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James Norrington

Ⅰ. Ankerlichtung
von

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I. Wofür man lebt

Es war sonderbar, an dem bäuerlichen Tisch unseres Wirts zu sitzen und mit ihm und seiner Tochter gemeinsam zu frühstücken. Die aufgedeckten Speisen waren allesamt von einer den Hunger reizenden Frische und rochen nach einem unbeschwerten Landleben, in welchem man mit dem Krähen des Hahnes erwachte und in aller Frühe die Kühe fütterte und melkte. Nur, dass es uns erlaubt war zu schlafen, wie lange wir mochten, und dass wir auch keine Tiere zu verpflegen hatten. Alexia beobachtete mit unverhohlener Skepsis, wie Joseph Farley, der Wirt, mit bloßen, möglicherweise ungewaschenen Händen nach dem noch dampfenden Brotlaib griff und jedem Tischgenossen eine breite Scheibe abschnitt. „Fanny, findest du’s?“, rief er in die Richtung der Vorratskammer und erhielt ein „Ja…! Ich glaub’, ich hab’ sie gleich! Warte!“ zurück. Mit den Worten „Ich geh’ trotzdem mal gucken“, stand er von seinem Platz auf, lächelte uns vergebungsheischend zu und machte sich auf in die Küche, hinter der das winzige Vorratslager zu finden war. Als habe er nur darauf gewartet, dass unsere Gastgeber fort waren, stöhnte James leise. Alarmiert schleuderte ich meinen Kopf in seine Richtung. „Ist etwas nicht in Ordnung, James?“, war es Elizabeth, die fragte.

„Ich lege Ihnen nahe, dass wir uns möglichst bald nach einem Hotel in der Stadt umsehen sollten“, gab er zur Antwort in einem mir völlig unbekannten Tonfall. „Diese Betten hier sind unnachgiebig und hart, sie stören jede Ruhe.“

„Du hast Recht“, pflichtete seine Mutter ihm schnell bei. „Ich habe ebenfalls Rückenschmerzen. Unerhört, so etwas, aber dies Volk, das hier normalerweise unterkommt, scheint es ja gewohnt zu sein.“

„In der Taaaat!“, bekräftigte die Kleinste ihre Angehörigen, dermaßen laut, dass zu befürchten war, man könne ihre Beschwerde bis in die Kammer hinter der Küche hören. Aber nichts bewegte mich mehr als James’ Anspruch an diese uns freundlicherweise noch mitten in der Nacht empfangende Gaststätte. Es passte nicht. Es passte schlichtweg nicht zu dem James, den ich kannte. Den ich vor fünf Jahren an einem Hafen verabschiedet hatte. Meine Freude war vergangen, als der Besitzer jener Herberge sowie seine Tochter sich zu uns an den Tisch setzten und ein Glas mit Erdbeermarmelade darauf abstellten. Alexia wollte in ihr unbeschmiertes Brot beißen, doch Mister Farley fasste sanft nach ihrem dünnen Handgelenk. „Wir beten erst“, erklärte er ihr warm, aber bestimmt. Aus Höflichkeit begleiteten wir dieses ihr Gebet, auch wenn niemand aus unserer Familie auch nur einen Vers daraus kannte und wir demzufolge ihre Worte nur mit undeutlichem und ziemlich leisem Genuschel untermalten. Anschließend durften wir uns endlich die Brote schmieren und belegen, aber ich kam mir eher vor wie während einer Partie Whist, in welcher ich, selbst mit geheimnisvoller Miene, verschanzt hinter einem Teller mit zwei Brotscheiben, in die Gesichter aller anderen linste, um das, was sich dahinter abspielte, zu errätseln. James zum Beispiel schien irgendetwas abzulenken. Er schenkte dem Frühstück nur ein spärliches Maß an Hinwendung. Als ich meine rechte Hand wie zufällig nach den Eiern streckte, welche in einer kleinen Schüssel links von mir und ihm nahe lagen, um ihm eigentlich einen Wink zu geben, der ihm bedeuten sollte, nicht essen zu müssen, wenn er nicht mochte, bemerkte ich, dass seine Mutter ihm im Schatten des Tisches zärtlich über den Oberschenkel fuhr. So nahm ich mir ein Ei, setzte mich wieder und pellte die Schale ab. Sicher machte ich aus einem Maulwurfshügel einen Berg. Zum Glück forderte Alexia in diesem Augenblick die gemeine Aufmerksamkeit ein. Deutlich war ihr anzusehen, wie entrüstet sie darüber war, dass ihr Kopf noch auf dem gereckten Hals keinen anständigen Überblick hatte. „Wo is’ die Milsch?“, verlangte sie zu erfahren, woraufhin James und Frances nach der Blechkanne griffen. Was geschah, war vorherzusehen: Am Henkel berührten sich ihre Hände, und das reflexartige Austauschen eines Blickes ließ James sie erstmals ordentlich betrachten, wenngleich der Kontakt nicht länger als eine Sekunde anhielt, weil beide sich plötzlich eines schmerzhaften Zwickens erinnerten, welches sie ihre Hände pfeilschnell zurückziehen machte. Anschließend nahmen sie die Tischplatte unter die Lupe, als hätten sie sich vorgenommen, jeden einzelnen vom Teller geflüchteten Krümel aufzuspüren, und machten sich damit nur noch verdächtiger. „Kann ich vielleich’ die Milsch haben?“, versetzte Alexia bedrohlich.

Milch“, verbesserte Elizabeth sie. „Es heißt Milch, Alexia.“

„Milsch“, wiederholte das blonde Mädchen griesgrämig.

Ich kaute auf der Innenseite meiner Wange, um nicht zu grinsen vor Glück. Frances "Fanny" Farley war in der Tat eine hübsche junge Dame. Außergewöhnlich mit den hellen Iriden und dem kupfergoldenen Haar, das in jedem Kerzen-, jedem Kaminschein selbst wie Feuer leuchtete, während es sanft ihr weiches Antlitz umschmeichelte, welches von kühnen Zügen war. Und dann fiel mir ein, dass es wahrhaftig das erste Mal in seinem siebzehnjährigen Leben war, dass er mit einem Mädchen in seinem Alter zu tun hatte. Könnte es sein, dass…?

„In sechs Tagen wird im neuen Buckingham House der Ball zu Heiligabend gegeben“, holte mich Lord Lawrence Norrington ungnädig zurück in die kalte Realität. „Mr Norrington… Sie haben hoffentlich nicht vergessen, was von Ihnen erwartet wird?“

„Mitnichten, Sir.” Wie aus einer Pistole geschossen.

„Sie werden tanzen.“

Er verzog keine Miene, doch hinter seinen Augen stürzte alles zusammen, als habe man ihm mitgeteilt, jemand, den er gut kannte, sei verstorben. „Aber Sir!“, versuchte er sich zu retten. „Ich meine nicht, dass dies der Grund ist, weshalb wir dort unsere Aufwartung machen, Sir.“

Nun fühlte sich Elizabeth berufen, einzugreifen: „Der Tanz gehört zum guten Ton, mein Lieber. Alle werden es tun. Und wer sich verweigert, wird ausgegrenzt. So ist das nun einmal in unserer Gesellschaft…“ Da sie bemerkte, wie Mister Farley lächelte, fügte sie noch hinzu: „Nicht, dass ich lieber in einer anderen Schicht leben wollte…“ Allein die Tiefe ihrer Augen offenbarte den Vorwurf an den Gatten, der immerzu gegen eine Ausbildung James’ nach französischem Hofprotokoll gewesen war.

Der Blick des Offiziersanwärters wanderte von seiner Mutter zurück auf seinen Vater, und die kurzen Geräusche der Mahlzubereitung übernahmen akustische Oberhand. Wieder schweiften meine Augen herum. Die junge Frances machte den Eindruck innigen Nachdenkens, Alexias Züge entspannten sich nicht ob des endlichen Füllens ihres Glases mit warmer Milsch.

„Das Essen schmeckt ganz ausgezeichnet, Mr Farley“, sagte ich schließlich.
 

Der Lord lud seine überraschte Gemahlin zu einem kleinen Spaziergang ein, und James erklärte sich bereit, beim Abtischen behilflich zu sein, derweil ich mich mit Alexia beschäftigte, deren üble Laune gar nicht mehr vergehen wollte. Während ich mit ihr zusammen auf einem alten, stoppeligen Teppich saß und sie durch amateurhaft gestickte Puppen zu animieren suchte, welche ich in einer Schublade gefunden hatte, spähte ich immer wieder hinüber zu den beiden Jugendlichen, die vom Speisezimmer zur Küche und wieder zurück marschierten. Leerer wurde der reichlich gedeckte Tisch, und als die letzte Schüssel mitgenommen wurde, schlug ich Alexia vor, draußen weiterzuspielen. „Wir klettern auf die höchsten Bäume“, spornte ich sie enthusiastisch an, „und bauen ein paar Dinge aus dem Schnee, ja?“ Endlich löste sich ihr Verdruss, von dem ich bereits befürchtet hatte, er habe sich in ihrem hübschen Gesicht manifestiert, und sie tapste los, sich dick einzukleiden. Ich jedoch erhob mich, trat leise an dem großen Tisch vorbei zur Tür, die noch nicht lange geschlossen gewesen war, und reckte meinen Kopf, sodass gerade das Ohr an das glatte Holz reichte. Das Erste, was ich vernahm, war ein Lachen, klar wie eine Kuhschelle. Dann seine Stimme: „Das ist lächerlich! Wie kommen Sie darauf?“

„Lächerlich finde ich nur Ihren Versuch, es zu verheimlichen, Mr Norrington.“

„Sie mokieren sich über mich?“

„Ach, kommen Sie! Da ist doch überhaupt nichts dabei!“ Wieder ein helles Gelächter.

„Was… was tun Sie?!“

Mittlerweile hatte ich mich bereits ganz an die Tür gedrängt. Nun wagte ich, sie einen minimalen Spalt weit zu öffnen. Er bot mir die Sicht auf eine Theke und einen Schrank darüber. Und auf ein paar Töpfe. Und auf den Rand einen der Teller, die wir verwendet hatten. Doch immerhin waren die Stimmen nun nicht mehr dumpf. Ansonsten hätte ich das, was sich nun auf die Lautstärke von Geflüster limitierte, wahrscheinlich nicht hören können.

„Die Arme zu den Seiten gestreckt. Die Hände lockern… Lockern. Na, kommen Sie schon. …Ja, gut. Achten Sie auf unsere Füße. Achten Sie darauf, dass Sie dieselben Schritte setzen wie Ihr Tanzpartner, nur halt spiegelverkehrt, wenn Sie sich im Kreis bewegen. Es ist eigentlich ein stetiger Wechsel von Indiekniegehen und Aufdenzehenstehen, dazwischen leichtfüßige Schritte wie beim Ballett. Sehen Sie…? Sie werden selten fest auf beiden Beinen stehen dürfen. Verlagern Sie das Gewicht sehr rasch von einem Bein auf das andere, das erweckt den Eindruck von Leichtigkeit. So… Wir beginnen langsam… Tanzen Sie um mich herum... Mit den Händen nicht so steif… Mr Norrington, Ihre Hände! …Ja, besser. Dada – dadamm… Wie kommt es eigentlich, dass ein Mann von vornehmer Herkunft wie Sie nicht tanzen kann? …Strecken Sie die Knie durch! Sie hatten nie Ballettunterricht, oder?“

Etwas zupfte an meinem Kleid und ich fuhr hoch. Mit hämmerndem Herzen drehte ich mich um und sah niemanden vor mir stehen – doch: Alexia, als ich meinen Kopf neigte. Der ihre schaute aus dem mit Fuchspelz gerahmten Kapuzenumhang heraus wie aus einer sehr flauschigen Höhle. „Gehen wir, Ab’a? Du hast es versprochen!“ Ein Stein fiel mir vom Herzen, denn sie interessierte sich nicht dafür, weshalb ihre dicke Amme an der Tür gehangen hatte, als sei diese das letzte rettende Stück Holz in stürmischer See, und warum sie aufgeschreckt war, als habe sie unvermittelt erkannt, dass sie zu schwer für es ist. „Natürlich“, antwortete ich wohl gelaunt. „Lassen Sie uns gehen, ehe der schöne Schnee schmilzt. Wenn Ihre Eltern zurückkehren, wird sie eine Familie aus Schneemenschen empfangen.“

„Nein, ich weiß! Wir bauen alle unsere Diener nach! Und wenn sie zurückkommen, begrüßt sie eine Schar aus Schneedienern, wie zuhause!“

Ich strengte mich an, mein Lächeln aufrecht zu erhalten. „Na fein.“
 

Am nächsten Tag verließ uns James früh, um in die Stadt zu fahren. Nur wegen des herannahenden Weihnachtsballes war er nicht von seinen dienstlichen Verpflichtungen entbunden, welche ihn an die Themse befahlen. Ich befürchtete, eben diese dienstlichen Verpflichtungen würden ihn, sobald er am Flussufer stand, mit sich reißen, fort, auf die offene See hinaus, oder ein listiger Windstoß würde die Segel des Schiffes füllen, auf dem er gerade die Fracht zählte, und ihn in die Nordsee treiben, und hielt die schlurfenden Stunden seiner Abwesenheit kaum aus. Selbstredend war es unvorstellbar, dass eine meiner Befürchtungen sich bewahrheiten könnte, und ich schloss daraus, dass ich zwar eingesehen hatte, dass die Zeit des Abschieds – des endgültigen Abschieds – bevorstand, aber noch nicht bereit dafür war und es vermutlich niemals sein würde. Ich selbst hatte mit meinem Antrag gegenüber Elizabeth den ersten Steinbrocken zwischen mir und James gelegt, ich selbst hatte ihm, ihnen allen beweisen wollen, dass es in Ordnung war. Ich versuchte, der Zukunft entgegenzublicken, versuchte, sie mir einzubilden. Aber da war nichts. Es gab kein Leben für mich ohne James, nur für ihn hatte ich gelebt, und mit dieser Tatsache hätte ich umgehen können, wenn ich nicht gezwungen wäre, meine Existenz nach dem Ende meines Lebens fortzuführen. Nein, ich dachte nicht ein Mal darüber nach, meinem physischen Dasein ebenfalls ein Ende zu setzen; diese beleidigende, skrupellose Tat im Hinblick auf all jene, die nicht in den Genuss des Glückes gekommen waren, wie ich leben zu dürfen, leuchtete mir gar nicht erst ein. Jedoch ahnte ich, dass der weitere Verlauf meines Wandelns auf dieser Erde, wie sehr ich Benedict inzwischen auch mochte, erdrückend trostlos werden würde. Ich hatte kein Ziel mehr. Entgegen jenen Zeiten, da ich den kleinen James auf ein Schiff steigen sah oder in eine Kutsche auf dem Weg nach Norfolk, gab mir dieses Mal keine Aussicht Hoffnung, ihn irgendwann – ganz gleich, wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate, Quartale, Jahre, Jahrfünfte, Jahrzehnte sich dazwischenschieben würden – wieder begrüßen zu können wie Alexias Diener aus Schnee ihre Eltern. Der heutige Tag war ausgesprochen sonnig für den späten Herbst, und die Schneemänner schmolzen mit traurigen Gesichtern dahin, während ich allein in einem Zimmer saß und weinte.
 

Die bis zur Unheimlichkeit stille Dämmerung wurde von Pferdeschnauben und Kutschengepolter durchbrochen, und der männliche Teil der Familie Norrington, welcher sich ganz und gar der Seefahrt verschrieben hatte, stand an der Tür. „Du darfst deinen Sohn fortan offiziell Lieutenant nennen“, war das Erste, womit sich der Lord an seine Frau wandte, doch die drehte den Kopf sehr langsam hin und her, ihn dabei fest fixierend. „Das ist großartig, Lawrence, wirklich ganz großartig, aber ich denke, ich bleibe doch lieber beim bewährten James.“

Herzliche Glückwünsche erwarteten den neuen Leutnant Ihrer Englischen Majestät auf seinem hoheitlichen Weg zum einsturzgefährdeten Holztisch, und Mister Farley wollte eine Runde Wein ausschenken, bevor der Admiral ihm die Flaschen eines edlen Italienischen in die Hände drückte, deren Inhalt funkelte und glänzte wie die Unkosten, welche er sehr wahrscheinlich verursacht hatte.

Theodore Groves hatte, wie uns mitgeteilt wurde, sein Leutnantsexamen ebenfalls bestanden, doch anders als bei James, dessen Vater immerhin den Titel eines Seelords innehatte und damit in der Nahrungskette der Königlichen Marine ganz oben zu finden war, hatte sich für ihn noch keine Anstellung auf einem Schiff finden lassen, was seiner weiteren Karriere gar nicht gut kommen würde.

„Ich werde auf der HMS Evidence dienen, ein ursprünglich französisches Schiff“, erzählte James in die Runde. „Unter dem Kommando von Captain Samuel Bennett.“

Bennett, wollte ich fragen, war er nicht Erster Offizier auf der Victory, während deiner Jahre als Midshipman? Und die Evidence, handelt es sich dabei vielleicht um die Petite Gloire, von der du geschrieben hast? Aber noch rechtzeitig fiel mir ein, dass es nicht unbedingt angebracht war, im Kreise der gesamten Familie über unsere Korrespondenz zu sprechen, die ich als etwas erachtete, das mir und James allein gehörte. Und darüber hinaus, dass ich ihn fast schon wieder geduzt hätte.

„Am 30. Dezember brechen wir zu unserer Reise auf.“

„Wo führt sie hin?“, hakte Elizabeth nach, die zu spüren schien, dass James sich vor dieser Auskunft drücken wollte. „Doch nicht in den Krieg?“

„Man darf nicht immer nur an den Krieg denken“, mischte sich Seine Lordschaft ein. „Englands glorreicher Triumph zu Gibraltar war ein bedeutender Schritt auf dem Weg zur Vormachtstellung dieses Landes, doch es wäre fatal, allein auf die Siege von Schlachten zu setzen. Während die Spanier und Franzosen all ihre peinlichen Anstrengungen in den Krieg wettern, denkt unsereins bereits an das Danach.“

„Die Spanier können an nichts anderes denken. Es geht schließlich um ihren Thron.“

„Interessierst du dich für sie, Elizabeth? Denke an das Land, in dem du geboren bist, das dich aufgezogen und genährt hat. Die Probleme anderer Nationen sollen nicht die deine sein. Sie haben England auch nie bemitleidet. Mitleid ist fehl am Platze, wenn man nicht getötet werden will. Du willst doch nicht getötet werden, Elizabeth?“

„Ich hatte es mir zumindest nicht vorgenommen, Lawrence.“ Sie ließ uns ihren Sarkasmus hören, ihre Resignation über den Mann, der lange nicht mehr er selbst war, und drehte sich von ihm fort, James zu. „Verzeih mir, mein Lieber. Hast du mir geantwortet auf die Frage, wohin die Reise führt?“

„Marlborough ist mir nicht geheuer“, murmelte der Lord in seinen drahthaarigen Bart. „Ein Mann, glitschig wie ein Aal. Ich finde es nicht gut, dass Ihre Majestät ihm so viel Einfluss zugesteht…“

„Um Afrika herum bis nach Indien. Von dort aus weiter nach China.“

Elizabeths Augen erstarrten. „So weit?“, hauchte sie.

„Es handelt sich lediglich um Staatsbesuche. Der Orient soll erfahren, dass England ihm gegenüber keiner bösen Gesinnung ist. Wir werden die Sitten des anderen kopieren, ein paar Souvenirs austauschen, Pläne für die Zukunft schmieden, an die sich niemand mehr erinnern wird, sobald wir uns verabschiedet haben, und wieder unserer eigenen Wege gehen, das ist alles.“

„Ich will auch mit nach Indien und Chinien!“, rief Alexia empört, und ich strich über ihre strahlende Lockenmähne. „Da ist es aber gefährlich. Da gibt es Tiere, die sind viel größer als Sie, und die haben gar keine Ahnung, wie man sich einer Dame gegenüber zu benehmen hat.“

„Das fehlt noch, dass du auch in die Marine möchtest“, meinte Elizabeth. Alexia erwiderte ihren grimmigen Blick entschlossen, und ich fühlte, wie der schmale Strich ihrer Kontaktaufnahme von schmerzhaften Blitzen durchzuckt wurde. Sie war noch so jung, und doch nahm ich in diesem Augenblick zur Kenntnis, wie sehr Alexia die grundsätzlich wohlwollende Bevormundung durch ihre Mutter, die sich in den letzten Jahren kaum weniger verändert hatte als Lawrence Norrington, verabscheute. Hasste.

„Ich bin jedenfalls recht gespannt auf das, was uns jenseits des Kaps der Guten Hoffnung erwarten wird“, teilte James uns mit, und ich wunderte mich ein wenig über sein Bedürfnis, dergleichen zu tun. „Man erzählt sich ja allerhand. Ich bin der Ansicht, man solle mit jeglichen Vorurteilen aufräumen. Um Platz für die eigene Meinung zu schaffen.“

Täuschte ich mich? Oder begannen viele seiner Sätze neuerdings mit einem Ich.

„Es ist schon spät“, erinnerte uns Elizabeth bald darauf mit einem Blick aus dem Fenster, dessen schwarzer Hintergrund ihr Antlitz spiegelte. „Wir sollten zu Bett gehen. Morgen möchte ich gerne Vanbrughs The Confederacy im neuen Queen’s Theatre sehen. Alexia, kommst du?“

Widerwillig ließ sich die Kleine abführen.

Und da waren wir, James und ich alleine. Viel hatte sich angesammelt in den letzten Jahren; ich hätte ihn zuplaudern können, bis er sich wünschte, taub zu sein, aber nichts, was ich in der vergangenen Zeit getan, erlebt oder gefühlt hatte, verließ tatsächlich meinen Mund. Eine Erklärung dafür war nicht zu finden. Beinahe schien mir bange zu sein. Vor ihm. Und dann senkte er seinen Blick auf mich. Und wirkte seltsam traurig.

„Was haben Sie vor, Ms Abda, nun, da ich Sie nicht mehr mit wechselbedürftigen Windeln und allabendlichen Diskursen mit einem siebenjährigen Erwachsenen beschäftigen kann?“

Ein kurzes, freudloses Lachen kam über mich. „Ich glaube, ich werde niemals irgendetwas finden, das mich von diesen schrecklichen Verlusten ablenken wird.“ Wie wahr, diese so entspannt klingende Antwort. „Anfangs werde ich mich damit begnügen müssen, meine nie gekannte Freizeit mit der Umschau nach einer eigenen kleinen, netten Behausung zu vergeuden.“

Seine im Regelfall nahezu dünkelhaft über die Augen gesenkten Lider erhoben sich. „Sie bleiben also nicht auf dem Landsitz und kümmern sich um Alexia?“

„Nein, James. Ich habe beschlossen, mit Benedict ein neues Leben anzufangen… es wenigstens zu versuchen. Die Einwilligung Ihrer Mutter zu unserer Absetzung habe ich bereits erhalten, auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob ich wirklich mit ihm gemeinsam glücklich werde.“

„Ich wünsche Ihnen in beiden Fällen alles Gute“, sagte er ehrlich.

Ich wollte mich bedanken, doch auf einmal bekam ich gar kein Wort mehr hervor.

„Sie haben viel für mich getan“, flüsterte er. „Sagen Sie, habe ich Ihnen eigentlich je dafür gedankt…?“

Seine strengen Konturen verschwammen plötzlich, und es ärgerte mich. Wir hatten nicht mehr viel Zeit… Ich sollte jetzt jede Sekunde, die man uns schenkte, nutzen, auskosten, bevor wir auseinandergingen. Doch was ich auch tat – blinzeln, die Augen zusammenkneifen, den Kopf schütteln, mit den Händen über die geschlossenen Lider wischen – meine Sicht klärte sich nicht. Es war auf einmal auch nicht mehr ganz so wichtig. Vielleicht war es sogar ganz gut. Denn so konzentrierte ich mich auf andere Sinne… und zwar auf genau die Richtigen, als ich unerwartet seine Hände an meinem Rücken spürte, dann seinen Körper nahe dem meinen und schließlich seinen Kopf auf meiner Schulter. Allmählich sank er zusammen, gemächlich genug, dass ich ihm sein Gewicht mühelos abnehmen konnte. Es würde das letzte Mal sein.

„Ja, James… Jeden Tag, den du mich ansahst, mit mir sprachst, mich brauchtest und mir gabst, hast du mir gedankt…“
 

Ich habe für dich gelebt. Und mit dir in meinem Herzen werde ich sterben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Daikotsu
2011-03-24T13:44:38+00:00 24.03.2011 14:44
Zuckersüß ;)
Besonders die letzte Szene mit James und Abda.
Dass James sich nun auch ein wenig mit Frauen beschäftigt überraschte mich, ich hätte gern seinen Gesichtsausdruck gesehen, bei der Tanzstunde ;)


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