenszeichen.

„Er ist nicht mehr hier. Ich kann ihn nicht mehr spüren“, versuchte Kohane ihnen klar zu machen.

„Du hast deine Fähigkeiten noch?“, fragte Syaoran, der kurz von seiner Arbeit abließ um zu der Blonden zu blicken.

Das Mädchen nickte. „Ich habe nur meine Unsterblichkeit aufgegeben. Kurogane-san, du verletzt dich!“

Es war ihm egal, dass er sich die Hände aufschürfte, er ärgerte sich nur, dass es schwerer wurde, die Felsen zu packen, sobald die Haut zu bluten anfing. Haut konnte nachwachsen, Wunden konnten heilen. Aber Fye... Fye war nicht ersetzbar. Fye war besonders, war er schon immer gewesen. Kurogane würde ganz sicher nicht weg gehen, bis er sich nicht sicher war, alles getan zu haben, ganz egal, was die Kleine sagte.

Ich kann ihn nicht mehr spüren.

Das konnte nicht sein, durfte nicht sein. Nein. Nein. NEIN!

Erst das Brennen seiner Handflächen sagte ihm, dass er aufgehört hatte zu ziehen und stattdessen mit der blanken Faust gegen den Stein schlug. Nicht einmal das kleinste Steinchen rieselte aus dem Wall.

„FUCK!“

Schwer atmend lehnte er seine Stirn gegen den rauen Stein, während die Gewissheit sich setzte, dass er verloren hatte. Er fühlte, wie sich seine Augen mit Tränen zu füllen drohten, aber er durfte nicht weinen. Nicht hier, nicht vor den Kindern.

„Er wird einen anderen Weg finden“, versicherte Kohane-chan ihnen.

„Was war das eben?“, brüllte der groß gewachsene Mann und drehte sich nun doch nach dem Mädchen um. Sie stand etwas wackelig; Doumeki stützte sie.

„Ich sagte, dass er nicht mehr hier ist. Ich habe nie gesagt, dass er tot ist“, erklärte sie ruhig.

„Und warum sagst du das nicht früher, verdammte Scheiße noch mal!“

„Du warst zu beschäftigt damit, das Schlimmste anzunehmen, dass du mir nicht zugehört hättest. Es gibt noch einen weiteren Durchgang, wenige Meter entfernt. Aber er ist instabil und wird deshalb nicht benutzt.“

„Was heißt instabil?“, fragte Sakura leicht beunruhigt.

„Es lässt sich nicht vorhersagen, wo man heraus kommt. Es gibt keinen bestimmten Ausgang, man könnte überall in der Menschenwelt landen.“ Es gab zwar einige Beschränkungen, was die Bedingungen des Austrittsorts betrafen – es musste Wasser oder geheiligte Pflanzen in der Nähe sein oder beides. Aber geeignete Plätze gab es auf jedem Kontinent. „Fye weiß das. Er wird sicher dorthin gegangen sein, das ist seine beste Chance. Und wir sollten jetzt auch gehen. Wenn der Morgen erst graut, dann schließt sich das Tor.“

Kurogane starrte die ehemalige Dannan mit einem Blick an, der ganz klar sagte, dass er sie am liebsten erwürgen würde, wenn sie nicht die Halbschwester von Fye gewesen wäre. Dann endlich entfernte er sich von der Steinmauer.
 

Sie kehrten wirklich in letzter Sekunde zurück.

Der Himmel wurde im Osten schon merklich heller und das laute Summen, welches das Tor sonst von sich gab und der wabernde Nebel um das Klettergerüst waren verschwunden.

Syaoron war während des Wartens auf der Parkbank eingenickt – sein brauner Schopf war jetzt warm gebettet in Yuuis Schoß und die Jacke des Mannes war in Ermangelung einer Decke über die Schultern des Jungen ausgebreitet worden. Yuui selbst hatte keinen Schlaf gefunden; seine Hand fuhr unablässig durch die Haare des Schlummernden um sich selbst zu beruhigen. So warteten die Beiden auf die Rückkehr ihrer Zwillinge. Die kleine Schattenhexe, Himawari, hatte sich angeboten, Yuui auf dem Weg zurück zum Park zu begleiten und ihnen versichert, dass die Zeremonie zur Übertragung von Sterblichkeit nicht vieler Utensilien bedurfte und auch jederzeit im Park durchgeführt werden konnte. Im Moment saß sie im Sandkasten – ihre dichte schwarze Lockenpracht wehte in einem Wind, der von ihr selbst ausging. Ihre Augen waren geschlossen die Lippen bewegten sich stumm als sie immer und immer wieder im Geiste die Formel wiederholte, die den gesamten Park mit einem Bannkreis vor unliebsamen Besuchern abschirmte.

Das Gesicht des Sonnenblumenmädchens hellte sich auf, als sie zu Yuui hinüber blickte.

„Sie kommt. Und nicht allein“, teilte sie dem Dannan mit. Da es ihr Zauber war, der auf Kohane lag, konnte sie das blonde Mädchen spüren. Himawari stand auf und Yuui überlegte, es ihr gleich zu tun, doch sein Blick fiel auf den immer noch schlafenden Teenager. Wenn er Syaoron jetzt weckte, würde er desorientiert, müde und beunruhigt sein. Also blieb er noch ein Weilchen, wo er war und beobachtete, wie nach und nach die kleine Gruppe zurück kam. Kohane stellte Sakura, Syaoran und Doumeki die junge Hexe vor, die zu ihrer Rettung beigetragen hatte.

Yuuis Aufmerksamkeit galt allein dem Mann, der auf ihn zugeschritten kam und dessen blutige Hände zu zitternden Fäusten geballt waren. Ein sicheres Zeichen dafür, dass der Ältere seine Wut unterdrückte.

Yuui hatte Angst zu fragen. Und tat es dann doch.

„Wo ist mein Bruder?“

Die Reaktion des Anderen darauf, ließ das Herz des Blonden ein ganzes Stück tiefer fallen.

Kurogane senkte den Blick. Dabei war er niemand, der einen Augenkontakt scheute. „Wir wurden getrennt“, war die knappe Antwort. Wortkarg, da der Schwarzhaarige seiner eigenen Stimme nicht so recht traute. Und weil es auszusprechen, die ganze Sache irgendwie realer machte. „Die blonde Göre sagte, er hätte einen anderen Weg zurück genommen. Einen, bei dem nicht klar ist, wo er heraus kommt.“

„Aber...“, setzte Yuui an und merkte, dass es kein ’aber’ gab. Nichts hinzuzufügen.

„Rück von dem Jungen weg, ich trage ihn. Wir gehen jetzt nach Hause, lassen unsere Verletzungen behandeln und sehen zu, dass wir etwas Schlaf kriegen.“ Kurogane sprach mehr zu sich selbst. Er konnte Yuui jetzt nicht ansehen, konnte nicht in dieses Gesicht blicken, das ihm seinen Verlust nur auf’s Neue klar machte. Er entwarf einen Plan. Gott, er brauchte einen Plan, sonst würde er durchdrehen. Ein fester Ablauf monotoner Handlungen, die kein Nachdenken erforderte. „Sobald wir ausgeruht sind, suchen wir nach ihm.“

Yuui nickte, während Kurogane sich Syaorons schlafenden Körper über die Schulter hievte. Der Junge war schwer und sein Rücken brachte ihn fast um, aber auch der Schmerz war ein willkommener Gast für jene, die Ablenkung suchten.

„Ich frage Himawari-chan, ob sie versuchen kann, Fye mit einem Lokalisationszauber zu finden. Ich bin sein Zwilling, wir teilen uns dasselbe Blut und verströmen fast dieselbe Energie. Mit mir zusammen müsste es möglich sein, zumindest die Stadt zu finden, in der er sich aufhält.“

Der Schwarzhaarige schwieg ohne wirklich darüber nachzudenken. Er würde abwarten, bis er ausgeschlafen hatte und dann sehen, ob sein Körper bereit für diese Reise war. Niemand konnte wissen, was für Anstrengungen es benötigen wurde, um Fye zu finden, also würde Kurogane sich keine Fehler erlauben.
 

Der blutrote Schein der Morgenröte schien seinen Entschluss zu untermauern.

--

~Ende~

--

[1] Mit „Jungfrau“ ist gemeint, dass es Yuuis erstes Mal ist. Also, dass er die Menschenwelt betritt. XD

[2] „Edgar Allan Poe – er hat an letzterem über ersteren geschrieben.“ Das ist des Rätsels Lösung, so wie sie in „Der Fall Jane Eyre“ von Jasper Fforde steht.

[3] na ja, außer Thor und Hermiod. Thor hatte Witz und Hermiod war irgendwie bitchy. Zumindest wenn man ihn anstarrte. Gott, ich werde nie Sheppards Satz vergessen, als er zum ersten Mal einen Asgard sieht. „Is he supposed to run around naked?“

[4] Ich dachte mir, ich probier mal eine weniger ehrwürdige Art, seinen Arm für Fye zu geben. XD
 

P.S.: Epilog on the way.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2010-11-10T00:15:14+00:00 10.11.2010 01:15
>///////////////////<
Bitte lad den Epilog schnell hoch! Ich will wissen wie es ausgeht!! *hibbel*

Soa, nachdem ich das jetzt losgeworden bin, kann ich mich dem restlichen Kapi widmen XD"

Hach ja, Hokuto ist schlichtweg unersetzlich XDDD
Ich liebe ihre exzentrische Art X3
Die Erpressung von Fyes Vater find ich allerdings ziemlich dreist oô Wenigstens hat er seine Abreibung bekommen ><

Und wenn ich grade bei der Stelle bin:
"Sarkasmus sollte man eigentlich nicht verenden um Zeit zu schinden, aber er war verzweifelt."
Noch einer von diesen netten verschreibern XP
"Das Königspaar setzte sich etwas gerader in ihren Thronen hin."
Ich glaube es muss heißen 'auf seinen Thronen'.
Wenn man 'das Mädchen' schreibt, bleibt es im weiteren Satz ja auch 'es' und es sind 'seine' (=des Mädchens) Kleider ^^

„Aber mein lieblicher Todeshauch...“,
Da is kein Fehler aber ich finde das Kompliment sehr...äh...reizend XDD"

Die Wächterfrösche fand ich übrigens genial XDDD
So stumpf muss man erst mal sein *lach* Kein Wunder, dass Kurogane sich am liebsten die Hand vor den Kopf geschlagen hätt XDD

Und jetzt hoffe ich wirklich, dass Fye es noch in die Menschenwelt geschafft hat und sie (Kurogane, Yuui & Co) wieder zusammenfinden ><

Grüssle, Puffie~


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