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Fotos

Momente, die entscheiden.
von

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Gedanken an S.

Manche sagten, sie wäre hübsch. Andere sagten, sie wäre furchtbar hässlich, unattraktiv. Es gab auch Menschen, denen wäre sie gar nicht aufgefallen, hätte sie nicht gerade um Aufmerksamkeit gebettelt mit ihrem tiefen Ausschnitt und der stetig rutschenden Jeans, die freien Blick auf ihren String ließ, wenn sie sich nur ein wenig nach vorne beugte. Sie saß an der Theke, fuhr mit dem Finger über den Rand ihres Weinglases, sodass ein heller Klang zu hören war und sah sich verholen um, wie ein Schwerverbrecher auf der Flucht, der Angst hatte, dass ihm die Polizisten im Nacken saßen. Ungeduldig blickte sie auf ihre Armbanduhr, sah sich wieder um und nippte an ihrem Wein.
 

Schon seit einer Viertelstunde saß sie hier, dabei würde sie ihn erst in zehn Minuten treffen. Eilig hatte sie sich aus dem Haus gestohlen. Zu einer Freundin wollte sie gehen, das hatte sie zumindest ihren Eltern erzählt. Die Lüge fiel ihr nicht schwer, es war nicht die erste. Dabei hatte sie nicht mal Freunde. Nur Bekannte; Scheinfreunde, die über sie lachten, sobald sie ihnen den Rücken zuwandte. In der Schule kursierten viele Gerüchte um sie, in der Klasse galt sie als Schlampe. Den Ruf hatte sie sich schon mit dreizehn Jahren zugezogen, als sie ihre Unschuld an einen Jungen aus der neunten Klasse verloren hatte. Ab da ging es bergab mit ihr. Trennung von ihrem Freund. Mehrere Kurzbeziehungen. Rauchen. Sex. Alkohol. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ein Kumpel hatte sie hierher gebracht mit der Hoffnung auf eine Gegenleistung. Doch das einzige, was er bekam, war ein kurzer Kuss auf den Mund.
 

Und nun saß sie hier. In der Bar eines kleinen Hotels in einer kleinen Stadt. Nur ein paar Meter weiter oben auf der Straße lag ihre Schule. Am Wochenende brannte dort kein Licht. Sie war jetzt zehnte Klasse. In zwei Jahren machte sie ihr Abitur. Danach wollte sie zum Rettungsdienst gehen. Menschen retten. „Bittere Ironie“, hatte mal ein Mädchen aus ihrer Klasse gesagt, „dass ausgerechnet DIE Menschenleben retten will, wo sie ihr eigenes so kaputt gemacht hat.“ Sie war damals schulterzuckend an dem Mädchen vorbei gegangen und hatte arrogant die Haare zurückgeworfen. Zu Hause hatte sie geweint. Sie dachte, sie wären Freunde gewesen.
 

Sie blickte sich wieder um. Trank den Wein aus. Die zehn Minuten waren um. Er müsste gleich kommen. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie hatte ein wenig Angst. Dann klingelte ihr Handy. Sie holte es aus ihrer Handtasche heraus und blickte auf das Display. Eine SMS. „Tut mir leid, Baby. Es ist was dazwischenzukommen. Ich sehe dich dann nächsten Samstag. Träum süß.“ Erleichtert atmete sie aus. Sie war froh. Der Barkeeper bekam sein Geld und sie verließ das Hotel. Ihr Kumpel würde sie abholen, doch diesmal würde er keinen Kuss bekommen, sondern das Geld für das Benzin. Und morgen würde sie Schluss machen. Sie musste sich dringend Nikotinpflaster besorgen.

Und sie musste Schluss machen. Sie, Stefanie.

Erinnerung an L.

Die Musik dröhnte laut durch die Boxen der Anlage. Der Bass brachte den Boden zum Vibrieren wie bei einem riesigen Erdbeben. Die Menschen mussten sich anschreien, um überhaupt eine Unterhaltung führen zu können. Der Gestank von Nikotin hing in der Luft und klebte zusammen mit dem Geruch von Alkohol. Dem Alkohol, der ihr langsam zu Kopf stieg. Sie wusste nicht mehr, durch wen sie hierhergekommen war oder wann es angefangen hatte, doch jetzt drehte sie wilde Pirouetten und tanzte mit wildfremden Menschen in den Morgen hinein. Kurz konnte sie das Gesicht einer Freundin ausmachen, die sie frech anlachte und ihr mit einer fast leeren Bierflasche zuprostete. Wie im Wahn tanzte sie weiter und ließ sich von der Musik führen. Trank zwischendurch einen Schluck Bier. Zog an einer Zigarette.
 

Früher hätte sie das nie getan. Sie wollte nie rauchen oder trinken. Hatte immer gesagt, dass sie nicht so dumm sei. Ihre Eltern hatten sich auf ihre Worte verlassen und jetzt war sie hier. An einem Punkt, von dem man nie gedacht hätte, dass sie ihn erreichen würde. Wäre ihre Großmutter noch da gewesen, wäre es vielleicht nicht so gekommen. Doch sie war weg. Und selbst wenn sie noch dagewesen wäre, hätte es sie auch nicht interessiert. Sie wäre trotzdem hierhergekommen. Sie würde trotzdem hier tanzen.
 

Am Ende des Songs ging sie an die Theke. Holte sich ein neues Bier. Neben ihr, so erkannte sie aus den Augenwinkeln, stand ein anderes Mädchen. Sie ging in ihre Klasse, war einmal ihre beste Freundin gewesen. Doch auch diese Zeiten waren vorbei. Ihre Freundschaften hielten nie lange, waren immer nur kurze Episoden. Zumindest die, die sie mit einer besten Freundin durchlebte. Das Mädchen neben ihr war nicht die erste und würde bestimmt auch nicht die letzte sein, die mit ihr alle Freude, allen Kummer und all die schönen Momente teilte. Sie hatten zwar eine schöne Zeit gehabt, doch das zählte nicht mehr. Sie wollte mehr.
 

Ein Junge forderte sie zum Tanzen auf. In der schwachen Beleuchtung konnte sie sein Gesicht kaum sehen und seine Stimme ertrank in der Musik. Sie konnte nicht einmal sagen, ob er gutaussehend war, aber so konnte sie vor dem Mädchen, vor der Erinnerung, flüchten. Sie ließ sich zurück auf die Tanzfläche ziehen. Musste an die Worte ihrer Schwester denken. „Pass auf dich auf!“, hatte ihre Schwester gesagt. „Lass mich in Ruhe!“, hatte sie genervt geantwortet und war gegangen. Sie hatte auch gesagt, dass sie alles unter Kontrolle haben würde. Das dachte sie auch jetzt, wo sie mit ihm tanzte. Seine Absichten waren klar und deutlich. Ihr war das egal. Sie vergaß alles, was sie sich vorgenommen hatte. Vergaß, was ihr mal wichtig war. Vergaß ihre Träume. Ihre Ziele. Ihr Leben.
 

Einen Monat später zierte ein neuer Stein das Grab des örtlichen Friedhofes. Nur ein Wort war in den Stein gehauen. Ein Wort, Louise.

Spiegelbild von M.

Durch das offene Fenster wehte eine sanfte Brise in den Raum. Sie stand direkt am Fenster. Sog die Luft tief ein, ließ sie in ihre Lungen strömen und genoss den Geruch der Wälder und des Meeres, den der Wind von weit her mit sich brachte. Im Raum hingen die Töne von Beethovens „Mondscheinsonate“, die sanft aus den Lautsprechern ihres Laptops tönten.
 

Nachdem sie noch ein paar Mal tief eingeatmet und wieder ausgeatmet hatte, öffnete sie die Augen und betrachtete ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe. Studierte jeden Zentimeter ihres Gesichtes. Betrachtete wie sich ihre Haare ein wenig im Wind bewegten. Musterte ihre Kleidung. Sie hatte die grünen Augen ihrer Mutter. Nur waren die ihrer Mutter etwas grüner. Die dunklen Haare hatte sie von ihrem Vater geerbt. Aber die Haare ihres Vaters waren etwas dunkler, sahen auch gesünder aus. Ihr fiel auf, dass ihre Nase niemand aus der Familie ähnelte. Doch die Lippen hatten dieselbe Form wie die ihrer Großmutter. Allerdings waren die ihrer Großmutter immer etwas voller gewesen. Mürrisch sah sie sich ihre vielen Pickel an. Das hatte sie auch von ihrer Mutter. Danach zählte sie die Leberflecke auf ihren Armen. Davon hatte sie ganz viele. Das war schon immer so. Ein Mädchen aus ihrer damaligen Klasse hatte mal gesagt, dass die vielen Leberflecke ein Zeichen für Hautkrebs sein könnten. Damals hatte sie sich deswegen Sorgen gemacht. Heute wusste sie, dass es einfach eine Pigmentstörung war. Sie kam sich im Nachhinein albern vor.
 

Sie dachte an ihre Schwester. Die hatte kaum Leberflecke. Und auch keine Pickel. Ihre Augen leuchteten immer in einem schönen Grauton und ihre Haare waren auch viel gesünder. Sie hatte dieselbe Nase wie ihr Großvater und genau so schöne Lippen wie ihre Großmutter. Sie musste daran denken, dass sie manchmal neidisch auf ihre Schwester war. Ihre Schwester war hübsch; sie nicht. Außerdem hatte ihre Schwester viele Freunde; sie nicht. Vielleicht lag es daran, dass ihre Schwester hübsch war.
 

Sie seufzte. Schloss das Fenster und schaltete den Laptop aus. Leise verließ sie das Zimmer und ging nach draußen. Sie musste einen klaren Kopf bekommen. In einer Zeitschrift hatte sie mal gelesen, dass Seeluft gut für die Haut war. Vielleicht würde dann ihre Akne verschwinden. Ihrem Freund hatte sie eine Nachricht geschrieben. Der Zettel lag noch auf dem Küchentisch.
 

Ich brauche frische Luft. Ich fahre ans Meer. – Marie.

Erkenntnis von P.

Sie wusste immer genau, was sie wollte und was nicht. Sie stand für ihre Überzeugungen ein und hatte deswegen schon oft Ärger mit anderen gehabt. Ihre freischaffende Art passte vielen nicht. Vor allem ihre Lehrerin im Fach Französisch hatte diese Rebellion immer gestört.
 

Nun saß sie hier direkt vor dem Tisch der Frau mit dem schmalen Mund und sah sie herausfordernd an. Die Uhr an der Wand tickte munter vor sich her, während sie ungeduldig mit ihrem Stift auf das Blatt Papier vor sich drückte. Kein Wort stand darauf; nicht mal ihr Name. Sie hatte nicht einmal mehr fünf Minuten. Und noch immer hatte sie nichts geschrieben. Sie dachte an ihren Freund. Und dann sah sie wieder den schmalen Mund ihrer Lehrerin. „Ein schmaler Mund ist ein Zeichen für wenig Herz.“ Das hatte zumindest ihr Freund gesagt. Sie fragte sich, ob ihre Lehrerin wohl verheiratet war. Gedankenverloren ließ sie den Blick vom Mund der Lehrerin über ihre Schulter, den Arm hinunter und zu ihrer Hand gleiten. Kein Ring.
 

Sie seufzte. Sah zur Uhr. Sie hatte nur noch drei Minuten. Hinter sich konnte sie hören, wie jemand die Miene des Kugelschreibers einfuhr und Papier raschelte. Die ersten waren mit der Arbeit fertig. Sie hatte noch nicht einmal angefangen.
 

Noch zwei Minuten. Sie setzte die Spitze des Kugelschreibers auf das Papier und schrieb einen Satz auf Französisch auf das Blatt. Dann setzte sie noch ihren Namen und das Datum an den Rand und legte ihren Stift beiseite. Sie sah wieder in die Augen ihrer Lehrerin und zum ersten Mal bemerkte sie, dass diese so leuchtend blau waren wie der Ozean.
 

Nur noch eine Minute. Sie dachte an alles, was sie in ihrer Wut über die Hartherzigkeit dieser Frau gesagt hatte. Inzwischen tat ihr das leid. Sie hatte nie daran gedacht, dass diese Frau nichts dafür konnte, dass sie einen schmalen Mund hatte; dass sie wenig Herz hatte.
 

Es war keine Zeit mehr, etwas zu bereuen. Alle ließen ihre Stifte fallen und die Frau sammelte wortlos die Arbeiten ein. Als sie das Zimmer verlassen hatten, wurde sie von ihrer Freundin beiseite gezogen. „Du wolltest doch nichts schreiben“, warf sie ihr vor. Sie zuckte nur die Schultern und ging zum Biologieunterricht.
 

Als sie die Arbeit zurückbekamen, stand eine große rote Sechs unter der ihrer Arbeit. Und ein Satz, genau so rot wie die Note und die Wut, die die Frau beim Schreiben des Satzes verspürt haben musste. Vermutlich hatte es ihr nicht gepasst, dass sie recht hatte. Sie musste lächeln, denn von dieser Frau hatte sie nichts anderes erwartet. Sie legte das Blatt in ihren Hefter und betrachtete noch eine Weile die roten Worte, die sie so frech angrinsten.
 

»Danke, Penelope.«

Einsamkeit der A.

Sie hatte sich farbige Patronen für ihren Füllfederhalter gekauft. Das wollte sie schon lange machen. Immer nur blau zu schreiben war ihr viel zu öde gewesen. Darum hatte sie eine ganze Packung voller farbiger Patronen gekauft. Voller Vorfreude hatte sie den Schreibwarenladen verlassen. Konnte es nicht erwarten, sich die Farben anzusehen. Zuerst hatte sie die rote Patrone ausprobiert. Hatte ihren Namen geschrieben, dann ihre Adresse. Schrieb den Titel ihres Lieblingsliedes auf. Zeichnete ein paar Wellenlinien und einen Stern. Bei den Wellen dachte sie ans Meer. Bei dem Stern dachte sie an den wunderschönen Nachthimmel. Sie kritzelte ein paar Zahlen auf das Papier und sah zur Uhr. Es war schon sieben Uhr abends.
 

Sie dachte nach. Etwas würde um sieben Uhr abends geschehen. Sie zeichnete noch eine Sonne auf das Papier vor sich. Ihr fiel es wieder ein. Eine Klassenkameradin von ihr feierte heute den letzten Schultag. Fast alle waren eingeladen; nur sie nicht. Das war sie nie. Sie dachte an die Sonne und an die Feier. Schlagartig fühlte sie sich einsam. Sie griff zum Lautstärkeregler des Radios und die Musik wurde lauter. Sie spielten ihr Lied.
 

Sie sang sogar mit, als sie aufräumte. Die Zeitungen legte sie beiseite. Schloss das Fenster. Erledigte den Abwasch. Um acht Uhr würden ihre Eltern vom Einkaufen zurück sein. Sie wischte den Staub von der Scheibe ihres Fernsehers. Las ein Kapitel in ihrem Lieblingsbuch. Dachte an irgendetwas und sah zum Tisch, auf dem noch immer das Blatt mit der Sonne und den Wellenlinien lag. Sie dachte wieder an die Feier, dann an das Meer.
 

Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Dann machte sie das Radio aus. Setzte sich an den Tisch zurück. Nahm wieder ihren Füllfederhalter zur Hand. Griff zu der Packung mit den Patronen und tauschte die rote gegen eine hellgrüne aus. Die rote Patrone war fast geleert. Mit dem letzten Rest Tinte machte sie einen großen Klecks auf die Sonne. Danach nahm sie einen neuen Bogen Papier zur Hand und faltete ihn sorgfältig. Sie summte wieder die Melodie des Liedes. Und sie schrieb. Sah zum Fenster und sah den Regen, der dagegen schlug und schrieb weiter. Sie schrieb bis auch diese Patrone aufgebraucht war. Dann steckte sie sorgfältig die Kappe auf ihren Füllfederhalter. Zerriss das erste Blatt Papier. Packte ihren Füllerfederhalter und die Patronen in ihre Tasche. Sah zur Uhr. Noch eine Viertelstunde Zeit. Sie griff noch einmal zu ihrem Füllfederhalter und versuchte ein paar letzte Worte aus der Feder zu kitzeln. Danach ging sie mit eiligen Schritten aus dem Haus. Das Radio lief nicht mehr. Der Regen war vorbei. Auf ihrem Tisch lag noch immer der Zettel mit den kaum lesbaren Worten am Ende.
 

Mir ist es hier zu regnerisch. Ich fahre in den Süden. – Aura.

Fehler von K.

Die Uhr war rund und sie hing an der Wand. Der Hintergrund war weiß und die Zeiger schwarz. In gleichmäßigen Bewegungen und mit dem altvertrauten Ticken drehten die Zeiger ihre Runden. Die Uhr tickte schon lange. Und sie starrte sie schon lange an. Mindestens eine Stunde saß sie schon regungslos da und starrte zu Uhr. Ab und zu schweifte ihr Blick zum Fernseher zurück, über den die Nachrichten flimmerten. Dann sah sie zum Telefon. Hoffte, dass es endlich klingeln würde und sie Gewissheit hatte. Doch nichts regte sich. Außer dem Sekundenzeiger, der stetig seine Kreise zog. Sie sah wieder zur Uhr zurück und betete, dass nur endlich etwas passierte. Doch nichts geschah.
 

Ihr Blick schweifte zum ersten Mal zur Tür. Dort hatte sie noch nicht hingesehen. Aber auch die Tür öffnete sich nicht. Dabei sehnte sie sich danach, dass die Tür aufschwang und er wieder vor ihr stehen würde. Seine Augen würden anfangen zu leuchten, wenn er sie sah. Er würde auf sie zu laufen. Er würde schnell sein, vielleicht würde er beinahe stolpern. Doch dann würde er ankommen und sie könnte ihn wieder in ihre Arme schließen. Und sie müsste sich keine Sorgen mehr machen.
 

Sie schüttelte den Kopf. Nein, das würde nie passieren. Er war schließlich kein Kind mehr. Früher hätte er das gemacht, aber heute nicht mehr. Dafür sei er zu alt, hatte er mal gesagt, bevor er wieder mit seinen Jungs losgezogen war in die Nacht hinein.
 

Und nun saß sie wieder hier und fragte sich, was sie nur falsch gemacht hatte. Vielleicht hätte sie mehr Zeit mit ihm verbringen soll, als er das noch wollte. Vielleicht hätte sie ihm auch früher nicht zu viel erlauben dürfen. Denn jetzt hatte er das Gefühl, ihm würde die ganze Welt gehören. Vielleicht hätte sie einfach „Nein“ sagen sollen, als er sie mal wieder mit seinem Hundeblick ansah. Vielleicht hätte sie seine Veränderung nicht ignorieren dürfen.
 

Aber für Vorwürfe war es jetzt zu spät. Und für Schuldgefühle erst recht. Der Zug war längst abgefahren. Die Uhr tickte. Das Telefon klingelte nicht. Die Tür ging nicht auf. Aber die Uhr tickte weiter. Die Zeit verging.
 

Und als dann endlich doch die Tür aufging, stand da nur ihr Mann. Der hatte zwar dieselben Augen, aber er war nicht derjenige, auf den sie gewartet hatte. Außerdem funkelte der Zorn in seinen Augen. Er war wütend über seine Fehler. Sie war nur enttäuscht.
 

Er ließ sich seufzend neben ihr nieder. Sah sie nun auch mit Enttäuschung an.
 

„Wir hätten härter durchgreifen sollen, Katharina.“

Fantasie der D.

Sie saß an ihrem Schreibtisch und starrte auf das Blatt Papier. Das Blatt war weiß und vollkommen leer. Daneben der Bleistift, den sie nicht einmal berührt hatte. Sie wusste nicht, wie lange sie schon auf das Blatt Papier starrte. Auch nicht wie lange sie schon den Stift nicht mehr angefasst hatte. Normalerweise musste sie sich nur hinsetzen und auf das Blatt starren. An irgendetwas denken. Und dann den Stift in die Hand nehmen und schreiben.
 

Doch heute war es anders. Heute war so vieles anders. Zu viel war geschehen und schwirrte nun durch ihren Kopf. Begann sie einen Gedanken, sprang sie schnell zum nächsten und dann zum übernächsten und wieder zurück zu dem, der vor dem ersten Gedanken da war. In ihrem Kopf kreisten Bilder, die sie einmal gesehen hatte. Musik, die sie einmal gehört hatte. Sie dachte an die Aufführung von „Schwanensee“ und wie elegant sich die Ballerinen gedreht hatten. Immer weiter und immer weiter. So wie die Gedanken, die jetzt in ihrem Kopf waren und unnachgiebig gegen ihren Schädel drückten. Einfach nach draußen wollten auf dieses weiße Blatt Papier, das noch immer so friedlich vor ihr auf dem Tisch lag. Daneben lag noch immer der Bleistift.
 

Sie nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn genauer. Er war schon ziemlich abgenutzt. Und er war auch ziemlich klein. Er passte gerade noch zwischen ihren Daumen und ihren Zeigefinger. Aber sie wollte sich noch keinen neuen Stift kaufen. Mit dem hier hatte sie schon so viel durchgemacht. So viel aufgeschrieben. Mit ihm hatte sie schon so viele Gedanken aus ihrem Kopf befreit und auf Papier gebannt. Dorthin, wo sich nicht mehr davonlaufen konnten.
 

Ja, wenn ihre Gedanken auf Papier waren, dann konnten sie sich nicht mehr so einfach in Luft auflösen, so wie sie es in ihrem Kopf taten. Auf Papier sah sie vor sich, was sie dachte. Die Gedanken ihrerseits konnten nicht mehr entkommen. Sie konnten sich nicht einfach aus ihrem Ohr nach draußen schleichen, nur um wieder durch die Luft zu geistern und ungreifbar zu bleiben. Doch heute verschwanden sie so schnell, wie sie gekommen waren. Aber für jeden geflohenen Gedanken nisteten sich zwei Neue in ihrem Kopf ein.
 

Sonst hatte sie nie ein Problem damit, Gedanken einzufangen. Doch heute war es anders. Sie legte den Stift zur Seite und dachte weiter nach. Dachte an alles, was heute passiert war. Sie war aufgestanden. Pünktlich um halb sechs. War mit dem Bus gefahren und hatte das Schulhaus betreten. Hatte alle Stunden über sich ergehen lasse. War wieder nach Hause gekommen. Hatte ihre Hausaufgaben erledigt. Saß nun hier und starrte auf das Blatt Papier. Doch irgendetwas musste doch passiert sein, aber was?
 

Und dann fiel es ihr ein. Vor der ersten Stunde hatte ein Mädchen zu ihr einen Satz gesagt, den sie selbst diesem Mädchen vor einem Jahr an den Kopf geworfen hatte.
 

„Du hast keine Fantasie, Dana.“

Zum Runterschlucken für I.

Ruhig bleiben. Tief durchatmen. Aushalten. Die Hand fest zur Faust ballen. Den Mund halten. Runterschlucken. Nicht auf die Wut hören, die sich wie ein Feuer in ihrem Bauch ausbreitete und ihren Körper zittern ließ. Konzentrieren aufs Runterschlucken und auf die Faust. Sie spürte wie sich ihre Fingernägel in ihre Handfläche gruben. Doch sie hielt es aus, schluckte es runter. „Nur nicht daran denken“, sagte sie zu sich selbst. Nicht provozieren lassen. Runterschlucken, ignorieren. Einfach nicht daran denken. Tief durchatmen und sich konzentrieren. Sich nicht beeinflussen lassen und ruhig bleiben. Nur kein Aufsehen erregen. Runterschlucken. Und weiter atmen. Die Luft tief in die Lungen ziehen und dann wieder nach draußen stoßen. Die Brust heben und senken. Nicht mehr und nicht weniger. Runterschlucken.
 

Sie versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Alles wahrzunehmen außer dieser tiefen Wut, die sich in ihr zu einer großen Welle aufstaute. Sie schritt die Länge ihres Zimmers ab. Erst vorbei an ihrem Bett; dann eine Kurve, vorbei an dem Bücherregal; dann eine Kurve, vorbei an ihrem Fernseher, der laufenden Musikanlage und der Tür; dann noch eine Kurve, vorbei an dem Fenster; dann die letzte Kurve und sich auf das Bett fallen lassen. Doch geholfen hatte es nicht. Sie war immer noch wütend. Sie starrte an die Decke. Konzentrierte sich auf die Musik. Modest Mussorgskis: Eine Nacht auf dem kahlen Berge. Normalerweise half das immer, heute aber nicht.
 

Sie sprang wieder auf und ging zur Anlage. Nahm die CD heraus und legte eine andere auf. Spulte bis zu ihrem Lieblingslied vor. Eine Ballade, die immer schneller und lauter wurde. Sie drehte die Anlage auf die höchste Lautstärke. Der Boden begann zu vibrieren. Sie hoffte, dass sie so ihr Zittern ignorieren; neutralisieren könnte. Wenn alles um sie herum bebte, war ihr eigenes Beben natürlicher.
 

Sie warf sich wieder auf das Bett und vergrub ihr Gesicht in ihrem Kopfkissen. Krallte sich mit ihren Fingern in die Laken. Schreite sogar in das Kissen, um ihrem Ärger Luft zu machen, doch auch das half nicht. Sie schleuderte das Kissen gegen die Tür. Sprang auf und warf es zurück auf ihr Bett. Ging zurück und warf es wieder gegen die Tür. Schrie dabei. Sang ein wenig das Lied mit.
 

Dann begann sie zu weinen. Kauerte auf dem Boden und verbarg das Gesicht in ihren Händen. Konnte den Ärger nicht länger runterschlucken. Ließ heraus, was sie so kränkte und weinte. Solange bis die Tränen all ihren Ärger davon gewaschen hatten und nur noch die laute Musik zu hören war.
 

Es würde nicht mehr lange dauern und ihre Mutter würde im Türrahmen stehen. Würde sie auf dem Boden hocken sehen. Würde dann hereintreten und die Musik ausmachen. Und dann würde ihre Mutter die Frage stellen, die sie so hasste.
 

„Warum bist du nur so wütend, Ira?“

Arbeit der Q.

Das Blatt Papier war leer. Vollkommen weiß, wenn man von den waagerechten und senkrechten Linien absah, die das Raster bildeten. Doch sonst war es vollkommen unbeschrieben, leer. Ach nein. Ihr Name stand ja dort oben in der Ecke. Und das Datum; ein Tag im Dezember. „Der kalte Monat“, wie sie ihn nannte, „kalt und weiß.“ So weiß wie ihr Blatt Papier. Sie mochte den Dezember nicht. Und das Blatt Papier mochte sie auch nicht. Dabei war das Blatt sehr wichtig für sie. Nun eigentlich war nur wichtig, was auf das Blatt schrieb. Wenn sie denn schreiben würde. Doch sie hatte keine Ahnung, was sie schreiben sollte. Tausende Gedanken schwirrten durch ihren Kopf, doch keiner passte.
 

Sie besaß noch ein zweites Blatt Papier. Auf ihm standen sogar Wörter. Feinsäuberliche Schrift und eine tiefschwarze Farbe, so wie es nur ein Computer mit der dunklen Druckertinte konnte. Auf diesem Blatt stand auch ihr Name. Das Blau ihres Kugelschreibers stach aus dem Schwarz hervor. Sie nahm das Blatt wieder in die Hand. Las die erste Aufgabe nochmal. Dachte darüber nach. Las nochmal die Aufgabe und versuchte aus dem Gewirr von Buchstaben und Zahlen zu erkennen, was sie machen sollte. Wie sie es machen sollte. Sie hoffte, dass wenn sie die Buchstaben nur lange genug anstarrte, würde sich eine Lösung vor ihr auftun. Würden die Buchstaben und Zahlen anfangen zu tanzen und sich zu einer Lösung formen. Eine Gleichung. Eine Antwort. Irgendwas.
 

Doch nichts geschah. Die Worte waren noch immer unbeweglich auf dem Aufgabenblatt. Festgeschweißt an ihrem Platz. Unergründlich für sie, die nicht wusste, wie sie die Aufgabe lösen sollte.
 

Plötzlich hörte sie wie Papier raschelte und Stifte fallen gelassen wurden. Die ersten waren fertig. Sie hatte noch nicht einmal angefangen. Dabei hatte sie sich so gut vorbereitet. War sämtliche Übungen aus dem Unterricht noch einmal durchgegangen. Hatte das ganze Kapitel in ihrem Mathematikbuch noch einmal gelesen; sich jeden Buchstaben eingeprägt. Aber nichts davon konnte sie nun auf das karierte Blatt Papier bringen, von dem aus ihr Name sie so traurig ansah.
 

Als die Lehrerin die Arbeiten einsammelte, wusste sie, dass sie versagt hatte. Sie konnte die blutrote Sechs schon vor sich sehen, die ebenso festgeschweißt auf ihrem Blatt Papier wäre wie ihr Name. Oder die Aufgaben auf dem anderen Zettel. Und sie konnte die enttäuschten Worte ihrer Lehrerin schon hören, als würden sie sich jetzt schon in ihren Ohren einnisten.
 

„Was ist nur passiert, Quintessa?“

Heimkehr von H.

Sie war wieder da. Lange war sie fort, doch jetzt war sie zurück. Eine kleine Ewigkeit lang war sie weg gewesen und durch die Welt gezogen, um sich selbst zu finden. Doch jetzt war sie wieder da und stand vor der verschlossenen Türe ihres Elternhauses. Ihres Geburtshauses. Fast neunzehn lange Jahre hatte sie mit diesem Haus geteilt, bevor sie losgezogen war, um sich in der Ferne zu suchen. Neunzehn Jahre, das war so viel Zeit im Vergleich zu den wenigen acht Jahren, die sie weggewesen war. Hoffentlich passte der Schlüssel noch. Zitternd hielt sie das kleine Stück Metall in ihrer Hand. Die vielen Anhänger klapperten. Es waren fast unzählige und sie spielten eine Symphonie, während sie so zitterte. Fast so wie das letzte Lied eines Filmsoundtracks. Das letzte Lied mit dem das Schlussbild ausklang und der Abspann einlief.
 

Sie dachte daran, wie es wohl wäre, wenn das jetzt ein Film wäre. Dann würde sie vermutlich jeden Moment den Schlüssel ins Schloss stecken, die Tür öffnen und nach drinnen verschwinden. Die hölzerne Tür würde zugehen und der Bildschirm würde schwarz werden. In winziger weißer Schrift würde dann der Abspann laufen. Und irgendwo würde dann ihr Name stehen. Ihr Name und der Titel des letzten Liedes.
 

Sie schüttelte den Kopf. Das war albern. Die letzten acht Jahre waren kein Film. Und das war nicht das Ende. Außerdem konnte ihr Name gar nicht erscheinen. Sie war losgezogen, um sich zu suchen. Aber sie konnte sich nicht finden. Nirgendwo hatte sie etwas finden. Es gab keine Spur von ihr. Natürlich nicht. Sie musste die Spuren ja erst hinterlassen. Fast überall war sie gewesen. Sie war zuerst nach Frankreich gegangen, um den Eifelturm zu grüßen. Hatte dem Canal Grande ein paar Geheimnisse entlockt. War in Ägypten vor dem Sand geflüchtet. Am Kap der Guten Hoffnung hatte sie neue Kraft durchströmt. In Rio hatte sie zwischen den Sambarhythmen das fröhlich sein gelernt. Aus Colorado konnte sie sogar ein wenig Gold mitnehmen, auch wenn es nicht größer war als ein Sandkorn. Konnte in Japan sogar am Hanami teilnehmen. Durfte in Australien den Ayers Rock bewundern. Lernte in Tibet von den Mönchen und besuchte in Indien die großen Tempel. In Moskau erkannte sie, dass Wodka nicht gut für sie ist. In Delphi hatte sie sich Rat geholt und war zu dem Entschluss gekommen, heimzukehren.
 

Sie hatte sich noch immer nicht gefunden, sondern nur Spuren hinterlassen. Aber wenn sie in der ganzen Welt nicht zu finden war, wo war sie dann? Acht Jahre waren verstrichen und sie war noch keinen Schritt weiter gekommen, obwohl sie so viel gelaufen war. Sie fühlte sich veralbert. Das konnte doch nicht alles sein!
 

Als sie Schritte hörte, fiel der Schlüssel mit den vielen Anhängern rasselnd zu Boden. Zeit sich nach ihm zu bücken, hatte sie nicht mehr. Die Haustür wurde schnell aufgerissen. Mit Tränen in den Augen stand ihre kleine Schwester vor ihr. Sie war ihr nicht ähnlich, doch in ihren Augen fand sie etwas. Nicht nur sich selbst sondern auch Tränen und die Worte. „Du bist zu Hause, Hanna.“

Zerstörung der G.

Sie hatte sich über all die Jahre selbst zerstört, das wusste sie ganz genau. Sie wusste es schon seit vielen Stunden. Tagen. Wochen. Jahren. Doch nie hatte sie etwas dagegen unternommen. Wozu auch? Diese Zerstörung war ganz still und heimlich abgelaufen und war nicht einmal so schmerzhaft, wie manch einer vielleicht angenommen hätte. Nein, ganz und gar nicht. Niemals hatte sie Schmerz empfunden in diesen letzten Jahren. So etwas wie Schmerz ließ sie schon lang nicht mehr an sich heran. Sie wusste immerhin zu genau, wie man ihn vertreiben konnte. Ein stummer Schrei. Ein schneller Schlag. Ein kurzer Schnitt. Und schon war er wieder weg, der Schmerz. Selbst er wollte ihr dann keine Gesellschaft mehr leisten. Das mochte niemand so recht, doch das konnte sie verstehen. Wer will schon bei jemand sein, der sich selbst zerstört? Niemand, genau.
 

Auch das wusste sie schon lange. Doch sie war nicht einsam, schon lange nicht mehr. Dieses Wort kannte sie schon gar nicht mehr, ebenso wenig, wie sie noch Schmerz kannte. Auch die Einsamkeit vermochte ihr keine Gesellschaft zu leisten und zog mit dem Schmerz Arm in Arm von dannen. Die beiden wankten ein wenig, als sie sie verließen. Ob das am Rotwein lag? Halt, was für ein Rotwein?
 

Sie sah an sich herunter und betrachtete ihre geballte Faust. Kleine filigrane Splitter waren zu erkennen, die noch immer in ihrer Hand steckten und schwach im Neonlicht, das eiskalt von der Decke strahlte, aufblitzten. Nein, das war kein Rotwein, das war Blut. Sie öffnete die Faust und betrachtete die roten Fäden, die langsam ihre Hand und ihren Arm hinunter liefen, fasziniert. Auch wenn sie nicht zum ersten Mal Blut aus ihren Wunden fließen sah, so hatte sie es doch noch nie in diesem grausamen Neonlicht betrachtet. Anstatt wie heißer Saft puren Lebens wirkte ihr Blut nur noch kalt und erloschen. Erloschen wie das Feuer, das einst in ihrem Herzen brannte, als sie den Schmerz noch kannte.
 

Sie nahm die Hand herunter und sah sich um. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass ihre Beine sie nicht mehr gehalten hatten und sie zusammengesunken war. Rastlos wanderte ihr Kopf umher und ihre Augen wurden von den aufblitzenden Spiegelscherben geblendet, die vor ihr lagen. Dieselben Scherben hatten schon in ihrer Hand geblitzt. Was war passiert?
 

Ach ja, sie hatte sich selbst zerstört. Und sie hatte den Spiegel geschlagen, weil sie den Anblick dieser jämmerlichen Person nicht mehr ertragen konnte. Blasses Kind mit toten Augen. Das wollte sie nicht sehen. Doch dieses Mädchen wollte nicht weggehen. Sie hatte die Kleine sogar angeschrien, doch das blasse Ding hatte nur zurückgeschrien und eine Fratze gezogen. So eine Frechheit wollte sie nicht auf sich sitzen lassen und hatte den Spiegel zerstört.
 

Sie hob den Kopf und sah den leeren Fleck, wo einst der Spiegel gehangen hatte. Die weißen Fließen grinsten sie frech an und wirkten trotzdem wie pures Eis in dem toten Neonlicht. Sie mochte weiß nicht und deswegen stand sie auf, um auf die Wand zuzugehen. Die Scherben bohrten sich arrogant in ihre Sohlen, doch das störte sie nicht. Sie war ja schon zerstört. Was konnten da schon ein paar Scherben ausmachen? Sie hob den blutigen Zeigefinger und schrieb in tiefroten Lettern ihren Namen auf die Fließen, die nicht weiß sein sollten: »Greta.«

Diät von F.

Vor ihr lagen fünf verschiedene Messer und aus den Lautsprechern ihres Laptops tönte Mozart. Unter den Klängen des Türkischen Walzers grinste sie der Stahl frech an. Sie hatte die Klingen nach Größe geordnet. Zuerst das Beil, mit dem ihre Mama die Kräuter zu hacken pflegte. Dann das Messer, mit dem sie das Fleisch schnitt. Daneben lag das große Brotmesser, das sie immer an eine Säge denken ließ. Als nächstes kam ein herkömmliches Obstmesser. Ganz rechts außen lag das Taschenmesser ihres Vaters. Von links nach rechts der Größe nach geordnet.
 

Sie schloss die Augen und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Sie war es langsam leid vor dem Küchentisch zu stehen und die Messer anzustarren. Eine Stunde lang stand sie schon so da. Die Hände hatte sie auf dem Holz des Tisches abgestützt und sie verlagerte ständig das unsäglich viele Gewicht von einem Fuß auf den anderen und zurück. Und sie starrte die Messer eins nach dem anderen an und das schon eine ganze Stunde lang, die ihr länger als eine Stunde vorkam.
 

Nachdem ihre Eltern einkaufen gefahren waren und sie die letzten zwei Kippen heimlich geraucht hatte, war sie in die Küche gekommen und hatte die Messer vor sich ausgebreitet, weil sie sich zwischen Malboro und Jack Daniels an eine Geschichte erinnern musste, die eine Freundin ihr erzählt hatte. „Es gab da mal einen Typ, der war so zugedröhnt, dass er sich ein großes Messer geschnappt und sich das Fett vom Bauch geschnitten hat“, klang die Stimme von Kitty auch jetzt noch in ihrem Ohr. Die Erinnerung daran war auf jeden Fall der Grund gewesen, aus dem sie dann auf ihre Beine gestarrt hatte und in die Küche gerannt war.
 

Das war vor exakt sechzig Minuten passiert und sie stand jetzt immer noch hier. Der Drang eine neue Packung Zigaretten aufzumachen, war mittlerweile größer als der sich das Fett von den Beinen zu schneiden. Auch Jack hatte inzwischen das Gebäude verlassen und sie wusste, wenn sie ihn nicht zurückholen würde, würde sie das hier nicht durchziehen. Mit Jack ging auch immer ihr Mut, denn die beiden verstanden sich einfach viel zu gut.
 

Sie versuchte ein letztes Mal ihre Gedanken zu ordnen und legte sowohl das Taschenmesser als auch das Obstmesser zur Seite. Die beiden wären dafür eh nie geeignet gewesen. Auch das Brotmesser erschien ihr mittlerweile fehl am Platz. Wenn Jack also das nächste Mal da war, musste sie sich nur noch zwischen dem Beil und dem Fleischmesser entscheiden. Allerdings hatte sie insgeheim ihre Entscheidung schon getroffen, denn nur ein Fleischmesser war prädestiniert dazu, Fleisch zu schneiden.
 

Während sie die Messer wieder aufräumte und auf Jack wartete, kam ihr der Rest des Gespräches in den Sinn: „Und hat er überlebt?“, hatte sie damals wissen wollen. Kitty hatte nur gelacht: „Bist du bescheuert, der Typ ist jämmerlich verblutet. Jetzt werde nicht albern, Fabienne.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  Chinatsu
2010-11-26T20:56:16+00:00 26.11.2010 21:56
Mir gefallen deine Kurzgeschichten sehr gut, und diese hier mag ich besonders. (:
Von:  Schatten_des_Lichts
2010-10-24T16:43:08+00:00 24.10.2010 18:43
Eine wirklich gut Kurzgeschichte, dein Schreibstil gefällt mir, er ist angenehm zu lesen.
Von:  littlpinkunicorn
2010-10-11T08:32:34+00:00 11.10.2010 10:32
Diese Geschichte gefällt mir richtig gut! Da passt alles, von Anfang bis Ende.
Besonders schön find ich die Einleitung und den dritten Abschnitt.
Ich hab nichts zu bemängeln, die Kurzgeschichte ist richtig, richtig gut =)
lG
Von:  littlpinkunicorn
2010-10-11T08:29:49+00:00 11.10.2010 10:29
Okay, also erstmal kenne ich die Person, an die diese Kurzgeschichte gerichtet ist, natürlich nicht und ich weiß nicht, was diese Geschichte für dich bedeutet, aber ich werde einfach mal ein bisschen konstruktive Kritik hinterlassen =)

Der Aufbau gefällt mir ganz gut, aber das Ende finde ich sehr übertrieben.
Die Verwendung von Parataxen passt sehr gut, wie z.B. hier
'Wie im Wahn tanzte sie weiter und ließ sich von der Musik führen. Trank zwischendurch einen Schluck Bier. Zog an einer Zigarette.'
Davon hättest du ruhig noch ein paar mehr einbauen können.
Aber die Sprache finde ich an einigen Stellen nicht so ganz ausgefeilt, z.B.
'Die Menschen mussten sich anschreien, um überhaupt eine Unterhaltung zu führen.' - 'führen zu können' würde sich besser anhören
Die Situation in der Disco ist gut und bildhaft beschrieben, aber diesen Abschnitt
'Wäre ihre Großmutter noch da gewesen, wäre es vielleicht nicht so gekommen. Doch sie war weg. Und selbst wenn sie noch dagewesen wäre, hätte es sie auch nicht interessiert. Sie wäre trotzdem hierhergekommen. Sie würde trotzdem hier tanzen.'
verstehe ich ehrlich gesagt nicht.
Alles in allem eine schöne Kurzgeschichte =)
lG



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