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Stairway to Heaven

von

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Oath

Sämtliche Nebeninformationen, die für diese Fanfiktion benötigt werden, findet ihr in der Charakterbeschreibung ganz unten. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und hoffe natürlich, dass es euch gefällt.

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Das Flüstern von samtenen Stoffen ging durch die große Kapelle des Tempels. Das Geräusch wurde von den Wänden und der riesenhaften Kuppel im Dach zurückgeworfen und echote ziellos im Raum umher, verstärkt durch den eigentlichen Ursprung:

Obwohl nur ein Hohepriester die langen Bankreihen auf den Altar zuschritt, klang es doch, als bringe er zwanzig weitere Besucher mit sich. Es waren keine normalen Besucher, es waren eher gleichgesinnte Priester wie er. Das Flüstern war schließlich Anzeichen dafür, dass weiße samtene Roben getragen wurden. Kein Besucher hätte weniger Lärm gemacht, eher konnte man davon ausgehen, von dem ohrenbetäubenden Lärm taub zu werden, den ein normaler Mensch in diesem riesigen Raum gemacht hätte.

Seine Schätzung stimmte. Nur ein Priester stellte sich neben ihm auf, direkt vor den meisterhaft angefertigten weißen Marmoraltar. Doch er sah nicht zu dem Mann in weißen Roben auf, stattdessen blieb er weiterhin kniend auf den Stufen, die das Fußvolk vom Podest abtrennte. Das Tempelschiff war ebenso hoch wie lang, weshalb sein Blick weit hinauf gerichtet war, um die Heilige Rosette zu erblicken.

„Shiarireyliar, mögen die Heiligen Flüsse Euch den Weg weisen“, flüsterte der Hohepriester beinahe unhörbar neben ihm, dennoch warf die Kapelle seine Worte geisterhaft laut zurück.

„Traen-sorar, Euer Segen ist eine große Ehre für mich. Er bedeutet mir viel“, antwortete er ruhig und legte etwas mehr Nachdruck in seine Stimme. Dadurch wollte er seinen Respekt und seine Ehrenhaftigkeit beweisen. Der Segen der Göttin war ihm wichtig.

„Gewiss, Eure Loyalität erstaunt mich nicht. Ihr ward uns immer ein guter Gefolgsmann, Shiarireyliar“, erwiderte der Priester und seine Roben raschelten, als er sich neben ihm auf die Stufen kniete. Diesen Respekterweis hatte er nicht erwartet, weswegen er erstaunt zu dem gleichaltrigen Mann hinüber sah. Der warf ihm einen freundlichen Blick zu, bevor er seinen Kopf neigte und die Augen schloss. Mit gefalteten Händen begann der Hohepriester zu beten, wobei er die Lippen bewegte, aber keinen Laut von sich gab.

Er ließ den Mann gewähren, obwohl er eigentlich eine Menge Fragen hatte, die es zu beantworten galt – vielleicht wollte er aber auch einfach nur mit jemandem reden. Über sich, über den König und alle anderen. Er wollte sich beklagen darüber, dass ihm Unrecht getan wurde, das er nicht zu verhindern wusste. Gerade daher hatte er gehofft bei seinem Freund, einem Hohepriester und somit Beichtvater, ein offenes Ohr zu finden.

Der junge Mann in weißen Roben, Traen, hatte einen aufgeweckten Geist und viel Verständnis für jedermanns Situation. Er führte kein Gericht über die Menschen um ihn herum und bildete seine Meinung ausschließlich aus Erfahrungen und Bekanntschaften. Im Gegensatz zu vielen anderen blieb er daher sachlich und betrachtete die Dinge aus allen Blickwinkeln. Das machte ihn bei sehr vielen Menschen beliebt und er wirkte vertrauenswürdig, aber auch ein Hohepriester hatte seine Geheimnisse. Und er teilte diese nur ungern.

Er strich sich eine Strähne aus der Stirn und blickte wieder zur Rosette hinauf, neben sich den Hohepriester, hinter sich das Unrecht und vor sich die Göttin. Sein Leben lang hatte er immer gehofft, sein zu können, wie er war. Durch die ständige Armut und Vernachlässigung, die er erfahren hatte, standen ihm schon bald nur noch der Reichtum und ein Adelstitel vor Augen. Was sollte ein Kind sich denn anderes Wünschen?

„Shiarireyliar, kommt mit mir. Es wird Zeit für ein Gespräch“, unterbrach Traen seine Gedanken, an die er sich eigentlich nicht hatte erinnern wollen. Beide Männer erhoben sich und schritten leise durch die riesige Kapelle an den langen Sitzreihen vorbei in den Eingangsbereich des Tempels durch eine Nebentür in ein Treppenhaus hinauf in den ersten Stock. Immerzu waren sie umgeben von der Schlichtheit der strengen Enthaltung, die die meisten Priester auszuleben pflegten, dem ewigen Weiß, das alle anderen Farben ablösten und einer unnatürlichen Stille. Das war der Tempel der Göttin Ismira. Sie war die Herrscherin der Himmelsrichtungen, der Magie, der Sexualität, der Geschöpfe, des Landes und Meeres und Himmels, der Gefühle und allen anderen Dingen, die Bewunderung verdienten.

Das Gebäude selbst war vollständig aus weißem Marmor erbaut und das Holz, das man für Türen und andere Einrichtungsgegenstände benötigte, war weiß angestrichen worden – das nannte man das „ewige Weiß“.

Kurz gesagt, er war froh, nicht hier zu leben, denn es hätte für ihn schlimme Folgen gehabt. Er wäre wahrscheinlich irgendwann verrückt geworden, doch sein Freund meinte stets, dass man seine innere Ruhe finde und sich Zufriedenheit in einem ausbreite, sobald man längere Zeit im Tempel verbrachte. Er war sich nicht ganz sicher, ob Traen nicht ebenfalls durchgeknallt war. Früher war der Hohepriester nämlich anders gewesen und bei weitem nicht so … priesterlich abgehoben?

Sie gelangten in den zweiten Stock durch ein weiteres Treppenhaus nach einer ewig erscheinenden Galerie. Er hatte die Anzahl der Stufen bereits vergessen, nachdem sie den ersten Stock verlassen hatten. Doch sie setzten ihren Weg durch zwei kurze Korridore und an zahllosen weißen Holztüren vorbei auf eine Galerie fort, von der aus sie noch einmal in ein Treppenhaus innerhalb eines Turmes gelangten. Die Wendeltreppe führte in die Kammer eines der vielen Hohenpriester, Traens Kammer.

Der runde Raum war genauso weiß wie alles andere auch. Es gab keine Gegenstände, die nicht auch weiß waren und selbst die banalsten Dinge waren weiß, weiß und noch einmal weiß. Diese Farbe erschöpfte ihn, sodass er bald vermeintliche Farben ausmachte, von denen er wusste, dass sie nicht da waren.

Ein runder Tisch stand in der Mitte des kleinen Turmzimmers. Man kam darauf zu, sobald man das Treppenhaus verließ. Ihnen gegenüber befand sich ein weiteres Treppenhaus in die Privatgemächer des Hohenpriesters und dessen Badezimmer. Um den Tisch standen, wie sollte es auch anders sein, drei weiße kleine Hocker. Zwei Bücherregale, ein Kamin (der durch einen Zauber penibel weiß gehalten wurde) und ein Sekretär machten das ganze Mobiliar aus, das es hier gab.

Der junge Mann bot ihm einen Hocker an, auf den er sich setzte und ausharrte. Er wusste, dass es nicht klug war, sofort mit allem herauszuplatzen, besonders wenn der Gesprächspartner ein Hohepriester war, also schwieg er und wartete auf eine Einladung.

„Wie geht es Euch, Shiarireyliar?“, fragte Traen und setzte sich ihm gegenüber auf den Hocker, der zu den Privatgemächern führte.

„Den Umständen entsprechend, Traen-sorar“, antwortete er knapp und verlagerte sein Gewicht nach links. Ihm fiel es schwer, sich auszuschütten, obwohl er doch wusste, wie hilfreich es war, jemanden zu haben, mit dem man reden konnte.

„Ihr befindet Euch in einer schweren Situation, die Ihr gut zu meistern wisst. Das allein verdient schon großen Respekt. Wovor also fürchtet Ihr Euch, Shiarireyliar?“, meinte der junge Mann und löste seinen weißen Umhang von der Schulter. Darunter kamen weitere weiße Roben zum Vorschein. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Priestern, stand Traen die Farbe weiß. Er war sowieso schon immer hellhäutig gewesen und die blonden Haare und blauen Augen hatten ihm das Leben mit Kleidung sehr erschwert, deshalb schien der glückliche, weiße, Umstand ihm gerade recht zu kommen.

„Furcht?! Traen-sorar, wäre es möglich … persönlich zu sein?“, fragte er zaghaft, bevor er das Zucken um den Mund seines Freundes wahrnahm. Sie mochten beide keine Förmlichkeit, doch in der Öffentlichkeit wurde dies nun einmal von ihnen erwartet.

„Natürlich, Vlaindar.“

„Ich fühle mich versetzt, falls du verstehst?“, fuhr er zögerlich fort.

„Versetzt? Inwiefern?“

„Seit ich in die Novizenausbildung kam, lastet dieser Schwur auf mir, den ich nicht brechen kann, ohne dabei massiv gegen das königliche Gesetz zu verstoßen. Es fühlt sich falsch an, doch ich fühle auch gleichzeitig, dass ich es nicht ändern kann.“

„Und du nimmst diese Tatsache hin“, sagte Traen ruhig und stützte sich auf seinen Ellbogen auf dem Tisch ab.

„Ich habe es immer getan und werde es auch weiterhin tun …“, erwiderte Vlaindar und hörte dem Nachklang seiner Stimme zu.

„Aber?“, hakte der andere nach. Aber natürlich! Traen hatte sofort herausgehört, dass etwas nicht stimmte.

„Mit Einschränkungen. Ich kann diesen Schwur nur solange halten, wie ich dazu in der Lage bin. Jetzt, mit zwanzig Jahren ist mir dieses Versprechen zutiefst widersprüchlich. Es ist …“, verzweifelt rang Vlaindar nach Worten.

„Gegen deine Natur“, half Traen seelenruhig aus.

„Richtig! Ich verstehe ja, was der König sich dabei gedacht hat, als er mir auftrug, diesen Schwur zu leisten. Doch er bindet mich sehr stark und lässt mir keinen Freiraum. Traen, bitte, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll!“, rief er aus.

„Inwiefern?“, wiederholte der Hohepriester seine erste Frage.

„Ich fühle mich falsch. Ich tue etwas, von dem ich weiß, dass ich es nicht tun will, aber dass ich es tun muss.“

„Vlaindar, ruhig. Du willst mir also sagen, dass dieser Schwur dich soweit einschränkt, dass du nicht mehr weißt, wie lange du dich in deinem jetzigen Zustand halten kannst?“, schlussfolgerte Traen und beobachtete den Drachenreitergeneral vor sich.

„Du verstehst mich“, antwortete dieser lediglich und schwieg wieder.

„Der König war der Meinung, dass es für seine Regierung nur förderlich sei, wenn du diesen Schwur leistest, aber gleichzeitig habe ich eine unangenehme Ahnung, worum es dabei wirklich ging …“, deutete Traen vorsichtig an.

„Was meinst du?“, fragte Vlaindar und sah den Hohepriester verstört an.

„Erinnerst du dich an die Zeit vor deiner Novizenzeit? Damals hast du noch im Palast gelebt und warst ständig in der Nähe der Königsfamilie. Weil ich damals als Priesternovize auf einer Pilgerfahrt war und dir langweilig war, hast du den Palast durchkämmt. Meson-sorar hat mir etwas Beunruhigendes erzählt, auf das er durch eine Beichte gestoßen war.“

„Darf er das überhaupt?“, wollte Vlaindar sich gerade empören, war sich aber der wichtigen Information bewusst, die nun folgen würde.

„Es war ein Geheimnis, das er mir anvertraute, weil ich dein guter Freund bin. Ich reiche es nun an dich weiter, weil du es anscheinend nie bemerkt hast.“

Vlaindars Augenbrauen schossen nach oben, er blieb aber stumm und wartete ab.

„Die Hälfte der weiblichen Palastangestellten hatte ein gewisses Interesse an dir entwickelt, die andere Hälfte hielt dich sowieso für unwiderstehlich. Durch die Gerüchte wurde eine gewisse Frauengruppe auf dich aufmerksam …“

„Wer?“, fragte er nun ernst und sah Traen erwartungsvoll an.

„Die vier unverheirateten Prinzessinnen.“

Erstaunt öffnete er den Mund, bekam aber kein anständiges Wort heraus, bevor Traen weiter sprach:

„Kurz: Der König könnte dir diese Leistung des Schwurs befohlen haben, weil er befürchtete, seine Töchter würden dich sonst in ihr Bett holen, was ihren Wert bei einer Vermählung stark vermindern würde.“

„Wie bitte?“, hauchte Vlaindar entsetzt.

„Es ist nur ein Gerücht, es ist nicht einmal eine Theorie. Aber sie scheint mir plausibel.“

„Ich habe einen Zölibatsschwur geleistet, weil der König Angst um die Unschuld seiner Töchter hatte?!“, rief er aus und legte sich die Hand übers Gesicht. Seit er mit dreizehn in die Hauptstadt gekommen war und diesen Schwur geleistet hatte, musste er sich nun tagtäglich durch irgendwelche übertreibenden Liebespaare belästigt fühlen, die wie Turteltäubchen durch die Gänge flogen. Er hielt wenige Kontakte zu Frauen aufrecht, weil er keine Hochzeit und keine Liebesbeziehung führen durfte und tat dies nur, weil der König Angst um seine Töchter hatte? Er hätte schon längst verheiratet sein und sich diese anzüglichen Sticheleien von sowohl Männern als auch Frauen ersparen können! Inzwischen waren schließlich alle Vier verheiratet, da könnte der König ihm doch melden, dass er sein Zölibat beenden könnte. Anderenfalls rettete dieser Zölibat ihn auch genauso oft …

„Wahrhaft erstaunlich, oder?“, lachte Traen und bekam als Erwiderung nur ein sprachloses Kopfschütteln. Doch der Hohepriester schien sich daran nicht zu stören:

„Aber, aber, Vlaindar. Bist du sicher, dass du überhaupt nach einer Frau suchst? Selbst im zölibatären Zustand kann ein Mann sich immer noch unter dem anderen Geschlecht umsehen, doch du hast nie mehr als einen kurzen Blick verschwendet. Mir scheint, du heuchelst dein Erstaunen nur.“

„Du hast Recht, wenn du sagst, ich habe mich nicht umgesehen. Keine der Hofdamen sind mir interessant genug. Ich kenne sie alle und jede ihrer Eigenarten. Sie sind fernab meiner Vorstellungen, die wahrscheinlich stark vorbelastet sind.“

„Inwiefern?“

„Wie stellt sich ein Junggeselle in seiner jungfräulichen Naivität seine Idealfrau vor, Traen?! Es ist wie in diesen übertriebenen Märchen, wie sollte es auch sonst sein, wo ich doch nirgends Erfahrung sammeln konnte.“

„Ah, der Perfektionismus der Fiktion. Hübsche Frauen, innerlich zerbrechlich, äußerlich stark und standhaft, rundlich, aber lieblich, freundlich, auf sich achtend, vollkommen unarrogant und unvorbelastet. Das Klischee der unangetasteten Jungfer“, schwärmte der ebenfalls zölibatär lebende Priester.

„Siehst du, weshalb mir keine der Frauen richtig erscheint? Selbst die Prinzessinnen hätten es nicht gut bei mir gehabt. Ich fürchte, der Zölibat kommt mir ganz recht, auch wenn ich den Grund nicht billige“, antwortete Vlaindar und seine Lippen zuckten.

„Dann lebe dein Zölibat, aber beklage dich nicht, wenn du allein als alter Mann stirbst.“

„Das meinte ich damit nicht. Zölibatär leben ist für mich die Chance, all diese unerwünschten weiblichen Werber loszuwerden. Es ist ein ganz angenehmer Grund, einen Antrag abzuweisen. Sollte mir jedoch jemals eine Frau gefallen, ich schwöre bei der Göttin Ismira, ich werde sie mir zur Frau nehmen, Traen. Daran wird mich kein Zölibatsschwur hindern, selbst wenn er mit königlichem Siegel versehen ist.“

„Wahrlich, eine interessante Art, diesen Schwur auszulegen. Fühlst du dich nun immer noch versetzt?“

„Nein, es ist mir klarer geworden durch dieses Gespräch. Ich habe Hairima, meine Herzensdame, die mich schon völlig beansprucht und ich fürchte, meine kindlichen Ideale wird nie jemand erfüllen, also lasse ich es gleich bleiben. Ich brauche keine Frau, um mein Leben zu leben. Mein Drache reicht mir vollkommen.“

„So spricht ein wahrer Drachenreiter. Aber ich versichere dir, du magst jetzt noch überschwänglich in deiner jugendlichen Naivität baden, doch irgendwann regt sich auch in dir der Mann, der die Lust des Fleisches begehrt“, sprach Traen und erhob dabei wie ein alter Mann seinen Zeigefinger.

„Traen, glaube mir, ich teile mit Hairima mein ganzes Wesen und sie ist ebenfalls eine Frau. Sollte ich jemals mit einer Frau reden wollen, dann geselle ich mich zu meiner Drachendame in die Ställe.“

„Natürlich, aber mit Hairima kannst du nicht lieben wie Menschen es tun“, erwiderte der Hohepriester ruhig. Daraufhin sah Vlaindar ihn fragend an:

„Wie Menschen lieben? Was meinst du?“

„Du wirst es noch früh genug erfahren. Doch du musst es selbst herausfinden. Das ist die Aufgabe eines männlichen Wesens. Sei gewarnt, Vlaindar, es ist nicht so, wie du denkst. Es ist intensiver, ergreifender, mitreißender als jedes Gefühl, das du kennst. Niemand wird dir beistehen, wenn du zum ersten Mal verstehst, was es heißt, zu lieben. Glaube mir, du weißt es jetzt nicht, weshalb du es leichtfertig abtust, aber du wirst es nie wieder missen wollen.“

„Woher willst du das wissen?!“

„Ich bin bei weitem erfahrener, als du denkst, Vlaindar. Das ist der Beruf eines Hohenpriesters. Außerdem kenne ich dich gut genug, um zu wissen, dass es so kommen wird“, antwortete Traen lediglich und lächelte wieder geschäftsmäßig.

„Ihr seid mir zu vage, Traen-sorar“, murmelte Vlaindar verstört.

„Ihr werdet mir dafür dankbar sein, denn es fühlt sich besser an, es selbst zu erkunden.“

„Ich denke, ich halte lieber an meinem Zölibat fest“, meinte Vlaindar, doch Traen lächelte bloß und sah ihn aus wissenden Augen an.

„Natürlich, tut das.“

Tavern

Das Wirtshaus von Fandenstar war ein gut besuchter Ort innerhalb einer der größeren Ortschaften von Saitan-Heten. Es gehörte zwar nicht zu den acht Städten, die es insgesamt im ganzen Land gab, denn Fandenstar wurde noch als Dorf gezählt, doch es hatte innerhalb kürzester Zeit nach der Eröffnung an Beliebtheit gewonnen und summte nun jeden Abend vor Gesprächen. Selbst Wespennester konnten keinen solchen Lärm machen.

Neben den regelmäßig auflaufenden Stammgästen besaß das Wirtshaus natürlich auch Laufkundschaft und tagesabhängige Besucher, aber die kamen sicherlich nicht nur aufgrund des guten Biers. Sie fanden die Kellnerinnen interessanter. Dank diesen jungen Damen ließen täglich verzauberte Männer ihr hart verdientes Geld fließen und kehrten mit leeren Taschen in die Fänge ihrer daheim wartenden Familien zurück, um am nächsten Abend wieder im Schankraum aufzutauchen und ihre Sorgen im Bierkrug zu ertränken.

An diesem Tag war es nicht anders. Der Raum fasste ungefähr fünfzig Personen und war bereits bis über die Hälfte angefüllt – hauptsächlich mit Stammgästen, da es noch früher Abend war. Wie immer in der hintersten Ecke am weitesten weg von der Eingangstür saßen die Älteren, so nannte man sie hier. Bella, eine erfolglose Schneiderin, die in ihren achtundvierzig Jahren nichts besser hinbekommen hatte als den Kreuzstich ihrer Kleidung, hob gerade ihren sechsten Bierkrug zum Anstoßen hoch. Sie war eine der bekanntesten Vieltrinkerinnen. Neben ihr saß Gram, der sich seit seinem zwanzigsten Lebensjahr als Hirte verdingt hatte und nun von seiner Frau tagein, tagaus dafür verspottet wurde, weil niemand ihn mit seinen fünfzig Jahren jetzt noch brauchte. Der Mann zupfte sich ständig an seinem Bart, als hätte er Flöhe und sah dann nervös auf seine Frau, die ihm gegenüber saß. Sie hieß Berta, war drei Jahre älter als er und die berüchtigtste Pöblerin des Dorfs. Ihre Zunge war schneller als ihr Verstand, pflegte Inoka immer zu sagen. Inoka war die Krämersfrau und in ihrem ganzen Auftreten derb. Sie prügelte jeden in Grund und Boden, der ihr schief kam. Jetzt saß sie neben Berta und balancierte ihren Krug auf der rechten Hand.

Dennoch fanden sich dieses Mal auch zwei Soldaten, vier Töchter eines Bäckers, zwei Sängerinnen, eine wandernde Gelehrte und drei Reisende in diesem Raum ein. Neben den ständig anwesenden Prostituierten Sasuna, Mona, Sira und Eva, erhaschte man ebenfalls einen flüchtigen Blick auf Siegbert, den Gerber, Ivana, die Witwe, Lale, das Dienstmädchen einer reichen Verwalterfamilie, Sara, eine verlobte Witwe, Vigor, den stehlenden Bettler und Yortan und Ingolf, die beide ebenfalls als Verwalter in der Familie arbeiteten, in der auch Lale angestellt war.

„Es könnte schlimmer kommen“, meinte Emma gerade. Sie war eine der sieben Töchter des Wirts. Genau genommen war sie die Vierte und inzwischen die älteste hier noch lebende Tochter, denn sie näherte sich ihrem dreiundzwanzigsten Lebensjahr. Es war Tradition in Saitan-Heten, dass Frauen möglichst noch vor ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr verheiratet werden sollten, also suchten ihre Eltern gerade fieberhaft nach einem Ehemann für sie. Emma zeigte sich unbeeindruckt von allen Werbern und endete stets ohne Schleier über dem Kopf den nächsten Tag wieder im Schankraum ihres Vaters.

„Meinst du?“, antwortete Bruna daraufhin und seufzte. Das neunzehnjährige Mädchen war die sechste Tochter der Familie und stets hinter dem Tresen anzufinden. Sie kassierte und wusch nebenher das Geschirr, was für sie vollkommen ausreichend schien, denn sie beschwerte sich nie.

„Es war lange nicht mehr so voll“, stimmte Gerda ihrer älteren Schwester zu. Gerda war siebzehn und keinen Deut kindlich. Ihre ganze Art strahlte die Ruhe einer Erwachsenen aus, weshalb man sie oftmals für die Älteste hielt. Dabei war sie die Siebte.

„Und wo ist Erna schon wieder?“, maulte Bruna trotzig, um das Thema noch ein wenig hervorzuheben. Man brauchte viele Kellner bei so vielen Gästen, deswegen machte sich das Verschwinden der fünften Tochter des Hauses bemerkbar.

„Ich habe sie lange nicht mehr gesehen“, antwortete Emma und sah zu Gerda hinüber, die gerade dabei war – ebenfalls hinter der Theke – ein Gericht zu kochen, das Gram und Berta bestellt hatten.

„Das letzte Mal war vor zwei Stunden, Emma. Sie hat bestimmt wieder eine gewisse Gesellschaft gefunden“, bemerkte Gerda ruhig und wendete das Omelett in der Pfanne.

„Aber wen denn?! Sinpan wurde ihr langweilig, sie war Kanpans überdrüssig nach nur einer Nacht … Wenn Vater wüsste, was hier vorgeht …“, beschwerte sich Emma.

„Ich habe den einen Reisenden mit den hübschen braunen Haaren lange nicht mehr gesehen“, beantwortete Bruna die Frage ihrer Schwester.

„Simon?!“, erstaunte sich Emma und schnalzte anerkennend. Für so leicht hätte sie den Guten nicht gehalten, aber wer weiß, wie lange ihm die Lust des Fleisches abhanden gekommen war. Nach allem, was sie wusste, reiste er schon eine halbe Ewigkeit umher.

„Sie sind hinter den Ställen.“

Alle Drei drehten sich zu ihr um, als sie an der Theke ankam und ein Tablett leerer Krüge zum Abspülen lieferte. Bruna nahm die Gläser und legte sie vorsichtig in das Seifenwasser in die Spüle vor sich.

„HINTER den Ställen, bist du dir da sicher, Doro?“, fragte Emma und zog angeekelt die Nase kraus.

„Ja, hinter den Ställen“, meinte Dorothea ruhig und nahm das Tablett wieder in die Arme, bevor sie Anstalten machte, wieder die Gäste zu bedienen. Sie hielt inne und fügte noch hinzu:

„Lasst sie, sie wird schon den Richtigen finden. Aber auf ihre Art und Weise.“

„Auf ihre Art und Weise? Genau das macht mir ja Sorgen! Ich sehe es schon kommen! Eines Tages erscheint sie hier und behauptet, sie sei schwanger, bevor sie mit einem Wildfremden in die Wildnis zieht und sich aus Bambus ein Haus baut“, empörte sich Emma und schüttelte besorgt den Kopf.

„Und wenn schon, dann ist sie wenigstens verheiratet“, versuchte Bruna sie zu beruhigen.

„Und wenn schon?! Bruna, wie soll ich das Vater und Mutter erklären? Erna ist zwar schon zwanzig, aber sie war stets jeder Hilfe bedürftig, die man ihr bieten konnte!“

„Ach, komm schon, Emma-korona! Lass sie doch ihre Erfahrungen machen, wenn sie verheiratet ist, wird die Familie ihres Mannes für die beiden sorgen“, lachte Bruna und winkte die wilden Fantasien ihrer Schwester ab.

„Was ist, wenn der Mann keine hat und sie sich wirklich ein Haus aus Bambus bauen?!“, beschwerte sich Emma wieder.

„Ach was, selbst Erna wird merken, dass man sich dort nicht häuslich einrichten kann“, meinte Bruna lediglich und zuckte mit den Schultern.

„Aber ausprobieren wird sie es“, bestätigte Dorothea den Verdacht aller Schwestern und brachte die drei zum Lachen, weil sie sich alle vorstellten, einen Wald zu sehen, in dem eine heruntergekommene Bambushütte stand, durch deren Dach es tropfte, die bei jedem Windhauch wackelte und dass ihre Schwester versuchte, die Hütte gerade zu halten – möglichst mit selbstgesponnenem Garn.

„Das ist lächerlich! Auf, auf, an die Arbeit, Kinder!“, lachte Emma und wuselte sichtlich erleichtert in den Schankraum, um dort ihre Gäste zu bedienen.

„Manchmal führt sie sich echt auf, nur weil Sionar nicht da ist“, murmelte Bruna dem Spülbecken zu und Gerda schnaubte zustimmend. Dorothea rollte mit den Augen und ging Emma hinterher.

Aufmerksamkeit war hier gefragt, denn leere Krüge wollten aufgefüllt, Münder gestopft und Mägen gesättigt werden. Sie ging selbstsicher auf den erstbesten Tisch zu und lächelte die Kunden an – es waren Pel, der Sieber, Siegbert, der Gerber, und Josaran, der Schmied.

„Doro! Sieh an, wer gekommen ist, um zu feiern! Josaran, der feine Herr!“, rief Siegbert ihr leicht angeheitert entgegen.

„Das ist doch schön! Guten Abend, Josaran-inerar“, begrüßte sie den Schmied freudig. Es war über eine Woche her, seit er das letzte Mal hier gewesen war und er brachte immer viel Freude mit. Seine Geschichten waren meisterhaft und besaßen viel Witz.

„Abend, Doro-inaria, wie geht es dir?“, fragte er sie und lachte mit, als Pel sich bei ihm einharkte und laut zu singen begann. Der Schankraum war sowieso ziemlich laut, aber die Stimmung hob sich schlagartig, als jeder das Lied erkannte und mitbrüllte.

„Wie man sehen kann, sehr gut“, lachte sie und sammelte Pels und Siegberts leere Krüge ein, bevor sie zwinkernd fragte:

„Wie immer?“

„Wie immer“, bestätigte Josaran und fiel dann mit ins Lied ein. Dorothea ging lachend weiter und blieb bei Sara und Ivana hängen, den beiden Witwen. Die Zwei genossen gerade eine Flasche Wein, die ziemlich teuer gewesen war, aber die sie sich anscheinend hatten leisten können. Dreihundert Enai waren nicht umsonst für einige Familien unbezahlbar.

„Und? Ist’s schon besser?“, fragte Dorothea die beiden, die daraufhin zufrieden nickten und ihr zu prosteten. Mit einem geschäftsmäßigen Lächeln wollte sie gerade weitergehen, als eine tanzende Polonaise von Betrunkenen an ihr vorüberrauschte – natürlich laut singend. Donna, die zweitälteste Bäckerstochter, führte die Schlange an, gefolgt von Yortan und Bella. Es waren noch einige andere darunter, aber die Feiernden ließen sich nicht so schnell auseinander halten, als sie so an ihr vorübertänzelten.

Statt sich davon abhalten zu lassen, schlüpfte sie bei der nächstbesten Lücke auf die andere Seite und begrüßte Carina und Rina, die Donnas Schwestern waren. Elma, die jüngste der vier Bäckerstöchter, hatte sich ebenfalls in die Polonaise eingereiht und war daher nicht bei den beiden.

„Wie steht’s?“, fragte Carina sie und Dorothea nickte beiläufig, weil sie am Nebentisch, an dem die vier Prostituierten saßen, leere Gläser vorfand. Da bei den beiden Schwestern nichts zu holen war, entschuldigte sie sich und sammelte die Krüge ein. Mona klopfte anerkennend auf den Tisch und bestellte für die drei anderen und sich selbst einen Nachschub Bier.

„Aber sicher doch!“, bedankte sich Dorothea und grub sich geschickt einen Weg durch die Menschenansammlung, die durch die Polonaise nicht gerade aufgelöst wurde. Die fünf Krüge wackelten, erreichten ihren Zielort aber wohlbehalten, wo Bruna sich ihrer annahm.

Dorothea füllte noch einmal einige Krüge auf. Als sie diese auf das Tablett stellte, nickte sie anerkennend ob des riesigen Gewichts. Es waren sieben Einliterkrüge.

Mühsam drehte und tänzelte sie sich dann wieder in den Schankraum hinein zu ihren Gästen und stellte zunächst vor den drei Männern, dann vor den vier Frauen das Bier ab. Dorothea wollte sich gerade weiter ans Aufräumen machen, als die Polonaise sie einholte und mitriss. Als sie wieder klar denken konnte, fand sie sich in den Armen von Ingolf, dem Verwalter, wieder, der sich das Lied brüllend in der Schlange durch den Raum bewegte. Das Schubsen und Drängeln war nervig, aber sie musste es jetzt ertragen, denn die Leute liebten es, wenn Dorothea in einer der kundeninitiierten Aktionen mitmachen musste.

„Dorothea! Hier ist die gnädige Herrin, Himmel und Erde sind wie Brüder und Schwestern“, grölte Yortan vor ihr und alle sangen mit.

„Gib Acht, junge Dorothea, die Stunde ist nah, herbei eilen die Wächter der Nacht. Der Thron der Ewigkeit erwacht, erweckt von einer feiernden Schar!“, tönte es von überall her und Dorothea stöhnte innerlich. Von all den Trinkliedern hatten sie heute gerade dieses gewählt und veränderten es nach ihren Wünschen in etwas ungeheuer Missklingendes.

„Gläser bersten im Hall, Söhne trinkt Bier, dafür sind wir heute hier, wir feiern mit lautem Schall!“, reimte irgendeiner hinter ihr und alle wiederholten schreiend den Text, der nicht wirklich Tiefgründigkeit besaß und daher lediglich die allgemeine Feierstimmung untermalen sollte.

Mit der Schlange wurde sie durch den Raum gespült und sah Emma mit Erna schimpfen, die trotzig das Kinn vorschob und lauthals gegen anschrie, doch der Streit ging im Gebrüll der Masse unter, genauso wie das Eintreten von den neuen Gästen. Als Dorothea die fünf Männer bemerkte, war sie gerade nah genug, um sich ihnen als erste entgegenzustellen und als Kellnerin zu begrüßen. Sie schienen nicht von hier zu sein, denn ihre Kleidung war schmutzig und nass. Anscheinend waren sie auch gerade erst angekommen. Man konnte die Erschöpfung der Männer förmlich spüren.

Sie rammte Ingolf einen Ellbogen in den Magen und entschuldigte sich dafür, um es als Versehen abzustempeln, bevor sie aus der Schlange ausbrach und stolpernd einige Schritte vor den Neuankömmlingen stehen blieb. Außer Atem sah sie der Polonaise eine Weile nach, bis sie sich daran erinnerte, die Reisenden zu begrüßen.

„Guten Abend“, wandte sie sich den Fünfen zu, die sichtlich betreten im Eingang standen und sich umschauten. Sie schienen Lärm nicht gewöhnt zu sein.

Wie sollte man ihre neuen Gäste also beschreiben? Sie alle hatten schwarze Kapuzenumhänge aus feinster Wolle übergezogen und diese tief im Gesicht hängen. Vier von ihnen standen im Quadrat, je zwei nebeneinander. Davor stand ein mittelgroßer Mann, der vielleicht fünf Zentimeter größer war als sie. Obwohl alle von ihnen stark verschmutzt waren, wirkten sie doch wie die adeligsten Menschen, die sie je gesehen hatte.

„Hiandaan“, antwortete der Vorderste und ihr lief ein wohliger Schauer über den Rücken, als sie seine angenehm dunkle, samtige Stimme hörte. Das war aber nicht der einzige Grund, warum sie zunächst zögerte. Er sprach die Amtssprache Saitan-Hetens, Kiiama. Sie jedoch konnte nur ein kleines bisschen und musste diese Sprachbarriere erst einmal überwinden, denn normalerweise sprach jeder, der die Amtssprache als Mundart besaß, nichts anderes außer Kiiama.

„Hiandaan“, sagte sie schließlich und richtete sich stolz auf. Wenn sie schon nicht richtig sprechen konnte, sollten die Männer aber nicht von ihr denken, dass sie unfähig war. Mit gekünstelter Beherrschung warf sie jedem einen ruhigen, freundlichen Blick zu und wandte sich dann wieder an den Anführer der Truppe. Der sprach weiter in Kiiama:

„Sind hier noch fünf Räume frei?“

„Kommt, ruhiger ist hinten an Theke“, antwortete sie und schämte sich gleichzeitig für ihr gebrochenes Kiiama.

„Sicher“, erwiderte der Herr mit der samtenen Stimme und sein taktvolles Ignorieren ihres Mangels an Bildung ließ sie aufatmen. Sie führte die Fünf durch den Schankraum, dessen Besucher ihnen aber keine Aufmerksamkeit schenkten und daher gesellig weiterfeierten. Sie gingen um die Ecke, die den Schankraum von dem Raum mit der Theke abtrennte und sofort wurde es leiser. Dennoch bat Dorothea die Männer in einen weiteren Nebenraum, in dem normalerweise alle das Wirtshaus betreffende Geschäfte abgewickelt wurden, auch die Bezahlung von Räumen.

Dorothea bot den Männern die Bänke an, die an der linken und rechten Wand aufgereiht waren und ließ sich, nachdem die Fünf sich gesetzt hatten, ebenfalls auf einen Hocker sinken, der neben dem einzigen Tisch im Raum stand. Der Tisch selbst befand sich direkt rechts neben der Tür und ihr gegenüber war ein Regal mit Unterlagen und Schlüsseln.

„Also …“, begann sie wieder in Kiiama und warf noch einmal jedem einen Blick zu, bevor sie den Anführer wieder ansah.

„Sind hier noch fünf Räume frei?“, wiederholte dieser seine Frage und wieder schlich sich ein Schauer über ihren Rücken hinab.

„Räume frei? Ja“, antwortete sie und hoffte erneut, dass die Männer sie nicht auslachen würden, weil sie so schlecht sprach.

„Wir möchten gerne eine Weile hier bleiben und uns ausruhen“, fügte ein anderer an, der auf der linken Bank saß und seine Kapuze aus dem Gesicht gezogen hatte. Er war blond und sah ziemlich gut aus. Seinem Beispiel folgten drei weitere der Neuankömmlinge und zogen ihre Umhänge aus. Im Gegensatz zu ihm hatten sie aber kurze schwarze Haare. Auch sie besaßen eine gewaltige Ausstrahlung und konnten für jede Frau sicherlich äußerst interessant sein.

„Fünf?“, wiederholte sie die Zahl und stand auf. Mit vorsichtigen Schritten ging sie auf das Regal zu und überlegte eine Weile. Im Zweiten Stock waren noch zusammenhängende Zimmer frei. Das würde den Reisenden bestimmt gefallen, also wählte sie fünf Schlüssel aus und brachte sie zurück zum Tisch. Dort reihte sie diese ordentlich auf und drehte sich wieder ihren Kunden zu.

„Ein Tag und Nacht Zimmer 350 Enai.“

Innerlich zählte sie das Geld ab, das sie einnehmen würde. 350 und 350 und 350 und 350 und 350 pro Person waren …

„Hier habt Ihr 6 Sai und 400 Enai, das wird bis in vier Tagen reichen“, meinte der Anführer ruhig und legte die zehn Münzen auf den Tisch. Sie ärgerte sich, dass sie nicht schnell genug gewesen war, um seine Bezahlung sofort zu bestätigen, doch sie errechnete den gleichen Betrag und ließ daraufhin das Geld in die Kasse fallen, die sich im Tisch befand.

„Hier Schlüssel“, antwortete sie und reichte jedem von ihnen einen, bevor sie sich wieder erhob und dabei versuchte, so grazil wie möglich auszusehen. Mit einem Winken bedeutete sie den Reisenden, ihr zu folgen, dennoch wiederholte sie ihre Aufforderung:

„Folgen!“

Erst dann führte sie die Fünf an den erstaunten Schwestern vorbei, die zuvor im Lager gewesen waren und daher nichts von diesem Handel mitbekommen hatten. Gerda und Bruna hielten beide in ihrer Arbeit inne, um die Reisenden zu beäugen, doch als sie bemerkten, dass es nichts zu bemängeln gab, senkten sie mit einem „Guten Abend“ den Kopf auf ihre jeweilige Arbeit. Emma hingegen war wie Erna mit den anderen Gästen beschäftigt und hatte somit kaum Zeit, die Männer zu begrüßen. Sie führte schließlich in der Abwesenheit ihrer Eltern das Wirtshaus alleine.

„Wirt nicht da, verzeihen“, meinte Dorothea und ging den Herren voraus die Treppe hinauf in den Zweiten Stock. Die Treppenstufen knarrten vernehmlich und wieder schoss ihr eine Hoffnung in Form eines Satzes durch den Kopf: »Ich hoffe, das Knarren lässt sie nicht denken, dass ich zu dick bin.«

Eigentlich hatte sie jetzt nicht übel Lust, schnell hinaufzulaufen und oben zu warten, aber sie sprach sich gut Mut zu und hielt tapfer durch. Mit einem finalen Seufzer erklomm sie die letzte Stufe in den Zweiten Stock und steuerte in den Gang links von ihr. Sechs Türen waren dort gegenüber angebracht und führten zu sechs identischen Räumen. Sie würden nur fünf davon belegen, doch das hieß ja nicht, dass der sechste ebenfalls besetzt war.

„Hier Räume“, sagte sie und lächelte die fünf Männer offenherzig an. Der hübsche Blonde, der um die dreißig sein musste, lächelte kurz und steckte dann den Schlüssel mit der Nummer 18 in das Schloss der Tür Nummer 18. Mit einem kurzen Blick hinein versicherte er sich seiner Lage und nickte dann den anderen ermutigend zu. Bevor diese aber davongingen, um ihre Zimmer zu beziehen, meldete sich Dorothea noch einmal zu Wort:

„Waschen, ihr, Bad da hinten. Kleidung waschen, Wäsche in Korb hier.“

Damit zeigte sie erst auf die Tür am anderen Ende des Ganges und dann auf einen selbst geflochtenen Holzkorb, in dem die Wäsche der Gäste in den Waschraum gebracht wurde. Das war eine Dienstleistung, die nicht jeder zu erwarten hatte und Fandenstars Wirt war sehr stolz darauf. Dafür bekam man dann neue Kleidung auf das Zimmer gebracht.

„Ihr wascht unsere Wäsche?“, fragte einer der jüngeren Männer.

„Ja.“

„Und was sollen wir dann anziehen?“, lachte ein Anderer und winkte ab, doch Dorothea sah ihn ernst an und sagte dann mit einem geschäftsmäßigen Lächeln:

„Neue Kleidung auf Zimmer, keine Sorge.“

Bevor noch einer der beiden einen unintelligenten Spruch ablassen konnte, wandte sich der Anführer der Gruppe an sie und meinte:

„Ich danke Euch. Wir nehmen das Angebot an.“

„Wenn Fragen, zu mir kommen. Keiner Kiiama sprechen. Ich Dorothea“, antwortete sie lediglich und verneigte sich dann respektvoll vor den Fünfen, bevor sie den Gang entlang ging und sich ins Treppenhaus wandte. Sie ärgerte sich nicht einmal über die Zwei, die sich über sie lustig gemacht hatten, so sehr war sie darauf fixiert nicht loszulaufen, um Emma, Erna, Bruna und Gerda alles zu erzählen.
 

Das Zimmer war nicht luxuriös eingerichtet, es passte eher zu den enthaltsamen Priestern der Göttin Ismira. Es war nicht weiß, aber darüber war er mehr als nur froh. Anscheinend hatte hier noch niemand bemerkt, dass sie Drachenreiter waren, worüber er ziemlich erleichtert war, denn noch ein Fest zu Ehren der Helden des Tages – wie man sie immer nannte – hätte er wahrscheinlich nicht ausgehalten.

Ihm war es lieb, dass er seine strenge Uniform ausziehen konnte und sich nicht einmal selbst um ihre Erhaltung kümmern musste. Die Kellnerin hatte ihnen schließlich angeboten, die Kleidung für die Fünf zu waschen. Das fand man nicht in jedem Gasthaus, deswegen war er erstaunt aber dankbar, als dieses Angebot gekommen war.

Das heiße Bad hatte ihm seine Lebensgeister zurückgegeben und er konnte sich endlich wieder strecken, ohne das Gefühl zu haben, sich dabei jeden Knochen zu brechen. Die Kälte des Frühjahrs hatte ihm während des Ritts schwer zu schaffen gemacht, obwohl er noch feste Winterkleidung getragen hatte. Ihm war schon früher zu Ohren gekommen, dass es im Osten immer noch lange kalt war, wenn in der Hauptstadt Saitan-Hetens bereits der Frühling ausgebrochen war.

Vlaindar seufzte. Innerlich wappnete er sich bereits der Aufgabe, einen ausgiebigen Bericht über die gewonnene Schlacht ein wenig südlich von hier zu verfassen. Der König wollte jede Einzelheit wissen und wurde wütend, wenn ihm etwas vorenthalten wurde, daher war das Berichteschreiben eine der Aufgaben, die als unbeliebt galten.

Er stieß sein Reisegepäck auf den Boden mit dem Fuß neben einen schmalen Tisch mit kleinem Hocker und streckte sich dann auf dem Bett aus. Das Handtuch, das er sich notdürftig um die Hüften geschlungen hatte, löste sich und hing nur noch schlaff in Form, weshalb er sich seiner ganz erledigte, um sich danach gemütlicher hinzulegen. Die weichen Kissen waren atemberaubend und er wusste so ungefähr, dass die Jungs seiner Garde in den Zimmern neben ihm, bald oder bereits genauso von ihnen schwärmten wie er.

Müde schloss er die Augen und versenkte sein Gesicht im Kopfkissen, während er die Arme links und rechts neben seiner Hüfte liegen ließ. So bäuchlings ausgebreitet, döste er eine Weile vor sich hin und dachte an die vergangenen Tage und an die neuen Erkenntnisse, die er gewonnen hatte. Dabei schweiften seine Gedanken ab und er konzentrierte sich ungewollt auf den Lärm aus dem Schankraum.

Die Polonaise musste immer noch unterwegs sein, denn das Getrampel von schweren Stiefeln wummerte durch das gesamte Gebäude. Außerdem sangen die Gäste immer noch, sie brüllten eher, einige Trinklieder. Obwohl Vlaindar sich für die Liedtexte interessiert hätte, war ihm dies verwehrt, da er diese seltsame Mundart nicht verstand. Er konnte nicht einmal ansatzweise einen Zusammenhang zwischen dem östlichen Dialekt und der Amtssprache erkennen, die eigentlich zu jeder Ursprungssprache von Saitan-Heten Ähnlichkeiten besitzen sollte.

Lautes Gelächter brandete durch den Fußboden und unter lautem Jubel wurden Glaskrüge auf den Tisch geschlagen. Vlaindar ließ sich noch ein bisschen tiefer sinken, oder eher ließ er seinen Geist noch ein bisschen tiefer sinken, sodass er das Gefühl hatte, selbst im Schankraum zu stehen. Er hörte die älteren Menschen, die in der Ecke gesessen hatten, über irgendetwas schwer beschäftigt reden – ihre Aufregung drang zu ihm hindurch. Daneben waren ein paar Männer am protzen. Der Eine hielt gerade eine Rede und das Staunen, das von seinen Partnern zu ihm hinüber wehte, konnte man beinahe auffangen.

Und dann hörte er es. Es war plötzlich da und überrumpelte ihn. Ein Lachen, das ihn ebenfalls erheiterte. Er wusste nicht wieso, aber eine Welle der Fröhlichkeit schwappte über ihn hinweg und er seufzte selig, als er erkannte, von wem es kam.

Die Kellnerin, die sie auch zu ihren Zimmern geführt hatte, schien sich prächtig zu amüsieren, denn zusammen mit drei anderen Frauen lachte sie herzhaft. Aber es war keine dieser belastenden Lachen, sondern eine vollkommen freie, schöne Art. Vlaindar hatte ihre Stimme direkt erkannt, weil ihm bereits bei dem kurzen Gespräch eine Besonderheit in ihr aufgefallen war: Sie klang sinnlich aber unschuldig und das war anziehend. Zumindest hatten das Famiran und Mikanor später ebenfalls behauptet und die beiden waren schließlich Experten, was Frauen anging.

Das war der perfekte Übergang, um an die Garde zu denken, deren Anführer er war. Als neustes Mitglied zählte hierbei Famiran, ein vierundzwanzigjähriger Jungspund mit viel zu viel Energie in den Adern. Der Gute hatte vier Jahre lang in einer Schattengarde in Mernen gedient und dabei ziemlich viel Aufsehen erregt. Daraufhin hatte man ihn zu den Sturmjägern der Hauptstadt beordert – das war nun schon ein Jahr her.

Ein halbes Jahr vor Famiran war Mikanor zu ihnen gestoßen. Der Mann hatte sich in einer Schlacht als fähig genug bewiesen, den Sturmjägern beizutreten. Er war wie beinahe jeder Drachenreiter in dieser Garde ein Genie seines Berufs und noch ziemlich jung. Genau genommen sechsundzwanzig und ein halbes Jahr – letzteres war ihm sehr wichtig zu erwähnen, weil alle ihn wegen seines kindlichen Gesichts für jünger hielten. Im Gegensatz zu dem äußerst schamlosen Frauenliebhaber Famiran, besaß Mikanor jedoch die Ehre und den Verstand, Respekt gegenüber seinen Liebhaberinnen zu zeigen. Was kaum jemand wusste, was Vlaindar aber übermittelt bekommen hatte, war, dass Mikanors Verlobte Kiria in Ivenstar, der Hauptstadt des Marnaim-Bezirks, auf eine Hochzeit wartete. Sie wusste nur nicht, dass er sich in Saitan anderweitig orientierte und köstlich amüsierte.

Noch vom alten Kader übernommen war der achtundzwanzigjährige Keoran. Ein schweigsamer aber loyaler Typus, der seinen Ruhm im Stillen feierte. Er galt als beliebtester Novizenlord, weil er sich wenig in die Ausbildung seiner Schützlinge einmischte und nur selten anwesend war, um Probleme mitzubekommen. Dank des Königs reisten Vlaindar, Palinor und er ziemlich häufig als Botschafter durch das Land, aber das war nichts Schlimmes. Ganz im Gegenteil: Vlaindar mochte den Mann und respektierte ihn sehr.

Als ältestes Mitglied der Garde zählte wohl Palinor, der ebenfalls noch aus der alten Sturmjägertruppe übernommen worden war. Als Vize-General badete er sichtlich in der geschätzten Aufmerksamkeit König Ressotas, was seiner Frau unglaublich gefiel. Er war bis jetzt der Einzige, der geheiratet hatte, aber man munkelte, dass Keoran eine heimliche Liebe pflegte, die bald in einer gewaltigen Hochzeit ausarten würde. Palinor war als einziger Sturmjäger blond und zog somit ungewollt jede Menge Aufmerksamkeit vor allem von weiblicher Seite auf sich.

Der letzte der fünf Mann starken Garde war Vlaindar selbst und er war mehr als nur stolz darauf, dass er vor drei Jahren die Führung über eine so disziplinierte Gruppe übernehmen durfte. Deswegen strengte er sich auch an, damit ihm niemand nachsagen konnte, dass die Entscheidung des Königs, ihm eine so hohe Position zukommen zu lassen, falsch gewesen war – oder schlimmer: unweise und irreversibel.

Aber er lenkte sich vom Thema ab. Famiran und Mikanor waren Frauenkenner und wenn selbst die beiden meinten, dass dieses Mädchen wie ein Gänseblümchen zwischen Löwenzahn war, dann hatte sie in gewisser Weise etwas an sich, was auf beide faszinierend wirkte.

„Warum muss ich jetzt unbedingt daran denken?“, fragte er sein Kissen und konzentrierte sich wieder auf den Schankraum unter sich. Es hatte sich kaum etwas geändert, das Trinklied vielleicht. Er hörte vier Frauen übertrieben laut auflachen, was schon zu falsch klang, als dass man es nicht erkannte. Kräftige Männerstimmen grölten plötzlich los und jemand rief unter lautem Beifall und Bierkrug-Klirren etwas in die Runde.

„Frustrierend“, meinte Vlaindar, als er schon wieder nicht verstand, worum es gerade in den Gesprächen der Dorfbewohner Fandenstars ging. Aber er musste erneut die Ohren spitzen, als ihm das Lachen der Kellnerin wieder entgegenhallte.

Diese Kellnerin war Gesprächsthema Nummer eins zwischen den beiden Frauen liebenden Drachenreitern gewesen. Famiran hatte ihr Aussehen mit den feinsten Worten umschrieben:

„Zarte, rosige, weiße Haut, in die man einfach nur zwicken will. Diese Lippen sind schöner als die meiner Mutter und die war göttlicher als Ismira!“

Daraufhin hatte Palinor laut geprustet und sich einen bösen Blick eingefangen. Es war einfach nur zu komisch, eine junge Frau mit seiner eigenen Mutter zu vergleichen. Deshalb hatte der Älteste unter ihnen gelacht, aber Famiran hatte es natürlich so aufgenommen, als dass sich Palinor über die Lippen seiner Mutter lustig machte. Mikanor hatte sich daraufhin eingemischt und weiter geschwärmt:

„Habt ihr diese kupferfarbenen Locken gesehen? Im Licht des Schankraums sahen sie eher braun aus, aber sobald sie in die hellere Küche kam, waren sie rot. Fantastisch. Stell dir vor, du fährst deine Finger durch ihr Haar …“

Palinor hatte Vlaindar erst nachher von diesem Gespräch erzählt, da der Anführer nicht gern mit anderen gemeinsam badete. Doch allein bei der Vorstellung, dass die beiden Gardenneulinge einen Narren an einer „Dorfschönheit“ gefressen hatten, musste Vlaindar lachen. Er konnte zwar nur wenig über Frauen sagen, aber er hatte auch in seinem zölibatären Zustand durchaus seine eigene Meinung.

Soweit sein Vize und er das nämlich sahen, war an ihr nicht viel Besonderes dran. Sie schien eher normal zu sein – beinahe zu normal um schön zu sein. Auf jeden Fall konnte sie kaum die anderen Schönheiten übertreffen, die es beispielsweise in der Stadt gab. Man konnte kein Gänseblümchen zwischen Rosen stellen und behaupten, es sähe neben der Farbpracht göttlich aus. Natürlich würde ein Gänseblümchen auffallen, aber die Auffälligkeit machte eine Blume nicht unbedingt schöner. So verhielt es sich auch hier.

„Aber das sage ich besser nicht Famiran oder Mikanor. Die beiden wären sofort empört ob meines Geschmacks“, kicherte Vlaindar wieder in sein Kissen. Nein, das Mädchen kam kaum seiner idealen Frau gleich. Sie hatte eher rötliche Haare und er mochte blonde mehr. Sie war klein, dabei wollte er die Frauen eher groß – ihm war es tatsächlich egal, dass groß gleichzeitig auch bedeutete, größer als er selbst. Außerdem hatte sie seltsame Augen. Sie waren gelblich aber ziemlich tiefgründig, was auf einen wachen Geist schließen ließ. Das wiederum schreckte ihn eher ab, denn Frauen gehörten seiner Meinung nach Zuhause unter den Schleier an den Herd. So einfach war es. Intelligente Frauen machten zu viele Probleme, weil sie von allein dachten und handelten, wie es ihnen gefiel. Doch am auffälligsten war die Tatsache, dass sie dünn war. Dünn bedeutete ärmlich. Frauen mussten rundlich sein, denn das zeigte, dass sie genug zu essen bekamen. Rundlich, aber nicht dick. Dick würde wiederum heißen, dass sie nur ungesund aßen. Außerdem sollten sie immer in feine Kleidung gehüllt sein, möglichst mit ein wenig Schmuck, aber zu seinem Bedauern, trug das Mädchen weder ersteres noch letzteres und ließ sich dadurch in seiner Wertung noch weiter herab.

Morgen musste er den beiden Männern dringend sagen, dass sie keine Zeit auf ein solches Mädchen verschwenden sollten, weil es hunderte Frauen gab, die ihrer mehr Wert waren als diese Kellnerin. Sie hatte noch nicht einmal nennenswerte Rundungen entwickelt, auf die sich das Interesse der meisten Männer gerichtet hätte. Sie war zu kindlich für die ausgewachsenen, anspruchsvollen Drachenreiter, die es liebten, auf Jagd zu gehen. Famiran und Mikanor genossen die Zeit, die sie dazu aufbringen mussten, eine Frau von sich zu überzeugen, weshalb Vlaindar ihnen ihre Späße ließ, denn ihnen war es – wenn auch nur für kurze Zeit – ernst mit den Frauen. Aber hier hatte er das ungute Gefühl, einem derben Spaß auf die Schliche zu kommen. Das wollte er einem so jungen Mädchen nicht antun.

Mühsam richtete er seinen Gedanken auf das Gespräch, das er mit seinen Männern führen würde und suchte verzweifelt nach Worten. Als ihm dies gelang, war er bereits so erschöpft, dass er kurz darauf genauso einschlief, wie er sich auf dem Bett ausgestreckt hatte.

Language

Dorothea wischte die Theke noch einmal sauber, obwohl sie bereits blitzblank und kein Krümel mehr darauf zu sehen war. Den Lappen warf sie in die Spüle, bevor sie wieder den Teig überprüfte. Sie leckte ihren Zeigefinger ab und nickte. Der Kuchen würde mit den richtigen Äpfeln wieder einmal gut gelingen.

Hinter ihr im Ofen befanden sich bereits seit geraumer Zeit vier Apfelkuchen und erfüllten den Raum mit köstlichem Duft. Doch da ihr die Äpfel ausgegangen waren, hatte sie nicht weitermachen können und musste nun auf die wöchentliche Wagenladung Frischware warten. Erst dann konnte sie weiterbacken.

Emma und Erna waren bereits in die Pferdeställe gegangen, um diese auszumisten, denn das hatte niemand seit zwei Wochen getan, daher wurde es langsam Zeit. Bruna war zum Neuigkeitenbrett des Dorfs gelaufen, um zu sehen, ob bald etwas stattfand, auf das man sich vorbereiten musste. Gerda war noch nicht aufgestanden, aber das sah man ihr nach, da sie die letzte der Frauen gewesen war, die ins Bett gesunken war. Kurz gesagt: Dorothea war die Einzige hier.

Der Schankraum war menschenleer und wirkte beinahe trostlos ohne den abendlichen Lärm, weswegen sie sich eilig an die Arbeit gemacht hatte, um sich nicht einsam zu fühlen. Sie hatte so eine Angewohnheit entwickelt, sich einsam zu fühlen, wenn sie alleine in einem Raum war und auf irgendetwas wartete.

Mit einer schwungvollen Bewegung schob sie sämtliche gespülte Gläser Richtung Geschirrschrank und trocknete dann weiter ab. Erst als sie alles aufgeräumt hatte, seufzte sie zufrieden und widmete sich wieder dem Apfelkuchen. Er sah schon fast fertig aus.

„Hallo? Die Wagenladung ist da!“, hörte sie eine Stimme aus dem Schankraum und ihr Herz machte einen Satz. Da waren endlich die frischen Nahrungsmittel!

„Danke, ich komme!“, rief sie zurück und beeilte sich, den Geldbeutel zu holen und schnell hinaus in den Hof zu laufen. Es war der gleiche Händler wie sonst auch immer: Ein junger Mann Mitte zwanzig mit schwarzen Haaren und dunkelblauen Augen. Er war rundlicher als normale Bauern oder Handwerker, was auf seinen besseren Status hinwies, denn als Kaufmann hatte man logischerweise mehr Geld zur Verfügung als andere.

„Hallo“, begrüßte er sie noch einmal freundlich und deutete dann geschäftsmäßig auf seinen Planenwagen hinter sich. Daran machten sich ein paar Burschen zu schaffen, die einige Holzkisten neben ihnen aufreihten und stapelten. Sie nickte nur als Erwiderung und wartete ab, bis die beiden Gleichaltrigen fertig waren und die Ware vorgezeigt wurde.

Auch dieses Mal konnte sie keinerlei Makel an den Früchten oder dem Gemüse sehen. Das Fleisch war gepökelt und der Wein gut verschlossen. Das Bier war zweckgemäß in großen Fässern geliefert worden, roch gut und ausgereift.

„Fein, das ist alles und es ist wie immer gut“, sagte sie bestimmt und sah dem Mann in die Augen, der ob ihrer Direktheit zurückschreckte. Insgeheim zuckte sie wegen seiner Reaktion zusammen, doch nach außen hin zeigte sie nicht, dass er sie verletzt hatte. Dorothea wusste, dass es nicht fein war, Männern mit Bestimmtheit und Direktheit entgegenzutreten, da diese sich schnell so fühlten, als hätte man das Ruder an sich gerissen. Ein Mann ohne den Oberbefehl über die Frau war wie ein Mann ohne Männlichkeit, pflegte Inoka immer zu sagen und sie behielt jedes Mal Recht.

„Das macht drei Sai, wie jede Woche“, murmelte er und streckte hastig die rechte Hand aus. Der junge Mann kam jede Woche in der Hoffnung, Bruna wieder zu treffen, die ihm nur einmal das Geld gereicht hatte und in die er sich sofort verliebt hatte. Doch seine Aufdringlichkeit hatte das Mädchen verschreckt, weshalb es diese Aufgabe direkt an Dorothea abgetreten hatte.

„Bitte sehr“, meinte sie und gab ihm die drei Goldmünzen. Dann wartete sie, bis er und seine Burschen in den Planenwagen eingestiegen waren und davon fuhren, bevor sie sich den Holzkisten zuwandte. Es würde eine Zeit lang dauern, all das in das Lager neben dem Wirtshaus zu tragen, vor allem weil sie nicht besonders stark war.
 

Vlaindar ging die Treppe hinab und blieb unschlüssig im Raum mit der Theke stehen. Er hatte sich noch schnell einige Blätter Pergament, eine Feder und Tinte unter den Arm geklemmt, bevor er hinunter gegangen war, denn er wollte sich nicht unnötig vor dem Unausweichlichen drücken: Je schneller er den Bericht fertig schrieb, desto schneller war diese Aufgabe schließlich erledigt und er konnte sich ganz aufs Erholen konzentrieren. Wenigstens wollte er noch genug Zeit zum Entspannen haben, bevor man ihn und die anderen Drachenreiter in die Hauptstadt beorderte.

Sollte er sich also in den Schankraum setzen und dort bei einem schönen Frühstück den Bericht verfassen? Draußen stürmte es seit einer Stunde und er wollte nicht unbedingt zu seiner Drachendame Hairima auf die Weide rennen müssen.

Ein Schnaufen lenkte seine Aufmerksamkeit Richtung Theke. Eine der Kellnerinnen stand dort. Wüsste er es nicht besser, würde er sagen, sie sei die Älteste, aber die anderen Frauen hatten sie behandelt wie eine der Jüngsten, also musste seine Einschätzung relativ weit daneben liegen. Das Mädchen (oder eher die Frau) hatte die Ärmel hochgeschoben und schnitt Gemüse – es sah verdammt nach Karotten aus und er mochte diese gar nicht.

„Hiandaan“, begrüßte er die Frau und sie zuckte zusammen, bevor sie hastig den Blick hob und ihn zweifelnd musterte. Dann huschte ihr Blick unsicher durch den Raum und mit einem Seufzer stellte sie fest, dass niemand anderes gemeint sein könnte, also antwortete sie zaghaft und leise – was ganz im Gegensatz zu ihrem erwachsenen Aussehen stand:

„Hi-, Hiandaan.“

Vlaindar nickte und rückte ein wenig näher, um sich ein Frühstück zu bestellen. Doch dann fiel ihm wieder die Warnung der jungen Kellnerin ein: Außer ihr schien keiner Kiiama zu sprechen. Dennoch versuchte er es:

„Kann ich einen Tee haben?“

Die Frau sah ihn wieder zweifelnd an und blickte erneut beunruhigt zu den Türen hinüber, als würde sie nach Hilfe suchen. Erst dann zuckte sie entschuldigend die Schultern und bedeutete ihm mit einer Hand auf der Kehle, dass sie seine Sprache nicht konnte. Er stieß einen langen erschöpften Seufzer aus und probierte es noch einmal anders:

„Essen? Tee?“

Wieder schüttelte sie den Kopf und wirkte immer verunsicherter. Hektisch warf sie das geschnittene Gemüse in eine Schale und senkte ihre ganze Aufmerksamkeit auf diese Arbeit, was Vlaindar signalisierte, dass sie nicht mit ihm reden wollte. Ein wenig empört aber verständnisvoll wollte er sie gerade rügen, hielt sich aber davon ab, weil das vergeudete Mühe gewesen wäre. Er dachte ein wenig darüber nach, wie er die Frau dazu bewegen sollte, ihm einen Tee auszuhändigen, als ihm wieder einfiel, wie die Kiiama sprechende Kellnerin hieß, also wandte er sich erneut an das Mädchen vor ihm:

„Dorothea?“

Sofort schaute es auf und ein nachdenklicher Ausdruck legte sich über sein Gesicht. Die Frau schien ihn verstanden zu haben und überlegte eine lange Zeit, bevor sie alle Arbeitsutensilien beiseite legte und ihm mit einer Handbewegung bedeutete, dort zu warten. Dann eilte sie davon und ließ ihn im Raum stehen.

Vlaindar musste nicht lange warten, denn Dorothea schien nicht weit weg gewesen zu sein. Die beiden Frauen waren dennoch außer Atem, als hätten sie eine Hetzjagd hinter sich gehabt. Das Mädchen, das seine beiden Mitdrachenreiter als Schönheit bezeichneten, hatte im Licht des Tages und der Lampen des Raums wieder rote Haare, die ihr ganzes Wesen wild aussehen ließen. Ihre klugen Augen waren auf ihn gerichtet und mit einem Lächeln auf den Lippen sagte sie:

„Hiandaan!“

„Hiandaan“, begrüßte er sie und neigte leicht den Kopf. Dann sah er sie wieder geradeheraus an, was sie nicht im Geringsten zu stören schien, vielmehr wirkte sie erleichtert und ein wenig … eingeschüchtert?

„Was tun?“, fragte Dorothea ihn dann und spielte mit ihrem Pferdeschwanz, den sie sich im Nacken mit einer Schleife zusammengebunden hatte. Das Band hatte eine himmelblaue Farbe und genauso konnte man das Wollkleid beschreiben, das sehr einfach gestaltet war, sich auch nicht perfekt ihrem Körper anpasste. Auf ihren Schultern bemerkte er einige Wasserflecken und auch ihre Haare waren nass, was darauf schließen ließ, dass sie mit der anderen Frau durch den Regen gelaufen war. Erkälteten sich Landbewohner nicht?

„Kann ich einen Tee bekommen? Und vielleicht Frühstück?“, wiederholte er seine Fragen von eben und sah die Kellnerin neugierig an. Sie nickte und wandte sich dann von ihm ab, bevor sie anfing, Käsewürfel, Obststücke, Gebäck und zwei Milchbrötchen auf einen hölzernen Teller zu schichten. Den schob sie auf die Theke und setzte dann Wasser in einer blechernen Kanne über der Feuerstelle auf.

„Neue Ladung nicht verstaut, nur Apfeltee hier. Gut?“, rief sie ihm über den Kopf der Anderen zu und er nickte. Apfeltee hatte er zwar noch nie getrunken, aber er mochte diese Obstart im Allgemeinen – solange Palinors Frau Sedara beim Kochen nicht ihre Finger im Spiel hatte, mochte er generell alles.

„Früh heute, Feldar“, versuchte sie ihn in ein Gespräch zu verwickeln, was ziemlich mutig war, angesichts ihrer fehlervollen Grammatik. Aber andererseits … Wie sollte sie sich verbessern, wenn sie kaum Gelegenheit zum Sprechen bekam? Er dachte außerdem darüber nach, wie sie ihn angesprochen hatte. Feldar. Feldar war die Bezeichnung für einen adeligen Herrn, von dem man den Familienstand nicht wusste. Aber wie kam sie darauf, dass er adelig war? Natürlich! Seine Kleidung, die in der Wäsche gelandet war!

„Ich war nicht müde und habe außerdem noch Arbeit zu verrichten, Dorothea-inaria“, entschloss er sich bei ihr einfach einmal zu sagen. Doch sie schien nicht abgeneigt, denn sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln, bevor sie einen neugierigen Blick in den Ofen richtete. Er beobachtete sie und musste anerkennend eine Augenbraue heben, als er einen köstlichen Duft wahrnahm, der ihm sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Einige Kuchen schienen eindeutig fertig zu werden und verströmten eine heiße Verlockung auf einen süßen Geschmacksrausch.

„Arbeit? Nicht ruhen?“, fragte sie mit einem wissenden Lächeln. Natürlich war einer so scharfsinnigen Frau nicht entgangen, dass er unglaubliche Lust auf ein Stück Kuchen verspürte.

„Ein Bericht, nichts Schlimmes“, winkte er ab und trat ungeduldig von einem Bein aufs andere, bevor er sich kurzerhand dazu entschloss, seinen Teller zu nehmen und sich im Schankraum an einen dieser leeren Tische fallen zu lassen. Mit einem kurzen Zucken seiner Mundwinkel griff er nach der Holzschale und balancierte hinüber in den anderen Raum, in dessen Feuerstelle ein wärmendes Feuer brannte. Dort angekommen setzte er sich an die dem Thekenraum gegenüber befindlichen Wand und breitete seine Unterlagen dort aus. Einen Stapel leere Papiere legte er links neben sich, das aufgeschraubte Tintenfass stellte er sich gegenüber hin und seine Feder rechts. Noch ein bisschen weiter rechts legte er die Ersatzfeder hin. Sein Teller fand seinen Platz links neben dem Tintenfass, woraufhin er sich gleich erst einmal ein paar Obststückchen stibitzte.

Vlaindar machte sich widerwillig an die Arbeit und wünschte sich teilweise sogar, dass jemand ihn ablenken möge. Es war einfach zu mühsam, einen detaillierten Bericht über eine riesige Schlacht zu schreiben, zumal ihm wirklich nicht alles aufgefallen war und ihm sicherlich einige Dinge durchaus entgangen waren. Oder entschlüpft, was noch schlimmer war, denn sein Gedächtnis ließ ihn wirklich manchmal im Stich. Nicht, dass er alt gewesen wäre, aber mit dreiundzwanzig war man zur Ruhe gekommen und hechelte nicht überall hektisch umher, um auch ja alles mitzubekommen.

Vlaindars Hand huschte über ein Blatt und hinterließ fein säuberliche und gerade Reihen der Schrift, die zur Amtssprache gehörte. Man konnte die Mundarten auch in dieser Schrift schreiben, aber generell verfasste kaum jemand einen Text, der in einer der Mundarten war, denn die arme Landbevölkerung hatte besseres zu tun, als zu lesen. Es dauerte nicht lange, da hatte er bereits die Hälfte des Papiers voll geschrieben und war noch nicht einmal bei Kriegsbeginn, was ihn wiederum zum Seufzen brachte.

Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen und als er den Kopf hob, bemerkte er, dass die Kellnerin einen Becher und eine Kanne mit Untersetzer neben seinen Teller gestellt hatte. Als sie seinen Blick bemerkte, lächelte sie und sagte:

„Apfeltee. Mit Landhonig! Schmeckt!“

Er hätte beinahe losgeprustet, als sie ihm mit leuchtenden Augen erzählte, dass das Getränk schmeckte. Es war fast so, als würde sie ihm sagen, dass es ihm auch schmecken sollte oder dass sie beleidigt sei, wenn es ihm nicht mundete.

„Danke“, antwortete er ruhig und wollte sich schon wieder seiner Arbeit zuwenden, doch ihm fiel auf, dass sie nicht fort ging, sondern einfach dort stehen blieb. Mit erhobener Augenbraue sah er sie an und runzelte die Stirn, als er ihren Gesichtsausdruck entzifferte.
 

Dorothea besah sich das Blatt. Sie hatte noch nie jemanden gesehen, der öffentlich schrieb, also war dies für sie neu und spannend. Die Schrift war wirklich hübsch mit vielen Kreisen und Schnörkeln. Man könnte beinahe sagen, man verfolgte das Spiel des Wassers, denn die Wellen und Tropfen und Kreise und Schnörkel sahen aus wie eine sich bewegende Wasseroberfläche. Nun ja, poetisch gesehen.

Ihr Vater hatte ihr einmal erzählt, dass außer der gebildeten Bevölkerung nur die Stadtbewohner wussten, wie man einen Text verfasst. Also hatte er es nie für nötig gehalten, sie in eine Schule zu schicken, denn brauchen würde sie dieses unnütze Talent nie. Er schien es auf jeden Fall bereut zu haben, die Schriftsprache zu erlernen. Dennoch hatte er seine jüngeren Töchter aufgrund von besseren Heiratsaussichten zur Dorfschule geschickt, wo sie auch noch heute fleißig lernten, was Dorothea nie lernen würde. Chana war es sogar ermöglicht worden, in ein Tempelkloster zu gehen!

Widerwillig musste Dorothea zugeben, dass der einzig wahre Grund dafür war, sie nicht in die Schule zu schicken, der vorherrschende Geldmangel gewesen war. Stattdessen hatte sie bei den Dorffrauen gesessen und jahrelang handwerkliche Geschicke erlernt, um ihren Mangel an Bildung auszugleichen. Während sie also mit ihren gesunden Brüdern und ihren Eltern für den Lebensunterhalt sorgte, konnten Chana, Vila und Mora-Haina sich Pluspunkte besorgen. Manchmal fürchtete sie sogar, dass nur ein ganz armer Bauerssohn Interesse für sie hegen konnte, weil heutzutage jeder nach Bildung schrie. Sie hasste den Spott und die triefende Verachtung der anderen für ihr Unwissen. Doch weinen würde sie deshalb nicht, das hatte sie sich schon früh geschworen.

„Was?“, fragte der Mann mit der schönen Stimme. Sie war sichtlich erstaunt gewesen, als er heute Morgen ohne Umhang in den Raum gekommen war, denn sie hatte gedacht, er gehörte zu den Menschen, die niemals ohne Bedeckung in die Öffentlichkeit gingen. Aber ihr sollte es nur recht sein, weil sie ihn nun betrachten konnte. Was sie sah, gefiel ihr.

Ein junger Mann, kaum älter als zwanzig, ohne Bart und sonstige überflüssige Haaransammlungen, vielleicht 5cm größer als sie und schlank, was vor allem seine mittelmäßig ausgeprägte Muskulatur hervorhob. Das bedeutete, dass er kein Berufskrieger war, aber dennoch fähig zu kämpfen. Allein deshalb war er in ihrer Attraktivitätsskala höher angeordnet als andere Männer. Außerdem war er braunhäutig und nicht so eklig käsig wie andere Edelmänner, die der Meinung waren, weiße Haut sei Charakteristik für einen hohen Status. Bis hinab auf seine Schultern fiel sein braunes glattes Haar und unterstrich fabelhaft seine wunderschönen schokoladenbraunen Augen. Sie musste ja nicht extra erwähnen, dass sie Schokolade liebte. Kurz: Er war ein Meisterwerk eines gut aussehenden Mannes und am liebsten hätte sie ihn eingeladen, länger zu bleiben als nötig.

„Schrift schön“, murmelte sie als Antwort und deutete unsicher auf den Zettel, den er vor sich hatte. Hoffentlich war ihm nicht aufgefallen, dass sie ihn länger als üblich angestarrt hatte und vollkommen verwirrt vom Thema abweichen wollte.

Der Edelmann stutzte, fing sich aber schnell wieder und schwieg eine Weile, während er seine eigene Schrift betrachtete. Erst dann sagte er:

„Danke.“

Das Gespräch war abgewürgt und somit konnte er weiter schreiben, was er auch tat, ohne sie noch einmal eines Blickes zu würdigen, doch sie brauchte das auch nicht. Sie befand einfach für sich selbst, dass der Dank Einladung genug gewesen war, sich hinzusetzen, was sie nun auch tat.

Mit in den Händen aufgestütztem Gesicht beobachtete sie, wie die Feder über das Pergament kratzte und ein Meer aus Tinte hinterließ. Wellen, Kreise, Schnörkel und ein Punkt wie ein Tropfen folgten dem Schreibgerät auf die Spitze und verträumt stellte sich Dorothea vor, ein Schiff segelte die Rundungen hinauf und würde in einem Sturm gegen die Talfahrten bestehen. Ein Lächeln brach aus ihr hervor, als sie vor ihrem inneren Auge sah, wie der Viermaster sich hinauskämpfte und befreit auf dem beruhigten Gewässer gen Sonnenaufgang schipperte.
 

Vlaindar hielt kurz inne, als die Kellnerin immer noch nicht gegangen war. Vorsichtig lugte er unter seinen Wimpern hervor und entdeckte ein Lächeln. Krampfhaft zwang er sich dann, den Blick wieder auf das Blatt zu senken. Warum lächelte sie, wenn er doch nur schrieb? Es gab nichts Faszinierendes an einer Feder und einem Haufen Tinte.

Er ignorierte sie eine Weile, während er weiterhin schrieb und schrieb und schrieb. Irgendwann wurde ihm das wiederum zu monoton und er sehnte sich danach, aufhören zu können und einfach auf die Weide zu Hairima zu schlüpfen. Ihr Bauch war immer so schön warm, da konnte er sich anschmiegen und schlafen, was er sich wünschte. Schließlich fielen ihm schon seit einiger Zeit ständig die Augen zu. Die Müdigkeit machte ihm zu schaffen, weshalb er sich innerlich dafür verfluchte, so früh aufgestanden zu sein.

Mit einem ironischen Schnauben sah er auf seinen letzten Satz hinab und musste stöhnen. Entweder er war nur zu müde oder seine Intelligenz war auf ihrem Tiefpunkt angelangt. Was war das für ein Satz?! Allein die Grammatik stimmte doch schon gar nicht! Wütend, wie er war, tauchte er die Feder ins Tintenfass und strich die Worte einfach durch - abschreiben müsste er den Text eh später. Ob da nun also viele Krakeleien drauf waren oder nicht, machte letztlich keinen Unterschied.

Vlaindar rieb sich die Augen und versuchte sich zu entspannen. Jetzt hatte er doch glatt wieder schlechte Laune! Wegen Feder und Tinte! Wie blöd war das bitte, sich über so etwas aufzuregen?! Auch tiefes Einatmen brachte ihn nicht weiter und er seufzte erneut. Er brauchte dringend eine Ablenkung, aber Palinor und der Rest schliefen noch!

„Gut?“, fragte die Stimme der Kellnerin ihm gegenüber besorgt. Er hatte ganz vergessen, dass sie noch da war. Aber irgendwie besänftigte die Frage nach seinem Befinden sein Gemüt und er konnte mit einem letzten Seufzer all seine Sorgen fortspülen.

„Es geht“, antwortete er schlicht und streckte seine Finger, die an einigen Stellen knackten, weil sich Luft in ihren Gelenken gesammelt hatte.

„Gut“, meinte Dorothea zufrieden und schaute dann erwartungsvoll auf seinen Zettel, so als würde er direkt weitermachen. Doch er hatte keine Lust und schob demonstrativ den Bericht fort, was sie enttäuschte. Sie schob die Unterlippe leicht vor und sah ihn dann fast flehentlich an. Das wiederum ließ ihn weich werden, doch anstatt den Bericht weiter zu schreiben, nahm er sich ein neues Blatt und starrte die leere Fläche an.

Die Kellnerin beobachtete ihn wieder aufmerksam und rutschte sogar näher. Das Vorbeugen und das Anspannen ihrer Kiefermuskeln ließen auf ihre innere Unruhe, ja vielleicht sogar Nervosität schließen.

Vlaindar unterdrückte ein Seufzen und begann dann, mit Feder und Tinte die Buchstaben des Alphabets auf den Zettel zu schreiben. Er ließ viel Abstand und malte diese extra groß, damit das Mädchen auch verstand, was er dort tat. Als er fertig war, bewunderte er nur kurz sein Werk und schob es dann zu ihr hinüber, genauso wie die Ersatzfeder und einige Blätter.

„Das Alphabet“, erklärte er kurz und deutete dann auf sie und auf die Feder. Zuerst schien sie überrascht, fing sich aber schnell und untersuchte die Zeichen. Erst da fiel Vlaindar auf, dass die Zeichen ihr nichts sagen würden, wenn er ihr nicht sagte, für welchen Buchstaben sie standen und wann man sie verwendete.

„A wie der Anfangsbuchstabe von Apfel“, begann er und tippte auf einen Schnörkel in der ersten Reihe der Tabelle, die er ihr aufgezeichnet hatte. Insgesamt gab es sechsundzwanzig Kästchen in dieser Tabelle und jedes stand für einen Buchstaben. Also gab es genug Stoff, um ihn für die nächsten paar Stunden von seiner Arbeit abzulenken. Perfekt!

„A wie Apfel“, wiederholte sie ehrfürchtig und zog dann den Buchstaben nach. Vlaindar wunderte sich, warum sie nicht nachschrieb, was dort stand, doch er begriff beinahe sofort, dass sie wahrscheinlich nicht wusste, wie man ein Schreibgerät hielt. Also schwieg er, was ihre Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Dann warf er ihr einen Apfel zu und sie fing ihn leicht mit rechts.

„Du bist Rechtshänder“, stellte er fest und drückte ihr dann die Feder in die Hand. Er selbst nahm auch seine auf und zeigte ihr dann die richtige Haltung. Sie tat es ihm nach und machte es sofort richtig – was natürlich interessant war. Ein schneller Lerner! Daher dauerte es nicht lange, bis er sich vollkommen in der Aufgabe verlor, ihr das Lesen und schreiben beizubringen. Dabei redete er zwar nicht viel, aber sie machte das durch ihre eifrige Art gleich wieder wett und darüber wiederum war er sehr froh.
 

Es kam kaum Kundschaft den ganzen Tag über, was sie größtenteils von ihrer Pflicht entband: Emma wusch die Kleidung der Gäste und war den Tag über nicht zu sehen, Erna putzte das Haus und beschwerte sich dabei lautstark über ihr Leben, Bruna stand in der Küche und bereitete schon einmal den Ansturm des Abends vor, während Gerda die Ställe ausmistete, den Hof fegte und die Hühner fütterte. Keine der Schwestern hatte Hilfe gewollt und Dorothea sofort wieder ins Haus geschickt. Dort hatte sie jedoch nichts zu tun gehabt, denn die einzigen Gäste des Wirtshauses schliefen oder badeten sich, um ihre Anspannung zu vertreiben. Gerade die Neuankömmlinge ließen sich kaum blicken – na ja, bis auf den Anführer der Gruppe, der immer noch an seinem Platz verweilte und einen öden Bericht schrieb. Der Rest war nur erschienen, um sich etwas zu essen zu holen und war dann gleich wieder abgedampft.

Dorothea beobachtete den Reisenden im Schankraum. Heute Morgen hatte er ihr mit eiserner Entschlossenheit aber großer Geduld das Schreiben beigebracht – sie kannte tatsächlich jeden Buchstaben und wusste nun endlich, wie man Schreibgeräte führte und behandelte. Er hatte es ihr ruhig erklärt und es auf Nachfrage immer wieder wiederholt – er hatte dabei zwar nicht viel geredet, aber das hatte kaum einen Unterschied gemacht. Doch was sie am meisten erstaunte, war die Tatsache, dass es ihn überhaupt interessierte, so etwas zu tun. Der Mann hatte ihr sogar (mit großer Mühe) beigebracht, was er über die Amtssprache wusste: Die Grammatik war ihr nicht schwer gefallen. Jetzt, da sie die Regeln kannte, kamen ihr diese nur logisch vor und sie ärgerte sich sichtlich, das nicht früher gewusst zu haben. In gewisser Weise lockerte der Gedanke ihre Anspannung der letzten Tage und sie konzentrierte sich nun voll auf die Aufgabe, die er ihr erteilt hatte: „Denke und rede so viel du kannst in Kiiama. Halte dich so gut es geht an die Regeln.“

„Hiandaan, wie geht es Euch?“, fragte sie einen Stuhl und lächelte ihn an. Dann wandte sie sich dem nächstbesten Tisch zu und rief:

„Was ist Eure Kleidung schmutzig, Herr! Wie kann ich Euch helfen?“

Tänzelnd schritt sie durch den Raum mit der Theke, fernab von seinen bewertenden Worten und seinen begutachtenden Blicken. Ihr war nicht klar gewesen, wie lange sie mit ihm zusammen gewesen war, doch ein Blick auf den Sonnenstand hatte ihr gezeigt, wie viel Zeit sie verloren hatte – daraufhin hatte sie sich hektisch entfernt. Das bereute sie aber jetzt, denn nun war sie nicht mehr an seine Anwesenheit gewohnt, weil sie ihn nicht pausenlos gesehen oder gehört hatte. Also traute sie sich dementsprechend auch nicht mehr, ihn anzusprechen und zu fragen, ob man diese Lehrstunden nicht fortführen könnte. Dabei ging es ihr nicht nur um den Unterricht sondern größtenteils darum, seine wohlige Stimme zu hören. Mit einem enttäuschten Seufzen wandte sie sich wieder dem Backen und Kochen zu, womit sie eine der Schwestern unterstützte.
 

„Also, ganz ehrlich, Famiran, es gibt niemanden, der so ist wie sie“, fing Mikanor wieder einmal eines der vielen Gespräche über eine Frau an.

„Nein, ich stimme dir zu. Auch wenn wir ja ein ausdrückliches Verbot erteilt bekommen haben, sie anzurühren …“, murrte der Jüngere der beiden zurück und sie starrten der rothaarigen Kellnerin hinterher.

„Ernsthaft, Vlaindar-shiarireyliar kann dich nicht leiden, Famiran. Hättest du bloß nichts gesagt, Palinor ist bekanntlich eine Petze. Deinetwegen sind uns die Hände gebunden“, klagte Mikanor und schnaufte dabei gereizt.

„Du bist doch derjenige, auf den man immer aufpassen muss! Du hast schon eine Verlobte, ist doch klar, dass Vlaindar-shiarireyliar dir verboten hat, sie anzurühren! Aber warum mir?!“, konterte Famiran genervt und starrte Mikanor wütend in die Augen, der wiederum zurückblickte und die Stirn runzelte.

„Na, Jungs. Geht ihr euch wieder einmal an die Kehlen?“, lachte Palinor und setzte sich mit einem aus Lehm geformten Becher mit Wein zu ihnen. Keoran hatte ebenfalls einen und in der anderen Hand trug er die dazugehörige Flasche. Doch wie es seinem Charakter entsprach, mischte er sich nicht ein und lehnte sich nur an die Holzvertäfelung der Wand. Sein Blick wanderte ziellos im Raum umher und schien an nichts Interesse zu finden.

„Du hast gut Lachen! Wir werden uns heute Nacht sämtliche Glieder abfrieren!“, empörte sich Famiran und Palinor zog eine Augenbraue hoch.

„Wieso?“

„Ohne einen wärmenden Körper an meiner Seite ist es nachts in den Gebieten um Fandenstar schrecklich kalt“, rief Mikanor kläglich aus.

„Na, hört einmal her! Mikanor, du hast eine Verlobte. Geh gefälligst zu ihr, wenn du deinen Geist beleben willst und Famiran … Es macht einfach keinen guten Eindruck, wenn Drachenreiter von Matratze zu Matratze springen und sich einen feuchten Kehricht um Ruf und Ehre scheren“, erläuterte Palinor und unterdrückte ein Grinsen, was ihm jedoch nicht so ganz gelang, denn die jüngeren Männer sahen ihn mit funkelnden Augen an.

„Was brauche ich Ruf und Ehre? Ich kann mein Schwert auch ohne bedienen …“, murrte Famiran und Mikanor gluckste:

„Famiran, ich denke, wir alle wissen, zu was dein Schwert da unten in der Lage ist.“

Die drei Männer brachen in schallendes Gelächter aus und Palinor klopfte begeistert mit seinem Becher auf den Holztisch. Das Geräusch ging im allgemeinen Getose unter, denn es war Abend und die restlichen Bewohner Fandenstars waren durch ihre plötzliche Feierlaune ins Wirtshaus gezogen worden. Es war wieder brechendvoll und eine Polonaise hatte sich wie am Vortag gebildet – es waren sogar die gleichen Leute in ihr.

Die Drei verstummten ruckartig, als ihr General sich zu ihnen setzte und sie der Reihe nach ansah, bevor er seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge im Raum lenkte. Er war eher der beobachtende Typus, ein Mann mit Aussehen, Gehirn und gutem Ruf sowie Familienstand. Die Frauen waren ihm in Saitan ständig auf den Fersen, doch er blieb ruhig und abweisend – eben beobachtend. Einige nannten ihn sogar den „König der schlechten Laune“, obwohl er kaum einmal missmutig war. König Ressota war natürlich überhaupt nicht begeistert gewesen, als er davon erfuhr, dass ein anderer Mann in Saitan-Heten den „Königstitel“ erhalten hatte und Vlaindar hatte eine Verwarnung sondergleichen bekommen – der junge Mann hatte bis heute nicht erzählt, was man ihm damals alles an die Ohren geworfen hatte.

Palinor war einer der Wenigen, die sich als einen Freund des Drachenreitergenerals bezeichneten. Mit Vlaindar kam man zurecht oder eben nicht und war es Zweiteres, dann beruhte das meistens auf Gegenseitigkeit. Deshalb gab es auch nur Wenige, die etwas über den Mann zu erzählen hatten. Selbst Palinor konnte bloß von einigen wenigen Angewohnheiten sprechen und vielleicht einige Fakten aufzählen, bevor ihm der Gesprächsstoff ausging – über Vlaindar reden, war wie puzzeln ohne Puzzleteile. Man hatte nie etwas, worüber man genug wusste, um den anderen etwas erzählen zu können.

„Vlaindar, ist dir wohl?“, fragte Keoran höflich. Auch er gehörte zu den paar Freundschaften, die Vlaindar pflegte.

„Ja“, meinte der Mann kurz angebunden und schwenkte dann die dampfende Flüssigkeit in seinem eigenen Becher – wahrscheinlich Tee, weil er nie irgendetwas Alkoholisches zu sich nahm.

„Shiarireyliar“, jammerte Famiran und lehnte sich weit auf den Tisch vor, um Vlaindar in die Augen zu sehen. Der hob die Augenbrauen und wartete ab.

„Können wir nicht? Bitte! Ich will sie haben! Ich schwöre, ich werde sie gut behandeln“, führte Famiran seinen Satz zu Ende. Gefolgt wurde diese Aussage von einem Stirnrunzeln und einem enttäuschten Seufzer.

„Shiar, Frauen sind keine Schmuckstücke, die man besitzt. Außerdem ist sie zu jung. Also: Nein“, antwortete Vlaindar und sah der Kellnerin nach, für die seine beiden Gardenmitglieder so schwärmten.

„Das ist bloß das Kleid! Ich bin mir sicher, darunter ist sie schon eine Frau! Und wen interessiert auf dem Land schon, ob die Braut noch rein ist.“

„Famiran, ich sagte nein“, fuhr Vlaindar den Mann scharf an und Palinor verkniff sich ein Stöhnen. Jetzt hatte sein Vorgesetzter wirklich schlechte Laune. Wenn er nein sagte, dann meinte er das auch so – er mochte keine Menschen, die dann immer noch herumnörgelten und ihn überreden wollten.

„Aber, Shiarireyliar!“, trotzte Mikanor und unterstützte somit Famiran. Vlaindar stieß ein leises Knurren aus, das wahrscheinlich nur von den Drachenreitern gehört wurde.

„Wer auch immer sie von euch anrührt, muss sich einer gewaltigen Strafe beugen. Das war mein letztes Wort, habt ihr mich verstanden?“, fauchte er leise und erhob sich, bevor er durch den Raum schritt und die Tür nach draußen aufriss. Dann schlüpfte er hindurch und schloss sie hinter sich, sein Getränk stand verlassen dampfend vor Palinor.

„Ich bin mir sicher, er will sie nur für sich“, behauptete Famiran und Mikanor prustete ironisch los:

„Ja, klar. Deswegen lebt er auch im Zölibat, damit er Frauen lieben kann.“

Palinor rollte mit den Augen und sah die Kellnerin an, die wieder durch die Menge tanzte, in einer Hand ein volles Tablett mit leeren Krügen, in der anderen ein Geschirrspültuch. Auch an diesem Tag war sie keinen Deut schöner geworden als zuvor. Ein ergebenes Seufzen schlich sich aus seinem Mund und er schaute zu Keoran hinüber, der schleunigst ein Lächeln hinter seinem Becher versteckte. Nur weil er sich nirgendwo einmischte, musste das ja nicht unbedingt heißen, dass er nicht seine eigene Meinung zu den Geschehnissen hatte.
 

Vlaindar streckte sich genüsslich und sah in den Sternenhimmel hinauf. Hairima, Jokandir und die anderen Drachen befanden sich auf einer Jagd nach Nahrung, also gab es auch auf der nahen Weide nichts zu tun. Deswegen marschierte er schnurstracks auf die grünen Hügel hinter dem Wirtshaus zu. Wenn er sich dort hinlegte und die Sterne beobachtete, würde er sich beruhigen und sein Ärger verfliegen. Famiran und Mikanor gingen ihm ständig auf den Geist, wenn sie eine geeignete Frau erspähten – jedes Mal, wenn sie in irgendeiner Stadt oder einem Dorf anhielten, war das Geschwärme groß.

Vlaindar hielt auf einer Hügelkuppe inne und ließ sich im Schneidersitz darauf nieder – glücklicherweise lag hier kein Schneematsch herum und das Gras war einigermaßen trocken. Sein Geist suchte beinahe sofort nach dem seiner Drachendame und als er ihn erfühlte, überschwemmte ihn ein Glücksgefühl. Hairima hatte sich gerade einen großen, saftigen Rehbock gefangen und war dabei, ihn auseinander zu nehmen. Ein wenig angeekelt von diesem Schauspiel wandte er sich wieder seiner Umgebung zu und beobachtete die Welt um ihn herum. Verschiedene Blumen reckten sich dem Himmel entgegen, die Blüten geschlossen, weil es Nacht war. Soweit er erkennen konnte waren zwischen Jasmin und Enzian auch Feuer-Salbei und Schwertlilien dabei. Am Rand des Hügels mischte sich Edelweiß unter Brennnesseln, Astern und Krokusse.

Er hatte viel von diesem Phänomen der Pflanzenwelt gehört: Im Osten wuchsen die Blumen anders. Während in der Hauptstadt nur jahreszeitlich bedingte Pflanzen ihre Wurzeln schlugen, so konnten im Osten alle nebeneinander leben. Ob es nun Winter- oder Sommerpflanzen waren und das machte die ganze Faszination dieses Orts aus. Der Osten war immer erfüllt von einer gewaltigen Blumenpracht – auch jetzt mit dem ganzen Schneematsch, der den Pflanzen eigentlich mehr schadete, als gut tat.

„Wusstet Ihr, dass jede Blume eine Bedeutung hat?“, fragte eine Stimme hinter ihm und ließ ihn herumfahren. Die rothaarige Kellnerin stand am Fuß des Hügels und sah zu ihm herauf. Er hatte sie nicht einmal kommen gehört! Aber das war nicht möglich! Normalerweise war er der äußerst wachsame Typus, der nicht einmal richtig schlafen konnte, ohne ständig aufzuschrecken und sich misstrauisch umzusehen.

„Wie bitte?“, stammelte er und kam sich dümmer vor, als er eigentlich war. Am liebsten hätte er sich geschlagen! Er hatte ihre Frage sehr wohl verstanden, wollte aber gleichzeitig von ihr hören, wie sie sich hatte anschleichen können – und was würgte er hervor? Ein krächzend klingendes, dummes ‚Wie bitte?’.

„Na, dass jede Blume eine Bedeutung hat! Ich habe Euch hier sitzen sehen und dachte, ich leiste Euch Gesellschaft. Also … Mögt ihr Blumen?“, sagte sie und hockte sich direkt neben ihn hin. Ihre Knie berührten fast seine Oberschenkel, während ihre Hände in dem Weiden ähnlichen Gras herumwuschelten. Die Blumen, die sie dabei berührte, richteten sich hinterher stur wieder auf.

„Nicht unbedingt“, antwortete er wahrheitsgemäß und wollte sich selbst ohrfeigen. Was tat er da? Sie kam, um mit ihm zu reden und er würgte das Gespräch ab. Sie musste auch denken, er wäre der letzte … ja, was denn? Warum störte ihn das überhaupt? Warum war ihm ihre Meinung so wichtig? Er hatte vielleicht heute etwas mehr Zeit mit ihr verbracht, aber das war schon am Morgen gewesen und lange her. Viel geredet hatte er aber eigentlich nicht …

„Hm, dann seid Ihr aus der Stadt“, schlussfolgerte sie und ihre Augen leuchteten auf. Woher auch immer sie das wusste, ihr Verstand hatte ihr dabei geholfen.

„Ja, aber woher –“, setzte er an, doch sie unterbrach ihn und schien nicht einmal ansatzweise eine Entschuldigung ausdrücken zu wollen:

„Auf dem Land mag generell jeder Blumen, sonst gäbe es nicht diese Tradition, einer Frau Blumen zu überreichen. Daher beschäftigen sich auch viele mit deren Bedeutung.“

„Wie meint Ihr das?“, hinterfragte Vlaindar das Ganze jetzt. Wenn er sich schon auf das Gespräch einließ, würde er wenigstens genug Informationen aus Dorothea herausholen. Landbewohner hatte einige interessante Angewohnheiten – er hatte zumindest noch nie einen Mann in der Stadt gesehen, der seiner Angebeteten eine Blume reichte. Die Frauen kauften die Pflanzen lediglich zur Dekoration für sich selbst und die Atmosphäre des Raums, in dem diese später in einer Vase stehen würden.

„Na, zum Beispiel“, begann Dorothea und sah sich um, bevor sie sich etwas zur Seite beugte, eine Blume pflückte und ihm hinhielt. Er nahm sie an und hörte dann ihr wieder zu:

„Das ist eine Buschnelke. Eigentlich teilen nur Frauen sie aus – auf dem Land meistens bei irgendwelchen Festen.“

„Wieso?“

„Diese Nelkenart ist weiß, weiß deutet auf die Unschuld hin. Mit dieser Pflanze signalisiert man dem Empfänger, dass man noch zu haben ist. Es gilt als sehr … nun schwerwiegender Befreundungsversuch, wenn eine Frau ihrem Angebeteten eine weiße Nelke gibt“, führte Dorothea aus und ließ sich dann ebenfalls auf das Gras sinken.

„In der Stadt nennt man so etwas Buhlerei“, meinte Vlaindar und zwirbelte die Buschnelke an ihrem Halm zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her.

„Man kann natürlich so eine ‚Buhlerei’ auch zurückweisen, ebenfalls mit Blumen, aber das ist eher unüblich.“

„Warum?“

„Warum sollte man eine Blume an jemanden verschwenden, an dem man nicht interessiert ist?“, lachte Dorothea Schulter zuckend. Ihr Lachen ging durch Knochen und Mark – ähnlich wie das Vibrieren der Flügelschläge eines Drachen. Vlaindar beobachtete die junge Frau und betrachtete sie gleichzeitig. Eigentlich war sie gar nicht mal so schlimm, wie er anfangs gedacht hatte. Wenigstens konnte man mit ihr ein anständiges Gespräch führen, ohne dabei ständig zu denken, dass es intelligenzfördernder wäre, mit einem Kochtopf zu debattieren. Sie war nicht so – hohl war vielleicht etwas hart – dumm wie diese Stadtweiber, Klatschmaiden und Lustdamen.

Vlaindar tastete gedankenverloren, den Blick immer noch auf sie gerichtet, nach einer weiteren Blume. Er pflückte sie und hielt sie zwischen sich und diese Frau. Hoffentlich verstand sie die Aufforderung nach einer Deutung dieser Blumenart. Nicht, dass sie auch so ein dümmliches Gesicht aufsetzte wie Palinors Frau, nachdem das Essen angebrannt war.

„Oh! Ein Busch-Windröschen! Ich glaube, das heißt so etwas wie: ‚Ich will bei dir sein’, wenn nicht sogar etwas mehr“, sagte sie und meinte dann:

„Bei einigen muss man aber auch aufpassen! Nelken sind sehr vielfältig. Buschnelken sind weiß, aber es gibt auch gelbe oder rote Nelken. Mit gelb sagt man zum Beispiel ‚Ich verachte dich’, während man mit rot sagt ‚Ich liebe dich heiß und innig’. Ein Irrtum kann richtig schlimm enden.“

„Das kann ich mir gut vorstellen“, schmunzelte Vlaindar und schaute auf die Buschnelke hinab, die Dorothea sich in den Schoß gelegt hatte, nachdem er sie zuvor neben sich abgelegt hatte.

„Aber ein Blumenstrauß macht den Frauen viel mehr Freude, vor allem mit den richtigen Blumen! Feuer-Salbei“, dabei deutete sie auf ein rotes Gewächs, „Gemeinsam mit Enzian und Goldlack. Das würde dann ein Gesteck ergeben, dass der Frau sagt: ‚Ich denke an dich, deine Schönheit ist überwältigend und ich sehne mich so nach dir’. Klingt doch viel versprechend oder?“, sagte Dorothea und streckte sich mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht.

„Sind Landbewohner nicht ein überraschender Quell der Weisheit?“, lachte Vlaindar und ihm fiel auf, dass es gut tat. Er lachte eher wenig, weshalb er nun urplötzlich bemerkte, was für eine Wirkung es auf ihn hatte. Glücksgefühle durchströmten ihn und kribbelten in seinem Körper – kein Wunder, dass viele es vorzogen, mit einem Lächeln durchs Leben zu gehen.

Das erste Mal seit ein paar Wochen ließ er sich zufrieden ins Gras zurückfallen. Wenn es jetzt etwas wärmer wäre, der Matsch verschwinden würde und der sternklare Himmel zu sehen wäre, dann könnte er sich glatt an ein solches Leben gewöhnen. Vlaindar streckte sich genüsslich und sah dann wieder zu Dorothea, die ihn beobachtete. Um ihre Lippen spielte ein Lächeln, das sie seltsam verträumt wirken ließ.

Er hielt in seiner Bewegung inne und starrte die junge Frau an, die sich immer noch nicht rührte. Eigentlich war ihm die Aufmerksamkeit anderer immer zuwider, doch jetzt ließ er es über sich ergehen und beobachtete im Gegenzug die rothaarige Kellnerin. Sie musterte ihn unverhohlen und schien sich nicht daran zu stören, dass er es bemerkt hatte.

„Woran denkt Ihr?“, wagte er, in die Stille zu fragen.

„An die Bedeutung der Glockenblume“, antwortete sie abwesend und schaute ihm jetzt direkt ins Gesicht. Doch was verträumt war, blieb verträumt.

„Was bedeutet sie?“, hakte er nach.

„‚Unsere Herzen schlagen im gleichen Takt’“, murmelte sie, woraufhin er die Augenbrauen hochzog und sich aufsetzte.

„Wie bitte?“, fragte er belustigt nach und sah sie fast schon spöttisch an. Entweder Dorothea hatte wirklich nur nachgedacht oder gerade die ärgste Buhlerei betrieben.

„Gerda schwört auf solche Liebesbekundungen“, haspelte sie sich hastig heraus und wedelte abwehrend mit den Händen. Vlaindar lächelte und ließ sich zurückfallen. In manchen Punkten war auch die junge Frau neben ihm bloß eine Frau.

Virgin

„Also, warum hast du uns hier zusammengerufen?“, fragte Palinor und wedelte mit der rechten Hand. Die Bewegung umfasste den ganzen Waschraum. Das holzvertäfelte Zimmer mit dem riesenhaften in der Mitte eingelassenen Becken und den an der Wand stehenden Fächern für Kleidung, Handtücher, Seifen und anderes schwamm ob des übergelaufenen Wassers und dem Dampf der Hitze, die dieses absonderte. Der Nebel verbarg sogar die Tür hinter dem Vize-General der Garde und die war nur fünf Meter weit weg.

„Mikanor und ich wollten einfach einmal wieder ein wenig Zeit mit der Garde verbringen“, lachte Famiran und schöpfte etwas milchiges Wasser mit beiden Händen, bevor er sich dies über den Kopf goss.

„Klar, deswegen der ganze Aufstand um ein Gemeinschaftsbad“, murmelte Palinor und rollte dabei mit den Augen.

„Ist das so schlimm? Männer treffen sich nun einmal zu Gemeinschaftsbädern, um Freundschaften auszubauen!“, warf Famiran ein und schaute Palinor entschlossen an, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen.

„In welcher Welt lebst du bitte?“, antwortete dieser bloß und lachte. Keoran und er hatten dieses ganze Vorhaben für seltsam befunden, aber jetzt wurde es immer schlimmer. Es war nichts Neues, das die Garde sich zu einem Gemeinschaftsbad traf – neu war aber, dass Famiran ihn und den stillen Mann beinahe angefleht hatte mitzukommen. Die Vier pflegten inzwischen eine sehr feste Tradition, fast alles zusammen zu machen, daher war es selbstverständlich gewesen, dass sie sich schließlich zu diesem Bad trafen – auch wenn es morgens war.

„Pah, Banause“, empörte sich der junge Drachenreiter dann und schob die Unterlippe demonstrativ vor, um einen Schmollmund zu erzeugen. Keoran kicherte und schüttelte sichtlich amüsiert den Kopf. Daraufhin lachte Palinor noch lauter und auch Mikanor stimmte mit ein, bis schließlich selbst Famiran mit einem Husten einen Lacher verbergen musste.

„Ach, ja“, seufzte Palinor, ließ sich etwas tiefer in das Wasser gleiten – bis es ihm bis zum Kinn ging – und er mit einem leichten Pusten Wellen auf der Oberfläche erzeugen konnte. Keoran nippte an einem Glas Wein, dessen Flasche irgendwo hinter ihm am Beckenrand stand. Der Gute genoss diese Freiheit sichtlich. Famiran schöpfte erneut Wasser, ließ es jedoch wieder zurück in das Becken tropfen und sah fasziniert dabei zu, während Mikanor die Augen schloss und seinen Kopf auf den Rand legte.

„Und deine Bitte zu einem Gemeinschaftsbad hat wirklich keinen Grund?“, hakte Palinor noch einmal nach und Famiran seufzte genervt auf, gab jedoch nach.

„Eigentlich schon. Doch. Ich wollte euch beiden nur eine kleine, wirklich sehr kleine Frage stellen.“

„Und die wäre?“, fragte Keoran trocken, jedoch mit einem Schmunzeln im Gesicht, immer noch am Glas nippend.

„Vlaindar-shiarireyliar“, ließ Mikanor den Grund ohne Umschweife in den Raum plumpsen.

„Oha, jetzt kommt’s“, meinte Palinor und beugte sich interessiert vor. Auch Keoran hob interessiert eine Augenbraue, was schon eines der eindeutigsten Zeichen für seine vollkommene Aufmerksamkeit darstellte.

„Ist er … Ich meine, kann es sein, dass er …“, setzte Famiran an und schaute Hilfe suchend zu Mikanor hinüber, der sich aber auf das milchige Wasser vor sich konzentrierte und somit dem Blick auswich.

„Was? Hat dich der Mut verlassen, Famili?“, hauchte Palinor und lachte. Was auch immer der Drachenreiter sagen wollte, es kostete ihn viel Mühe, es überhaupt auszusprechen.

„So, wie er sämtliche Annäherungsversuche anderer abblockt, kann es sein, dass er … ihr wisst schon … dings“, stammelte Famiran jetzt und gestikulierte wild mit seinen Händen kurz oberhalb der Wasseroberfläche herum.

„Was?“, fragte Keoran scharf. Er schien bemerkt zu haben, in welche Richtung das Gespräch ging.

„Ist er ein … Knabe?“, flüsterte Famiran schließlich seinen Händen zu. Das löste eine gewaltige Woge aus, denn Keoran stand blitzschnell auf, sein Glas stand bereits neben dem Becken. Palinor sprang ebenfalls auf und hielt den Mann zurück der wütend die Fäuste geballt hatte und warnend knurrte.

„Nein, niemals“, keuchte Palinor, der Keoran auf seinen Platz drückte und sich dann auch wieder auf seinen sinken ließ.

„Ehrlich, das tut mir Leid, das so sagen zu müssen, aber er ist kaum an Frauen interessiert“, versuchte Famiran das Gespräch wieder zu besänftigen. Er hatte Keoran noch nie so wütend gesehen. Das war gar nicht gut.

„Nur, weil er nicht von Matratze zu Matratze springt wie du“, behauptete dieser jetzt und knurrte wieder. Schließlich half Mikanor doch und sagte:

„Hört her! Das ist wirklich nicht gut, sich hier zu streiten! Wir wissen, dass der General kaum an Frauen interessiert ist und es war unsere Fehleinschätzung, dann zu denken, er sei Männern zugeneigt. Verzeiht unsere kindlichen Gedanken!“

„Ihr Zwei müsst vorsichtiger sein. Wenn das jemand zu hören bekommt, der Vlaindar eins auswischen will, ist er ihm schamlos ausgeliefert! Gerüchte sind tödlicher als jede Waffe, zumindest wenn man so hoch gestellt ist“, warnte Palinor sie mit erhobenem Zeigefinger.

„Ja, tut uns Leid – ehrlich!“, murrte Famiran und schämte sich sichtlich, weil er überhaupt diese Frage gestellt hatte.

„Aber woher sollten wir das auch wissen?! Er ist so … unzugänglich. Selbst uns gegenüber! Und wir sind nun wirklich Teil seiner Garde“, behauptete Mikanor und versuchte seine beiden Vorstehenden davon zu überzeugen, dass mit dem General etwas nicht stimmte. Keoran atmete einmal tief ein und stieß gezwungen ruhig und langsam die Luft wieder aus, bevor er sagte:

„Vlaindar ist nicht irgendwer, Mikanor. Vlaindar ist ein Mann von hohem Wert für ganz Saitan-Heten. Er muss ungeheuerlich aufpassen, was er tut und was er sagt – da kann es schon einmal vorkommen, dass man sich nur seinen engsten Freunden anvertraut!“

„Das begründet aber nicht sein seltsames Verhalten den Frauen gegenüber!“, widersprach dieser jetzt und Famiran nickte bestätigend.

„Nein, aber ihr beide wisst bereits mehr als die meisten Leute. Euch dürfte doch klar sein, warum das so ist!“, erwiderte Palinor und runzelte die Stirn. Keoran hatte sich genügend beruhigt, um sein Weinglas zu greifen und wieder daran zu nippen.

„Mir nicht“, antwortete Famiran da und wurde dabei von Mikanor bekräftigt. Seufzend ergab sich Palinor und sagte:

„Hört her, das bleibt aber unter uns, verstanden?“

„Jawohl, Meister Vize!“, versprachen die beiden sofort und beugten sich gespannt vor.

„Ihr wisst, dass Vlaindar aus einer – nun, wie soll ich sagen? – kritischen Situation befreit wurde. Eben durch einen königlichen Erlass. Das Papier war wie ein Adoptivschein. Oh, ihr zwei wisst schon, was ich meine!“, stöhnte Palinor und fuchtelte mit den Händen.

„Das heißt, dass Vlaindar vom König adoptiert wurde?“, flüsterte Mikanor.

„Ja und nein, keiner kann in die eigentliche Königsfamilie eintreten, ohne seinen Ursprung in ihr zu haben. Aber der Adoptivschein ermöglichte Vlaindar das Leben eines Prinzen – mit einigen Abzügen, aber gewissermaßen stimmt das so!“, erklärte Keoran und pustete dann über das kalte Getränk, rein aus der Gewohnheit heraus, weil er normalerweise einen Tee mit sich herumtrug. Verwirrt schüttelte er den Kopf und trank dann.

„Also fühlte sich Vlaindar verpflichtet, etwas für den König zu tun. Der wiederum wünschte sich die vollkommene Aufmerksamkeit seines Vasallen und befahl ihm – damals war er, ich glaube, vierzehn Jahre alt –, in einem zölibatären Zustand zu leben. Vlaindar stimmte zu, es war schließlich die einzige Möglichkeit, Dankbarkeit auszudrücken – deshalb ist er auch heute noch stark kronloyal, also nehmt euch vor dieser Eigenschaft in Acht. Er mag es gar nicht, wenn jemand schlecht über Ressota redet“, führte Palinor aus und nickte wichtigtuerisch.

„Der General ist ein Adoptivprinz und lebt im Zölibat. Das ist mir eine zu bunte Lebensgeschichte“, stöhnte Mikanor und rieb sich fassungslos über das Gesicht.

„Moment, aber das erklärt nicht zwangsweise sein Desinteresse an Frauen. Ich kenne beispielsweise so einige zölibatär lebende Priester, die dennoch Frauen anschauen!“, rief Famiran ungläubig aus.

„Famiran! Vlaindar war beim Zölibatsschwur vierzehn Jahre alt!“, ermahnte ihn Palinor.

„Das erklärt nichts! Auch ein Vierzehnjähriger kann Frauen anschauen“, murrte dieser und sah zweifelnd zur Decke hinauf.

„Im Gegensatz zu euch, ist Vlaindar ein – wie sagt man in der Hauptstadt? – Spätblüher? Der Gute hat sich damals nicht für Frauen oder Mädchen interessiert und sein damaliges Verhalten ist ihm halt zur Gewohnheit geworden. Das ist gar nicht einmal so unlogisch. Wenn du nie den Grund hattest, etwas wahrzunehmen, warum urplötzlich damit anfangen?!“

„Du kannst mir aber nicht sagen, dass man als Adoptivsohn eines enorm geschlechtbestimmten Königs nichts von der Liebe mitbekommt!“, wies Famiran auf eine Unstimmigkeit hin.

„Ich sagte doch gerade, Vlaindar ist nicht der richtige Sohn Ressotas und hat sich auch nie so gefühlt. Die beiden hatten eher eine „Herr und Vasall“-Beziehung. Würde der Großgeneral von Saitan-Heten mit seinem Diener über den Beischlaf reden?!“, antwortete Palinor daraufhin und schmunzelte, als Famiran und Mikanor offensichtlich nachdachten und schließlich einstimmig den Kopf schüttelten.

„Seht ihr?“, meinte Keoran und nippte weiter an seinem Wein.

„Moment, heißt das etwa, dass Vlaindar absolut nichts – und ich meine hier wirklich nichts – von der Liebe, einem Kuss oder dem Beischlaf weiß?“, warf Mikanor ein und wirkte wirklich köstlich amüsiert.

„Höchstens aus Büchern könnte er etwas erfahren haben. Mit uns hat er nie über etwas geredet, mit Traen-sorar und Ressota kann ich mir das nicht vorstellen. Er hatte keine Beziehungen zu Frauen und meidet generell alle Themen über das andere Geschlecht. Eigentlich also nicht“, murmelte Keoran überlegend und tippte an sein Weinglas.

„Abgeflogen! Ich habe noch nie einen so unerfahrenen – nein besser noch: unwissenden – Mann getroffen!“, lachte Famiran und stieß Mikanor mit dem Ellbogen an. Die beiden glucksten, während sie verzweifelt ihr Lachen unterdrücken wollten.

„Wie hat er das überlebt? Nein, das ist nicht dramatisch genug: Wie wird er das überleben?“, kicherte Mikanor.

„Irgendwann wird auch der königliche Erlass verfallen und dann ist er frei. So etwas hält höchstens zehn Jahre“, antwortete Keoran ruhig, lächelte aber auch.

„Dann ist er ja kurz davor! Ein Jahr noch und dann ist er erlöst!“, freute sich Famiran und zwinkerte Mikanor zu, der erwiderte:

„Dann müssen wir ihn unbedingt einmal mit auf Frauenjagd nehmen!“

„Aber erst, wenn wir ihm das Nötigste beigebracht haben. Das würde bedeuten, dass wir ihm erklären, was er zu tun hat und wie“, verstand Famiran sofort den Gedankenweg seines Freundes. Die beiden lachten voller Vorfreude laut auf und Palinor schüttelte den Kopf:

„Das wird er niemals mitmachen.“

„Das muss er ja auch nicht, aber erzählen können wir es ihm ja trotzdem! Oh, ich will seine Reaktionen sehen. Ich schwöre auf alles, was mir hoch und heilig ist, das wird ein Spaß!“, rief Mikanor und lachte vergnügt. Keoran warf Palinor einen zweifelnden Blick zu und beide seufzten. Sie mussten den jüngeren Drachenreitern dringend diese Idee aus den Köpfen waschen.

„Also. Wer fängt an? Entscheidung wird mit Messer-Stein-Papier getroffen“, meinte Famiran und als sich nur Mikanor anschloss, zuckte er bloß die Schultern. Er war nicht einmal enttäuscht, dass die älteren beiden nicht mitmachten.

„Messer“, sagte Mikanor.

„Stein.“

„Papier!“, riefen sie zusammen und bewegten ihre jeweils rechte Hand halbmondförmig durch die Luft. Famiran streckte den Zeigefinger aus und besiegelte seine Wahl somit auf Messer. Mikanor schummelte eindeutig – er wartete so lange, bis Famiran beinahe seine Hand still hielt, bis er seine Bewegung ausführte: Natürlich auf Stein.

„Mist“, fluchte der ahnungslose Verlierer dieser Partie und der Gewinner lächelte triumphierend, bevor er zu Palinor und Keoran hinüber sah, in deren Augen ein wissender Blick lag.

„Gut, also … Wie stellen wir es an?“, begann Mikanor und die zwei steckten die Köpfe zusammen, was den Älteren nur ein Seufzen entlockte. Armer Vlaindar!
 

Vlaindar seufzte zufrieden und lehnte sich dann auf seinem Hocker zurück. Er befand sich in seinem gemieteten Zimmer an dem Tisch und hatte soeben den Bericht des Königs fertig geschrieben. Das erleichterte ihn ungemein, denn diesmal war ihm das Schreiben als sehr zähflüssig vorgekommen. Ganze zwei Tage hatte er gebraucht! Und unzählige Pergamentpapiere und Tintenfässer …

Er streute etwas Sand über die frische Tinte auf dem letzten Blatt und schraubte dann das Tintenfass zu, das er sich aus seinem Schreibtisch genommen hatte. Glücklicherweise hatte das Gasthaus sich den Luxus nicht versagt, den Gästen auch die Annehmlichkeit von Schreibutensilien zu gestatten. Papier, Feder und Tinte waren nun einmal nicht sehr billig, deshalb gab es oftmals fast keine Möglichkeit für Vlaindar, den Bericht vor seiner Ankunft in Saitan-Hetens Hauptstadt, Saitan, fertig zu stellen.

Vorsichtig klopfte er den mit Tinte voll gesogenen Sand vom Papier in den Mülleimer und ordnete dann den gesamten Bericht noch einmal durch – die erste Seite nach ganz oben. So zufrieden gestellt, rollte er die Blätter zu einer dicken Schriftrolle zusammen und setzte an beiden Enden deckelähnliche Halterungen auf. Über diese schob er eine Holzrolle, die den Inhalt schützen würde – seinen langwierigen Bericht –, bevor er noch einmal zwei Deckel auf die Enden schraubte. Mit einem goldenen Stoffband, das er um den Bericht zu einer Schleife gewickelt hatte, verziert, war er nun wirklich fertig: Der Bericht war bereit für die königlichen Augen. Vlaindar dankte seiner Intuition vor der Schlacht gegen Belquat-Heten, der er gefolgt war und somit diese Utensilien eingepackt hatte.

Dann steckte er die Schriftrolle in seinen Reisebeutel, bevor er die Schreibutensilien wieder zurück in die Schublade des Tisches räumte. Gerade überlegte er sich, ob er noch Zeit für einen kleinen Erholungsschlaf hatte, da klopfte es. Vlaindar setzte sich aufs Bett und antwortete mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme:

„Herein.“

Es war Mittag, daher erwartete er niemanden Besonderes und als Famiran und Mikanor eintraten, fühlte er sich in seiner Annahme bestätigt, dass es sich nicht um etwas Wichtiges handeln konnte, anderenfalls hätte man Palinor zu ihm geschickt.

„Shiarireyliar“, grüßten ihn die Zwei und er nickte, bevor er ihnen mit einem Schlenker seiner rechten Hand signalisierte, dass sie sich setzen durften.

„Bitte“, forderte er sie auf zu reden, nachdem sich Famiran auf den einzigen Stuhl – oder den Hocker – und Mikanor ans Fußende des Bettes gesetzt hatte. Über das Gesicht des jüngeren Drachenreiters huschte ein schalkhafter Ausdruck, bevor er diesen gekonnt hinter einer Maske der Gleichgültigkeit verbarg. Dennoch war dieses Aufblitzen Famirans Persönlichkeit dem Drachenreitergeneral nicht entgangen – was auch immer es bedeuten mochte. Es war Mikanor, der sich räusperte und dann zu sprechen begann:

„Ihr hattet Recht, Shiarireyliar. Die Buhlerei ist kein guter Zeitvertreib, daher dachten Famiran und ich, wir könnten uns entschuldigen – Ihr wisst schon … für unser Verhalten von gestern Abend.“

Vlaindar nickte lediglich. Ihm war bewusst, dass die Zwei nicht gekommen waren, um sich zu entschuldigen. Hinter dieser Maskerade steckte mehr, als man ihnen ansehen konnte. Er war nicht dumm genug zu denken, dass Famiran und Mikanor ihre Worte ernst nahmen. Es waren nichts weiter als leere Worte, Versprechen auf Uneinhaltbares. Bis die Beiden mit der Buhlerei aufhörten, ging im Westen die Sonne auf. Ein Höflichkeitsbesuch war dies hier, nicht mehr: Eine Entschuldigung hervorzupressen, machte mehr Eindruck als Gejammer. Wenigstens konnte man sich hinterher auf der sicheren Seite wiegen. Gerade deshalb verzieh Vlaindar diesen beiden in dieser Angelegenheit generell kaum.

„Wir dachten nur, dass Ihr uns die Buhlerei immer verbietet, weil Ihr … nun … generell diesen Spielen abgeneigt seid. Wir konnten ja nicht wissen, dass Ihr das aus Euren Ansichten heraus so meint“, fuhr Famiran fort und sah Vlaindar dabei direkt an. Der schwieg weiterhin, zog jedoch die Beine aufs Bett und setzte sich in den Schneidersitz. Interessanterweise waren die Zwei plötzlich sehr mutig geworden, was seine Privatsphäre anbelangte. Und woher überhaupt wussten sie von seinen Ansichten? Wussten sie überhaupt, was seine Ansichten waren? Palinor hatte sicherlich gequatscht.

„Wir konnten ja nicht wissen, dass Ihr im Zölibat lebt und Euch daher der Buhlerei enthaltet!“, sagte Mikanor freudestrahlend und klatschte in die Hände, als hätte er eine gewaltige Sache großer Bedeutung vor sich und wollte sie anpacken. Vlaindar runzelte die Stirn. Worauf auch immer die Beiden hinauswollten, ihm gefiel die Richtung nicht, in die das Gespräch ging.

„Aber auch im zölibatären Zustand frönen einige Priester den Reizen von Frauen! Daher haben wir zunächst nicht verstanden, warum Ihr so streng mit uns gewesen seid“, wandte Famiran ein und klang jetzt wie ein gescholtenes Kind. Nun gut, das ging jetzt langsam wirklich zu weit. Vlaindar schritt ein:

„Verzeiht, ich besitze keinerlei Zeit für Gespräche über Priester und Frauen. Mein Zölibat hat mit dem Verbot nichts zu tun, glaubt mir.“

„Seid Ihr sicher? Gerüchte besagen, dass Ihr Idealvorstellungen hegt wie kein anderer“, wagte Famiran es, zu widersprechen.

„Bitte?“, empörte sich Vlaindar und erhob sich vom Bett, nur um von Famiran und Mikanor in die Zange genommen zu werden und sich zwischen ihnen auf dem Bett wieder zu finden – Schulter an Schulter. Mikanor legte den Arm um seine Schulter und rückte näher, den Mund an Vlaindars Ohr sagte er:

„Das Bild der unangetasteten Jungfrau.“

„Natürlich gemeinsam mit dem ehrenwerten Edelmann, der sich keiner Liebe, Lust und Leidenschaft bewusst ist und offenherzig über seine Gefühle redet“, führte Famiran das Bild fort und flüsterte ebenfalls in Vlaindars Ohr. Mikanor fuhr fort:

„Deswegen erachtet Ihr unsere Taten auch als schändlich, Shiarireyliar. Dabei ist es doch nichts Schlimmes, wenn Mann und Frau in Verbindung treten.“

„Ihr denkt nur, dass es so ist, weil Ihr ein Mann von alter Tradition seid! Aber auch Ihr besitzt das gleiche Potential wie wir. Ihr könnt mir nicht erzählen, dass Ihr niemals auch nur eine Frau angesehen habt – wahrscheinlicher ist es, dass Ihr Euch und uns für Eure Gedanken bestraft. Ist es nicht so?“, hauchte Famiran und kicherte leise.

„Welche Gedanken? Worüber?“, meinte Vlaindar und versuchte sich zu befreien, saß aber weiterhin fest. Ihm war unwohl, außerdem wurden die Zwei ihm zu frech.

„Über Frauen und das, was Männer mit ihnen machen, wenn sie in Verbindung treten. Ihr seid jedoch so unwissend, dass ihr diese Gedanken als unrein abtut. Das ist aber nicht Sinn der Sache: Nichts daran ist unrein! Es ist etwas ganz Natürliches“, antwortete Mikanor besserwisserisch.

„Deshalb gibt es ja Mikanor und mich. Wir werden Euch helfen, über diese Wissenslücke hinweg zu springen. Wir lügen schließlich nicht. Unsere Erfahrung ist erstklassig, glaubt mir“, sagte Famiran und grinste hinter Vlaindars Rücken Mikanor zu, der zurückzwinkerte. Der Drachenreitergeneral bekam jedoch eine Gänsehaut, jetzt wusste er, worauf die Beiden hinauswollten. Dumm nur, dass er nicht mehr entkommen konnte.

„Also, äußerlich sehen Frauen anders aus als wir Männer, das ist Euch klar. Selbst da unten“, begann Mikanor und zeigte dann auf Vlaindars Schritt. Der seufzte ergeben und wollte sich am liebsten die Ohren zuhalten, doch er fühlte den leichten Klammerzauber auf sich, der ihn an Ort und Stelle hielt.

„Wir Männer haben ein Schwert und damit wir zu den Frauen passen, haben die eine Schwertscheide“, lachte Famiran und legte ebenfalls den Arm um Vlaindar.

„Anderenfalls könnte man keine Nachkommen zeugen – das passiert aber eher selten!“, fuhr Mikanor fort und begann dann, bis ins kleinste Detail den Frauenkörper zu erläutern. Famiran widmete sich danach der Kunst der Buhlerei und kam sogar auf die Tradition der Landbewohner zu sprechen, einer Frau Blumen zu überreichen. Er nannte einige Beispiele zur Blumensprache und sprang dann zu einer anzüglichen Erklärung über Körperkontakte. Mikanor unterbrach an einigen Stellen, um etwas hinzuzufügen, aber meistens legte Famiran sein ganzes Leben vor Vlaindar aus. Und was das für eines war!

Von wegen Romanzen! Leidenschaft und Lust spielten dort die Hauptrollen: Zu Vlaindars Entsetzen endete eine Beziehung nach der anderen in Küssen und jeder Menge Verbindungen des Mannes mit der Frau. Ihm wurde beinahe schlecht von den Beschreibungen.

Dank einiger Bücher hatte er sich eine Beziehung zwischen Mann und Frau blumig vorgestellt wie das Kleid einer gutmütigen Großmutter mit jeder Menge Platz für Fantasie und gegenseitigem Verständnis. Rot musste dort die vorherrschende Farbe sein, rot wie die Liebe, die in Famirans Welt aber überhaupt nicht existierte.

Vollkommen entgeistert wurde Vlaindars Traumbild durch sämtliche Beschreibungen und Erfahrungserklärungen komplett entschleiert. Er war noch nie in seinem Leben so entsetzt gewesen – gleichzeitig konnte er sich aber auch nicht von diesem Gespräch losreißen und einfach abschalten. Es war einfach – zugegeben – zu … fesselnd. Obwohl die Geschichten meistens schaurig in den Ohren der dreiundzwanzigjährigen Jungfrau von einem Mann klangen, musste er doch einfach jedes Wort aufschnappen und alles bildlich in sich aufsaugen, weggeweht waren die Gedanken der Abweisung und der Neutralität.

Innerlich sagte Vlaindar seiner Unschuld, seinem unschuldigen Unwissen, auf Wiedersehen und konzentrierte sich vollkommen auf alles Gesagte, obwohl er so tat, als würde ihn das Ganze kalt lassen. Nein, er wollte sich nicht anmerken lassen, dass ihn das hier interessierte, dann würden Famiran und Mikanor bekommen, was sie wollten und gewinnen. Das konnte er nicht zulassen! Gleichzeitig aber lechzte er nach all diesem Wissen – diesen Umstand würde er später folgendermaßen erläutern und sich diese Ausrede bereitlegen: Auch zölibatär lebende Priester zeigten Interesse an Frauen, warum nicht auch er? Außerdem war es niemals schlecht, Wissen über alles zu besitzen, was es auf dieser Welt gab. Wieso sollte er den Anweisungen seiner Vasallen also nicht zuhören? Unschuld und Unwissen schützte nicht vor Katastrophen und erst recht nicht vor der Zukunft.

Vlaindar sog scharf die Luft ein und in seinem Kopf war nichts außer den Dingen, die ihm berichtet wurden. Die Gedanken über dieses Thema zischten an ihm vorbei und füllten seinen Kopf bis zum Überlaufen. Ein Knäuel an unterdrückten Emotionen löste sich und setzte sich in ihn frei. Von ungewohnten Dingen heimgesucht, war der junge Drachenreitergeneral das erste Mal in seinem Leben dermaßen verwirrt, dass er den Glauben an Ismira kurzzeitig verlor. Er bemerkte nicht einmal, dass Famiran und Mikanor sich während des Redens halb tot lachten ob seiner geschockten Grimasse.
 

Mit einem schelmischen Grinsen kamen Famiran und Mikanor aus dem Treppenhaus in den Schankraum. Palinor sah sie schon von weitem – eher gesagt, sah er ihr Lächeln, das von einem Ohr zum anderen reichte und musste den Kopf schütteln. Eindeutig war ihr Vorhaben nach Plan verlaufen und gelungen.

„Wie erwartet, Meister Vize, wie erwartet“, brüstete sich Mikanor und klopfte Famiran auf die Schulter, der nur ein Kichern ausstieß, bevor beide sich zu Keoran und Palinor setzten.

„Und was ist mit Vlaindar?“, wollte Keoran wissen. Er traute der guten Laune der zwei Drachenreiter nicht und machte sich Sorgen um seinen Freund.

„Ihr hättet sein Gesicht sehen müssen!“, prustete Famiran los und hielt sich beim Lachen den Bauch.

„Schockiert ist noch gar kein Ausdruck dafür!“, stimmte ihm Mikanor Kopf schüttelnd zu und klopfte dabei mit seiner Faust auf den Tisch. Dann wischte er sich mit dem Handrücken eine Lachträne aus dem Augenwinkel. Die Beiden waren eindeutig schon eine ganze Weile am Lachen …

Palinor brachte ein klägliches Lächeln hervor. Er konnte sich Vlaindars Zustand gut vorstellen. Man sollte generell keine gutgläubige Jungfrau entschleiern, das gab hinterher Mord und Totschlag – angeblich. Aber das war auch nur eines dieser Sprichworte, die nie einen Sinn ergaben, außer wenn man sich über andere lustig machen wollte. Immerhin waren diese Witze nicht so schrecklich wie Bauernweisheiten. Apropos Bauernweisheiten. Erst neulich war ihm wieder eine Neue untergekommen: „Fällt der Priester in den Mist, lacht der Bauer, bis er pisst.“ Palinor lachte lauthals los und die beiden Anderen fassten das als Übereinstimmung auf, sie klopften sich gegenseitig auf die Schultern.

„Ich bin müde. Ich ruhe mich etwas aus, die Herren“, meinte Keoran schließlich und erhob sich. Der Drachenreiter durchquerte den Schankraum und wich der rothaarigen Kellnerin aus, die ihm lächelnd ein Guten Tag entgegen warf, als er sie der Höflichkeit halber begrüßte. Ihre Wangen waren rosig von der schweren Arbeit, die sie verrichtete.

Seufzend stieg Keoran die Treppen hinauf, nur um sich vor Vlaindars Zimmer wieder zu finden. Als guter Freund des Drachenreitergenerals war es seine Pflicht, sich in solchen Situationen um ihn zu kümmern, also klopfte er und öffnete die Tür.

Vlaindar saß auf seinem Bett und starrte vollkommen desorientiert die gegenüberliegende Wand an. Das würde ein harter Tag werden, da war sich Keoran ziemlich sicher.

Coquetry

Vlaindar wachte irgendwann nachts bewusst auf. Eigentlich war er die ganze Zeit wach gewesen aber so abgelenkt, dass er sich auf nichts konzentrieren konnte. Dementsprechend war er auch den Rest des Tages im Zimmer geblieben – nichts würde Mikanor und Famiran besser gefallen, als ihn verwirrt zu sehen.

Doch das bewusste Aufwachen kam plötzlich, als ihn seine Drachendame ansprach, ihn beinahe wach rüttelte.

'Vlaindar, du Kleinkind! Wir kämpfen hier gegen den Sturm und du brütest über einem albernen Gespräch!'

'Was für einen Sturm?'

'Na der, der draußen herrscht, Kindskopf! Hör doch hin oder bist du jetzt auch noch taub?'

Oh ja, Hairima liebte es, ihn zu verspotten und ihn wie einen Volltrottel darzustellen. Das war ihre liebste Beschäftigung: Vlaindar ärgern. Macht riesigen Spaß! Vlaindar verdrehte die Augen und wollte sich gerade im Bett umdrehen, als er tatsächlich die Ohren spitzte. Sie hatte nicht gelogen. Jetzt, da er hinhörte, war der Sturm gar nicht mehr zu überhören.

Entsetzt sprang er auf und rannte hastig aus dem Zimmer, bevor er die Treppen hinabstolperte, während er mit Hairima sprach:

'Geht es euch gut?'

'Es ging schon mal besser. Mit den Schnauzen im Wind ist es aushaltbar, aber wir würden gerne in einen Stall oder eine Höhle.'

'Höhlen gibt es hier, fürchte ich, nicht. Ich kann euch nur einen Stallplatz anbieten. Ist schon jemand bei euch?'

'Jokandir hat mir gerade gebeichtet, dass sein Drachenreiter mit Famili und Mikanora um die Wette getrunken hat und jetzt betrunken im Bett liegt.'

'Was ist mit Keoran?'

'Der schläft tief und fest, glaub mir.'

Vlaindar seufzte. Gerade bei einem Sturm war es wichtig, dass die Drachen untergestellt waren, denn die kleinsten Verletzungen konnten sie flugunfähig machen – beispielsweise ein tiefer Riss in den dünnen Flügelmembranen. Warum also hatten diese Dummköpfe von Drachenreitern sich den heutigen Tag zum Verschlafen ausgesucht?!

Hastig durchquerte er den leeren Schankraum und riss die Tür auf. Es goss aus Eimern, wie die Stadtbewohner immer zu sagen pflegten – im Dorf wären es Kübel. Man konnte kaum fünf Beinspannen weit sehen. Verstärkt wurde die Sichteinschränkung noch von der tiefen Nacht.

Er schluckte und zog den Kragen hoch. Gleichzeitig wünschte er sich, seinen Umhang übergeworfen und die Stiefel angezogen zu haben. Doch murren half nichts. Musste er eben barfuß und nur in Hose und Blouson durch den Regen.

Vlaindar rannte so schnell er konnte um die Gaststätte herum und prallte fast mit der Person zusammen, die aus den Pferdeställen gelaufen kam. Viel zu konzentriert auf seine Gedanken, fand er nicht einmal Worte der Entschuldigung, als er vorbeilief, um zur Wiese zu gelangen. Tatsächlich sah er hinter dem Hügel, auf dem er am Vortag gesessen hatte, schon die fünf Berge von Drachenrücken, die sich eng aneinander schmiegten.

'Wird auch Zeit, du lahme Ente.'

'Hairima! Kannst du noch?'

'Ja, weißt du. Ich sitze hier ja nur zum Spaß.'

'Der Drachenstall ist direkt am Pferdestall angebracht. Es ist nicht weit!'

'Vlaindar! Ich sehe ein Licht auf mich zukommen!', schnaufte Hairima ironisch in seine Gedanken und erhob sich umständlich vom Boden. Den Kopf in den Wind und den mächtigen Schwanz als Ruder für das Gleichgewicht tat sie ein paar Schritte Richtung Gaststätte und dem hünenhaften Drachenstall direkt dahinter. Nun regten sich auch die anderen Berge und richteten sich auf. Die Drachen, die daraus hervorkamen, waren überwältigend schön aber auch groß – beinahe so hoch wie die Riesenbäume des angrenzenden Waldes und die maßen sicherlich sieben Meter. Einer drängte sich jetzt vor, er war der jüngste unter den Drachen und gehörte zu Famiran: Leonora war eine hübsche, orangefarbene Drachendame, die mit ihrer zierlichen Größe und den großen grünen Augen noch jeden bezirzte. Dagegen wirkte ihr Gedankenruf eher kläglich und schwach:

'Shiarireyliar, Ismira sei Dank! Helft mir!'

Ihre Flügel flatterten unkontrolliert durch die Windböen und die anstrengende Prozedur des Anlegens hatte sie ermüdet. Vlaindar hob die Hand und beschwor einen mächtigen Schutzzauber. Er würde den Wind nur gering abschwächen, aber das reichte meistens schon, um einem Drachen zu helfen. Dann eilte er an ihre Seite und presste wenigstens dort den Flügel an. Er sah, dass am Ende der Membranen einige Risse entstanden waren und litt innerlich mit Leonora.

Gemeinsam zwängten sie sich dem Stall entgegen und blinzelten ob der kühlen Regengüsse im Gleichtakt. Vlaindar bemerkte den Schatten, der an der Stalltür stand erst, als sie kurz vor der Person standen. Es war die rothaarige Kellnerin, die zwar wegen der riesigen Drachen unglaublich eingeschüchtert war, aber mutig half, wo sie konnte und bereits die Tore geöffnet hatte.

„Ich helfe Euch!“, schrie sie über den tosenden Wind und hielt die Hände vor ihren Mund wie einen Trichter. Vlaindar nickte nur kurz und schob dann mit seinem gesamten Gewicht die Drachendame in den Windschatten. Leonora seufzte erleichtert und sagte:

'Danke sehr. Helft den Anderen, ich komme jetzt alleine zurecht.'

'Such dir ein Gehege aus', antwortete Vlaindar lediglich, bevor er umkehrte und durch den überfluteten Hof zurück auf den Hügel rannte. Hinter ihm vernahm er das Platschen von Stiefeln in Pfützen und war sich sicher, dass die junge Frau ihm hinterher eilte.

Als er über die Bergkuppe kam, rutschte er im Matsch der Wiese beinahe aus, der den Hang hinab lief und sich am Fuß ablagerte. Mit den Stiefeln wäre ihm das nicht passiert und er hätte weder nasse, noch kalte Füße! Von wegen kalt, Eisklötze waren das! Sie waren schon taub wegen der Kälte des noch anbrechenden Frühlings.

Ein Grollen kam aus einer der Drachenkehlen, als er sich wieder näherte. Zusammengekauert wirkten die Vier wie Schauergestalten, dennoch machte er sich Sorgen. Er musste sich beeilen und rief in Gedanken:

'Rubina! Rubina! Komm schon, du schaffst das!'

Die rote Drachendame war einen Menschenkopf größer als Leonora und zwei Jahre älter. Doch ihre Augen waren aus Furcht zusammengepresst und sie zitterte gewaltig. Das Grollen kam von ihr, während sie kleine Flammen aus ihren Nüstern stieß. Die Angst hatte sie gelähmt, weshalb sie auch zunächst nicht auf seine Rufe reagierte. Dank Jokandirs Hilfe, der sich neben sie stellte und einen ihrer Flügel an ihren Leib presste, gelang es Vlaindar jedoch die Drachendame zu beruhigen. Dann wies er Dorothea an, den anderen Flügel festzuhalten oder zumindest am Körper zu behalten. Das Mädchen führte den Befehl aus, während er sich auf Jokandirs Seite stellte und das gleiche bei ihm tat. Der goldene Drache schob Rubina vorwärts und schnaufte ob der Strapazen gefährlich. Aus seinen Nüstern schossen Flammen und hüllten die Nacht und den Regen in orangefarbenes Licht.

Vlaindar kam es so vor wie eine halbe Ewigkeit, bis der erste Drache den Windschatten erreichte, aber dann ging alles ganz schnell und Palinors Drache presste sich ebenfalls hinein. Erleichtert schnaubte er und schüttelte seinen gewaltigen Kopf und den Hals. Das Wasser spritzte sowohl Vlaindar als auch Dorothea ins Gesicht und die beiden mussten blinzeln.

'Ich danke dir, Shiarireyliar. Nun geh und rette Ianandir. Er hat ein verletztes Vorderbein von der Jagd.'

'Kümmere dich um Rubina, Jokandir', erwiderte Vlaindar und stürzte sich wieder in die Sturzbäche, die ihm die Kleidung bis auf die Haut durchweicht hatten und in seine Augen trieften. In seinem Windschatten lief die Kellnerin und er war sich ihrer mehr als deutlich bewusst, was ihn irritierte. Doch sobald er über den Hügel kam, vergaß er dieses seltsame Gefühl und konzentrierte sich auf Keorans Drachen Ianandir, ein dunkelbrauner, der in der Dunkelheit wie ein schwarzer Berg aussah. An Hairima gepresst und in ihrem Windschatten liegend, verwendete er all seine Energie darauf, seinen Körper warm zu halten. Vlaindar sprach ruhig auf ihn ein:

'Ianandir, hör mich an.'

'Ich höre.'

'Ich werde deine Flügel sichern und dann retten wir dich in den Stall.'

'Ich bitte sehr darum.'

'Schaffst du das noch oder brauchst du ein wenig Energie?'

'Es geht schon, danke.'

Vlaindar befahl Dorothea wieder, eine Seite zu nehmen und quetschte sich dann zwischen Hairima und Ianandir an den anderen, bevor er diesen mit einem Klammerzauber gut genug sicherte, um sich nur noch mit seinem ganzen Gewicht dagegenstemmen zu müssen. Dann vernahm er Hairimas Gedankenstimme. Sie klang nicht begeistert.

'Immer bin ich die Letzte.'

Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, das jedoch nicht lange anhielt, als die mühselige Arbeit begann, den humpelnden Drachen vor den Böen in Sicherheit zu bringen. Sein Schwanz schlug aus und er versuchte verzweifelt das Gewicht auf einem Bein nach vorne zu hieven, während er weiterhin die Augen vor dem Regen abschirmte.

Gerade als sie den Weg zur Hälfte bestritten hatten, rollte ein Donner über den Himmel und nur Sekunden später erhellte ein Blitz die Umgebung. Eine gewaltige Gefühlswelle brach über Vlaindar zusammen, als er bemerkte, dass Hairima sich vor Schreck auf dem Boden zusammenkauerte. Drachen und Stürme vertrugen sich nicht.

Ianandir stieß ein Grollen aus und warf sich erneut gegen den Wind. Dieses Mal schafften sie es mit vereinter Kraft, ihn weiter vor zu schieben. Mit einem Schnalzer sank Vlaindar in einer Matschpfütze ein und fiel der Länge nach ins Wasser. Die Unterstützung an seiner rechten Flanke verlierend, brach der Drache in Panik aus und stieß einen Feuerstrahl gen Himmel aus, der durch einen Blitz schaurig untermalt wurde. Der Donner klang wie das Einstürzen eines Palastes und Vlaindar raffte all seine Kraft zusammen, bevor er sich gegen einen Hinterlauf stemmte und den Drachen in den Windschatten schob. Ianandir, befreit von der Last des Sturms, trottete in den Stall und sagte lediglich:

'Wurde auch endlich Zeit. Danke.'

Vlaindar stöhnte und schnappte nach Luft. Aus der Puste und vollkommen erschöpft, wandte er sich vom sanften Licht des Stalls ab, um zu Hairima zurückzukehren, die inzwischen in seine Gedanken hineinjammerte, weil der Wind zugenommen hatte.

'Kindskopf! Schafskopf! Hundefutter bist du! Du Mistkerl lässt deine Drachendame hier draußen alleine, schäme dich!'

'Beruhige dich, Hairima.'

'Nichts ist mit beruhigen. Komm her und hol mich endlich ab!'

'Jawohl, Herrin.'

In dem Moment, in dem er sich aufmachen wollte, berührte ihn die junge Frau und zog ihn dann mit sich. Sie wusste sicherlich nicht, wie dankbar er ihr dafür war. Alleine hätte er die Drachen wahrscheinlich nie in den Stall bekommen. Gemeinsam rannten sie mit dem Wind im Rücken zu Hairima und bezogen an jedem ihrer Flügel Position. Mit einem Klammerzauber nahm Vlaindar seiner Drachendame ein wenig Arbeit ab, doch die Magiewirkung erschöpfte ihn und er kam nur noch durch bloße Willenskraft voran. Sein ganzes Bewusstsein drehte sich nur noch darum, Hairima in den Stall zu bekommen und dann umzufallen.

Der Regen prasselte unaufhörlich auf ihn ein und die Kälte war ihm in alle Glieder gekrochen, von den Füßen bis in seine Lunge biss sie ihn. Vor sich sah er die weißen Atemwolken wegwehen und wusste instinktiv, dass sowohl seine Hände als auch seine Füße knallrot oder, was wahrscheinlicher war, blau angelaufen waren. Mit immer größerer Anstrengung schob er die Drachendame weiter, die sich gegen die Windböen aufbäumte und deren Schwanz unkontrolliert umher schlug.

'Gleich sind wir da!' , rief sie in seine Gedanken genau in dem Moment, in dem er die Kontrolle über seine Magie verlor und sich sowohl der Klammerzauber als auch der Schutzzauber auflösten. Die nächste Böe erwischte Hairimas Flügel und riss ihn von ihrer Seite in die Luft. Er klammerte sich mit letzter Kraft an ihn und konnte ihn dadurch wieder zurück an ihren Körper pressen, doch ein lauter Aufschrei von der anderen Seite sagte ihm genug, um von Dorothea das Gegenteil behaupten zu können. Hairimas linker Flügel schlug aus und traf die junge Frau mit voller Wucht. Sie wurde ziemlich weit durch den Hof geschleudert und blieb dort regungslos liegen. Vlaindar sah dem Schauspiel schockiert zu und vergaß für einen Moment, was er machen sollte, bis Hairima ihn aufrüttelte:

'Bring mich endlich in den Stall! Hier ist ein bisschen Energie.'

Den Kraftstrom verwendete er für einen neuen Klammerzauber und schob sie dann in den Windschatten. Sie seufzte erleichtert und drängte sich durch die Tore, bevor sie ihm von drinnen zurief:

'Nun mach schon! Kümmere dich um sie! Ich hoffe, sie lebt noch.'

Vlaindar wandte sich vom Hinterteil seines Drachen ab und rannte durch den Hof auf die junge Frau zu, die immer noch an der Stelle lag, an der sie aufgekommen war. Woher er die Kraft dazu hatte, wusste er nicht genau, aber er wollte sie auch nicht hinterfragen, stattdessen ging er in die Knie und drehte Dorothea auf den Rücken. Sie sah unverletzt aus, was ihn erleichterte. Drachen konnten verheerende Verletzungen erzeugen, wenn sie außer Kontrolle waren.

Dann hob Vlaindar sie in seine Arme und schwankte zurück in den Windschatten des Stalls, wo er sie an die Wand lehnte und das Tor zum Inneren verschloss. Erst jetzt hob er sie wieder hoch und zwang sich mit letzter Kraft um das Haus herum in den Schankraum zu gehen. Es kam ihm so vor, als dauerte all dies sein ganzes Leben und er war alt, bevor er ankam, aber so war es nicht und irgendwann betrat er den Raum. Erleichtert setzte er die ohnmächtige Frau auf einen Stuhl neben dem Eingang und schloss die Tür. Wärme umspülte ihn und er fühlte sich zum ersten Mal richtig dreckig. Seine Glieder waren eingefroren und er konnte sich vor Erschöpfung kaum noch bewegen. Er triefte und war durchweicht bis auf die Knochen.

Ein Stöhnen lenkte ihn ab und er beobachtete erleichtert, wie Dorothea sich aufrichtete und den Kopf schüttelte. Verwirrt sah sie sich um und registrierte ihn erst spät. Mit einem weiteren Stöhnen lehnte sie sich vor und betastete erst dann ihre rechte Seite. Sie zuckte zusammen und keuchte vor Schmerz auf – ihr Gesicht verformte sich zu einer Grimasse.

„Geht es Euch gut?“, fragte Vlaindar und rang hilflos mit den Fingern, bevor er die Stelle betrachtete, die Dorothea festhielt.

„Ich lebe noch“, antwortete sie lediglich und erhob sich vom Stuhl, nur um zusammenzuzucken und ein weiteres Mal zu stöhnen. Vlaindar bot ihr seine Hilfe an, indem er ihr die Hand reichte, doch sie winkte ab und stützte sich stattdessen an der Wand ab. Langsam ging sie durch den Raum und sagte:

„Ihr seid also Drachenreiter?“

„Ja“, meinte er schlicht und ergreifend. Da gab es nichts zu verbergen.

„Für die Ställe müsst Ihr aber extra bezahlen“, erwiderte sie daraufhin schwach lächelnd und hangelte sich irgendwie unbeholfen in den Thekenraum. Vlaindar folgte ihr und runzelte besorgt die Stirn. Wenn sie solche Schmerzen hatte, sollte sie sich vielleicht nicht bewegen!

„Wollt Ihr Euch nicht ausruhen?“, schlug er vor und fing sich einen düsteren Blick, der eher gekränkt wirkte als böse.

„Danke, das hatte ich vor, als es zu stürmen begann. Die Pferde mussten in den Stall.“

„Für die Ställe werde ich morgen bezahlen.“

„Tut das“, antwortete sie und ging durch eine Tür neben der, die zu dem Warteraum mit den Schlüsseln führte. Rein aus Interesse und Besorgnis folgte er ihr und fand sich in einer kleinen Kammer wieder, deren Hauptinhalt ein kleines Bett darstellte. Dorothea sah ihn misstrauisch an und er hob abwehrend die Hände, bevor er einige Schritte rückwärts aus dem Zimmer tat. Sie wandte den Blick ab und ließ sich stöhnend auf den Kissen nieder. Ihre Hand immer noch auf ihrer rechten Seite rieb sie die Stelle. Er runzelte erneut die Stirn.

„Das ist nicht gut“, meinte er und deutete auf ihre Seite. Sie sah zu ihm auf und antwortete:

„Kann sein. Es schmerzt.“

„Kann ich Euch helfen? Es war schließlich mein Drache …“

„Nein“, unterbrach sie ihn. Doch er ließ nicht locker. Sie war vielleicht zu stolz, um rechtzeitig Hilfe zu suchen und irgendwann war es dafür dann zu spät. Er wollte nicht die Verantwortung dafür übernehmen müssen.

„Aber irgendwie muss ich Euch doch helfen! Mein Drache hat Euch verletzt! Die Wunde könnte schlimmer sein, als sie aussieht“, sprudelte es aus ihm hervor und er wunderte sich selbst über seine Worte. Doch das misstrauische Stirnrunzeln glättete sich, als sie nachgab:

„Fein. Geht in die Küche, der weiße Wandschrank hat Medizin in sich. Ein kleiner gelber Topf mit der Aufschrift „Salbe“ steht irgendwo dort. Bringt ihn mir!“

Vlaindar tat wie geheißen und holte brav den Topf, doch als er die Kammer wieder betrat ließ er das Gefäß vor Schreck fast fallen. Die Kellnerin hatte den Knoten ihres Kleids gelöst und zeigte nun ihren nackten Rücken, während sie auf dem Bauch ausgestreckt lag. Der hellblaue, nasse Stoff bauschte sich um ihre Hüften und er sah ihre Wirbelsäule, die sich sanft bog und in einer geschwungenen Linie unter ihrem Kleid zum Hintern führte. Weil Dorothea die Arme unter ihren Kopf gebettet hatte, konnte er auch eine ihrer Brüste sehen, die zwischen Körper und Matratze eingeengt war.

Unter normalen Umständen hätte er mit der Zölibatsausrede das Weite gesucht, doch jetzt stand er hier wie festgenagelt und starrte auf ihren Körper hinab mit den Gedanken bei einer zärtlichen Liebkosung ihrer Kurven durch seine Lippen – dank Famirans und Mikanors mittäglicher Ausführung über die Buhlerei.

Die Röte schoss ihm ins Gesicht und er versuchte anstandsgemäß auf den Boden zu sehen, bevor er sich räusperte und ihr den Topf entgegenhielt. Gleichzeitig wollte er nichts als fort, weil er seine plötzlichen Empfindungen als falsch abstempelte und für eingeredet hielt: Famiran und Mikanor hatten zu gute Arbeit geleistet. Wie dumm von ihm, einer Frau jetzt noch so nahe zu kommen!

Die Regungen, die ihr nackter Rücken bei ihm auslösten, waren alles andere als erfreulich, denn die Schreckgeschichten der beiden Drachenreiter schockierten ihn zutiefst. Deshalb war er auch überhaupt nicht begeistert, als dieser Anblick ihn gut genug erregte, um im seinen Schritt Aufmerksamkeit zu bekommen. Sofort hockte er sich hin, um diese Regung zu verbergen und schaute Dorothea ins Gesicht. Ärgerlich verfluchte er innerlich seine beiden Drachenreitervasallen.

Die junge Frau bemerkte ihn erst jetzt, denn sie hatte zuvor noch das Ausstrecken ausprobiert, um zu sehen, wie sehr sie ihre Seite belasten konnte.

„Seid so gut und helft mir, die Salbe aufzutragen“, sagte sie lediglich und legte sich abwartend hin. Vlaindar fiel fast vom Glauben ab, als er das hörte. Oh, nein! Nicht bei den Gedanken, die in seinem Kopf herumschwirrten. Mühsam unterdrückte er den Drang die Flucht zu ergreifen und öffnete den Salbentopf. Eine Kräuterpaste war dort drin und verbreitete sofort ihren Duft im Raum. Sich nur auf diesen konzentrierend, tauchte Vlaindar seine Finger in die Paste ein und wandte sich wieder Dorotheas Rücken zu. Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte die Stelle, an der Hairimas Flügel die Kellnerin erwischt hatte. Sie war rot, sah aber ungefährlich aus.

Die junge Frau stöhnte entzückt und erreichte damit nur, dass Vlaindar zu Eis erstarrte – entsetzt hatte er festgestellt das in seinem Schritt etwas ganz Anderes erstarrt war und versuchte nun verzweifelt, die Regung zu unterdrücken. Das ging nur nicht so gut, weil seine Zeige- und Mittelfinger, die auf ihrem Rücken ruhten, ständig Empfindungen an ihn sandten: weiche und zarte Haut, angenehme Körperwärme, das Rauschen des Bluts unter den Fingerkuppen.

„Geht es Euch gut?“, fragte ihn die junge Frau und Vlaindar brachte sich gerade noch davon ab, den Salbtopf wegzuwerfen und sie wie ein Tier zu besteigen. Es war der rohe, animalische Instinkt eines Tiers. Er räusperte sich und fuhr fort, die Stelle zu massieren, die sie ihm wies. Am liebsten würde er sie am ganzen Körper …

'Um Ismiras Willen, Vlaindar! Hör auf, so zu denken!' , riss ihn Hairimas Stimme zurück in die Wirklichkeit und er blinzelte. Weil er jetzt zurückgefunden hatte, wollte er seinen Verstand nicht noch einmal verlieren, verfluchte erneut Famiran und Mikanor und trug dann hastig den Rest der Paste auf, bevor er den Topf zuschraubte und ihn neben dem Bett abstellte. Danach stand er auf und drehte sich um, damit Dorothea nichts von seiner sich verselbstständigten Front sah. Er wollte sie nicht erschrecken, sie war doch noch so jung.

„Ich wünsche Euch eine angenehme Nachtruhe“, sagte er mit zittriger Stimme und schluckte den Kloß beiseite, der ihn behinderte.

„Ich Euch ebenfalls. Ich danke Euch, Ihr habt mir sehr geholfen“, antwortete sie mit einer so sanften Stimme, dass er sie umarmen wollte. Den Rest der Gedanken, die sich an eine mögliche Umarmung anschlossen, verbannte er aus seinem Kopf.

„Nein, Ihr habt mir geholfen. Gute Nacht“, erwiderte er knapp und stolperte hastig aus dem Raum, bevor er die Tür hinter sich schloss und sich alle Mühe gab, nicht durch das ganze Haus in sein Zimmer zu rennen wie ein Verrückter. Stattdessen ging er im gemäßigten Gang dorthin und versuchte sich verzweifelt davon abzubringen, seine Finger an den Mund zu führen. Dennoch spürte er ihre Lebensenergie unter den Kuppen pochen und verlor sich ganz in dieser Empfindung. Ehe er es bemerkte, war es bereits Morgen und er hatte nicht ein bisschen geschlafen. Das Pochen in seiner Hand wurde noch zehnmal verstärkt vom Klopfen seines Herzens.

„Unsere Herzen schlagen im gleichen Takt“, erinnerte er sich an die Bedeutung der Glockenblume in der Blumensprache. Sein Blick fiel auf die Fingerkuppen seines Zeige- und Mittelfingers und er begann verträumt zu lächeln.

'Schafskopf!' , rügte ihn Hairima, doch sein Lächeln verschwand nicht. Ja, er war ein Schafskopf, da musste er ihr zustimmen. Er lachte und drehte sich auf den Rücken, die Hände auf dem Bauch, den Blick gen Decke. In seinen Gedanken hallte immer wieder Hairimas Stimme wider:

'Schafskopf!'
 

Dorothea sah die geschlossene Tür an und lächelte. Nachdem der Anführer der Reisenden hastig den Raum verlassen hatte, konnte sie sich einfach nicht mehr zusammenreißen. Erst gestern hatte sie mit Erna geredet und ihr erzählt, dass der Mann ihr gefiel. Die hatte ihr ein paar kleine Tricks gezeigt, wie man einen Mann am besten verführte. Wirklich angewandt hatte Dorothea sie nicht, denn sie waren teilweise sehr direkt, aber die Tatsache, dass sie herausgefunden hatte, was funktionierte, machte ihr Spaß.

Dank der Aktion mit dem nackten Rücken hatte sie bemerkt, dass er schüchtern war – zumindest gegenüber dem anderen Geschlecht. Auch in den vergangenen Tagen war ihr aufgefallen, dass er nie zusammen mit seiner Gruppe badete, was ihn in gewisser Weise zum Außenseiter machte. Er schämte sich wohl ziemlich schnell. Nun gut, das machte ihn nur umso attraktiver.

„Je mehr ich von ihm weiß, desto höher steigt er in meinem Ansehen“, flüsterte sie ihrem Kissen zu und überlegte weiter. Vielleicht schämte er sich auch nur, weil er nicht wusste, wie er mit „nackten Begebenheiten“ umgehen sollte … Wusste er am Ende nicht, wie sein Körper beschaffen war? War er etwa wie sie noch …

„Jungfrau?!“, stieß Dorothea hervor und bedeckte schnell ihren Mund mit der Hand, bevor sie glucksend unter der Decke verschwand. Der Mann war ja so niedlich!
 

Vlaindar öffnete die Tür auf ein Klopfen hin und nickte Palinor zu, der vor ihm stand. Der Drachenreiter lächelte und trat dann zurück in den Flur, nur um ihm zu zeigen, dass auch der Rest seiner Garde anwesend waren. Seit diesem schicksalhaften Gespräch mit Famiran und Mikanor war er gezwungen, alle Treffen mitzumachen – ob Essen oder Gemeinschaftsbäder. Eigentlich hatte er sich vor letzterem drücken wollen, doch die drei hatten nicht locker gelassen und dank Keorans Enthaltung war er eindeutig überstimmt worden.

„Auf, auf“, lachte Mikanor und zog Vlaindar aus seinem Zimmer. Famiran holte Wechselkleidung und ein Handtuch für ihn, bevor sie ihren General vor sich her trieben. Richtung Waschraum. Vlaindar seufzte.

„Na, mit jedem Seufzen entschwindet auch ein bisschen Glück, guter Mann“, sagte Palinor und klopfte ihm auf die Schultern.

„Kein Wunder, dass Ihr noch keine Frau habt, Shiarireyliar“, fügte Famiran an und lachte. Keoran hielt sich wie immer im Hintergrund und sagte nichts, wofür ihm Vlaindar sehr dankbar war.

Die Gruppe wurde von ihm angeführt, danach folgten Palinor und Mikanor, die ihn vor sich her schoben, Famiran ging etwas versetzt hinter Mikanor und drei Schritte hinter ihm kam erst Keoran. So angeordnet wanderten sie auf die Tür am anderen Ende des Gangs zu. Es war Vlaindars persönlicher Strafe: Ein Gemeinschaftsbad war alles andere als das, was er sich wünschte. Eigentlich wollte er nur nach Hause und hoffte daher auf den königlichen Befehl, der der Sturmjägergarde die Rückkehr ermöglichte. Doch der gekrönte Mann hatte ihm nach der Schlacht versprochen, seiner Garde ein wenig Freizeit zu gestatten, was auch eingetroffen war. Nur konnte der König ja nicht wissen, dass Vlaindar überhaupt nicht begeistert davon war, dass sich seine Vasallen die Langeweile mit Späßen über ihn vertrieben.

„Ich will nicht darüber sprechen“, warnte Vlaindar jetzt und versuchte seine Stirn in mahnende Falten zu legen. Doch dieses Mal wirkte der ernste Blick nicht und Mikanor sagte:

„Ach, ist es Euch peinlich?“

„Hütet Eure Zunge.“

„Aber natürlich, jetzt auch noch ablenken!“, warf Famiran dazwischen und beide schnaubten theatralisch. Sie waren ja solche Klatschbasen! Vlaindar ärgerte sich und beschleunigte seinen Schritt, wenn er auch nur einen einzigen Kommentar hörte über …

„Habt Ihr jetzt verstanden, wozu das Schwert des Mannes wirklich da ist?!“, höhnte Mikanor und zeigte auf seinen Schritt, als Vlaindar sich umdrehte. Der General war puterrot angelaufen und wollte den Drachenreiter nur noch rügen. Konnte er nicht den Mund halten?!

„Shiar, hütet Eure Zunge, ich warne Euch!“, mahnte Vlaindar und riss die Tür zum Waschraum auf, bevor er noch einen letzten Blick auf Mikanor warf und dann hinein ging. Nur um dort mit einer anderen Person zusammenzulaufen. Und von all den Leuten, die sie hätte sein können, war es niemand anderes als Dorothea, die rothaarige Kellnerin.

Vlaindar plumpste auf den Hintern, die Waschschüssel, die die junge Frau gehalten hatte, fiel auf seinen Kopf und ergoss ihren Inhalt, feinstes Seifenwasser mit einem Waschlappen, über ihn. Langsam hob er die Hand und ignorierte das wilde Gekicher seiner Vasallen hinter sich, bevor er nach dem Rand der Schüssel griff und sie sich vom Kopf hob. Dorothea starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und öffnete in einer stummen Entschuldigung den Mund. Eine Hand war auf halbem Weg zu ihrem Mund in der Luft erstarrt und hing dort vergessen.

Mit einem Seufzen stellte er die Schüssel auf den Boden und sah an sich hinab, nur um zu bemerken, dass die grobe Kleidung, die man ihm gegeben hatte, nachdem seine eigene in der Wäsche gelandet war, vollkommen durchnässt an seinem Körper klebte. Man konnte jeden seiner Muskeln sehen und er war sich ziemlich sicher, dass auch das Ding in seiner Mitte seine Aufmerksamkeit erhielt. Beschämt hielt er hastig eine Hand davor und legte die andere über sein Gesicht, um das Blut zu verdecken, das ihm in die Wangen geschossen war. Mit einem schnellen Blick auf Dorothea, der ihm sagte, dass sie zwischen seine Beine starrte, trat er den Rückzug mit folgender Ausrede an:

„Das Bad hat sich hiermit erledigt.“

Dann rannte er den Flur entlang, vollkommen überstürzt und unvorsichtig stolpernd, hinter sich eine nasse Spur herziehend, wie ein Verrückter. Mit Mühe schaffte er es in sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich und rutschte an ihr hinab auf den Dielenboden. Er zog die Beine an, legte die Arme darum und vergrub das Gesicht zwischen den Knien. Auch die tröstliche Anwesenheit seiner Drachendame in seinen Gedanken, löschte nicht das Gefühl der Beschämung aus seinem Körper.

Das Schlimme an der Sache war, dass der Blick der Kellnerin seinem Schritt gegolten hatte und ihm davon heiß geworden war. Das war doch krank!

'Nur Mut, Kleiner.'

'Mut ist gut', antwortete er und versank in tiefer Scham.
 

Famiran räusperte sich und versuchte so, die Starrheit aus seinen Gliedern zu löschen. Alle fünf standen hier und blickten dem General hinterher: Mikanor abschätzend, Palinor belustigt, Keoran … na ja, neutral? … und die Kellnerin schockiert. Die Erstarrung der Szene wirkte wie eine aufgesetzte Maskerade und er lockerte sich etwas mehr, bevor er fragte:

„Was war das?“

„Shiarireyliar“, antwortete ihm Keoran seelenruhig und ging dann an der jungen Frau vorbei ins Bad gefolgt von Palinor, der lediglich die Schultern zuckte und ein Schmunzeln verbarg. Mikanor sah zu seinem jüngeren Freund und meinte dann:

„Sieh an wie verlegen der Gute war. Ganze Arbeit, Meister der Buhlerei!“

Die Beiden lachten hämisch und Famiran betrat den Raum, bevor er sich noch einmal zu Dorothea umdrehte und ihr versicherte:

„Er ist generell nicht so, verzeiht ihm.“

Als sie nickte, lächelte er und schloss dann die Tür hinter Mikanor und sich.
 

Dorothea zog eine Augenbraue hoch. Mit jedem Tag, der verging, wurden die Reisenden seltsamer. Die Einzigen aus der Gruppe, die noch einigermaßen normal wirkten, waren der langhaarige Blonde und der ewige Weintrinker, der immer irgendwo im Hintergrund verschwand, aber jede Menge zu wissen schien.

Warum aber waren die beiden Jüngeren die ganze Zeit am Lachen? Seit dem Vortag sah sie die Zwei immer wieder kichern und es wurde schlimmer, je öfter ihnen der Anführer begegnete – nun gut, er verhielt sich seit gestern äußerst seltsam, aber war das wirklich der Grund? Sie wettete darauf, dass sie irgendetwas mit ihm angestellt hatten.

Aber niedlich waren sie alle, nur bei weitem nicht so süß wie der Anführer. Auch wenn dieser eher der düstere Typ war, konnte sie einfach nicht anders, als ihn so beschreiben. Als er mit ihr zusammengeprallt und hingefallen war, hatte er sich das Sahnehäubchen aufgesetzt. Zuckersüß! Diese erröteten Wangen und der schüchterne Blick, gemischt mit einem Kochlöffel voll Scham – oder wie sie fand: Charme – waren einfach das perfekteste Rezept! Sie wollte ihn auf der Stelle vernaschen.

„Hör dich bloß nur einmal an, Doro“, schüttelte sie über sich selbst den Kopf und hob die Schüssel mit dem Waschlappen auf. Ohne auch nur die Seifenwasserpfütze wegzuwischen, machte sie sich auf den Weg nach unten – pfeifend vor guter Laune. Wenn sie es schaffte, heute noch einmal mit Erna zu reden, bevor das für den Abend angesetzte Dorffest stattfand, könnte sie noch einige nützliche Tipps erhalten – sie wollte diesen Mann!

Diese Entschlossenheit machte ihr selbst ein wenig Angst, denn wenn sie es sich recht überlegte, dann war ihr Auserwählter einige Jahre älter als sie. In ihrem Hinterkopf flüsterte ihr eine Stimme schon eine ganze Weile Unsicherheit ein, doch sie ignorierte sie, sobald sie wieder auftauchte. Nein, so fand man keinen Mann. Wenn man sich fürchtete und verzweifelt versuchte, sich vor Schmerz und Enttäuschungen zu schützen, schaffte man niemals den einen Schritt in die Zukunft. Sie stellte sich dieser Angst und hörte nur auf das Klopfen ihres Herzens: Es raste und holperte, als ihr sein durchnässter Anblick wieder in den Sinn kam. Man hatte nicht viel erkennen können, aber er war imposant gebaut. Schade nur, dass sein Schritt nicht viel hergegeben hatte – sie hätte ihm eine andere Hose geben sollen. Eine, bei der man alles sehen konnte, sobald sie nass wurde.

Seufzend verstaute sie die leere Waschschüssel in einem Wandschrank in der Küche, nur um den Blick auf den Medizinschrank zu legen. Verträumt dachte sie wieder an seine Schüchternheit ihr gegenüber, als er sie gestern Nacht versorgt hatte.

Oh, wie gut er aussehen musste während einer Vereinigung! Die Röte in seinen Wangen, den Blick verführerisch auf den Körper unter sich gerichtet, die Augen genießerisch halb geschlossen, die Lippen leicht geöffnet für ein Stöhnen, das sich an sie klammerte, ein Hauch von Schweiß auf seiner Haut, der die Anstrengung einer heißen Nacht zeigte und der beschleunigte Herzschlag, der pulsierend in seinen Adern widerhallte!

„Ismira im Himmel, einer deiner heiligen Söhne ist zu uns hinab gestiegen!“, stöhnte Dorothea ob ihres Fantasiegebildes leicht. Ihr war verräterisch heiß geworden und natürlich hatte sie sich in einer eindeutigen Position unter ihm wieder gefunden, was sie erregte.

„Dorothea! Sind deine Kuchen fertig?!“, brüllte eine Frauenstimme von draußen und rüttelte sie aus ihren Tagträumen. Oh, wüsste Emma, was sie gerade unterbrochen hatte, dann würde sie nie wieder mit ihr reden!

Missmutig machte Dorothea sich wieder an die Arbeit und schaute in den Ofen, aus dem ein himmlischer Duft stieg. Ihre Gedanken verweilten aber die ganze Zeit bei „ihrem“ Drachenreiter.
 

Wo am Vortag noch die Drachen im Sturm gekauert hatten, fand jetzt das jährliche „Jahreszeitenwechselfest von Winter auf Frühling“ statt. Wer auch immer sich den Namen ausgedacht hatte, er oder sie war nicht sehr erfinderisch gewesen, denn tatsächlich verabschiedete man den Winter und begrüßte den Frühling. Landbewohner pflegten einige seltsame Traditionen …

Vlaindar saß wieder auf dem Hügel, jetzt jedoch auf einer der vielen Decken, die verstreut auf der Wiese ausgelegt worden waren, und trank einen seltsamen Saft, den er von einer der Kellnerinnen in die Hand gedrückt bekommen hatte. Er schmeckte wie eine Mischung aus Honig, Orangen und scharfem Zeugs, aber es war gut und er hatte bereits ein Glas davon geleert – über den Abend verteilt.

Famiran und Mikanor hatten unbedingt dabei sein wollen, während Fandenstars Dorfbewohner den Frühling angingen und so hatte sich die Gruppe dazu entschlossen, am Fest teilzunehmen. Die Beiden tanzten nun irgendwo unten in der Senke um das Lagerfeuer in der Mitte, jeder wahrscheinlich mit zwei Frauen an jedem Finger. Vlaindar ignorierte ihre Sprunghaftigkeit gnädig – schließlich waren sie nicht mehr im Dienst. Bis der König ihnen die Botschaft schickte, sie mögen in die Hauptstadt zurückkehren und sich wieder den Garden anschließen.

Keoran hatte sich zunächst neben Vlaindar hingesetzt, war aber dann seiner Weinsucht verfallen und hatte bereits eine Flasche geleert. Mit einem halbvollen Glas – der ruhige Drachenreiter selbst hielt es für halbleer – in der einen Hand und der zweiten Flasche in der anderen, deren Korken erst vor kurzen entfernt worden war, lag und saß er halb in einer ungemütlich aussehenden Schräglage. Morgen würde er Besuch von seinem ungeliebten Haustier bekommen: dem verfluchten Kater.

Palinor kämpfte sich seit Stunden durch das aufgestellte Buffet. Mit vier vollen, großen Tellern war er gleich zu Beginn des Fests zu ihnen zurückgekehrt, nur um nach dem Verspeisen ihrer Gaben sofort wieder entlang der Tischreihen zu stromern. Er bekam selten so gutes Essen bei sich zu Hause. Seine Frau Sedara war für ihre nicht vorhandenen Kochkünste berühmt berüchtigt: Wer eine Einladung zum Abendessen erhielt, der fand generell schleunigst eine Ausrede, die das Treffen verhinderte.

Vlaindar sah zurück auf sein Getränk und musterte die orangefarbene Flüssigkeit. Als er neben sich eine Bewegung registrierte, war er nicht erstaunt zu sehen, dass Keoran ins Gras zurückgefallen war und wohlig seufzte. Aus der Flasche rann der rote Stoff, aus dem sein morgiger Kater gewebt wurde, also stellte Vlaindar sie auf und rettete den Wein davor, ungetrunken im Boden zu versickern. Dann entwand er auch das Glas Keorans Händen und seufzte erneut: Gerade von diesem Drachenreiter hätte man so etwas nie erwartet.

Ein betrunkener, stämmiger Mann stolperte links neben ihm und fiel auf die Nase. Lachend stand er wieder auf und wackelte von dannen, nachdem er einer Frau auf den Hintern geklapst hatte, die diesen zufällig gerade in seinen Weg gestreckt hatte. Sie schrie gespielt auf und kicherte dann verführerisch, bevor sie mit hocherhobener Nase auf die Tanzfläche marschierte, auf der inzwischen zu einer wohlbekannten Ballade getanzt wurde: Prinz Benjamin. Die erste Strophe hallte bereits laut über die Wiese:

„Es war einmal Prinz Benjamin,

Der besaß sehr wenig Disziplin.

So wahr der Mond in den Himmel steigt,

War er keiner Dame abgeneigt.“

Vlaindar zog die Augenbrauen hoch und nahm einen großen Schluck seines Getränks. Als das Glas leer war, stellte er es beiseite und sah sich um. Überall auf den Decken lagen Liebespaare eng verschlungen und Vlaindar richtete den Blick auf den Sternenhimmel. Er wollte sich nicht einmal vorstellen, was die dort alles taten.

„Mit ein wenig Jasmin,

Bezirzte er die Kathrin

Und mit seiner schönen Stimme

Verführte er auch Imme.

War nun in seinem Staat

Ausgebracht die Sommersaat,

Überreichte er Emilie

Die allerschönste Feuerlilie.

Eine Weile ruhte jedes Augenpaar

Auf diesem schönen Liebespaar,

Doch der Festakt

Verkam schon bald zu einem Gnadenakt.“

Als er sich beruhigt hatte, beobachtete er wieder die tanzende Menge und erhaschte einen Blick auf Famiran, der sich gerade laut lachend bei einem Wildfremden unterhakte. Kopfschüttelnd blickte er weiter und bemerkte, dass die rothaarige Kellnerin immer noch zwischen den Spielleuten saß, die Laute auf dem Schoß. Zwei Frauen sangen bereits den ganzen Abend zu ihrem Spiel, begleitet von anderen Instrumenten und Rhythmusgeräten. Vlaindar musste sich ein Seufzen verkneifen: Sie war einfach in allem gut. Kochen, putzen, Laute spielen, …

„So konnten auch die Drachen

Seinen Verstand nicht mehr entfachen

Und jeder hoffte, dass irgendeine Blutsbande

Sich bald entwickelte zur Herzensbande.

Benjamins Charisma

Betörte indes auch Gundula,

Während ein Hauch Vanille

Ihm brachte die Liebe der Sibylle.

Benjamin sah sein Glück bald zerrinnen

Und zog aus, um es zurück zu gewinnen.

Weil er dabei das Herz der Königin mitgenommen,

Unterzeichnete der König ein Abkommen,

Von dem Prinz Benjamin konnte nur profitieren,

Um weiterhin die Nerven aller zu strapazieren.“

Er schüttelte wenig später den Kopf, als sein Blick verschwamm. Er wurde müde und die träumerische Atmosphäre machte ihn unaufmerksam, deshalb konnte er sich nicht gut konzentrieren. Hairima hatte sich schon vor einer halben Ewigkeit aus seinen Gedanken geschlichen mit der Ausrede, sie habe es satt mit einem verwirrten Menschen zu kommunizieren. Er gab ihr daher in ihrer Annahme Recht und seufzte. Es wurde Zeit, dass er schlafen ging. Dann würde er auch wieder einen klaren Kopf bekommen!

„So beglückte er durch Pantomime

Die wunderschöne Maxime

Und erschuf bei Mathilde

Ein schlimmes Fantasiegebilde.

In seinem jugendlichen Wunschbild

Räkelte sich bald auch Brunhild.

Sie war eine naive Herzogin,

Dennoch machte er sie zu seiner Herzenskönigin.

Doch ihr Diadem

War ein großes Problem

Und Prinz Benjamin tat das einzig Gescheite:

Er suchte ziemlich schnell das Weite.

Des Drachenreiters Schutzschild

Durchbrach auch die Kriemhild,

Deren Bruders Hand

Er zuvor geschüttelt im Freundesverband.“

Vlaindar stand auf und taumelte. Stirn runzelnd überlegte er, woher sein schlechter Gleichgewichtssinn plötzlich kam. Als ihm nichts einfiel, schob er es achselzuckend auf die Müdigkeit und tastete sich vorsichtig den Hügel hinab. Unten angekommen wankte er eine Weile auf einer Stelle umher, um sich vom Abstieg zu erholen. Seine Kondition war seltsam schwächlich …

„Doch nur ein Mal tauschte Benjamin,

Der Prinz ganz ohne Disziplin,

Seinen großen Generalstab

Gegen einen Wanderstab:

Als er erblickte das Antlitz

Des legendären Barden Moritz.

So singen wir noch heute,

Ob Liebes-, Braut- oder Eheleute,

Das Lied von Prinz Benjamin,

Dessen Herz an diesem Tag heller schien

Als die Leuchter seines Wohnsitz'

Zu der Zeit des Barden Moritz.“

„Hiandaan“, begrüßte ihn die Stimme, die sich auch heute wieder in sein Knochenmark bohrte, eine Weile nach dem Ende der Ballade. Vorsichtig drehte er sich zu der Frau um, die ihn angesprochen hatte und entdeckte wie erwartet Dorothea.

„Hm“, brachte er gerade noch hervor, dann konzentrierte er sich wieder auf die Erlangung seines Gleichgewichts. Das Wanken störte ihn. Er hätte doch sitzen bleiben sollen!

„Kann ich Euch helfen?“, fragte sie besorgt und griff beinahe direkt seinen Arm. Normalerweise hätte er solche Hilfen abgelehnt, aber er war froh, dass sie ihn stützte, denn als er sich auf den Weg zum Gasthaus begab, stolperte er häufig. Je weiter er kam, desto benebelter waren seine Gedanken.

„Geht es Euch gut?“, erkundigte sie sich und Sorgenfalten verunzierten ihre Stirn.

„Oh ja“, hauchte er und streckte seine freie Hand nach ihr aus, nur um mit dem Zeigefinger die Falten zwischen ihren Augenbrauen zu verschieben. Er wollte sie glätten, aber es klappte erst, als sie es freiwillig tat. Zufrieden strauchelte er weiter.

„Habt Ihr etwas getrunken?“, lachte sie, weil sie nun den Grund seines seltsamen Verhaltens verstand.

„Saft“, antwortete er ihr und zog das A lang. Das Gasthaus bewegte sich nach links und Vlaindar blieb wie angewurzelt stehen. Misstrauisch sah er das Gebäude an. Das war sicherlich nur Einbildung gewesen! Gasthäuser hatten keine Füße! Er lachte leise über diesen Gedanken und setzte sich wankend in Bewegung. Dorothea sah ihn zweifelnd an, gleichzeitig schlich sich jedoch ein schelmischer Blick in ihre Augen. Auch sie lächelte jetzt.

„Wisst Ihr, aus was der Saft gemacht war?“, hakte sie nach und betrachtete ihn eindringlich. Er drehte sich zu ihr um und sah sie unsicher an. Dann öffnete er den Mund und wollte etwas sagen, hörte aber, dass er vollkommenen Blödsinn redete und schloss ihn wieder. Daraufhin begann die Kellnerin wie wild zu kichern.
 

Dorothea bekam sich fast nicht mehr ein, als sie ihn lallen hörte. Verzweifelt versuchte sie, das Lachen zu ersticken, in dem sie die Lippen fest aufeinander presste. Dennoch entkam ihr ein Glucksen nach dem anderen und sie gab es irgendwann auf. Beinahe entschuldigend sah sie zu ihrem Angebeteten auf und lachte noch mehr, als sie sein gleichzeitig verwirrtes aber belustigtes Gesicht sah. Er war vollkommen von der Rolle, würde jetzt zumindest Erna sagen und die wusste immer, was zu sagen war.

„In dem Saft war Soka, Alkohol“, beantwortete sie ihre eigene Frage und sah lächelnd zu ihm auf, nur um dann die Stirn zu runzeln. Auf seinem Gesicht war nun ein missbilligender Ausdruck – er war eindeutig ein Nichttrinker, wenn er das selbst im betrunkenen Zustand schaffte.

Dorothea seufzte und führte den unsicheren Mann in den Schankraum des Gasthauses, in dem dank des Fests nicht viel los war – eigentlich gar nichts. Dort setzte sie ihn an einen Tisch und ging in die Küche, um dort einen Tee zu kochen, der dafür bekannt war, Soka zu neutralisieren. Es war die Wirkung der Teeblätter der Silin-Pflanze und sie war sich sicher, dass der Mann ihr später noch dafür danken würde: Die Kopfschmerzen, die Soka erzeugte, waren schlimm. Gelindert wurden sie nur durch das rechtzeitige Verspeisen von Silin.

Mit dem dampfenden Becher und einer ganzen Kanne voll Tee kehrte sie zu ihm zurück und befahl ihm:

„Trinkt! Dann wird es Euch besser gehen.“

Er bezweifelte ihre Aussage nicht und pustete nur kurz über das Getränk, bevor er schluckweise davon trank. Lächelnd holte sie einen Korb Wäsche, stellte ihn auf das Tischende und brachte dann aus der Küche noch einen Teller Kekse mit, den sie vor dem Drachenreiter abstellte. Sie würde ihn verpflegen und ihn „gesünder“ machen – das würde ihre Chancen bei ihm erhöhen, selbst wenn sein Aufenthalt nur von kurzer Dauer war. Erna hatte ihr gesagt, dass sie einen Mann meistens nur gut bekochen musste, denn ein Sprichwort beschrieb die einfachen Menschen genau: Liebe geht durch den Magen. Angeblich würde er ihr irgendwann zu Füßen liegen wegen ihrer wundervollen Kochkunst. Sie zweifelte noch immer ein wenig daran, versuchte es aber trotzdem.

Der Mann bedankte sich und knabberte an einem Keks herum. Sein erstaunter Gesichtsausdruck, der sich bald in ein stilles, zufriedenes Lächeln verwandelte, sagte ihr genau, dass ihm das Gebäck mundete. Langsam trank er die ganze Kanne voll Tee leer und bereits gegen Ende zitterten seine Hände nicht mehr so stark und sein Blick war klarer und fokussierter.

Dorothea freute sich, dass Silin auch bei ihm Wunder wirkte und faltete währenddessen die Wäsche der Gäste. Sie erkannte die Reisebekleidung der Drachenreiter-Gruppe sofort, als sie an die Reihe kam und legte sie beiseite, bis sie fertig war. Schon beim Waschen waren ihr die vielen Löcher aufgefallen und sie wollte sie stopfen oder wenigstens nähen, sodass sie nicht ganz zerstört waren, schließlich waren sie aus einem teuren Stoff gemacht. Also holte sie irgendwann den Nähkasten der Wirtsfamilie und machte sich still an die Arbeit – neben sich einen Mann, der schneller ausnüchterte als jeder normale Mensch.

Er beobachtete sie, nachdem er seinen Tee getrunken hatte. Er starrte nicht, das wäre ihr auch unangenehm vorgekommen, aber er schaute ihr zu, was sie wiederum innerlich erregte: Ihr Blut rauschte schneller durch ihren Körper, weil auch ihr Herz schneller schlug.

Sie sah im Verlauf der Zeit immer wieder zu ihm auf, doch nicht einmal wandte er den Blick von ihr, was ihre Unsicherheit wieder verstärkte. Seinen Blick auf sich zu spüren, machte sie nervös und am liebsten wäre sie aufgesprungen und weggerannt, doch etwas hielt sie fest auf ihrem Platz. Vielleicht die Tatsache, dass seine Augen eine Wärme ausstrahlten, die sie noch nie bei einem Mann entdecken durfte.
 

Anhand der Stimmung, die draußen herrschte, konnte Dorothea die Zeit gut abschätzen, denn je später die Stunde, desto ausgelassener die Feiernden. Noch lange war kein Gast des Wirtshauses zurückgekehrt und hatte ihre gemeinsame Ruhe gestört, die sich innerhalb der letzten Stunden zwischen ihnen ausgebreitet hatte. Es war ihr nicht unangenehm, vielmehr liebte sie es, dass ihr schnell schlagendes Herz das einzige war, was sie neben seinen und ihren regelmäßigen Atemzügen hörte.

So verrann auch diese Stunde schnell und sie war mit dem Löcherstopfen der Kleidung beinahe fertig. Das letzte Kleidungsstück war ein schwarzer Mantel, der seltsam dunkelgrün schimmerte, wenn sie ihn ihm Licht herum drehte. Ihr gefiel die Farbe und sie musste unweigerlich an den Drachen denken, der ihr mit dem Flügel eine verpasst hatte. An den großen, runden grünen Augen hatte sie ablesen können, dass er ein Weibchen gewesen war und dazu noch ein sehr stolzes. Die Drachendame hatte im Licht des Stalls schimmernde dunkelgrüne Schuppen gehabt, die von Goldadern durchwachsen waren. Sie hatte einen perfekt geformten Körper, der sich sicherlich wunderbar den Wind- und Wetterverhältnissen anpassen konnte – ein Ritt auf ihr musste atemberaubend sein. Der lange Schwanz mit der dreieckigen Spitze war ein kräftiges Ruder aber auch eine gefährliche Waffe gewesen, unterstützt von den Zacken, die sich auf ihm aufstellten. Der schlanke Hals hatte einen wohlgeformten Kopf getragen, an dessen Hinterseite ein einziger Zacken ruhte. Scharfe Reißzähne im Maul der Drachendame hatten jedem unmissverständlich klar gemacht, dass es sich um ein gefährliches Raubtier handelte. Kräftige Beine und Flügel ließen sie majestätisch aussehen – im Vergleich zu allen anderen Drachen im Schuppen war diese Drachendame etwas ganz besonderes, das wusste Dorothea sofort. Wenn sie könnte, würde sie gerne einmal auf ihr reiten, doch das war ein Traum, der sich nie erfüllt hatte und nie erfüllen würde. Schwärmerei war das Einzige, was ihr blieb von ihrer Liebe zu Drachen.

„Was denkt Ihr?“, fragte die melodische, sanfte Stimme des Mannes neben ihr und ihr lief ein Schauer über den Rücken. Sie hatte einen Drachenreiter neben sich, bei dem sie den Drang verspürte, ihn auf der Stelle zu verführen. Er war so perfekt, dass er wunderbar zu diesem hübschen Drachen gepasst hätte. War das womöglich seiner?

„Drachen sind faszinierende Geschöpfe“, antwortete sie lediglich und wandte ihren neugierig blitzenden Blick wieder dem Kleidungsstück zu, dessen Löcher sie bereits zur Hälfte gestopft hatte. Was auch immer die Drachenreiter damit angestellt hatten, war sicherlich sehr gefährlich gewesen, anderenfalls sähe diese Kleidung nicht so aus.

„Ja“, hauchte er und sein Blick, der immer noch auf ihr ruhte, wurde verträumt. Sein ganzes Gesicht strahlte eine liebevolle Aura aus, die sie am liebsten für sich beansprucht hätte, doch sie wusste, dass sie seinem Drachen galt. Doch der Blick hielt nicht lange und er wandte seine Aufmerksamkeit bald wieder ihr zu: Sein Blick fast genauso sanft. Beinahe sofort fragte sich Dorothea, ob der Mann sie vielleicht verführen wollte. Aber sie tat den Gedanken ab, da er erst am Vortag über die Buhlerei laut gelacht hatte. Ansichten änderten sich sicherlich nicht ganz so schnell …

„Oder doch?“, fragte sie sich leise, als sie seinen Blick auffing und ihm direkt in die Augen schaute. Seine Wangen erröteten wieder in einer köstlichen Farbe und sie hätte ihn am liebsten sofort angeknabbert – wie er einen der Kekse vor einiger Zeit.
 

Vlaindar schaute das Mädchen an und lauschte auf seine inneren Geräusche. Sein schneller Herzschlag, der sich zunehmend beschleunigte, sobald er sie ansah, das Blutrauschen in allen Gliedern, das entfernte Summen von Hairimas Aura in seinen Gedanken, seine Gedanken selbst, das Rauschen der Luft in seiner Lunge, wenn er atmete.

Zusammen mit dem andauernden Stechen seines Herzens, wenn er ihren Duft einsog – sie roch nach Äpfeln und er liebte Äpfel! –, sie seinem Blick begegnete und ein schelmisches Glitzern in ihre Augen trat oder die verräterische Röte in ihre Wangen schoss. Er betrachtete die Art und Weise, wie sie ihr Haar zurückwarf und kurz danach eine Strähne gedankenverloren um ihren Zeigefinger wickelte, während sie manchmal beim Atmen ihre Lippen öffnete und diese verführerisch vorschob. Genießen konnte er auch die Tatsache, dass seine animalischen Sinne, die er dank der Drachenreiterausbildung und der Verbindung mit Hairima erlangt und verstärkt hatte, ihm noch mehr von ihr verrieten, als sie ihm zeigen wollte: Er hörte ihren schnellen Herzschlag, der stolperte, wenn sie seinem Blick begegnete und sich dann beschleunigte genauso wie ihre Atmung. Die Rötung ihrer Wangen wurde intensiver, weil seine scharfen Augen das Blut darunter entdeckten und das leichte Zittern ihrer Hände, das seiner normalen Sicht verborgen geblieben war, das er aber nun sehr gut erkennen konnte. Die Hitze, die sie ausstrahlte, wärmte seine linke Seite. Außerdem roch er auch, dass der Apfelduft, den ihre Haut aussandte, mit jeder Sekunde anzüglicher wurde – Drachen konnten Empfindungen auf vielerlei Arten erspüren. Es gab ihm einen gewaltigen Schub an Selbstbewusstsein, zu sehen, dass jemand so auf ihn reagierte.

Wenn er sie nun etwas necken würde, würde sie sich vielleicht sogar noch stärker von ihm angezogen fühlen? Ihr Geruch verriet ihm das Ausmaß ihres Verlangens, ihrer Zuneigung und Lust, aber auch ihrer Unsicherheit, Schüchternheit und Zurückhaltung. Würden die ersteren Empfindungen die letzteren überschatten – überduften? Er wollte, dass es so war, denn dann hätte er einen guten Grund, alle Regeln für sie zu brechen. Er wollte, dass sie seins war – der Beschützerinstinkt, den er bis vor kurzem noch verspürt hatte, war inzwischen in den Besitzerinstinkt umgeschlagen. Er wollte sie als sein Eigentum kennzeichnen, er wollte in ihr sein und sie unter sich haben – auf dem Rücken und nur für ihn geöffnet. Nein, er wollte nicht, musste war das bessere Wort, das den Umfang seiner animalischen Drachenreiterseite beschrieb.

Er stieß ein leises Knurren aus und wurde sich sofort seiner ketzerischen Gedanken bewusst. Er lebte im Zölibat! Er durfte nicht schwach werden! Der königliche Erlass würde erst in einem Jahr aufgehoben werden! Er musste nur warten und konnte dann hierher zurückkehren und sie zu sich holen, sie nehmen. Aber in einem Jahr veränderte sich so vieles! Was würde passieren, wenn sie ihr Interesse verlor? Sich vielleicht sogar einem anderen Mann zuwandte? Ihn aus ihrem Herzen schloss? Oder ihn vergaß? Nein, das durfte er nicht zulassen!

Ein weiteres Knurren, das sie wahrscheinlich wieder nicht hörte, so leise war es, schlich sich aus seiner Kehle und er schaute auf ihre weiße Haut, unter der er deutlich das erregte Blut schnell vorbeirauschen sah. Diese Hitze war für ihn! Und vielleicht nur jetzt! Er musste seine Ansprüche auf sie geltend machen!

Dorothea hob den Blick und lächelte ihn plötzlich liebevoll an. Das Strahlen ihrer Augen verrieten ihm genug über ihre Gefühle, um seinen Entschluss zu festigen. Jetzt oder nie. Er wollte sie, also musste er sie nehmen. Der Drang war übermenschlich stark und er ließ sich willig von ihm besiegen. Vlaindar beugte sich vor und wartete auf ihre Reaktion, die beinahe sofort kam: Schnellerer Herzschlag, hastigere Atmung, lautes rauschendes Blut, die Hände mit der vergessenen Arbeit sanken in den Schoß und ihr Blick verzaubert in seinem gefangen – neugierig blitzend. Seine Einladung hätte nicht deutlicher sein können. Ihr Körper sandte ihm ihren mit Leidenschaft angereicherten Apfelduft und er atmete noch einmal nach Mut schöpfend ein, bevor er sich in ihren direkten Körperkreis begab und seine Lippen ganz sachte und zaghaft fragend auf ihre legte. Sie schloss die Augen und er tat es ihr erleichtert gleich, als sie plötzlich drängender wurde und ihn leidenschaftlich küsste. Ihm entfuhr vor Erstaunen, aber auch vor erwartender Spannung ein leises Stöhnen und er ließ sich von ihr fortreißen in eine Empfindungswelt, die er dank seiner animalisch geschärften Sinne in einem zehnfachen Ausmaß wahrnahm.
 

Oh, Ismira, oh, Ismira, Ismira, meine Königin!, durchfuhr es Dorothea und sie sah ihren Gedanken beim sinnlosen, verwirrten Hin- und Hergeistern zu, während sie in einem Freudentaumel versunken ihre Lippen gegen seine presste. Sie wollte ihn und jetzt hatte sie ihn oder eher er sie, nach dem was ihr so aufgefallen war.

Sie streckte eine Hand nach seinem Gesicht aus, berührte es, streichelte es und wanderte dann weiter in sein Haar, um in ihm zu wühlen. Es war sanft und das gefiel ihr. Mit der anderen schob sie das Kleidungsstück sowie Nadel und Faden von ihrem Schoß und zuckte noch nicht einmal zusammen, als die Dinge auf den Holzboden fielen. Dann hob sie auch diese an und verwühlte sie in seinem Haar, um ihn näher an sich heran zu ziehen. Er folgte ihrer Bewegung und lehnte sich weiter vor. Ein leises Stöhnen entfuhr ihm und sie lächelte zufrieden. Ja, das war die richtige Reaktion gewesen.

Eine seiner Hände legte sich auf ihre Wange und wanderte dann in ihren Nacken, wo ein Finger sie streichelte und ihr Schauer über den Rücken schickte. Er berührte fortwährend eine empfindsame Stelle, während sein Daumen über ihre Haut fuhr und sie seufzte schwärmerisch, während ihre Sinne sich schon wieder auf ihren Kuss fokussierten. Seine Lippen waren genauso weich, wie sie sich vorgestellt hatte und seine Haut ebenso. Und sein Haar –

Sie hörte auf mit der Schwärmerei, als sie seine andere Hand auf ihrer Taille wahrnahm. Er zog sie langsam näher zu sich heran, während er seinen Rücken gegen die Wand lehnte. Seine Finger lösten sich aus ihrem Nacken und öffneten ihren Haarknoten. Das violette Band fiel zu Boden, während ihre Locken sich über ihre Schulter ergossen. Dann wanderte die Hand wieder zurück an ihre Wange und zog ihr Gesicht zu sich. Sie folgte ihm, ohne sich zweimal bitten zu lassen. Diese Position, in der sie auf ihn gestützt war und gegen ihn lehnte, kam ihr nicht einmal falsch vor – es fühlte sich richtig an. Als gehörte sie in seine Arme. Der Gedanke befriedigte sie ungemein und sie legte ihm die Arme um den Hals. Sie wollte sein Eigentum sein, wollte ihm gehören und gleichzeitig sollte er auch nur sie ansehen, nur ihr folgen.

Die Hand auf ihrer Taille wanderte hoch auf ihren Rücken und drückte ihren Körper gegen den Mann, der inzwischen ein Bein unter dem Tisch hatte und ein Bein auf der anderen Seite der Bank. Sie kletterte auf seinen Schoß und grub die Finger einer ihrer Hände in seinen Rücken, was ihm noch ein Stöhnen entlockte. Er wollte sie, sie konnte es unter sich fühlen, obwohl ihre Konzentration bereits flöten gegangen war.

Sie öffnete die Augen, löste sich von ihm, um sich zu versichern, dass sie Recht hatte – das hatte sie – und lächelte ihn triumphierend an, als er sie neugierig anschaute. Ein halbes Schmunzeln sagte ihr, dass er ihre Belustigung verstand, bevor er sie noch einmal kurz küsste. Dann legten sich seine Lippen an ihren Hals und folgten seinem Verlauf bis zum Schlüsselbein hinab und sie seufzte wieder liebevoll. Wenn er ihr jetzt einen Heiratsantrag machen würde, würde sie ihn annehmen, obwohl sie beinahe nichts über den Mann wusste. Er hätte ihr jetzt alles vorschlagen können und sie hätte akzeptiert, selbst wenn er ihr befohlen hätte, alles für ihn aufzugeben. Und im Gegensatz zu ihm war sie heute noch nicht mit Alkohol in Kontakt getreten – er hatte durch das Silin aber sicherlich auch wieder einen klaren Kopf.

Als er an ihrem Schlüsselbein knabberte, spürte sie seine scharfen Eckzähne – sie waren wie die Fänge eines Drachen, zwar bei weitem nicht so gewaltig, aber auf jeden Fall schärfer als von normalen Menschen. Dorothea genoss die Woge der ungehemmten Leidenschaft, die daraufhin ihren Körper durchspülte und folgte dem Drang eines Menschen: Sie wollte, dass die Kleidung verschwand. Also griff sie nach seinem Hemd und machte Anstalten, es hochzuschieben, als er ihre Handgelenke ergriff und sie aufhielt. Enttäuscht schnaufte sie frustriert auf, schwieg jedoch, als sie seine Augen sah. Das intelligente, aber schelmische Glitzern in ihnen konnte eine Sache nicht verbergen: Die Pupillen hatten sich oval verformt. Sie sahen aus wie die der Katzen – oder Drachen!

Fasziniert starrte sie ihn an und war erstaunt, als er ihr zuflüsterte:

„Nicht hier.“

Sie musste die Worte im Geiste bestimmt zehnmal wiederholen, bis sie verstand, was er ihr damit sagen wollte, weil sie vollkommen abgelenkt war. Diese Augen waren einfach umwerfend und zeugten von mysteriösen Gedankenwelten und unglaublichen Legenden. Langsam beugte sie sich wieder vor und drückte ihre Lippen auf seine. Der zaghafte Kuss war eine Einladung: Sie wollte, dass er weitermachte.

„Nicht hier“, wiederholte er leise und sie seufzte frustriert. Langsam schob sie sich von ihm weg, doch er hielt ihre Handgelenke weiter fest und ließ sie nicht gehen. Misstrauisch sah sie zu ihm. Er lächelte als Antwort darauf lediglich, hob sie in seine Arme und sagte dann:

„Aber woanders.“

Das ließ Hoffnung in ihr aufkeimen. Hoffnung auf jede Menge Leidenschaft und die Erfüllung ihrer Fantasieträume vom Mittag. Er schaffte es, sie bis zum Treppenansatz zu tragen, bevor sie wieder begann, ihn mit Küssen einzudecken. Er antwortete ihr und vergaß dabei anscheinend, wie man Treppen stieg, denn er hielt mitten auf ihr an, um sich ihrem Willen zu beugen. Doch Dorothea hatte Besseres vor. Sie wand sich aus seinen Armen und griff nach seiner Hand, um ihn in den ersten Stock zu ziehen. Einer Eingebung folgend lotste sie ihn fort von den Räumen der Wirtsfamilie und ihrer Angestellten im Ersten Stock, fort von den Räumen der Gäste im Zweiten Stock und hinauf in den Dritten, in dem sie schon zu Beginn ihres Dienstes hier einen offenen Raum gefunden hatte. Niemand hatte sich je darum geschert, ihn abzuschließen – angeblich gab es gar keinen Schlüssel für dieses Zimmer. Das meinte zumindest Emma, die die Tür zu diesem Raum in ihrem ganzen Leben noch nie verschlossen gesehen hatte.

Dorothea zog den Mann lächelnd in das Zimmer und stieß die Holztür hinter sich zu. Der leise Knall war von niemandem gehört worden, das wusste sie genau, denn noch immer hörte sie kein Geräusch im Gasthaus und die Feiernden auf der Wiese.

„Hier“, bestimmte sie und ihre Hände fanden wieder sein Hemd. Seine Augen strahlten noch die gleiche Wärme aus wie vorhin und auch das gleiche verführerische Glitzern. Sein ganzer Körper sandte ihr eine Botschaft, die Erlaubnis fortzufahren. Also, obwohl sie innerlich aufgrund ihrer Unerfahrenheit gegen einen gewaltigen Kloß ankämpfte, zog sie ihm das grobe Stück Stoff über den Kopf und entblößte seinen Oberkörper. Er besaß gut definierte Muskeln und kein Quäntchen Fett, was sie inne halten ließ, um ihn zu bewundern. Die zarte Haut war straff darüber gespannt und sie konnte nicht anders, als ihre Finger darauf legen. Er war wunderschön.

„Hier“, versprach er ihr und zog sie dann an sich, eine Hand auf ihrer Taille, die andere am Verschluss ihres violetten Kleids im Nacken. Seine schlanken, langen Finger brauchten nicht lange, um die Bänder zu öffnen und mit einem triumphierenden Lächeln seinerseits löste sich der Verschluss. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass jemand außer ihrer Mutter sie nackt sehen würde und ihr Herzschlag raste in gewaltige Höhen, während sich die Unsicherheit in ihr mit der Angst vermischte. Angst zu versagen in diesen Dingen. Im Aussehen, in der Liebe, in der Verbindung. Sie zitterte.

Seine Augen bemerkten diese Veränderung und strahlten nun schelmisch, ein Schmunzeln um seine Lippen beugte er sich vor und küsste sie. Sie dachte an seine Hände, die sich immer noch am Verschluss und auf ihrer Taille befanden, doch ihr pulsierendes Blut lenkte sie davon ab und sie spürte seine Lippen auf ihren, wieder fragend und zaghaft. Als sie das bemerkte, konnte sie ein Lächeln nicht mehr verbergen – entweder er nahm Rücksicht auf sie oder auch er war unsicher. Sie wettete, dass es ein bisschen von beidem war.

Mit neuer Kraft und Entschlossenheit – er gehörte ihr und jetzt konnte sie ihn endlich zu ihrem Eigentum machen – zog sie ihn wieder an sich und seinen Kopf zu sich. Auf ihre drängende Bitte antwortete er mit der gleichen Leidenschaft wie eben im Schankraum und sie verlor sich vollständig in dieser Empfindung, die von ihm auf sie hinübergeschwappt waren und sie mitrissen.

In irgendeinem Teil ihres Bewusstseins bemerkte sie noch, dass ihr Kleid an ihr hinabrutschte und zu Boden fiel und ein Lufthauch sie erschauern ließ, doch seine Küsse lenkten sie erneut von jedweder Angst ab und sie war sogar mutig genug, ihm die Hose auszuziehen. Genau in diesem Anflug von Selbstbewusstsein zog sie ihn zum Bett und er folgte ihr. Sie hoffte inständig, dass er wusste, was er tat, weil sie von hier an absolut gar keine Ahnung mehr hatte: Sie verließ sich rein auf ihre menschlichen Instinkte. Doch ihre kurzzeitige Sorge war unbegründet, denn mit einem weiteren von ihr heiß geliebten schelmischen Glitzern in seinen Augen legte er sie aufs Bett. Verzweifelt stöhnte sie, als er inne hielt und schlang dann ihre Arme um ihn, bevor sie ihn zu sich hinab zog. Als ihre Lippen wieder seine fanden, öffnete sie ihre Augen einen Spalt breit und beobachtete ihn: Seine Wangen waren errötet und mit den langen Wimpern, die majestätisch auf seinen hohen Wangenknochen ruhten, sah er einfach wunderschön aus.

Sie wusste einfach, dass auch der Rest ihres Fantasietagtraums in Erfüllung gehen würde. Sie schloss die Augen und schlang die Arme um ihn, während seine Hände ihren Körper erforschten und seine Lippen ihre beschäftigten. Sie wusste einfach, dass das hier richtig und sie einfach dafür geschaffen war, diesen Mann zu lieben. Mit einem Seufzer der Befriedigung ließ sie sich von ihrer Leidenschaft mitreißen und tauchte in den Strom endloser Empfindungen ein, von denen sie nicht eine jemals wieder vergessen würde.

Return

Vlaindar wechselte von seiner normalen Sicht zu den animalischen Augen seiner Dracheninstinkte über und betrachtete die Frau neben sich im Bett. Als er vor gut einer Weile aufgewacht war, hatte ihn diese nackte Wahrheit erstaunt, aber schnell hatte er sich erinnert: Erinnert an alles, was in der Horizontalen passiert war. Ganz im Gegensatz dazu standen die eher verschwommenen Erinnerungen des Fests. Einige Fetzen waren ihm geblieben: Eine Ballade über irgendeinen Prinzen, der betrunkene Keoran, Dorothea an der Laute und Palinor vor vier überladenen Tellern.

Seine Augen erkannten die feinen Härchen in ihrem Nacken, der unter ihrem langen Haar ein wenig hervorblitzte. Dorothea lag halb auf der Seite, halb auf dem Bauch und ihr Atem streichelte über seine nackte Brust. Ihr Kopf war auf seiner eingeschlafenen rechten Hand gebettet, während seine andere auf seiner Seite lag. Ihre beiden Arme lagen angewinkelt rechts und links von ihrem schmächtigen Körper, der zwischen den gebauschten Laken noch kleiner aussah. Kein Wunder, dass moderne Männer molligere Frauen bevorzugten – sie wirkte beinahe verloren. Doch eines konnte auch Vlaindar nicht abstreiten: Sie sah gut neben ihm aus. Sie passte zu ihm wie ein Schloss zu seinem Schlüssel.

Lange Wimpern ruhten auf ihren Wangenknochen und ihre sonst so klug dreinblickenden Augen waren verschlossen – erst nach dieser Nacht war ihm aufgefallen, dass sie anders aussah als die meisten Dorfbewohner. Ihr Gesicht war nicht so kantig, eher spitz und fein und ihre Augen nannte man abfällig auch Vogelaugen, weil sie schräg standen und wie Schlitze anmuteten.

Doch sie war wunderschön, zumindest mit seinen Sinnen gesehen und Drachensinnen zu gefallen, war durchaus etwas Besonderes. Seine Augen liebten ihre Konturen, ihre weiße Haut und die rosigen Wangen und Lippen, die Schönheitsflecken auf ihrem Körper und die rauen Stellen an ihren Händen. Sein Gehör liebte das Rauschen der Luft in ihren Lungen, das Rauschen ihres Bluts und das Pochen ihres Herzens, das er so manches Mal zum Stolpern gebracht hatte in dieser Nacht. Seine Finger liebten ihre zarte Haut und das Pulsieren ihres Lebens. Seine Nase liebte ihren Geruch – Äpfel waren immer gut. Sein Geschmackssinn verehrte ihre Haut und ihren Mund und sie machte Äpfeln alle Ehre.

Vlaindar erinnerte sich daran, wie abschätzig er am ersten Tag über sie geurteilt hatte, als Mikanor und Famiran von ihr geschwärmt hatten. Sein Verstand hatte ihnen nicht folgen können oder wollte ihnen nicht folgen können. Jetzt konnte er nichts Anderes tun, als sie bewundern, denn sie war schöner, als Ismira es je hätte sein können. Von wegen Gänseblümchen waren nicht schöner als Rosen! Ein Gänseblümchen zwischen Rosen würde auffallen und es gab Männer, die bevorzugten nun einmal den zarten Duft der wilden Pflanze und nicht von lange dazu gezüchteten, gepflegten Blumen. Er gehörte eindeutig zu ihnen.

Seine Finger wanderten über ihre Schulter zur Taille und auf ihre Hüfte, dann wieder zurück. Sie drehte im Schlaf den Kopf etwas weiter zu ihm und seufzte. Daraufhin musste er lächeln und betrachtete sie so zufrieden gestellt. Er hatte zwei Dinge über sie herausgefunden, die er nie wieder vergessen würde: Erstens hatte sie einen Schönheitsfleck hinter ihrem linken Ohr und einen anderen auf ihrer rechten Brust und zweitens war sie gütig. Als sie sein Sklavenbrandmal erblickt hatte, das sich zu seinem Unmut nicht hatte entfernen lassen und sich immer noch auf seinem linken Schlüsselbein räkelte, hatte sie mit Zeige- und Mittelfinger darüber gestrichen und unglaublich bedauernd dreingeblickt. Und dafür liebte er sie, denn es war kein Mitleid gewesen, in dem sie ihn gewälzt hatte. Es war viel mehr eine Trauer um sein vergangenes Ich gewesen, das sich nie aus dieser Phase hatte befreien können – manchmal waren Mitgefühl und Mitleid zwei ganz unterschiedliche Dinge. Er brauchte kein Mitleid, denn das stieß ihn oftmals wieder zurück in die Matschpfütze, aus der er kam und in die er in den meisten seiner Träume zurückkehrte.

’General der Sturmjäger-Garde von Saitan, Vlaindar-shiarireyliar, bitte melden!’, quakte eine Stimme in seine Gedanken und schreckte ihn auf. Ärgerlich konzentrierte er sich und antwortete dem Mann, der sich mit ihm in Verbindung setzen wollte:

’Ich melde gehorsamst meine Aufmerksamkeit.’

’Der königliche Erlass zum 14. Deiran des Jahres 756 verkündet den Befehl zu Eurer sofortigen Rückkehr in die Hauptstadt Saitan-Hetens, Saitan. Der Bericht der Schlacht wird zwei Tage nach Eurer Ankunft hier eingefordert werden. Eure Garde erhielt diesen Befehl am Folgetag, dem 15., des mündlichen Erlasses von König Ressota – mein Auftrag ist hiermit erfüllt. Ich wünsche Euch eine angenehme Heimreise. Fliegt schnell und sicher. Mögen die Flügel Euch höher tragen als die Schwingen Eurer Feinde es können. Melde gehorsamst, Kilianar, erster Ratgeber des Königs.’

’Angenehm’, beendete Vlaindar das Gespräch und fokussierte sich wieder auf die Frau neben ihm. Er konnte sie nicht mitnehmen. Wenn herauskam, dass er sein Zölibat gebrochen hatte, dann würde es einen riesigen Aufstand geben und einen ganzen Haufen an Bestrafungen. Dennoch musste er seinen Regelbruch dem König beichten, da diese Frau ihm mehr bedeutete als seine Loyalität seinem Herren gegenüber. Als würde dieser das nicht beinahe von selbst herausfinden … Doch, um die Strafe zu mildern, würde er beichten müssen und in diesen Sturm wollte er sie nicht hineinziehen. König Ressotas Rache würde grausamer sein, als man es ihm je zugetraut hätte – vielleicht würde er Dorothea der Verführung seines Staatsmanns anklagen und sie sogar hinrichten lassen. Er durfte schließlich alles!

Vlaindar schloss die Augen und runzelte besorgt die Stirn. Solange er nicht erzählte, wer die Frau war, mit der er einen Regelbruch begangen hatte, konnte niemand ihr etwas anhaben. Also würde er Hairima einfach bitten, seine Gedanken für andere zu versiegeln, sodass niemand ihm dieses Geheimnis nehmen konnte. Auch wenn das bedeutete, dass er seine Tat nicht bereute und er somit in ein härteres Strafraster eingestuft wurde. Aber das war sie ihm Wert. Er liebte sie und dafür würde er alles opfern.

’PALINOR!’, schrie er in die Gedanken seines Vizes. Der brauchte eine ganze Weile, bis er schließlich einen anständigen Satz hervorbrachte, da er tief geschlafen hatte.

’Um Ismiras Willen, Vlaindar! Wisst Ihr, wie spät es ist?’

’Der König wünscht unsere sofortige Rückkehr nach Saitan, weckt die anderen und bereitet die Drachen vor. Ich werde die Bezahlung abhandeln. Los!’, befahl er und schloss noch einmal die Augen. Seufzend gab er sein Widerstreben auf und setzte sich auf. Mit seinen Sinnen forschte er durch das Haus und wusste, dass die Gardemitglieder hastig das Feld räumten. Es dauerte keine zehn Minuten und die vier Männer waren auf dem Weg in den Schankraum, also zog Vlaindar sich an und setzte seinen letzten Plan in die Tat um: Er hob Dorothea und ihr Kleid hoch und brachte sie in sein Gästezimmer, wo er sie wieder in sein Bett legte. So gebettet und immer noch schlafend, überwand sie beinahe seinen Widerstand, doch er riss sich zusammen und räumte auf. So bereit zum Abflug, zögerte er und betrachtete noch einmal diese Frau. Nein, nicht ‚diese’. Seine. Seine Frau.

Langsam ging Vlaindar zum Schreibtisch und schrieb auf einem Zettel eine Notiz, wenn sie diesen Auftrag erfüllte, wäre gewiss einige Zeit vergangen und er hätte seine Angelegenheiten geregelt, sodass kein Problem mehr ihre Beziehung verhinderte. Wieder zögerte er. Sollte er den Zettel unterschreiben? Nannte er seinen Namen und sie erzählte ihre Geschichte weiter, würde der König ihr schnell auf die Spur kommen. Nein, das wäre unklug, befand er und löste einer Eingebung folgend seine Gardebrosche vom Reiseumhang, der aus irgendeinem Grund wieder in diesem Zimmer lag. Die Löcher waren gestopft und er war gewaschen worden, was ihn daran erinnerte, wie sie sich um die Garde gesorgt hatte.

Mit einem finalen Seufzen legte er die kleine Notiz neben das Kopfkissen und darauf seine Brosche. Dorothea war intelligent genug, um herauszufinden, was das Metallstück bedeutete, das wusste er genau. Ein Kuss auf ihre Wange besiegelte seine Abreise und er verließ das Gasthaus mit entschlossenen Schritten – er würde sie beschützen und wenn es ihn sein Leben kosten würde.

„Shiarireyliar, wisst Ihr eigentlich, was das für eine Zeit ist?“, jammerte Famiran ihm entgegen und drückte damit die Gedanken der ganzen Drachenreitergarde aus. Die Männer standen bereits auf der Wiese und hinter ihnen hatten sich die Drachen aufgereiht. Hairima begrüßte ihn mit einem wissenden Schnauben, bevor sie in seine Gedanken tauchte, um zu sagen:

’Mein Kleiner ist erwachsen geworden und das ganz ohne mich.’

’Bist du eifersüchtig?’

’Auf dich? Ich bevorzuge starke Männchen, keine zerbrechlichen Frauen.’

’Es wird Zeit, dass wir dir einen Brutpartner suchen, Hairima.’

’Halt den Mund, du vorlautes Würmchen’, warnte sie ihn mit einem Grollen in ihrer Kehle. Das war das Schlimme an dieser Sache: Hairima war ein Prinzess-Drache, ein Mitglied einer sehr seltenen Drachenart, deren Schuppen mit Gold durchzogen waren. Es gab von jeder Farbe, die ein Drache haben konnte, nur ein einziges Ei und das Junge schlüpfte nur aus, wenn der Drachenreiter sein Schicksalspartner war und er die richtigen Eigenschaften stark ausgeprägt hatte. Das hieß beispielsweise bei dem grünen Prinzess-Drachen, Hairima, dass Vlaindar ihr Schicksalsreiter war, doch sie wäre nicht geschlüpft, wäre er noch unreif gewesen. Grüne Drachen waren das Symbol für Entschlossenheit, Disziplin, Standhaftigkeit, aber auch Anpassungsfähigkeit, Aufrichtigkeit und Aufmerksamkeit, sowie Selbstbeherrschung und Fassung. Wer diese Charaktereigenschaften ausbildete, dem schlüpfte ein grüner Drache. Vlaindar hatte in ihnen seine Stärken gefunden und sie so stark ausgebaut, dass, als es an der Zeit war, die Eiprobe durchzuführen, Hairima geschlüpft war. Noch heute war er sehr stolz auf dieses Ereignis – sie war wie seine Mentorin, Schülerin, Tochter, Geliebte, Mutter, Schwester und Freundin. Nur alles gleichzeitig und alles intensiver aber ganz anders als bei Menschen. Hairima war ein Einzelfall: Außer ihr gab es derzeit keinen Prinzess-Drachen in Saitan-Heten. Die andersfarbigen Eier waren noch nicht an ihre Schicksalsreiter geraten.

Hairima fühlte sich daher sehr allein und mit Orchod-Drachen mochte sie sich nicht paaren, weil sie auf das Ausschlüpfen eines männlichen Prinzess-Drachen wartete. Generell waren die Drachen ihrer Art aber eher weiblich, also war das sehr unwahrscheinlich. Daher reagierte sie immer etwas patzig, wenn man sie darauf ansprach.

„Ja, Shiar. Steigt auf: Fliegt schnell und sicher“, antwortete er Famiran schließlich und kletterte an Hairimas Sattel geschickt hinauf auf ihren Rücken. Die Anderen taten es ihm gleich und er musterte seine Garde. Palinor stöhnte und verfluchte seine Knochen, Famiran kratzte sich schwerfällig den Kopf, während Mikanor der einzig wirklich Wache unter ihnen war und Keoran immer noch leicht schwankte. Wie er in den Sattel kam, war unerklärlich.

„Mögen Eure Flügel Euch höher tragen als die Schwingen Eurer Feinde es können“, rief Palinor und wiederholte somit den Spruch des Beraters. Nun, es war ein gängiges Sprichwort unter den Drachreitern, das einen Abschiednehmenden beglückwünschte. Vlaindar nickte seinem Vize-General zu, bevor er sich mit Hairima in die Luft erhob – er würde ungefähr sechs Stunden in der Luft verbringen, in der sich Winter und Frühling mischten je näher sie der Hauptstadt kamen. Erst dann wären sie da. Mühsam wandte er den Blick von dem kleiner werdenden Gasthaus ab und begegnete dabei Palinors misstrauischer Miene, der Mann kannte ihn zu gut: Vlaindar vermisste niemals einen Ort.

„Ich würde auch lieber zurück ins Bett“, tat der Vize-General Vlaindars Verhalten Schulter zuckend ab und dieser atmete erleichtert auf. Oh ja, er auch, er wollte auch wieder zurück ins Bett, in dem eine junge rothaarige Kellnerin auf ihn wartete. Dorothea.

Er ließ den Namen auf seiner Zunge zerschmelzen und probierte ihn aus. Er liebte ihn und er fühlte sich richtig an. In letzter Zeit fühlte sich vieles so richtig an wie der Klang dieses Namens.

Dorothea.
 

Dorothea wachte auf, als der erste Lichtstrahl der aufgehenden Sonne auf ihr Gesicht fiel. Sie blinzelte und wühlte sich tiefer in die Kissen. Normalerweise machte sie die Vorhänge doch zu, warum also waren die jetzt offen?

Ein köstlicher Duft stieg ihr in die Nase und sie erkannte den Geruch sofort. Schlagartig war ihr auch wieder klar, warum die Vorhänge offen waren – sie hatte ihn verführt. Dorothea setzte sich auf und wunderte sich zunächst, warum sie nicht in dem ‚offenen Zimmer’ im dritten Stock war, bis sie bemerkte, dass auch neben ihr im Bett niemand mehr lag. Entsetzt schaute sie sich um, bemerkte, dass sie in einem der blauen Gästezimmer im Zweiten lag und stellte zusätzlich dazu fest, dass alles unbewohnt wirkte. Kein Gepäck, keine Kleidung. Beinahe sofort überspülte sie eine Woge der Verzweiflung, der Wut und der Trauer.

„Er hat mich sitzen lassen!“, stellte sie empört fest. Er hatte sie entjungfert und dann sitzen lassen! Um Ismiras Willen, was sollte sie jetzt tun? Wenn die Leute herausfinden würden, dass sie ihre Unschuld verloren hatte, wäre sie entehrt. Und mit ihr ihre ganze Familie! Sicherlich würden etliche Gerüchte entstehen und sie am Ende auch noch bestraft werden, weil sie das Gesetz zur Jungfräulichkeit vor der Ehe missachtet hatte!

„Ich bin so tot, wenn das herauskommt“, stöhnte sie und legte ihre Hände aufs Gesicht, bevor sie zusammengesunken eine Weile vor sich hin jammerte. Aber sich selbst bemitleiden half auch nichts, deshalb musste sie ihre Tränen hinunterschlucken, so schwer es ihr auch fiel – und das tat es, denn sie hatte gedacht, dass er sich wenigstens von ihr verabschieden würde und sie dann ausgiebig über ihn lästern konnte, um sich ihr Unglück abzureden. Doch sie wollte ihn nicht hassen, aber das musste sie jetzt! Jetzt, da er sie hatte sitzen lassen! Er war ja so ein …

„Miststück“, fauchte sie und schwang die Beine aus dem Bett, nicht ohne ein köstliches Zwicken eines angenehmen Muskelschmerzes in ihrem Unterleib und ihrem Schritt zu verspüren, das sie sofort an alles erinnerte, was gestern Nacht geschehen war. Toll, jetzt musste sie wahrscheinlich die ganze nächste Zeit bei jeder Bewegung an die unwiderstehlich gute Verbindung denken, die sie erlebt hatte. Nein! Sie durfte nicht schwärmen. Er war einer der Männer, die kosteten und dann wegwarfen! Sie durfte ihn nicht lieben! Als ihr dieser Gedanke kam, schossen ihr Tränen in die Augen und sie begann zu schluchzen. Von wegen Heiratsantrag! Pustekuchen!

„Elender Schweinehund“, heulte sie und warf die Decken von sich. Immerhin war dort kein Blut, von dem Erna ihr berichtet hatte. Die erfahrene Frau hatte nämlich erzählt, dass es zu solchen Blutungen kommen konnte! Wenn sie auch nur sehr, sehr schwach waren.

Mühsam stand sie auf und unterdrückte ein Stöhnen ob des Muskelkaters an den unwahrscheinlichsten Stellen ihres Körpers – wehe ihm, wenn er nicht auch welche hatte! Mit weiteren gehässigen Schimpftiraden auf den Buhlen riss sie ihr Kleid vom Boden und zog es sich über den Kopf, bevor sie sich wieder hinsetzte, um sich die Stiefel anzuziehen. Der Schwung, den sie beim Hinsetzen innehatte, wurde auf das Bett übertragen und ließ die Matratze an den Enden etwas hochschnellen. Daraufhin fiel ein Schmuckstück zu Boden, das ihr zuvor nicht aufgefallen war. Also hob sie es auf und betrachtete es eingehend.

Es war eine silberne Brosche, in der Form einer Raute, groß genug, um ihre Handfläche auszufüllen. In der Mitte befand sich ein goldener Kreis, in dessen Mitte wiederum ein silberner Kreis eingraviert war, der einen Wirbel beinhaltete – das Zeichen für die vier Altersstufen, die ein Mensch durchlaufen konnte: Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Alter. Die Brosche war gut behandelt worden und sauber.

„Was ist das?“, fragte sie und drehte das Schmuckstück im Licht hin und her. Es musste diesem Drachenreiter gehören. Moment! Hatten die vier Anderen seiner Garde nicht ebenfalls solche Broschen getragen? Wann war das? Ach ja! Bei ihrer Ankunft. Bedeutete das, dass es ein Symbol für diese Gruppe war?! So etwas wie ein Abzeichen der Garde?!

„Interessant“, murmelte sie und betrachtete das Silber noch einmal eingehend. Mehr konnte sie aber nicht aus der Form entnehmen. Aber das war nicht schlimm, denn die Tatsache, dass es ein Drachenreitergardenabzeichen war, half ihr ungemein. Wenn sie zum Feinschmied ging und ihn unbehelligt ausfragte, würde er sicherlich sämtliche Antworten auf ihre Fragen parat haben. Der Gute hatte diese Tinkerarbeit sicherlich schon einmal gesehen. Er war schließlich nicht umsonst Feinschmied.

Wieder sah sie hinab zum Bett auf die Stelle, an der die Brosche wahrscheinlich gelegen hatte und entdeckte dort eine kleine Notiz. Mit einem selbstironischen Schmunzeln auf den Lippen sagte Dorothea:

„Oh, wie nett von ihm. Was will er mir sagen?! ‚Vielen Dank für deine Jungfräulichkeit, Dorfmädchen!’? Miststück!“

Doch, als sie den Zettel hochhob, um sich die Notiz durchzulesen, war sie beinahe enttäuscht, weil nur drei Wörter darauf zu sehen waren. Also nichts mit einer ausgiebigen Dankesrede, wahrscheinlich war eher ‚Danke und Tschüß!’ angesagt.

„Komm zu mir“, las sie vor und starrte den Satz eine Weile an. Nein, der Mann hatte es sich ja nicht nehmen lassen, auch noch ein Satzzeichen am Ende zu setzen. Der Punkt wirkte seltsam final.

„Ja klar, frei nach dem Sprichwort: Komm zu mir, ich liebe dir! Von wegen. Der braucht sicherlich nur ein zweites Mal“, schnaubte sie und zerknüllte das Stück Papier. Doch sie brachte es nicht über sich, es kaputt zu machen und wegzuwerfen, also steckte sie es ein und, den Muskelkater ignorierend, begann damit, die Zimmer der Reisenden auszuräumen. Alle Beweise auf ihren Verlust der Jungfräulichkeit mussten aus dem Weg geschafft werden! Unwiderruflich! Bloß weg damit!
 

Palinor zog sich aus den Gedanken seines Drachen Jokandir zurück, einem goldenen Orchod-Drachen. Die beiden hatten nicht viel zu bereden gehabt und daher eine Weile still ihre Gedanken geteilt – von Windwirbeln und Böen berichtete der Eine, der Andere sorgte sich stetig um ein Gardemitglied: Vlaindar benahm sich schon die ganze Zeit so seltsam. Erst am Morgen hatte er länger gebraucht als alle anderen, obwohl er generell immer der Erste war, um dann beim Abflug einen sehnsüchtigen Blick zurückzuwerfen und schließlich den Großteil der Flugzeit vor sich hinzudösen – was nicht zu ihm passte. Vlaindar schlief niemals so, dass andere ihm dabei zusehen konnten, doch der General nickte ständig ein. Jetzt schlief er sogar schon eine gute Stunde und Saitan war vor einiger Zeit am Horizont erschienen! Normalerweise würde er spätestens in diesem Moment die eindeutige Führung, die Spitze in der Formation, einnehmen.

Hairima hatte auf Palinors Anfragen mit belustigtem Schnauben reagiert, war aber nicht weiter darauf eingegangen. Mit einem Grollen signalisierte sie nun den anderen Drachen, dass es Zeit für die Formation wurde und alle ordneten sich brav an, ohne auf einen Befehl ihrer Reiter zu warten: Vlaindar und Hairima flogen an der Spitze, ihnen folgten nebeneinander Palinor mit Jokandir und Keoran mit Ianandir, seinem dunkelbraunen Drachen. Hinter den Beiden kamen Famiran mit Leonora und Mikanor mit Rubina – etwas versetzt aber, sodass sie aussahen wie eine Pfeilspitze.

Palinor schaute zu Keoran hinüber, der genau in diesem Moment ebenfalls seinen Blick wendete und die Beiden verständigten sich wortlos: Einer musste Vlaindar wecken. Und dieser jemand war Keoran.

Der Mann folgte seiner Aufgabe und schloss die Augen, seufzend ließ er sich in die Welt der Gedanken sinken und streckte seinen Geist nach Vlaindars aus. Man sah die hohe Konzentration in seinen Zügen und die plötzliche Entspannung seiner Gesichtsmuskeln, als er wahrscheinlich eine Antwort erhielt. Nur kurze Zeit später richtete sich Vlaindar auf, da er zuvor zusammengesunken schief im Sattel gesessen hatte, und rieb sich die Augen.

Palinor neigte anerkennend den Kopf in Richtung Keoran, der mit einem Lächeln seinen Dank signalisierte. Dann folgten beide Vlaindars Befehlen, die sie jedes Mal erhielten, bevor sie zum Landeanflug ansetzten. Die Sattelgurte festzurren, Hände in die Schlaufen schieben und flach an den Drachenkörper schmiegen. Gemeinsam sanken sie auf die in der Mittagssonne eines Frühlingstags glänzenden Stadt hinab, die am Ufer eines großen Sees auf einem Hügel erbaut worden war. Als sie über die bewachten Stadtmauern hinweg flogen, brüllten von unten einige Soldaten ihren Gruß, den man jedoch nicht verstand. Die Menschen in den Straßen und Gassen zwischen den eng aneinander liegenden Häusern der unteren Klassen blieben stehen und gafften oder schrieen vor Freude. Mit der Überwindung einer weiteren bewachten Mauer und der Verringerung der Geschwindigkeit kamen sie in den Bereich der höheren Klassen – Bürgerliche und Adelige lebten hier in ihren Villen mit riesigen Gärten, die teilweise in Blüte standen. Dieser Stadtteil war eher ruhig, kaum ein Mensch war auf den Straßen zu sehen und die, die man sah, kümmerten sich nicht um die Rückkehr der Garde.

Noch einmal überflogen sie eine bewachte Mauer und kamen wieder in einen ärmeren Bereich, in dem viele Gasthäuser, Lusthäuser waren und zwielichte Geschäfte abgehalten wurden – man mied diesen Bereich allgemein, wenn man etwas auf seinen Ruf hielt (vorausgesetzt man hieß nicht Famiran oder Mikanor). Dann öffneten sich die dunklen Gassen zu einem riesigen Marktplatz, von dem aus mehrere Straßen strahlenförmig zur äußeren Mauer durchführten – auch die Hauptstraße, der die Garde gerade gefolgt war.

Man konnte den Aufbau der Stadt demnach als kreisförmig beschreiben: Im Äußeren Ring lebten die Handwerker und andere von niederem Beruf, im Inneren Ring lebten die Bürgerlichen und Adeligen gefolgt vom Marktring, in dem die Kaufmänner, Lustdamen und die meisten Diebe ihr Zuhause hatten. Folgte man der Hauptstraße auf der anderen Seite des Markts durch alle Ringe hindurch bis zur anderen Seite der Stadt, dann schloss sich dort an die äußere Mauer ein weiterer eingemauerter Bereich an: Ebenfalls rund angelegt und von der Größe einer Hälfte der Stadt befanden sich dort der Palast des Königs, Ismiras höchster Tempel und sämtliche Drachenreitereinrichtungen. Zu denen gehörten die Schulen, Unterkünfte, Bäder, Übungsräume und –plätze, Drachenställe und Heilerquartiere, Magierarenen, Waffenkammern, Wohnungen, Bibliotheken und Lagerhallen, sowie sämtliche Archive und Büros aller höher gestellten Drachenreiter. Nicht zu sprechen von dem riesigen Palast und dessen unzähligen Räumen, deshalb war es mehr als nur klar, dass dieser Bereich die Stadt noch einmal um ihre Hälfte vergrößerte.

Die Drachenreitergarde landete auf einem extra dafür angelegten Platz, der frei von allem Grün war, damit sich die Drachen nicht verletzten. Umgeben wurde dieser von den Schulräumen, in denen aber noch kein Unterricht stattfand. Nur ein Weg führte vom Platz: Eine Treppe verband die Galerie mit dem sandenden Rund. Nachdem Palinor von Jokandir gestiegen war, streckte er sich, um seine versteiften Muskeln zu lockern. Der Rest tat es ihm gleich und aus einigen Kehlen entschlüpfte sogleich ein wohliges Seufzen.

„Endlich wieder zurück“, sagte Famiran und holte sich seine Bestätigung mit Mikanors Nicken ein.

„Zuhause ist es doch am besten“, meinte dieser und lächelte erschöpft. Nach dem langen Ritt konnte man das aber durchaus verstehen.

„Geht ruhig schon einmal, den Rest erledigen Vlaindar und ich“, fügte Palinor hinzu und machte eine wegscheuchende Geste. Famiran und Mikanor steckten die Daumen in die Höhe und schickten ihre Drachen in die Ställe – sie würden einige Lehrlinge später beauftragen, ihre Drachen zu versorgen. Erst dann hakten sie sich bei Keoran unter und führten ihn wie einen Gefangenen vom Platz – sein Drache Ianandir folgte Rubina und Leonora.

Palinor wandte sich Jokandir zu und streichelte über dessen goldene Schuppen, die durch das Wetter und die Schlacht bei weitem nicht mehr so schimmerten, wie sie sollten. Er rieb die Schnauze des intelligenten Tiers und verständigte sich mit ihm in Gedanken kurz über dessen nächtlichen Stallplatz. Dann flog Jokandir fort und drehte seine Kreise am Himmel, bevor er in einem weiteren Sinkflug hinter den hohen Palasttürmen verschwand.

„Komm, Vlaindar“, meinte Palinor und lächelte seinem Freund ermutigend zu, der sich nicht von seiner Drachendame trennen konnte. Die Beiden hielten sich eng umschlungen – Vlaindar mit den Armen um ihren Hals und sie mit ihren Flügeln um ihn ausgebreitet, als wäre er ihre Beute. Es war immer so: Die Beiden verband ein so starker Strom an Gefühlen und Gedanken, dass es ihnen schwer fiel, unterschiedliche Wege zu gehen.

„Es wird Zeit“, wiederholte der ältere Drachenreiter und ärgerte sich über die Angewohnheit des anderen Drachenreiters. Wenn sie alleine waren, konnte er diesen endlich ausfragen – nur darum ging es hier!
 

Vlaindar seufzte. Palinor hatte seit der Ankunft in Saitan verzweifelt versucht, etwas aus ihm herauszubekommen. Das konnte nur bedeuten, dass man ihn sehr leicht durchschaut hatte, was wiederum nicht gut war!

Sie hatten sich zunächst angemeldet, um ihre Rückkehr offiziell zu machen und dann getrennt. Palinor musste glücklicherweise zu seiner Frau und seinen Kindern, die ihren Familienvater vermisst hatten und Vlaindar unbewusst erretteten. Der hatte sich mit der Ausrede der Privatsphärenstörung aus dem Staub gemacht und war zu Hairima in die Ställe geschlüpft. Wenn er eins hasste, dann war es die Tatsache, dass manche Drachenreiter zu faul waren, ihre eigenen Drachen abzusatteln, zu füttern und zu pflegen. Er für seinen Teil machte das noch selbst und stellte damit in den höheren Kreisen eine absolute Ausnahme dar. Nachdem die Drachendame versorgt war, brachte Vlaindar seine Reisetaschen zurück in seine Unterkunft. Auf dem Weg dorthin traf er einige Kollegen und musste sich zwangsweise, obwohl er alles andere als Lust dazu hatte, mit ihnen über die gewonnene Schlacht unterhalten. Mit viel Geduld und Höflichkeit wehrte er entschieden ab und entschlüpfte ihren Fängen. Als endlich hinter ihm die Tür zuschlug, entfuhr ihm ein Seufzen. Endlich war er frei von all den höfischen Tiraden. Diese ganze Schauspielerei der Höhergestellten in der Gesellschaft machte ihn krank: Nach außen hin waren die Adeligen nichts als Freundlichkeit, aber sie beherrschten das Talent zur Zweideutigkeit und meinten in Wirklichkeit oftmals etwas ganz Anderes, als es zunächst den Anschein hatte. Vlaindar hatte überhaupt keine Lust sich mit dieser Kunst zu befassen und suchte meist schnell das Weite, wenn irgendein aufgeblasener, gelangweilter Adeliger seiner Wege kam.

Vlaindar schmiss die Reisetaschen vor sich auf den dunkelbraunen Holzboden, der schon ein wenig zugestaubt war. Es war lange her, seit er hier zuletzt gewesen war. Obwohl das seine Wohnung war, hatten die Schlacht und mehrere Aufträge ihn einige Monate von hier fortgeholt, sodass er keine Zeit gefunden hatte, um sauber zu machen. Wenn er eins verabscheute, dann waren das Unordnung und Dreck. Er löste seine Stiefelschnallen und zog sie aus. Bevor er überhaupt aus dem Eingangsbereich heraustrat, zog er sich komplett aus – er wollte den Schmutz nicht auch noch unwissend durch die gesamte Wohnung schleppen, obwohl die ja eigentlich nicht sehr groß war. Vlaindar nahm den Wäschehaufen und ging damit ins Badezimmer, das zu seiner Rechten lag. Das Zimmer war gedrittelt worden: Auf dem Drittel links von ihm, befand sich die Toilette, durch eine Wand abgetrennt. Er stand im Moment direkt vor dem kleinen Waschbecken, neben dem ein Miniaturschrank angebracht war. Im rechten Drittel befand sich in ein kleines Podest eingelassen ein kleines, rechteckiges Becken, in das man mit einer Pumpe Wasser einlassen konnte: Eine Badewanne, in der man höchstens hocken oder knien konnte.

Vlaindar ließ die Wäsche auf den Boden fallen und betätigte die Pumpe – bis der erste Schwall Wasser herausschoss, musste man eine Weile warten. So dauerte es gefühlt eine halbe Ewigkeit, bis genug Wasser für ein Fußbad im Becken war, aber das reichte ihm bereits aus. Mit einem Wärmezauber, der ihn noch einmal zusätzlich erschöpfte, erhitzte er das Wasser von eiskalt auf lauwarm und stieg dann in das Becken. Mit einem Stück Seife und einer Schüssel zum Schöpfen wusch er sich, bevor er die Wäsche in das zugegeben ziemlich dreckige Wasser warf. Der ganze Schmutz von der Reise und der Kleidung trat hervor und färbte das Wasser bräunlich. Vlaindar nahm wieder die Seife zur Hand und löste einige Stückchen davon auf, damit die Kleidung einweichen konnte. Er würde später am Tag noch zu den Wäschereien gehen und seine Dreckwäsche richtig waschen, nicht nur so provisorisch. Aber sollte etwas dazwischen kommen, wollte er wenigstens halb sauber erscheinen.

Mühsam richtete er sich auf und erblickte sein Gesicht in dem kaum handgroßen Spiegel über dem Waschbecken. Sein Bart war gewachsen und die Stoppeln, braun wie sein Haar, ließen ihn um zehn Jahre älter wirken. Er strich sich über die Haut und runzelte die Stirn: Bärte sahen bei allen Männern, die er kannte, immer ungepflegt aus, also mussten die überschüssigen Haare noch heute weichen, das war klar.

Die Augenringe unter seinen Augen erinnerten ihn an die vorige Nacht, in der er alles andere als geschlafen hatte. Was diese unwiderstehliche Frau wohl gerade tat? Vielleicht kochte sie gerade einem anderen Mann das Essen?

Mit einem Kopfschütteln brachte er sich von diesen Gedanken ab, er hatte nicht vor, sich über irgendetwas den Kopf zu zerbrechen, wenn er es nicht ändern konnte. Fakt war, er musste noch ein äußerst unangenehmes Gespräch mit dem König führen und er wusste nicht, ob er das heil überstehen würde. Der Mann würde außer sich sein, das war ihm klar.

Vlaindar seufzte und machte sich daran, sein Aussehen aufzupolieren. Wenn er am Hof erscheinen musste und in sein Verderben rannte, konnte er auch gleich wie ein echter Held sterben: Mit glänzender Rüstung oder in seinem Fall feinen Kleidern.
 

Dorothea seufzte. Nachdem sie sich von den Wirtstöchtern verabschiedet und den Heimweg angetreten hatte, fühlte sie sich mehr und mehr unwohl. Wenn ihr auch nur ein kleines bisschen von dieser Erinnerung entwischte, würde ihr Vater sie lynchen. Der Mann war nicht gerade für seine Gnade bekannt – seine Wutanfälle waren in der Gegend um Sendenstar berühmter als König Ressotas.

Doch jetzt mit diesem Dorf vor sich, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, hatte sie ziemlich große Lust, umzukehren und nicht wiederzukommen. Der Mann wäre eh wütend, weil sie seit Tagen nicht zu Hause gewesen war. Verdächtigte er sie vielleicht immer noch der Lustdamerei? Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie sich an letzten Monat erinnerte. Nachdem sie von ihrer geheimen Arbeit in Fandenstar nach Sendenstar zurückgekehrt war – sie hatte dort zwei Tage verbracht –, hatte ihr Vater sie bezichtigt, dem Lustgewerbe anzugehören und sie auf Wasser und Brot gesetzt. Schlimmer noch, sie hatte in der löchrigen Scheune bei den Schweinen schlafen müssen, neben dem Gährungsraum für das Bier und es hatte fürchterlich gestunken. Die Ohrfeigen, die sie sich eingefangen hatte, obwohl sie verzweifelt versucht hatte, die Bezichtigungen abzustreiten, waren nichts gegen diese Dinge gewesen. Doch übertrumpft war all das nur durch eine Sache: Der Hohn ihrer Geschwister war ihr nicht gerecht vorgekommen und sie hatte wochenlang in den Nächten bitterlich geweint. Letztendlich arbeitete sie ja nur als Kellnerin im angrenzenden Dorf, um ihre Familie zu unterstützen! Aber ihr Vater würde so eine Begründung niemals annehmen, es würde seinen Stolz verletzen. Dennoch hatten alle Familienmitglieder festgestellt, dass zu wenig Geld vorhanden war und dadurch sah sich Dorothea genötigt, einzugreifen. Das Geld, das sie verdiente, wanderte zu drei Vierteln in die Familienkasse und ein Viertel sparte sie sich auf. Wofür wusste sie nicht, aber wenn sie genug hatte, würde ihr schon noch etwas einfallen. Die kleine lederne Geldbörse hatte sie unter einer Holzdiele in ihrem Zimmer versteckt, die schon seit sie denken konnte locker war. Inzwischen befand sich dort bereits eine beträchtliche Summe, denn obwohl Dorothea erst siebzehn war, ging sie seit zwei Jahren diesem Beruf nach. Von den anderen drei Vierteln wurde unbemerkt von ihrem Vater die Ausbildung ihrer jüngeren Schwestern bezahlt: Chana hatte die Möglichkeit, in ein Kloster zu gehen, Vila und Mora-Haina konnten die Dorfschule besuchen.

Seufzend durchschritt Dorothea das Dorftor und fand sich im ruhigeren Teil des Dorfes wieder. Vor ihr standen die Hütten des Jägers und Holzfällers und neben sich hörte sie das altbekannte Summen des Barbiers und das Knarzen des Schaukelstuhls der verrückten Geschichtenerzählerin, vor der man kleine Kinder warnte. Hinter ihrem Haus befand sich fast direkt der Friedhof, vielleicht lag es auch daran. Dorothea wandte sich nach links und ging am Dorfbrunnen vorbei, von dem die Kinder immer das Wasser für ihre Eltern holten. Beinahe sofort stand sie im Angesicht des Wirtshauses – ein großes dunkles, uneinladend wirkendes Gebäude aus Holz mit einem riesigen Stall für Pferde und anderes Vieh, das man zeitweise dort im Winter unterbrachte. Auf der anderen Seite schlossen sich die Bierbrauerei ihres Vaters an und ein Lager für die fertige Ware. Die Gährware wurde im Stall aufgetürmt, weil es dort eh so stank, sodass der Geruch nicht so auffiel.

Sie wusste instinktiv, dass ihr Vater, Porain, in der Bierbrauerei über irgendeinem heißen Kessel stand und darin rührte. Neben ihm würden ihre zwei ältesten Brüder stehen: Sonian und Parrar, beides Männer mit Kindern und molligen Ehefrauen. Sie selbst waren eher wuchtige Gestalten mit schrecklichen Angewohnheiten. Ihre Mutter, Matia, würde mit Sammi, Sonians Frau, und Mi, Parrars Frau, in der Küche stehen und den abendlichen Gästeansturm vorbereiten. Tonar, ihr drittältester Bruder, und seine Frau Ena waren sicherlich schon mit den Ställen und den kleinen Feldern draußen beschäftigt und ließen sich von ihren vier Kindern dabei helfen. Großmutter Sofia würde sich um die anderen Fünf kümmern, ihnen bestimmte Dinge beibringen oder ihnen Geschichten erzählen. Ihre jüngeren Schwestern wären – nach dem Stand der Sonne berechnet – noch in der Dorfschule und Chana hielt sich sowieso seit einigen Jahren nicht mehr im Dorf auf. Der einzig Unbeschäftigte, wie immer, wäre Isim, der Viertälteste. Der junge Mann hatte eine unansteckende Krankheit, die mit einigen wenigen Kräutern geheilt werden konnte, aber ihr Vater hielt es für eine Schande, einen kranken Sohn zu haben und versteckte ihn daher im hintersten Teil seines Hauses, ohne einen Arzt zu rufen. Man behandelte ihn wie einen Aussätzigen.

Isim, Sofia, Mi und Chana waren die einzigen Mitglieder dieser Familie, die Dorothea mochten und ihr halfen. Aber ohne Chana, mit der sich Dorothea ein Zimmer teilte und Isim, der nie sein Zimmer verließ, war der Tag eintönig und eine Verschwendung: Ihr Vater würde sie den ganzen Tag über hämisch betrachten und seine Familie sich mit kalter Schulter abwenden, wenn sie vorbei kam. Der Spott der Kinder war die reinste Qual. Mi wollte sich nach außen hin nicht auf ihre Seite stellen und traf sich nur heimlich mit ihr, nur Großmutter Sofia war einigermaßen freundlich zu ihr. Sie war streng, aber akzeptierte Dorotheas Ansichten, wenn sie auch nicht der gleichen Meinung war.

Dorothea öffnete die Haustür und hörte das vertraute Klappern des Geschirrs. Doch etwas war anders. Kein fröhliches Gespräch lag in der Luft und lockerte die gedrückte Atmosphäre des auch von innen düster verkleideten Gasthauses. Ihre Ankunft war sicherlich schon berichtet worden, man sah Reisende schließlich schon von weitem aus dem Dorf.

Langsam trat sie in den Schankraum und entdeckte den Großteil ihrer Familie dort versammelt beieinandersitzen. Die Gesichter hoben sich alle gleichzeitig, böse Blicke hefteten sich wie Stecknadeln auf sie und sie schluckte unwillkürlich. Waren vielleicht Gerüchte gestreut worden? Oder war sie wieder zur Lustdame verdammt worden?

„Vier Tage“, fing Porain an und zählte somit die Anzahl der Tage auf, die sie fortgewesen war. Dorothea schluckte eine freche Antwort herunter, sie konnte es sich nicht leisten, ihn noch wütender zu machen. Nicht, dass er durch ihr Schweigen nicht ebenfalls aufbrausen konnte.

„Durchsucht ihre Taschen“, befahl ihr Vater seinen Söhnen und Sonian und Parrar gehorchten – sie fanden natürlich die Geldbörse mit dem verdienten Geld und Dorothea wusste, was nun kam. Nachdem ihr Vater das Geld gezählt hatte, sagte er ruhig:

„Vier große Silbermünzen, vierhundert Enai! Wie viele Männer musstest du dafür ins Bett nehmen?“

„Keinen einzigen“, erwiderte sie wahrheitsgemäß. Tatsache war, mit dem Drachenreiter hatte sie freiwillig geschlafen. In Anbetracht der Tatsachen jedoch hätte sie vielleicht doch Geld verlangen sollen.

„Lüg mich nicht an!“, schrie Porain und verpasste ihr eine Ohrfeige, die sie zu Boden warf. Das war jedoch nicht schwer, im Vergleich zu ihm war sie ja kleiner und dünner – viel, viel dünner. Es schmerzte so sehr, dass ihr Tränen in die Augen schossen.

„Heul nicht! Du wagst es, meinen Namen in den Schmutz zu ziehen und flennst dich dann hier durch?!“, brüllte er und hob seinen Gehstock wütend schwingend in die Luft. Ohrfeige hin oder her, Prügel mit dem Gehstock würden schmerzen wie die Hölle. Dorothea antwortete nicht und rollte sich zu einem Ball zusammen. Es wäre besser gewesen, wenn sie einfach umgekehrt, vielleicht sogar dem Drachenreiter gefolgt wäre.
 

Vlaindar zuckte nicht einmal mit der Wimper, so ruhig stand er da. Mit beiden Füßen fest auf dem Boden, seiner geraden Haltung und den hinter seinem Rücken verschränkten Armen wirkte er fast wie eine Statue, die sich nicht an dem Geschehen um sich herum störte. In Wirklichkeit störte er sich aber doch daran, er zeigte es bloß nicht.

„DU NICHTSNUTZIGER, DRECKIGER, KLEINER BASTARD!“, kreischte der König von Saitan-Heten zum unendlichsten Mal. Mit puterrot angelaufenem Gesicht stand der kleine Mann im großen Empfangsraum seiner Privatgemächer und wedelte aufgebracht mit den Armen. Ihm waren seit zwei Stunden die Schimpfwörter ausgegangen. Doch die Wenigen, die er kannte, warf er Vlaindar nur umso häufiger an den Kopf. Äußerlich mochten sie an diesem abprallen, innerlich zuckte er jedes Mal zusammen.

„Verzeiht –“, setzte er in einer erneuten Entschuldigung an, aber das „königliche Gewitter“, wie man Ressota auch nannte, ließ ihn nicht fortfahren.

„Ja, bla bla bla! Hör‘ mir bloß auf mit deinen Entschuldigungen. Du meinst es sowieso nicht ernst! VON WEGEN MEIN LOYALSTER VASALL! DA ERFAHRE ICH, DASS DIESER LOYALE STRAßENKÖTER MEINE BEFEHLE MISSACHTET!“

„Neyantear“, begann Vlaindar wieder und seufzte, als König Ressota ihn erneut unterbrach:

„STILL! NIEMAND, UND ICH SAGE NIEMAND, HAT DIR ERLAUBT, DEINEN SCHWUR ZU BRECHEN!“

„Natürlich, Neyantear“, antwortete Vlaindar ergeben und fing sich dafür einen Faustschlag ein, der ihn zu Boden warf. Der König war für seine Wutanfälle berühmt, doch seine schnelle Rechte war berüchtigt. Der Schmerz vernebelte Vlaindars Gedanken für kurze Zeit, bevor er sich aufsetzten konnte und wieder erhob.

„SAG MIR AUF DER STELLE, WER DIESE VERFLUCHTE HURE IST!“, brüllte der König und Speichel flog durch die Luft, während das gesamte Blut seines Körpers in seinen Kopf schoss. Vlaindar hätte unter solchen Umständen sofort ein Bild von Dorothea in seinem Geist heraufbeschworen, allein bei der Erwähnung eines solchen Hinweises auf sie, doch Hairimas Drachenzauber blockierte sämtliche seiner gesammelten Informationen: Er wusste natürlich, dass es eine Frau gegeben hatte, mit der er den Zölibat gebrochen hatte, doch wer und wo sie war, konnte er nicht sagen. Tatsächlich konnte er sich nicht einmal mehr an ihr Aussehen erinnern – seine Drachendame hatte wirklich gute Arbeit geleistet.

„Neyantear“, versuchte Vlaindar noch einmal, den König von seiner Wut abzulenken, doch der Mann kannte ihn zu gut. König Ressota hatte den Drachenreitergeneral schon immer durchschaut: Als der Junge als Magiesklave das erste Mal vor die Menge geführt worden war und seine Augen voller Hass gewesen waren, als er sich geweigert hatte zu essen, weil man ihn für den Thron erwärmen wollte, als er sich geweigert hatte, sich vor dem König zu verneigen, weil er diesem sein Elend zuschrieb. Tatsächlich wussten nur wenige, warum Vlaindar war, wie er war oder warum er getan hatte, was er für richtig hielt.

„Was?“, fauchte der König und sah Vlaindar aus zusammengekniffenen Augen an. Der senkte den Kopf und versuchte, sich zu beruhigen. Die Schimpfworte hatten ihn fast an die Grenzen seiner Selbstkontrolle gebracht, doch er schluckte all seine anklagenden Antworten herunter und schwieg beharrlich. Er würde sie nicht verraten.

„Ach so, wir schweigen also. Fein“, meinte Ressota schnippisch und machte eine wegwerfende Handbewegung, bevor er sich mit dramatisch klackernden Schuhabsätzen und wehendem Rock auf einen der teuren Stühle seines Empfangsraums setzte. Mit einem Halblächeln, das nichts Gutes verhieß – das hatte es noch nie –, faltete er seine Hände in gespielter Gleichgültigkeit zusammen, bevor er aus dem großen Fenster ihm gegenüber schaute, direkt an Vlaindar vorbei, als gäbe es diesen gar nicht.

„Erinnerst du dich zufällig an König Beren?“, fragte der Mann nach einer gefühlten Ewigkeit und Vlaindar zuckte unwillkürlich bei der Nennung dieses Namens zusammen.

„Natürlich, Neyantear.“

„Frische doch einmal mein Gedächtnis auf, das kannst du doch, oder?“

Vlaindar sog die Luft um sich her ein, als würde er ersticken. Tatsächlich kribbelte sein Nacken furchtbar und schickte ständig kalte Schauer über seinen Rücken. Die Atmosphäre hatte sich aufgeladen – man konnte die Spannung beinahe greifen. Verzweifelt versuchte der junge Mann seine Nervosität zu unterbinden, doch schon bald trat er von einem Fuß auf den anderen und rang mit seinen Fingern. Sein Blick huschte die pompösen Brokatvorhänge hinauf und suchte hinter sich einen Fluchtweg.

„Nun?“, fragte Ressota und sein Lächeln war inzwischen ziemlich breit – natürlich wusste der König, was Vlaindar von König Beren wusste. Jeder kannte diesen Vorfahren, er war schließlich nicht umsonst berühmt für seine Foltermethoden gewesen.

„König Beren ist Euer Vorfahr und ein sehr bekannter Mann“, stammelte Vlaindar zu seinem eigenen Entsetzen. Er wusste genau, was jetzt kam.

„Und warum war er so bekannt?“

„Er galt als sehr mächtig, Neyantear. Seine Landsleute haben ihn … sehr … respektiert“, fuhr er fort und musste sich dazu überwinden, danach wieder einzuatmen. Seine Kehle war wie zugeschnürt und er hatte das schlimme Gefühl, zu ersticken. Kurz und flach atmete er, nein, schnappte er förmlich leise nach Luft. Ressota wusste, was Vlaindar für eine Panik vor ihm hatte, wenn er das „König-Beren“-Ass aus dem Ärmel zog.

„Respektiert? Das ist auch eine Art, darzustellen, dass sie sich vor ihm vor Angst in die Hosen machten und jegliche Konfrontation mit ihm mieden!“, lachte der König, doch sein breites Grinsen erreichte nicht seine Augen. Sie blieben kalt, beinahe leblos. Anklagend und scharf starrten sie Vlaindar an und suchten nach den ersten Anzeichen eines Nachgebens. Doch dieses Mal wollte er nicht aufgeben.

„Ja, Neyantear“, sagte er lediglich und versuchte mit einem tiefen Atemzug wieder zur Ruhe zu kommen, doch sein Herz schlug ihm aus dem Halse heraus und er fühlte wie nass seine Hände waren. Angstschweiß, aber natürlich! Er verriet sich zu schnell.

„Und warum?“, fragte der König weiter und genoss Vlaindars Gesichtsausdruck. Er war wie ein zweischneidiges Schwert: Wenn er fluchte und tobte, war er noch relativ harmlos, wenn er sein Halblächeln aufsetzte, war sein Gegenüber normalerweise innerhalb von zwei Wochen tot. Entweder politisch oder gesellschaftlich gesehen, es gab aber auch einige Leute, die er schon hingerichtet hatte.

„Er machte seinem Spitznamen alle Ehre“, würgte der Drachenreitergeneral hervor und versuchte, seine zitternden Gliedmaßen still zu halten.

„Welchem?“

„‘Der Folterknecht‘, Neyantear“, quiekte Vlaindar und räusperte sich, von seiner Angst entsetzt.

„Hast du Angst, Vlaindar?“, spöttelte der Mann und beobachtete seinen Vasallen mit einer gewaltigen Genugtuung.

„Neyantear“, setzte Vlaindar an und verstummte ob des Blicks, den sein Lehnsherr ihm zuwarf. Der lächelte sogleich wieder und fuhr fort:

„Ich kenne die Methoden dieses Mannes gut. Jeder König studiert sie, um sich seiner Macht klar zu werden.“

„Neyantear“, meinte Vlaindar unterwürfig und schwieg dann.

„Also, sagst du mir endlich, wer diese Hure ist? Wo sie womöglich auch noch ist?“, fragte König Ressota und blinzelte spottend mit seinen Wimpern, so als würde er eine dieser aufdringlichen Konkubinen nachahmen. Als der Drachenreiter nicht sofort antwortete, runzelte der Mann die Augenbrauen und seufzte, bevor er aufstand und hinzufügte:

„Du hast die Wahl: Eine Folterstrafe, jede Menge Schmerzen und dann verrätst du mir, wer sie ist oder du erzählst mir auf der Stelle, was ich wissen will. So einfach ist es. Danach werde ich dich in Ruhe lassen und das Thema ist vom Tisch. Ganz einfach, siehst du?“

„Neyantear, aber mein Gewissen lässt Letzteres nicht zu. Ich komme vielleicht davon, aber was geschieht mit ihr?“, erwiderte Vlaindar verzweifelt ob seines aufbegehrenden Herzens.

„Gewissen ist nur was für Frauen, du bist ein Prinz. Lass dich nicht auf diese Ebene hinab“, rügte ihn der Mann und durchbohrte ihn mit einem scharfen Blick. Vlaindar seufzte und antwortete:

„Was werdet Ihr mit ihr tun?“

„Nichts, was ihrer nicht würdig ist“, wich der König aus, doch sein Blick verriet zu viel von dem, was er sich für sie ausgedacht hatte. Der junge Mann schluckte seine widersprüchlichen Gedanken hinunter und spannte seine Muskeln an, als Ressota weitersprach:

„Strafe oder Freiheit, Schmerz oder Wohlbefinden, Rebellion oder Loyalität. Entscheide dich jetzt.“

Vlaindar atmete tief ein und ließ sich dieses Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen. Die junge Frau konnte nur verlieren, wenn er sie jetzt verriet. Die Liebe zu ihr erfüllte sein Herz und verdrängte so einfach die Angst, wie nichts Anderes das gekonnt hätte. Er schlug die Augen nieder und kniete sich unterwürfig hin. Im letzten Anflug von Mut entschied er sich.

„Verzeiht mein Versagen als Euer Vasall, Neyantear.“

„Dummer Junge.“
 

Dorothea hatte die Nase gestrichen voll. Ihre Großmutter hatte sich vor dem Karmin im Salon der Familie zurückgezogen und nähte dort, während sie den kleinen Kindern Geschichten erzählte. Mi hatte sie noch nicht einmal angesehen! Ohne Chana hatte sie niemanden zum Reden, selbst Dorotheas Mutter Matia hatte sie nicht sehen wollen. Nun gut, die Frau war immer kaltherzig gegenüber ihrer Tochter gewesen, aber dass jetzt niemand mehr auf ihrer Seite war, fand Dorothea ungerecht.

Als Ball zusammengerollt lag sie auf ihrer Strohpritsche und blinzelte sich Tränen aus den Augen. Dumm nur, dass diese nicht so einfach verschwinden wollten.

„Das ist alles deine schuld!“, klagte sie Gedanken den Drachenreiter an und schluchzte wütend, weil sie wusste, dass keiner in diesem Haushalt von einer Liebelei zwischen ihr und einem Drachenreiter gehört hatte. Es war kindisch, ihn jetzt zu verfluchen, doch sie brauchte irgendeinen, dem sie gehörig die Meinung sagen konnte.

„Alles deine schuld! Sieh mich doch jetzt einmal an, von wegen ich sei schön. Dein nächtliches Geflüster hat mir nur Blutergüsse eingebracht!“, weinte sie in das Stroh hinein, das unangenehm in ihren Körper stach. Allein daran sah sie schon die ungerechte Behandlung, die ihr in dieser Familie zuteilwurde. Sie hatte kein richtiges Bett, sondern alte Holzbretter mit Stroh abgedeckt und einer kratzenden, stinkenden, alten Wolldecke bekommen. Eine brüchige Holztruhe beherbergte all ihre Habseligkeiten: Die paar Kleider, die sie besaß, eine alte Stoffpuppe, ein Kräuterbuch von ihrer Tante Pilea, in dem in Bildsprache erklärt wurde, wozu diese gut sind, Reisekleidung mit einem Beutel und seit neuestem auch die Brosche des Drachenreiters, die sie vor ihrem Vater versteckt hatte. So konnte sie nicht zum Feinschmied gehen und ihn fragen, er würde alles sofort ihrem Vater melden und sie noch mehr in Schwierigkeiten bringen.

„Ich werde zu diesem Mann gehen und ihm in den Hintern treten, das schwöre ich bei meinem Namen!“, knurrte sie zwischen zwei Schluchzern und wischte entschlossen die Tränenspuren von ihrem Gesicht. Ja, das war die richtige Entscheidung. Sofort fühlte sie sich besser und bereute den Gedanken sogar ein bisschen, unterdrückte das Gefühl aber sofort und stand auf. Zum ersten Mal sah sie ihre Welt wirklich: Eine alte Truhe, eine alte Pritsche, eine kleine Lampe. Das war das Zimmer, in dem sie immer geschlafen hatte, wenn Chana zuhause gewesen war, da die zukünftige Tempeltochter sich ja noch in den letzten Annehmlichkeiten suhlen sollte, die man ihr geben konnte. Dieses Mal war Dorothea hier aber zur Strafe gelandet: Zwei Wochen bei Wasser und Brot einmal täglich, sie durfte nicht einmal heraus. Wenn, dann nur um im Haushalt zu helfen.

„Verkauft mich nicht für blöd“, spottete sie und zog aus ihrem Pferdeschwanz eine kleine Haarnadel hervor. Damit würde sie schon sehr bald entkommen können. Zunächst wandte sie sich aber der Truhe zu und holte den Beutel hervor, den sie sich selbst gemacht hatte, als sie ein paar Jahre jünger und naiver gewesen war. Damals war ihr diese schlechte Behandlung nicht aufgefallen, doch dafür plagte sie diese Realität nun doppelt und dreifach.

In den Beutel wanderten nur das kleine Buch ihrer Tante und die Brosche. Dann zog sie sich aus und nahm die Reisekleidung hervor, die sie ebenfalls von Pilea bekommen hatte. Die Frau hatte sich immer liebevoll um Dorothea gekümmert und vernachlässigte alles andere. Genauso hatte sich das junge Mädchen immer eine Mutter vorgestellt. Aus der Kleidung fielen Bandagen hervor und sie lächelte. Früher hatte sie sich diese immer umgewickelt, um ihre Fraulichkeit zu verstecken: Damit hatte sie die Brüste abgebunden, die sich oftmals als sehr unvorteilhaft herausgestellt hatten. Wenn man ein Mann war, lebte man nun einmal einfach besser! Das hatte ihre Tante mehrfach betont, weshalb auch die Reisekleidung einen männlichen Schnitt hatte. Frauen reisten nun einmal nicht!

Auch jetzt nahm sie das weiße Tuch und wickelte es sich um – nicht zu eng, da das schlecht für ihren Körper wäre, doch fest genug, um sie mit dicken Kleidern ganz zu verstecken. Dann zog sie die Unterhose an, die knielang und braun war. Darüber legte sich der Stoff des Unterhemds, das ihr ebenfalls bis kurz oberhalb der Knie reichte. Beides war aus dicken braunen Leinen gemacht. Der Kittel, den sie sich danach überwarf, ging ihr nur bis zum Oberschenkel, doch auch er war braun. Mit einem dazugehörigen Seil band sie sich alles eng um die Hüfte, erst dann zog sie sich die Kniesocken an und stülpte die Hose darüber. Die Stiefel folgten und dann die Weste und der Überwurf: Ein Umhang von Taillenlänge. Zuletzt setzte sie die dicke Mütze auf, die sogar mit Schafsfell gefüttert worden war.

Mit leisen Schritten schlich sie zur Tür und steckte die Haarnadel in das Schloss. Nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit darin herumgebohrt hatte, sprang die Tür auf und sie atmete erleichtert auf. Vorsichtig lugte sie durch einen Spalt, bevor sie in den Flur schritt, die Tür schloss und sich auf den Weg in das Zimmer von Isim machte.

Sie klopfte nicht an, sondern betrat den Raum einfach. Ihr älterer Bruder schien nicht überrascht, sie spätabends bei sich auflaufen zu sehen. Sein Gesicht erhellte sich und verdüsterte sich, als er sah, was sie anhatte. Seine braunen Augen und wuscheligen braunen Haare, die aussahen wie ein Vogelnest, erinnerten sie an ihre Mutter Matia. Sein kindliches Gesicht war aber keinem der beiden Elternteile zuzuordnen – ihre Züge waren immer sehr hart gewesen.

„Doro“, setzte ihr Bruder an und sie drückte ihm sofort den Zeigefinger auf die Lippen.

„Isim, verzeih mir. Ich hatte gesagt, dieses Mal bleibe ich länger, aber ich gehe.“

„Weil du es nicht mehr ertragen kannst“, schlussfolgerte er und sie nickte.

„Teils. Nur du sollst wissen, was in Wirklichkeit geschehen ist.“

Und so erzählte sie ihm von ihrer Bekanntschaft mit dem Drachenreiter und den Wunsch in wiederzusehen. Wenn auch nur, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen, die sich gewaschen hatte.

„Verstehe. Es war also doch etwas mehr dabei“, antwortete Isim ruhig. Ihn schien es nicht zu stören, er war aber auch nicht davon begeistert, was ihr widerfahren war.

„Verzeih, dass ich dir das erst so spät sage. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.“

„Geh zu ihm und zeig unserer Familie, was du wert bist!“, ermunterte er sie und lächelte das schwächliche Lächeln, das ihr zeigte, wie schlecht es ihm wirklich ging. Er war seit Wochen nicht mehr aufgestanden und auch jetzt saß er im Bett, auf seinem Schoß das Buch, das er gelesen hatte, als sie eingetreten war.

„Was wird aus dir?“, fragte sie verzweifelt und streichelte seine Wange.

„Mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe die letzten fünfzehn Jahre mit dieser Krankheit und den Blicken meiner Familie gelebt und werde es auch so schnell nicht aufgeben“, versicherte er ihr und lächelte wieder. Sein Lächeln zeigte er nur sehr selten und deswegen war Dorothea glücklich, eine der Einzigen sein zu dürfen, die einen Blick darauf werfen durfte.

„Wirklich?“

„Willst du nun gehen oder nicht?!“, lachte er leise und stieß sie vom Bett, um ihr zu zeigen, dass sie ruhig gehen sollte.

„Ich würde gehen, aber wenn du mich aufhältst, bleibe ich.“

„Mach nicht immer deine Entscheidungen zu meinen!“, rügte er sie und nahm ihre Hand in seine, bevor er fortfuhr:

„Das ist erst das zweite Mal, dass du etwas für dich entscheidest, obwohl du einen so starken Charakter hast.“

„Ich bin nicht stark. Ich weine nur nicht in aller Öffentlichkeit“, widersprach sie.

„Und macht dich das nicht stark? Zeige deine Tränen nur demjenigen, dem du deine Schwächen anvertrauen möchtest. Nicht einmal vor mir weinst du, also solltest du dir ja den Richtigen suchen. Vielleicht ist es ja dein Drachenreiter?“, meinte er und lächelte sie keck an, woraufhin auch sie ein schiefes Grinsen zustande brachte.

„Sind Tränen eine Schwäche?“

„Nein, aber sie sind Ausdrücke von Gefühlen. Nicht jeder in dieser Welt nimmt Gefühle an, also sei vorsichtig auf deiner Reise. Dein Weg wird steinig sein, ob aus natürlichen oder künstlichen Gründen.“

„Du meinst, mir wird jemand Steine in den Weg legen?“, fragte sie entsetzt und dachte nach.

„Vielleicht, aber so wie ich dich kenne, klappt das schon irgendwie. Zeige aber nur den richtigen Leuten deine Gedankenwelt oder deine Gefühle. Es ist gefährlich und leichtsinnig, dies zu tun, wie schon gesagt. Einige könnten sie sogar gegen dich verwenden!“

„Ich weiß, aber ich bin stark – in gewisser Weise, nicht wahr? Mir wird schon was einfallen und wenn nicht, dann weine ich das Stroh voll.“

„Pass auf, dass es nicht zu feucht wird, sonst schimmelt es“, lachte er und Dorothea fiel in das leise Kichern ihres Bruders ein.

„Ich werde gehen, ich danke dir, Isim.“

„Weißt du überhaupt, wohin?“, war seine einzige Antwort und Dorothea schaute ihn schuldbewusst an. Darüber hatte sie sich noch keine Gedanken gemacht. Plötzlich kam ihr eine Idee und sie zog die Brosche hervor.

„Ich werde einfach danach fragen, irgendjemand wird schon wissen, woher sie kommt.“

„Zeig mal!“, forderte Isim sie auf und schaute sich die Brosche genauer an.

„Was ist damit?“, wollte sie wissen und starrte ihren Bruder an, der mit einem leichten Lächeln erwiderte:

„Du bist schon an den Richtigen geraten. Also, meine liebe Schwester, ich kann dir ein bisschen über den Besitzer dieser Brosche erzählen!“

„Was?! Echt?!“, rief sie und schlug sich die Hände auf den Mund, bevor sie Isim beinahe flehend anschaute. Ihr Bruder lächelte und sagte:

„Ja, ich habe einiges über Drachenreiter gelesen, Dank der verrückten Geschichtenerzählerin, die mir immer ihre Bücher leiht.“

„Da stand was Wichtiges drin?“, bezweifelte Dorothea und dachte an die zahnlose Oma, vor der man kleine Kinder warnte, weil sie einen gruseligen Einfluss auf Leute ausüben konnte.

„Ja, man glaubt es kaum. Also, diese Brosche hat einen Wirbel in der Mitte – siehst du ihn?“

„Ja!“, ereiferte sich das junge Mädchen.

„Das ist das Zeichen für –“

„Die vier Lebenszeitalter, richtig?“, unterbrach sie ihren Bruder.

„Genau. Es steht als Symbol für irgendetwas.“

„Was?!“, rief Dorothea aus und rutschte unruhig umher.

„Ich weiß nur nicht was. Siehst du das Gold hier? Das ist das Zeichen für einen General. Nur Drachenreitergeneräle haben Gold in ihrer Brosche“, führte er seine Untersuchung fort.

„Der Drachenreitergeneral einer Garde?! Oh, Ismira! Es ist unglaublich“, schüttelte Dorothea den Kopf im Angesicht der Realität.

„Damit haben wir deine Suche auf acht Städte begrenzt …“

„Wieso?“

„Die Garden existieren nur in acht Städte, das heißt es gibt auch nur acht dieser Gardenart“, meinte Isim und überlegte weiter. Dorothea rutschte nervös auf der Bettkante herum und jammerte dann:

„Und welche Städte sind es?!“

„Warte, lass mich überlegen.“

Es brauchte eine halbe Ewigkeit, bis Isim schließlich antwortete:

„Hm, ich erinnere mich an Mornien und Ivenstar. Natürlich! Saitan als Hauptstadt von Saitan-Heten auch. Oh! Das war auch gleich die vierte Stadt. Heten.“

„Also … Saitan, Heten, Mornien und Ivenstar?“

„Ja, sie liegen ein bisschen weit auseinander. Ich erinnere mich aber nicht an mehr. Vielleicht solltest du mit Saitan anfangen?“

„Mit der Hauptstadt?! Ich soll nach Saitan reisen?!“, entsetzte sie sich und dachte an die lange Reise, die sie dann vor sich hatte. Es war noch nicht einmal Frühling, sie würde erfrieren oder vielleicht sogar verhungern!

„Natürlich! In Saitan treffen sich ständig alle Drachenreiter ein, dort wissen sie bestimmt mehr. Genaueres kann ich dir nämlich nicht sagen, vielleicht hat die Rauten-Form dieser Brosche etwas mit dem genauen Ort zu tun. Vielleicht markiert sie die Herkunft dieser Brosche, aber das ist alles nur Zeitschinderei meinerseits. Und was hat es mit diesem Wirbel zu tun? Frag einfach direkt in der Hauptstadt nach.“

„Als würde man da so einfach hineinkommen!“, widersprach Dorothea und zog die Augenbrauen herausfordernd hoch.

„Gib nicht auf, bevor du überhaupt erst angefangen hast. Außerdem kommt man in die Hauptstadt selbst hinein, nur in den Bereich des königlichen Palasts, des Hohen Tempels und der Drachenreiterakademie nicht.“

„Aber da will ich doch hin!“

„Denkst du nicht, dass die Menschen im ersteren Bereich ebenfalls genug über Drachenreiter wissen, um dir sagen zu können, wo du hinmusst?“, fragte er und sah sie an.

„Dann kann ich ja auch gleich in Tandandom nachfragen!“

„Könntest du. Das ist dir überlassen“, zuckte Isim gleichgültig mit den Schultern.

„Nun gut. Hast du noch irgendwelche Ratschläge für mich?“

„Geh zur Geschichtenerzählerin. Die kann dir bestimmt mehr sagen.“

„Danke, Isim. Ich schwöre dir, ich werde wiederkommen und wenn es für deine Rettung ist!“

„Danke, ich verzichte. Ich lebe ganz gut abseits von der alltäglichen Sorge der armen Leute. Wenn ich fliehen wollte, wäre ich schon längst aus dem Fenster gesprungen, glaube mir.“

„Ich weiß“, sagte Dorothea, drückte ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange und erhob sich. Mit einem letzten Lächeln verabschiedeten sie sich voneinander.

„Pass auf dich auf, Schwesterchen. Wenn du wiederkommst, bist du aber bitte die Braut eines Drachenreiters!“, lachte Isim und scheuchte sie mit einer Handbewegung hinaus. So bestärkt ging Dorothea leise die Treppe hinunter. Ihre Familie war schon ins Bett gegangen und alles war dunkel und still. Sie schlich sich in die Vorratskammer, packte sich Brot, Käse und Trockenfleisch ein, bevor sie im Arbeitszimmer ihres Vaters nach einer Karte suchte. Sie fand das gute Stück schnell, rollte es zusammen und verstaute es neben dem Beutel für die Nahrungsmittel. Dann stibitzte sie sich einen der leeren Weinschläuche und füllte ihn mit Wasser. Auch der Schlauch verschwand im Reisebeutel. Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf den Schreibtisch ihres Vaters. Dort lag ihr Geldbeutel, gefüllt mit ihrem Verdienst. Aus der Familienkasse unter dem Tisch klaute sie mit sichtlich schlechtem Gewissen etwas mehr Geld und legte es dazu, bevor auch dieser Beutel eingesteckt wurde.

Mit zögerlichen Schritten ging sie auf die Garderobe zu und zog sich ihren Umhang über. Würde sie diese Reise durchstehen? Sie war noch nie so lange gewandert. Vielleicht stellten sich die Blutergüsse als unerträgliches Hindernis heraus – selbst jetzt schmerzten sie und sie bewegte sich nicht einmal. Ein Kopfschütteln später hatte sie sich beruhigt und schritt entschlossen aus der Tür. Die nächtliche Luft war kalt, aber auch nicht mehr so beißend wie im Winter. Der Frühling kam also auch hier.

Sie schlich durch das Dorf zur Geschichtenerzählerin und druckste vor deren Haustür herum. Was, wenn die Frau diese nächtliche Ruhestörung nicht akzeptierte?

„Also bist du gekommen. Ich habe mich schon gefragt, wann es soweit ist. Du warst schon immer die Träumerin von fernen Abenteuern“, vernahm sie die schnarrende Stimme hinter sich und wandte sich um. Die gebeugte Frau, die hinter ihr stand, lächelte und sagte:

„Wie die Mutter, wie die Mutter.“

„Bitte?“

„Tee?“, fragte die Geschichtenerzählerin und lächelte geheimnisvoll.

„Danke nein. Ich habe nur eine Frage.“

„Viele Fragen bleiben immer ungelöst, aber die Jugend stellt sie trotzdem ständig.“

„Ja, genau“, erwiderte Dorothea verunsichert und trat von einem Fuß auf den anderen.

„Sprich schon, Kind, oder du wirst nicht weit genug fort sein, um deinen Verfolgern zu entgehen.“

„Wisst Ihr über Drachenreiter Bescheid?“, haspelte sie hervor und schluckte lautstark.

„Ja.“

„Kennt Ihr dieses hier?“, sie holte die Brosche hervor und hielt sie in das fahle Licht des Mondes.

„Ein Gardeabzeichen“, stellte die Großmutter fest und schien nicht sehr beeindruckt. Sie zuckte sogar mit den Schultern.

„Mein Bruder, Isim, meinte es sei die Brosche eines Gardegenerals.“

„Ah, tat er das?“, sagte die Frau und untersuchte die Brosche genauer, „ja, er hat Recht.“

„Wisst Ihr Genaueres?“, hakte Dorothea nach und schaute die alte Frau misstrauisch an, die jedoch nur lächelte und sagte:

„Ja, aber der Wirbel da sagt mir nicht viel. Ich weiß auch nur das, was Isim dir erzählt hat. Die Rauten-Form ist aber der Hinweis darauf, wo diese Garde ihren Ursprung hat. Also, wo ihr Stützpunkt ist.“

„Ich danke Euch, Geschichtenerzählerin.“

„Ich konnte dir kaum helfen. Komm wieder, wenn die Zeit gekommen ist.“

„Bitte?“

„Tee?“, fragte die Geschichtenerzählerin und lächelte geheimnisvoll.

„Danke nein. Auf Wiedersehen“, erwiderte Dorothea, als sie bemerkte, dass die alte Frau vergessen zu haben schien, dass sie sich bereits unterhalten hatten.

„Schade, auf Wiedersehen, junge Schicksalsfrau.“

„Bitte?“

„Tee?“, fragte die Geschichtenerzählerin und lächelte geheimnisvoll.

„Danke nein, auf Wiedersehen“, sagte Dorothea und machte, dass sie davon kam. Verrückte alte Frau. Ein leises Wiehern hinter ihr ließ sie herumfahren. Ein alter Gaul trabte auf sie zu und sie schaute sich verwundert um. Die alte Geschichtenerzählerin stand im Eingang ihrer Tür und hob die Hand. Dankbar winkte die junge Frau zurück, bevor sie aufstieg und sich unbeholfen auf dem sattellosen Tier zu halten versuchte.

„Das wird der schmerzhafteste Ritt, den ich je genießen durfte“, murmelte sie und schaute in den Himmel. Immerhin war das Wetter in dieser Nacht gut genug, um sie gut zu leiten. Sie musste bloß nach Westen reiten. Ihr erstes Ziel war Tandandom, die Hauptstadt ihres Bezirks Sekain.

Voyage

„Habt ihr gehört?“

„Ja, echt unglaublich, oder?“

„Wusstet ihr schon?“

„Ich hab es erst heute Morgen erfahren!“

„Das ist doch unmöglich!“

„Das hätte ich nie gedacht!“

„Vor allem nicht von IHM.“

Palinor seufzte und vergrub sein Gesicht kopfschüttelnd in seinen Händen. Mit den Ellbogen auf den Tisch gestützt wirkte er wie die Verkörperung der Verzweiflung. Eigentlich hatte er nur ein angenehmes Frühstück zu sich nehmen wollen und war mit seiner Familie im Speisesaal der Drachenreiterakademie aufgekreuzt, doch die Gerüchte um ihn herum brodelten laut genug, um ihn ständig aus der Fassung zu bringen. Neben sich Sedara, seine Frau, auf deren Schoß seine Tochter Finya saß, während sich auf seinem Rebecca befand, hatte er sich seit einiger Zeit von Adeligen und Drachenreitern zugleich umringt gefunden. Und sie alle stellten Fragen, auf die er die Antwort nicht wusste. Er selbst war von der Ursache dieser Gerüchte dermaßen kalt erwischt worden, dass er am liebsten aufgesprungen und selbst hinab in die Kerker gelaufen wäre, um den Urheber höchstpersönlich zu verhören.

Famiran und Mikanor hatten durch ihr Erscheinen den Ring der Neugierigen zerstört und sich wie Leibwachen neben ihn gesetzt. Auch Keoran war nur kurze Zeit später mit eiligen Schritten zu ihnen gestoßen und hatte sich ihm gegenüber hingesetzt. Er war so aufgeregt, dass er vergessen hatte, seinen Gürtel anzuziehen und auch sein morgendlicher Tee war nicht bestellt worden.

„Ich fasse es nicht“, setzte er zum hundertsten Mal an und schüttelte entsetzt den Kopf. Sedara seufzte und meinte leicht gereizt:

„Shiar, Ihr könnt es so oft sagen, wie Ihr wollt, es ändert nichts an der Situation.“

„Sedara hat Recht. Wir müssen Genaueres herausfinden. Bis jetzt wissen wir dank der Gerüchte nur, dass Vlaindar im Kerker sitzt und der König unglaublich wütend ist. Irgendetwas muss vorgefallen sein!“, sagte Palinor und rieb sich die Schläfen, bevor er fortfuhr:

„Sedara, nimm die Kinder und geh nach Hause. Ich muss mich um diese Angelegenheit kümmern.“

„Natürlich musst du das. Ich vertraue darauf, dass du Vlaindar-shiarireyliar dabei hilfst, den König um Gnade zu bitten“, erwiderte sie, nahm Finya und Rebecca an den kleinen Händen und schleppte die beiden widerstrebenden Mädchen aus der Halle. Als sie verschwunden war, steckten die vier Drachenreiter die Köpfe zusammen.

„Vlaindar ist kein Narr. Irgendetwas muss ihn dazu veranlasst haben, gegen Ressota aufzubegehren und der war davon selbstverständlich nicht sehr begeistert“, begann Keoran und rieb sich die Augen.

„Erinnert ihr euch? Er war schon bei der Abreise vom Gasthaus in Fandenstar so seltsam. Und das blieb den ganzen Tag so“, warf Palinor ein und legte dadurch den Grundstein zu einer Vermutung Famirans:

„Nun gut, vielleicht ist irgendetwas vorgefallen, was ihm die Ungnade seiner Majestät eingebracht hat. Aber es muss schon etwas ziemlich …“

„Anstößiges? Schreckliches? Widerliches?“, half Mikanor aus und Famiran nickte.

„Richtig, etwas davon muss es sein. Aber was?“

„Ich werde hinab in die Kerker gehen und fragen“, schlug Keoran vor, doch Palinor schüttelte den Kopf.

„Das ist nicht möglich. Sie bewachen ihn zu gut. Sie wollen ihn sicherlich nicht in Kontakt mit anderen Personen stellen, was bedeutet, er wird wie ein Schwerverbrecher behandelt.“

„Wie ein Schwerverbrecher? So richtig mit „Wasser und Brot“-Ernährung?“, fragte Famiran und setzte eine erschrockene Miene auf. Man warnte jeden Menschen in Saitan-Heten vor den Kerkern des Schlosses von Saitan.

„Ich will nicht wissen, was sie schon mit ihm angestellt haben. Denkt doch nur einmal daran!“, meinte Mikanor und Palinor seufzte:

„Ich denke, seine Majestät steht mit Vlaindar gut genug, um ihn nicht foltern zu lassen. Eine Hinrichtung würde ich ausschließen, aber eine Strafe bekommt er bestimmt, egal was er getan hat.“

„Ismira! Denke bloß nicht an so schreckliche Sachen, Palinor! Wie kannst du!“, empörte sich Famiran und man sah förmlich, wie dem jungen Drachenreiter bei dem Gedanken daran ein eiskalter Schauer über den Rücken lief.

„Wir müssen herausfinden, was geschehen ist“, meinte Keoran und lenkte die Aufmerksamkeit dadurch auf ein anderes Problem. Palinor holte tief Luft und befahl:

„Famiran, erkundige dich bei den Konkubinen seiner Majestät. Mikanor, such du die Edeldamen auf und hör dir deren Gerüchte an. Keoran, ich möchte, dass du herausfindest, ob man die Wärter bestechen kann oder zumindest irgendwie an Vlaindar herankommt.“

„Was wirst du tun?“, fragte Keoran, nachdem die drei Drachenreiter genickt hatten, um ihre Zustimmung auszudrücken.

„Ich werde mich beim König ankündigen lassen und ein wenig mit seinen Beratern plaudern.“

„Ich hoffe, du bereust es später nicht“, warnte dieser ihn bloß und die Vier machten sich jeder auf seine eigene Art und Weise auf den Weg.
 

Dorothea war geritten, bis ihr Hintern und sämtliche anderen Bereiche ihres Körpers geschmerzt hatten. Danach war sie lange gewandert, den alten Gaul hinter sich herziehend, weil das störrische Vieh nicht mehr gehen wollte. Inzwischen war der Morgen bereits lange hereingebrochen und die Sonne, die ihren Lauf im Süden fortfuhr, zeigte ihr an, dass es ungefähr um die Mittagszeit war. In der Nacht zuvor hatte sie sich viele Male umgedreht, um nach Verfolgern Ausschau zu halten, weil sie fürchtete, dass die Geschichtenerzählerin geredet hatte. Doch es war niemand gekommen, weswegen sie in der stillen, bedrohlichen Nacht allein Richtung Westen weitergezogen war. Sie hatte sowohl Sendenstar als auch Fandenstar schon lange hinter sich gelassen, als die Sonne am Horizont aufgegangen war und die flache Landschaft in rotes Licht getaucht hatte.

In der Ferne sah man den großen Wald um Tandandom, der Hauptstadt des Bezirks. Da Sekain eine ebene Landstruktur hatte, waren solche ungewöhnlichen Dinge auf weite Entfernungen hin auszumachen.

„Weißt du was, Dummkopf?“, sagte sie zu ihrem Pferd, das sie so getauft hatte. Der braune Hengst schaute sie nur aus kugelrunden Augen an.

„Wenn wir in Tandandom sind, gebe ich dich einem befreundeten Wirt und werde mir eine Schiffspassage ergattern. Ich könnte dann über den ‚Heten‘ ganz schnell nach Saitan kommen, wenn ich eine Fahrt kaufe. Du wärst da nur im Weg.“

Der Hengst schnaubte und ging langsam hinter ihr her. Er verstand sie natürlich nicht, aber sie musste irgendwie die Einsamkeit vertreiben, die ihr schwer zu schaffen machte. Dieses Gefühl nagte an ihr wie ein Biber an einem Baum und ein paar Mal wäre sie beinahe umgekehrt, doch hatte sie in Gedanken ein Bild von ihrem Drachenreiter heraufbeschworen und ihn mit Nägeln durchlöchert. Allein diese Vorstellung trieb sie vorwärts, immer weiter: Rache an einem Jungfräulichkeitendieb!

„Ich hoffe, du steckst echt in Schwierigkeiten! Aber nicht so Schlimme, als dass du stirbst oder so. Ich muss noch meinen Rachedurst an dir stillen! Warte auf mich und ich bring dir bei, wie man in Sekain Hölle buchstabiert!“, rief sie in den Himmel hinauf und lauschte auf ihr Echo. Doch nicht einmal das gab es hier. Büsche links und rechts von der Straße, ja, aber Echos? Diese Reise machte ihr schwer zu schaffen und sie verfluchte ihn weiter:

„Ich schwör dir, ich komm dir bei! Leide!“
 

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf.

Vlaindars Gedanken drehten sich um das rhythmische Tropfgeräusch, sodass er das Stöhnen und Jammern, das Betteln und Flehen aus den Nebenzellen ausblendete. Wichtig war im Moment nur sein eigenes Leid, seine eigenen Bedürfnisse hatten sich bereits mehrfach gemeldet: Sein Magen knurrte, denn das Brot, das man ihm gebracht hatte, war ungenießbar, schimmelig und stank ranzig. Das Wasser, das in dem Krug am Eingang seiner Zelle stand, war versehen mit einem Trank. Seine Dracheninstinkte hatten ihn davor gewarnt, also hatte er nichts zu sich genommen.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf.

Er wusste, dass die Flüssigkeit, die dieses Geräusch verursachte, kein Wasser war. Doch weiter darüber nachdenken wollte er nicht. Sie lief über seinen linken Arm hinab zu seinem Ellbogen und tropfte in die Pfütze ein paar Zentimeter darunter. Es war ein angenehm beruhigendes Geräusch und er fühlte sich daher schon seit einiger Zeit schläfrig.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf.

Vlaindar spitzte die Ohren, als in seiner Zelle ein kleines Quieken ertönte. Eine Maus. Irgendwo in der Nähe des Schimmelbrots, das ebenfalls am Eingang des zwei Meter breiten und drei Meter langen Raums lag. Eine Holztür mit Sehschlitz war ihm gegenüber in die Wand eingelassen. Der Schlitz war mit Eisengittern zusätzlich gesichert worden, damit die Gefangenen noch schwerer entkommen konnten als eh schon: also gar nicht. Um seine Zelle hatte man starke Zauber gewoben, das Vibrieren dieser magischen Barrieren brachte seinen Kopf zum Pochen und er stöhnte.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf.

Der ganze Raum stand knöcheltief unter Wasser, eine gewaltige Pfütze von Flüssigkeiten, die er nicht identifizieren wollte. Wenn es eine Sache gab, die Vlaindar hasste, dann war es Unordnung und Dreck und er befand sich anscheinend im hintersten Drecksloch, in dem die Regeln des Chaos herrschten. Es gab keinen Tag und keine Nacht, Fackeln erhellten den Gang der heruntergekommenen Wächter in unregelmäßigen Abständen, weshalb Vlaindar im Dunkeln saß. Nicht, dass Vlaindar der Tagrhythmus gefehlt hätte, er konnte eh nicht schlafen, aber irgendwie schien dieses Gefängnis noch unreeller zu sein, als zuerst angenommen.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf.

Vlaindar lehnte an der Wand und lag mit ausgestreckten Beinen halb in dieser Pfütze. Seine Arme hingen irgendwo über ihm in einer Schelle und seine Fußknöchel waren zusammengebunden. Wahrscheinlich mit einem Seil aus Hanf. Er wusste es nicht. Das unidentifizierte Wasser warf Wellen und Vlaindar wusste, dass sich ein Wächter im Gang bewegt haben musste. Etwas stieß an seinen Fuß und quiekte. Die Maus. Wäre er eine Maus, würde er nicht in eine Zelle voller Wasser springen, nur um Nahrung zu finden. Sie musste ein Überlebenskünstler sein, eine Maus, die schwimmen konnte.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf.

Den Kopf hängend nickte Vlaindar ein, wurde aber wach, weil ein lautes Aufheulen seinen Schlaf gestört hatte. Ein Gefangener. Im Raum für Verhöre. Das Knarren der Streckbank. Ein Peitschensurren und schließlich auch der Knall. Vlaindar zuckte zusammen und erinnerte sich unwillkürlich an sein Verhör. Nichts hatte er zugegeben, nichts ausgeplaudert und die Strafen waren immer schlimmer geworden. Das Stechen in seinem Rücken machte ihn auf die Striemen aufmerksam, die er sich zugezogen hatte, als man ihn ausgepeitscht hatte. Schnitte waren ihm zugefügt worden, raue Androhungen hatten ihm Angst einflößen sollen, mit Erzählungen von König Beren hatte man ihn quälen wollen. Doch nichts hatte den Wächtern etwas eingebracht: Er blieb schweigsam. Diese dunkle Zelle hatte aber durchaus ihre Wirkungen erzielt: Er begann zu halluzinieren. Er sah die Gesichter seiner Gardemitglieder oder das seiner kleinen Schwester, als er sie zuletzt gesehen hatte. Da war auch verschwommen die Stimme einer ihm bekannten Frau, die wohlige Schauer über seinen Rücken sandte. Dann war da das Lied der Gefangenen: Ihre Klagelaute, ihre Schmerzensschreie, das Stöhnen und das andauernde Betteln. Mehrmals hatte er sich übergeben müssen, mehrmals hatte er sich so sehr gefürchtet, dass er in Ohnmacht gefallen war. Und hinter all diesen Dingen war doch stets etwas Regelmäßiges.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf.

Vlaindar sackte erschöpft in sich zusammen. An sein Ohr drang undeutliches Gemurmel und als er herausfand, dass er derjenige war, der die ganze Zeit wie verrückt redete, versuchte er mit ein wenig Anstrengung, diese Regung zu unterbinden. Es klappte nicht, aber das war nicht wichtig. Er wusste nicht einmal, was er da redete. Er redete aber und das hörte sich gut genug an. Wenigstens etwas Leben in dieser Zelle. Die Maus war schon verschwunden.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf.

Wo war er überhaupt? Diese Zelle war sein Raum, aber wo genau lag diese Zelle? Die Frage bereitete ihm starke Kopfschmerzen und er schrie auf. Sein Mund bewegte sich unablässig, während der Schrei schon verhallte, der Schmerz blieb. Pochend, als würde jemand einen Nagel in seine Schläfen hämmern. Er leckte über seine Lippen, er hatte solchen Durst! Sie waren spröde, rissig und er schmeckte sogar etwas Blut. Sein nackter Ober- und Unterkörper waren der Grund, warum er plötzlich zu frieren begann. Eine Gänsehaut bildete sich, als das kalte Wasser mit den Stücken darin gegen seine Beine schwappte. Was waren das für Stücke? Waren das menschliche Exkremente?

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf.

Zu diesem Geräusch kam das Würgen, das Vlaindar sagte, dass er sich gerade übergab. Das Plätschern erzählte ihm genug, sodass er verstand, wo sein Mageninhalt nun in nächster Zeit präsent sein würde. Der Gedanke, in seinem eigenen Erbrochenen zu liegen, ließ ihn noch einmal spucken. Der Brechreiz überwältigte ihn und er hustete, um irgendwie zwischen zwei Würgern nach Luft schnappen zu können. Ein Peitschenknall ertönte, gefolgt von einem Schrei und Vlaindar erbrach sich erneut.

„Bitte, Herr, ich weiß nichts!“, bettelte der Ausgepeitschte.

„Hilfe, Ismira!“, flehte Vlaindars Zellennachbar.

„Rette mich!“, schrie eine Stimme und verhallte gespenstisch langsam in den Gängen.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf.

„Hgn, gn, hmf“, als Vlaindar bemerkte, dass er dieses Geräusch verursachte, wunderte er sich zunächst und öffnete den Mund. Zuvor hatte er auf seine Lippen gebissen, doch jetzt, da er damit aufhörte, fand das Schluchzen einen Weg hinaus. Wie lange war er hier? Wie lange musste er noch bleiben? Sein eigenes Weinen wurde durchbrochen vom Brechreiz, der sich wieder an die Oberfläche drängelte. Das Schluchzen und Würgen gab eine eigenartige Mischung ab. Diesmal spürte Vlaindar, wie sein Mageninhalt auf seinen Bauch prallte und daran hinunterlief. Mit zitternder Stimme und von Schluchzern durchbrochen, begann er zu beten:

„Ismira, möge die Göttin ihren Gefolgsleuten helfen, die ihr treu gedient haben in vergangenen Zeiten. Möge ihr gnädiges Licht den düsteren Pfad der Verwunschenen erhellen …“

Begleitet wurde sein Singsang vom Betteln, Flehen, Schreien und Jammern der anderen Zellenbewohner. Und seine Stimme verhallte zwischen einem rhythmischen Geräusch.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf.
 

Dorothea schnaufte hart und erklomm einen weiteren Hügel. Oben angekommen blieb sie stehen und leckte ihre Wunden – zumindest ruhte sie sich aus. Nachdem sie bis in den späten Nachmittag der Straße gefolgt war, konnte sie nun auch vereinzelt Türme von Tandandom ausmachen. Die Stadt lag von Fandenstar ungefähr einen Tagesritt entfernt und von Saitan, der Landeshauptstadt, mindestens vier oder fünf wenn nicht sogar mehr. Würde sie aber eine Schiffspassage ergattern, wäre sie nach zwei Tagen da, wenn der Wind günstig lag und die Schiffe von Tandandom nach Saitan gut durchkamen. Der ‚Heten‘, der Fluss der beide Städte verband, war nicht umsonst eine unwegsame Gegend.

„Warum muss die Straße auch durch dieses Gelände führen? Das hätte man auch schlauer machen können!“, maulte Dorothea und setzte sich direkt auf die Straße. Trotzig ruhte sie sich schmollend aus und seufzte schließlich. Dank eines Dorfes am Rande der Straße war sie Dummkopf, den braunen Hengst, losgeworden, der kurz vor Erreichen dieser Hüttenansammlung kaum mehr einen Schritt gehen konnte. Das hieß aber wiederum, dass ihre Ankunft in Tandandom verzögert wurde und das ärgerte sie. Der Drachenreiter hatte einen viel zu großen Vorsprung! Wenn sie zurückrechnete, dann musste sie wirklich scharf nachdenken: Der Abreisetag war der fünfzehnte Deiran gewesen. Dann war sie nach Hause gegangen und zwei Tage da gewesen, also am zweiten Figan war sie aufgebrochen. Ein Tag mehr, machte der dritte Figan. Heute war also der Dritte.

„Insgesamt sind das vier Tage! Vier! Mit dem Drachen war er sicher schon am Fünfzehnten in Saitan“, überlegte sie laut und nahm sich ihren Reisebeutel vor. Daraus zog sie den Brotlaib und biss davon ab. Weil sie durch die anstrengende Reise viel gegessen hatte, musste sie ihren Proviant im gleichen Dorf auffrischen, in dem nun auch Dummkopf untergekommen war. Mit ein wenig Geld hatte sie den Stallburschen bestochen und ihm gesagt, er solle den alten Gaul nach Sendenstar bringen.

„He! Aus dem Weg!“, schrie hinter ihr jemand und sie sprang auf, bevor sie sich von der Straße warf. Und das gerade rechtzeitig, weil eine Kutsche genau dort schlitternd zum Stehen kam, wo sie eben noch gesessen hatte.

„Geht es dir gut, Nerar?“, fragte der Kutscher und sie musste ein Lachen unterdrücken. Der Mann dachte, sie wäre ein Junge. Dorothea hob die Augen und sprach mit verstellter Stimme:

„Ja, Nerar.“

„Das war ziemlich gefährlich, pass demnächst auf!“

„Jawohl, Nerar“, antwortete sie unterwürfig und lachte sich innerlich über diesen mittelalten Mann halbtot. Es war ein dünner, kleiner Männertyp, der vor ihr stand und sich entschuldigend am Kopf kratzte. Seine braunen Locken, die sich wirr in alle Richtungen erstreckten, erinnerten sie an Isim, doch die blauen Augen des Kutschers passten nicht ins Bild.

„Mann, stell dir vor, da wär jetzt was passiert!“, meinte der Mann erleichtert, während er mit dem Kopf schüttelte und die Ware in seinem Planwagen kontrollierte. Sie war gesichert und daher nicht beschädigt. Der Kutscher seufzte und sagte:

„Was sitzt du auch auf der Straße!“

„Verzeiht, Nerar, es wird nicht wieder vorkommen auf meinem Weg.“

„Hoffentlich“, war seine Antwort, doch er hatte die Ohren gespitzt und sah sie neugierig an. Dann entschloss er sich zu sprechen.

„Wohin des Weges?“

„Nach Tandandom, Nerar“, erwiderte sie und richtete sich stolz auf. Der Kutscher lachte.

„Steig auf, ich bringe dich vorbei! Es liegt auf dem Weg.“

„Macht Euch doch nicht solche Umstände!“, wollte sie ablehnen, doch er schüttelte den Kopf, verpasste ihr einen freundschaftlich gemeinten Schulterklaps, der sie beinahe umwarf und schob sie dann zum Kutschbock seines Planwagens.

„Nicht der Rede wert! Wie gesagt, es liegt auf dem Weg!“, frohlockte er und lachte sein tiefes, raues Lachen.

„Ich danke Euch“, meinte Dorothea ergeben und setzte sich neben den Mann. Ohne Dummkopf war sie wirklich ziemlich aufgeschmissen gewesen. Die Reise nach Tandandom würde schneller vergehen, als geplant, jetzt da sie mit dieser Kutsche fuhr. Und tatsächlich verhielt es sich auch so. Wenn sie zu Fuß gegangen wäre, hätte sie wahrscheinlich noch bis in den späten Abend wandern müssen, doch durch die schnelle Fahrt des fröhlichen Mannes neben ihr erreichten sie Sekains Bezirkshauptstadt schon am Abend. Derweil erzählte er ihr Geschichten von seiner Frau und seinen Kindern und lachte sich lauthals darüber kaputt – sie verstand das meiste nicht, weil er während des Redens ständig Glucksen musste, lachte aber, wenn er sie ansah. Dafür verpasste er ihr immer wieder einen Klaps auf die Schultern und warf sie damit beinahe immer vom Kutschbock.

„Mann, Nerar, du bist ja nicht sehr bodenständig“, lachte der Kutscher, als sie sich wieder einmal am Sitzgeländer festgeklammert hatte, um nicht herunterzufallen.

„Verzeiht“, stöhnte sie und rieb sich ihre schmerzende Schulter. Wehe, die schwoll an! Sie war bestimmt schon ganz rot!

„Du könntest ein paar mehr Muskeln vertragen, mein Sohn ist beispielsweise ein sehr kräftiger junger Mann! Er ist in deinem Alter!“, sagte der mittelalte Mann, der sich als Pirian herausgestellt hatte.

„Aha ha ha“, lachte sie trocken und versuchte ein Hüsteln zu verbergen, während sie sich im Kopf verzweifelt vorzustellen versuchte, wie sie mit mehr Muskeln aussehen würde. Hässlich wie ein Mannsweib wahrscheinlich. Pirian lachte und unterhielt sie so die ganze Fahrt über, die sich trotz Planwagen als beschwerlich erwies, da die Kutsche keine Federung besaß und die Straße sehr holprig war. In Tandandoms Nähe dann wurde sie jedoch besser und man kam schneller voran.

„Wir sind da“, meinte Pirian stolz und zeigte auf das riesige hölzerne Stadttor. Er glühte beinahe vor Freude, aber in seine Augen mischte sich auch Traurigkeit. Er würde in einem nahegelegenen Dorf bei einem Freund übernachten und musste sich daher hier verabschieden. Es schien, als würde er die Einsamkeit einer Reise ebenso verabscheuen wie Dorothea.

„Auf dein Wohl!“, rief er und lächelte traurig.

„Auf Euer Wohl, Nerar. Ich danke Euch für Eure Güte“, antwortete Dorothea seinen Gruß und winkte ihm hinterher, als er davonfuhr. Dann wandte sie sich den Wachen zu, die die Szene mit einer jahrelang eingeübten Gleichgültigkeit betrachteten. In Wirklichkeit war ihnen so langweilig, dass sie wohl mit offenen Augen eingeschlafen wären. Ohne viel Aufsehen zu erregen, schritt sie durch die mannshohe Tür, die in das hölzerne Tor eingelassen war und fand sich auf der belebten Hauptstraße der Bezirkshauptstadt wieder. Überall war das bunte Treiben im Gange und die Stände der ansässigen Bewohner lockten die Marktbesucher mit geschickten Methoden an.

Dorothea schlenderte die Straße entlang, immer auf der Suche nach einem Gasthaus und sie fand es auch ziemlich schnell. Die Taverne sah bei weitem nicht so heruntergekommen aus wie die ihres Vaters in Sendenstar.

„Das Gasthaus zum krähenden Hahn“, las sie vom Eingangsschild. Die Schrift war die der Amtssprache, deshalb wunderte sie sich zunächst noch, trat dann aber schulterzuckend ein. Es war ziemlich voll, deshalb befürchtete sie schon, kein Zimmer mehr zu bekommen, dennoch schlug sie sich bis zum Wirt vor und fragte nach.

„Natürlich! Verzeiht die Lautstärke, Nerar, das sind die überheblichen Besucher dieser Stadt!“, antwortete er ihr lachend. Sie handelten einen Preis aus und schon bald fand sie sich auf dem Bett in ihrem Zimmer wieder. Es dauerte auch nicht lange, da war sie eingeschlafen und träumte von wilden Abenteuergeschichten. Irgendwie fanden sowohl ihr Drachenreiter als auch der Kutscher Pirian ihren Weg in diesen Traum und am Morgen sollte sie aufwachen und sich fragen, warum sie sich überhaupt die Mühe machte, zu träumen, wenn sie eh nur Mist heraufbeschwor.
 

Als die Sonne aufging und Dorotheas Gesicht beschien, schlug sie die Augen auf. Ihre Muskeln schmerzten und sie fühlte sich ausgelaugt, doch davon ließ sie sich nicht unterjochen und erhob sich ächzend. Dann zog sie sich an und machte sich reisefertig, mit einem sehnsüchtigen Blick auf die leere Waschschale. Sie hatte sich seit fünf Tagen nicht gewaschen und musste ziemlich übel riechen. Sie hoffte inständig, dass ihr keiner über den Weg lief, den sie kannte.

Mit einem kargen Mahl im Schankraum begnügte sie sich und erkundigte sich dann bei der Wirtsfrau nach Schiffspassagen.

„Wäre es möglich, mit dem Schiff nach Saitan zu reisen?“

„Natürlich! Jetzt ist sogar die richtige Jahreszeit dafür! Die Winde sind gut und das Wasser im Fluss tief genug, um auch schwere Schiffe ohne Behinderungen in die Landeshauptstadt zu schicken“, antwortete diese anscheinend erstaunt, dass Dorothea das nicht wusste.

„Muss ich für eine solche Reise anheuern?“, fragte sie lediglich und die Wirtsfrau winkte ab.

„Ach, Quatsch! Es gibt Passagierschiffe, keine Bange. Die fahren zwei Mal am Tag ab, mittags und abends.“

„Also muss ich zum Hafen gehen?“, versicherte Dorothea sich, doch auch hier schüttelte die Frau den Kopf.

„Nein, nein. Morian ist ein guter Kunde von uns und Kapitän auf dem Mittagsschiff. Weißt du, er kommt aus Saitan und übernachtet nur hier.“

„Ah, ach so. Und wie komme ich an eine solche Passage heran?“, gab sich Dorothea interessiert.

„Na ja, frag ihn doch einfach. Er ist der Mann da mit dem Vollbart und dem langen Umhang, der da sitzt! Ich glaube, er verlangt Geld, aber wie viel, weiß ich nicht“, schlug die Wirtin vor und wedelte mit ihrer Schürze, die sie zum Trocknen eines Bierkrugs verwendet hatte, in Richtung eines düster dreinblickenden mittelalten Seebären. Dorothea mochte diesen Mann sofort, weil sie sich genauso die Seefahrer vorgestellt hatte. Also ging sie zu ihm hinüber und räusperte sich. Er blickte auf und schaute sie von oben bis unten abschätzig an.

„Guten Morgen“, sagte sie und versuchte den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. Er nickte bloß und starrte sie weiter an.

„Ich würde gerne mitreisen, wenn Ihr heute nach Saitan fahrt!“, sagte sie eifrig und lächelte.

„Na dann, hast du auch Geld, Bengel?“, antwortete Morian mit seiner kratzigen Stimme. Sie war so tief, dass sie schon beinahe gruselig klang.

„Natürlich!“, empörte Dorothea sich und holte ihren Geldbeutel hervor.

„Vier Sai kostet dich der Spaß, Jüngelchen“, murrte der Mann in seinen Bart. Dorothea schnappte nach Luft. Das waren Wucherpreise! Ein Sai waren fünfhundertfünfzig Enai! Eine goldene Münze machten fünf große und eine mittelgroße Silbermünze! Vier Sai wären also zweitausendzweihundert Enai! Wie viele Silbermünzen machte das? In Zweitausend musste man zwanzig große Silbermünzen investieren und in Zweihundert noch einmal zwei – zweiundzwanzig?!

„Hast du das Geld oder nicht, Bürschchen?!“, raunzte der Seefahrer schlecht gelaunt. Dorothea biss in den sauren Apfel und durchsuchte ihren Münzbeutel. Mit etwas Glück hatte sie tatsächlich genug Geld dabei. Drei Sai förderte sie zutage und zählte dann mit widersprüchlichen Gefühlen fünf große und eine kleine Silbermünze in die Hand des Kapitäns.

„Komm mit, es wird eh Zeit, dass ich mir die Burschen anschaue, die heute mit dabei sind.“

Dorothea verabschiedete sich von der Wirtin und lief dem mit großen Schritten voranstolzierenden Mann hinterher. Der Hafen kündigte sich schon lange vorher an: Seeluft strich um die Häuser und das Knarren von Schiffen und das Schlagen von Wellen war zu hören. Am Kai hatten sich einige Leute vor einem großen Schiff – einem Zweimaster – versammelt und beobachteten das hektische Treiben der Mannschaft an Bord. Als sie den Kapitän entdeckten, machten sie ihm Platz, sodass er zum Schiff gelangen konnte. Dorothea hingegen mischte sich unter die Zuschauer und fragte eine junge Frau ganz in der Nähe:

„Fährst du auch mit?“

„Ja und ich hoffe, ich komme auch an! Vier Sai ist Wucher!“, maulte sie zurück und Dorothea wandte sich schnell einem jungen Mann zu, der nicht viel älter zu sein schien als sie.

„Kommst du auch mit?“

„Klar, ich habe ewig dafür gespart meine Verlobte in Saitan besuchen zu können!“, meinte er und strahlte förmlich.

„Meinen Glückwunsch.“

„Danke! Du kommst also auch mit?“

„Ja“, sagte sie und freute sich sofort, als sie es aus ihrem eigenen Mund hörte.

„Sind ganz schön viele Leute, die nach Saitan wollen, nicht wahr?“

„Hm? Echt? Ich komme nicht von hier.“

„Ach so. Also ich finde schon“, meinte er schulterzuckend und lächelte freundlich. Dorothea sah zum Schiff hinüber und fragte:

„Weißt du, wie lange diese Reise dauert?“

„Klar! Dank der guten Jahreszeit höchstens einen Tag und das auch nur bei sehr schlechtem Wetter. Ich gehe davon aus, dass wir am Abend da sind.“

„Schon?!“

„Was denkst du denn?“, lachte der Junge zurück. So standen sie eine Weile nebeneinander und beobachteten das Treiben auf dem Schiff, bis der Kapitän ihnen allen ein Zeichen gab und schließlich die Leute an Bord holte. Es gab keine Kajüten für alle, nur die Ersten hatten eine solche abbekommen und so fand sich Dorothea bald neben dem jungen Mann von eben in einem großen Raum unter Deck wieder. Als sie in See stachen, oder eher in den Fluss, setzte sich das Schiff schaukelnd in Bewegung und fuhr dann ruhiger weiter, sodass an Bord kaum einer seekrank wurde. Da die zurückzulegende Strecke kaum Biegungen hatte, würden auch nur wenige Manöver gefahren werden müssen und daher das Schiff meistens ruhig bleiben. Die Passagiere konnten sich deswegen in aller Ruhe ausstrecken und schlafen, Karten spielen und Wetten abhalten oder Musik machen – es war ein lustiges Volk, das sich hier zusammengefunden hatte.

Der Mann neben ihr stellte sich als Uman vor und sie unterhielten sich die meiste Zeit über das Leben aus dem sie kamen. Er war der dritte Sohn eines Seifensieders, achtzehn Jahre alt, ohne Mutter aufgewachsen und hatte insgesamt fünf Geschwister. Vier davon waren älter als er. Dorothea hingegen wich bei vielen Fragen aus oder stellte ihr Leben aus der Sicht eines Jungen dar, sodass ihre Tarnung nicht aufgedeckt wurde. Teilweise fand sie es aber viel zu offensichtlich, dass sie eine Frau war, doch was die Augen nicht sofort als eine Frau erkannten, waren für sie auch keine Frau, daher übersah Uman gütig die Patzer, die sie sich leistete. Wenn er etwas ahnte, konnte er dies jedoch ziemlich gut verbergen.
 

Vila schürzte die Lippen. Ihre Familie hatte nach vier Tagen Suche im Umkreis des Dorfes die Suche nach Dorothea aufgegeben. Ihr Vater Porain tobte schon eine halbe Ewigkeit und schlug immer wieder mit der Faust auf den Tisch. Er schimpfte und schrie und fluchte, doch nichts brachte das junge Mädchen zurück, dass sich in einer sternklaren Nacht aus dem Haus gestohlen hatte mit ein wenig Geld aus der Familienkasse und dem Geldbeutel, den sie zuvor mitgebracht hatte. Bis ihre Flucht bemerkt worden war, war ein Tag vergangen und sie musste schon einen gewaltigen Vorsprung gehabt haben. Niemand wusste zumindest, wo sie abgeblieben war.

Mora-Haina, ein gold-blondes Mädchen mit blauen großen Augen, hielt sich den Bauch vor Lachen, während sie sich auf ihrem Bett gegenüber von Vila hin und her rollte. Man hörte das Wummern der Schläge und die Stimme des Vaters durch das ganze Haus und die Vierzehnjährige konnte es nicht lassen. Sie musste lachen.

„Dorothea hat uns alle veräppelt!“, lachte Vilas Zwillingsschwester und kicherte immer noch wie wild, während ihr die Tränen die Wangen hinabliefen. Vila lachte und sagte:

„Vater hätte nie gedacht, dass sie so etwas tun würde.“

„Vater denkt nicht viel“, war Mora-Hainas Antwort und Vila legte sich den Zeigefinger auf den Mund.

„Sch! Mora, du weißt, dass es nicht gut ist, wenn du so etwas sagst.“

„Manchmal bist du echt eine Spaßverderberin! Na und? Was ist schon geschehen? Die von allen ungeliebte Dorothea hat sich mit ein bisschen Geld aus dem Staub gemacht! Uh! Ist das schlimm!“, spottete Mora, stand auf und streckte Vila die Zunge heraus. Dann ging das Mädchen aus dem Raum, aber bevor sie die Tür schloss, steckte sie noch einmal den Kopf durch den Spalt.

„Jetzt kann in Sendenstar keiner mehr behaupten, ich sei nur die Zweitschönste! Jetzt, da sie endlich weg ist, bin ich Nummer Eins! Weil sie gestohlen hat, ist sie eh im Ansehen der Dorfbewohner weiter hinabgesunken, als es der behinderteste Krüppel jemals könnte. Glaub mir, wenn die wiederkommt, ist die tot.“

Damit verschwand Mora und ließ Vila allein zurück, die sich in ihren Gedanken verlor. Solange sie denken konnte, hatte ihre Familie auf Dorothea herumgehackt. Bis vor einigen Jahren hatte das Mädchen das akzeptiert und als sein Schicksal angesehen, doch irgendwann hatte es begonnen, nachts zu weinen. Vila hatte sich manchmal an die Tür ihrer Schwester geschlichen und war oft kurz davor gewesen, zu klopfen, doch sie hatte gezögert. Am Ende wäre sie nur wie Mi gewesen, die nach außen hin Dorothea wie ein Stück Dreck behandelte und hintenherum ihre beste Freundin spielte, weil sie sich das Gewissen reinwaschen wollte. Aber sie war auch so anders als alle Dorfbewohner: Angefangen bei ihrem Aussehen! Dann aber auch ihr ganzer Charakter, der sich entgegen all den Traditionen des Dorfs, wie man sagte, falsch entwickelt hatte. Und was war jetzt? Sie war von Zuhause weggelaufen, weil man sie schlecht behandelt hatte! Vila seufzte und dachte an die Tage, an denen Dorothea nicht hier gewesen war. Vielleicht war sie die Einzige, die wusste, dass ihre große Schwester keine Lustdamerei betrieben hatte. In Wirklichkeit hatte sie nämlich gearbeitet, um mehr Geld in die Familie zu bringen. Vila hatte Dorothea vor einiger Zeit einmal bis nach Fandenstar verfolgt und dort beobachtet, sodass sie dies nun wusste.

„Manchmal sind in den Augen der Menschen die Gerechten die Ungerechten. Nur vor Ismira sind wir alle so, wie wir sind. Dorothea, wenn du dein Leben weiter so lebst, wirst du bestimmt Ismiras Favoritin, wenn du stirbst. Selbst Chana wäre dir nicht gewachsen!“

Dieser Gedanke ermutigte die Vierzehnjährige und sie erhob sich vom Bett. So viel Leid hatte Dorothea erleiden müssen, aber hatte sie nicht gerade deshalb den Schlüssel zu so viel mehr Glück in ihrer Hand?

Punishment

Es war einer dieser Morgene gewesen, an denen man am liebsten nicht aufstehen wollte, weil man ein schlechtes Gefühl in der Magengegend hatte. Palinor hatte sich schon den ganzen Vormittag unwohl gefühlt, obwohl er nicht wusste, vor was er sich fürchtete. Bis ihn vor einer Stunde der königliche Ruf erreicht hatte – wie wahrscheinlich jeden anderen Höhergestellten im Palast. Darunter fielen Adelige, Drachenreiter und Hohepriester.

Der Bote hatte ihn daraufhin in eine große Arena geführt, die für die Drachenreiterprüfungen der Akademie vorgesehen war, aber auch für die Kampfkünste der Palastgarde herhalten musste. Sie war in einem Oval angelegt und um ihre Mitte herum waren hölzerne Zuschauerbänke befestigt worden. An der Stirnseite, die Richtung Palast zeigte, gab es eine extra Loge für die Königsfamilie. Alle Plätze bis auf einen waren dort besetzt: König Ressota saß gebieterisch auf dem breiten, verzierten Holzthron neben sich seine Frau, die aufgrund der gewaltigen Massen Stoff und des Schleiers beinahe ganz verschwand. Nicht ein bisschen nackte Haut zeigte sich nach außen. Doch man konnte erahnen, was sie tat, wenn sie sich bewegte. Ihr Kopf war gesenkt, die Hände lagen verschränkt im Schoß. Auf der anderen Seite Ressotas war der leere Platz, auf dem normalerweise der Kronprinz gesessen hätte, doch dieser Platz war zur Amtszeit des Königs noch nicht einmal besetzt gewesen. Neben diesem leeren Stuhl standen zwei andere kleinere Throne. Auf ihnen saßen die beiden jungen Prinzen, Cinnamon und Nut. Sie wirkten mickrig vor der großen Lehne.

Auf der rechten Seite der Arena hatten alle Drachenreiter Platz genommen und tuschelten gemeinsam mit ihren Kollegen. Ihnen allen war nicht klar, warum man sie hierher bestellt hatte – man fand sich zumindest in keiner Schuld wieder. Links saßen die Adeligen in ihren pompösen Hofkleidern – zwischen den Herren, die ihre Bärte ordentlich gestutzt und ihre besten Kleider hervorgeholt hatten, sah man immer wieder die bunten Hofschleier der wenigen Frauen, die es gewagt hatten, mitzukommen, hervorblitzen.

In der Mitte des sandigen Ovals befand sich ein hölzernes Gestell mit drei Löchern – ein Pranger für Gefangene. Neben diesem standen zwei für offizielle Zwecke zurechtgemachte Wachen, die steif und gerade in Richtung des Königs schauten. An der Wand unterhalb der Zuschauer gegenüber dem König war das Tor zu den Umkleiden und anderen Räumen der Arena eingelassen. Es stand offen.

Mit einem perfekt ruhigen Gesicht erhob sich nun einer der Berater des Königs, die auf ihren Hockern rechts und links der Königsfamilie Platz genommen hatten. Er breitete die Arme aus und begann zu sprechen:

„Ressota-neyantear, Sibara-neyantea, Cinnamon-neyanmonar, Nut-neyanmonar, ihr Hohen Herren, Damen und Drachenreiter! Auf königlichen Erlass hin seid ihr alle hier zusammengekommen, um die Bestrafung eines königlichen Vasallen mitzuerleben –“

Er kam nicht viel weiter, als erstaunte Ausrufe laut wurden. Nur selten wurden Missetäter öffentlich bestraft und wenn dies doch einmal der Fall war dann nur, um die Macht des Königs zu demonstrieren. Ein Musterbeispiel für jeden, der vorhatte, gegen das königliche Gesetz zu verstoßen. Palinor schluckte – im Gegensatz zu den meisten Anwesenden begriff er sofort, worauf dies hinauslaufen würde. Er spürte Keorans Unruhe neben sich und warf ihm einen Blick zu. Der jüngere Mann flüsterte:

„Ich habe eine ungefähre Ahnung.“

„Glaube mir, ich auch. Hoffen wir, dass wir uns irren“, erwiderte er bloß und schaute wieder hinüber zu dem Mann, der verzweifelt versuchte, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken. Famiran und Mikanor hatten aus dem Gespräch genug entnommen, um nun ebenfalls entrüstet aufzuschreien – aber nur leise.

„Vor einigen Tagen erreichte uns eine Mitteilung über das Verhalten eines immer loyalen Vasallen von eben diesem Vasallen – es war ein Schuldeingeständnis eines Mannes, der zutiefst bedauerte, das Gesetz des Königs gebrochen zu haben, jedoch nicht seine Tat bereute. Der Hohe König ließ ihn einkerkern und ausfragen, doch die Suche nach den Antworten verlief unerwartet schlecht. Der Missetäter versteckte mit allen Mitteln sein Wissen!“

Nach dieser Ansage wusste bereits jeder, worum es bei dieser offiziellen Bestrafung ging: General Vlaindars Schauprozess. Die erstaunten Stimmen brachen in ein heilloses Durcheinander aus und man redete ungezwungen über das Erfahrene: Gerüchte brandeten auf, anderswo wurde sogar gelacht und von irgendwoher kam immer wieder der Ruf:

„Was ist ihm, Herr?“

Palinor steckte mit den Sturmjäger-Gardemitgliedern die Köpfe zusammen, während man sie von allen Seiten bedrängte. Jeder wollte die exklusive Geschichte zum Geschehen hören, doch selbst Vlaindars Kollegen wussten sie nicht.

„Habt ihr gehört? Ausfragen, sagt er! Als ob!“, rief Famiran aus und warf dem Berater böse Blicke zu.

„Ausfragen, in den Kerkern! Die haben ihn gefoltert!“, stimmte Mikanor zu.

„Das hätte ich nicht gedacht! Zumal Vlaindar der Lieblingssohn seiner Majestät ist. Ich hätte ein wenig mehr Anstand erwartet“, murmelte Keoran entrüstet und schüttelte den Kopf.

„Auf diesen Fehler haben die beiden Berater doch nur gewartet – sie können dem König endlich beweisen, was Vlaindar für einen schlechten Einfluss hat. So ein Quatsch! Von wegen der König hat ihn einkerkern lassen, da standen bestimmt zum Großteil die beiden Berater hinter“, fluchte Palinor und schnalzte überlegend mit der Zunge. Was würden sie mit seinem Vorgesetzten anstellen?

Der Berater lächelte beschwichtigend und rief dann über die Menge hinweg:

„Nun wollen wir ihn anhand schärferer Methoden unter Druck setzen. Uns ist es wichtig, dass Missetäter am königlichen Gesetz Saitan-Hetens genügend bestraft werden! Ihr alle sollt mit ansehen, wie ein ehemals aufrechter Mann verkommen ist durch seine Taten!“

„Was hat er getan?“, brüllte ein Mann aus dem niederen Adel und zustimmendes Gemurmel erhob sich in den höheren Kreisen. Schließlich wandte sich auch der Großgeneral der Drachenreiter an den königlichen Berater. Ruiyan, der Vlaindars Mentor gewesen war, sprach mit einer vor Entrüstung zitternden Stimme:

„Vlaindar hat sich nie etwas zu Schulden kommen lassen! Er ist der ehrbarste Mann, den ich kenne!“

Der königliche Berater schnaubte und sagte dann:

„General Vlaindar ist aufgrund von Loyalitätsbruch, königlichem Schwurbruch und Geheimniskrämerei des Hochverrats angeklagt!“

Die Totenstille, die sich daraufhin ausbreitete, war erdrückend. Hochverrat! Das bedeutete den Tod! Sie würden ihn hinrichten! Viele weitere solcher Gedanken strömten durch die Köpfe der Anwesenden in den wenigen Sekunden, bevor ein heilloses Chaos ausbrach: Protestschreie, wilde Verwünschungen des königlichen Beraters und summendes Murmeln und Sprechen.

„Hochverrat?“, piepste da eine Stimme laut genug, um von allen gehört zu werden. Die Köpfe fuhren herum und schauten in die Loge hoch, aus der das zarte Stimmchen geweht war. Die Königin hatte sich vorgebeugt und eine Hand vor ihr Gesicht gelegt – sie zitterte, als würde sie weinen.

„Seid unbesorgt, Neyantea! Es ist unsere heilige Pflicht, Euch zu beschützen – wir werden unsere Arbeit gut erledigen. Der Verräter wird ausreichend bestraft werden“, meinte da der königliche Berater und schien sichtlich stolz darauf zu sein.

„Ist General Vlaindar zum Tode verurteilt?“, hauchte sie lediglich und der Mann blickte zu König Ressota hinüber, der sein Gesicht zu seiner Frau wandte, dessen Augen jedoch auf dem Pranger klebten. Der König sprach:

„Noch nicht. Aber das kann sich jederzeit ändern – je nachdem, wie Vlaindar handelt.“

„Ihr werdet doch nicht Euren eigenen Sohn hinrichten lassen?!“, quiekte sie und ihre zittrige Stimme brach am Ende des Satzes. Der Ton schwang sich ungewöhnlich weit in die Höhe und wirkte schrill.

„Das wird sich zeigen“, antwortete ihr Mann bloß und winkte, um den Schauprozess wieder in Bewegung zu setzen. Die Königin schluchzte und presste sich die Hände über den Mund. König Ressota sah sie mitleidig an, wandte jedoch schnell den Blick ab. Sein erster Sohn, Prinz Cinnamon, war nach diesen Sätzen vor Schreck ganz blass im Gesicht und zu Stein erstarrt – sein jüngerer Bruder, Prinz Nut, verstand noch nicht genug von der Politik, um sich viel davon zu erklären und war gerade dabei, einen Adler im Himmel zu betrachten.

Der königliche Berater räusperte sich, obwohl das angesichts der nun wieder schweigenden Menge ziemlich unnötig war, dann sprach er wieder:

„Heute, am vierten Figan des Jahres 756 in der Ära von König Ressota, wird nun die offizielle Befragung des Missetäters vor dem Hofe als Zeugen abgehalten. Wachen! Bringt den untreuen Vasallen und spannt ihn in den Pranger!“

Und die Wachen taten, wie ihnen geheißen war. Zwei verschwanden durch das Tor, das zu den Räumen unterhalb der Zuschauerbühne führte und kamen wenig später wieder. Jeder hatte sich unter einen Arm des Gefangenen gehakt und schliff diesen mit sich.

„Um Ismiras Willen!“, schrie die Königin auf und sprach damit aus, was der Großteil der Menge gedacht hatte. Vlaindar hatte nur noch eine kurze, kaputte Wollhose an, ansonsten war er nackt. Sein ganzer Körper war voller blauer Flecken und tiefe, blutige Striemen verunstalteten seinen Rücken. Er war insgesamt so schmutzig, dass sich einige unverbundene Wunden entzündet hatten und eitrig schimmerten. Während die Soldaten ihn halb trugen, halb hinter sich her schleiften, wackelte sein Kopf hin und her – er schien bewusstlos zu sein. Vlaindars Kopf hing herab und mit dem Gesicht nach unten konnte man nicht erkennen, ob er überhaupt noch lebte.

Als die beiden Wachen verzweifelt versuchten, den wackeligen Körper des Drachenreiters in den Pranger zu stecken, rutschte Vlaindar immer wieder zu Boden und zog sich mehrere Schürfwunden zu. Auch mit vier Leuten schafften sie es nicht, den ausgemergelten Mann angemessen für ein Verhör hinzustellen. Schließlich befahl man ihnen, den Pranger wegzuschleppen und stattdessen zwei Pfähle aufzubauen, an denen man jeweils ein Seil befestigte, um Vlaindar daran zu hängen. Die ganze Prozedur dauerte über eine Stunde, während der der respektierte General der Sturmjäger-Garde im Dreck lag und immer wieder von den Wachen übersehen wurde, wenn sie über ihn hinwegstiegen. Die Tritte, die er sich dadurch zuzog, mussten ungeheuer schmerzen, doch kein Geräusch drang aus der Kehle des Mannes.

Immer wieder schrien Menschen entrüstet auf und beschwerten sich über den Umgang mit ihrem Volkshelden. Auch Palinor, Keoran, Mikanor und Famiran mischten sich ein – brüllten und fluchten, flehten und schrien. Doch selbst das kam nicht so protestierend herüber wie das stetige Weinen der Königin, die so laut schluchzte, dass eine Kammerdienerin ihr beruhigend ein Lied vorsingen musste. Aber auch das war nicht genug. Weil seine Mutter so sehr weinte, begann auch Nut zu weinen und sprang von seinem Platz auf – er hatte die Lage noch nicht begriffen, wollte aber nicht, dass die Königin so trauerte. Cinnamon war aufgestanden und hing über dem Geländer der Loge. Das Herunterwürgen von Tränen und Erbrochenem sah man ihm von weitem an. Nur König Ressota saß seelenruhig auf seinem Platz und überwachte das Geschehen. Mit einem Schnipsen seiner Finger, begann der Berater erneut zu reden:

„Das Verhör ist eröffnet! Bringt den Folterknecht!“
 

Vlaindar schaute aus trüben, geschwollenen Augen auf den Boden vor sich – ihm war gerade erst klar geworden, wo er sich befand und warum. Die letzten Tage hatte er sich immer in einem Traumzustand aufgehalten – manchmal war er zwar auch aufgewacht, doch meistens hatte das Fieber ihm Halluzinationen beschert und ihn dadurch abgelenkt. Doch die Worte dieser falschen Schlange von einem königlichen Berater hatten ihn aufgeweckt.

Rechts und links neben ihm standen zwei Wachposten, die ihre Augen, aufgerissen vor Angst, nicht von ihm abwenden konnten und mit ihren Lippen immer wieder Wörter formten, als beteten sie. Nur einmal waren sie abgelenkt worden: Der Folterknecht hatte das Podium betreten und seine Instrumente sauber bereitgelegt. Die Menge auf den Zuschauerbänken hatte aufgeschrien und protestiert, doch die schneidende Stimme des Beraters hatte sie zur Ordnung gerufen.

„Mein Sohn, so sprich doch! Das alles könnte schon lange vorbei sein!“, begann König Ressota noch einmal sein Verhör. Die letzten Tage hatte er das ebenfalls gesagt, dort hatte Vlaindar sich noch aktiv dafür entschieden, nichts zu sagen, doch dieses Mal fühlte er sich zu schwach zum Antworten. Das Seufzen, das die Stille durchbrach, sagte ihm alles.

„Fein, wie du willst!“, fluchte der König und seine Frau – Was machte sie hier? – schluchzte laut auf. Sie griff hilflos nach dem Arm seiner Majestät, doch er schüttelte sie wütend ab. Mit einem Wink seiner Hand befahl er dem Folterknecht, anzufangen. Der machte sich langsam ans Werk. Zuerst nahm er die lange Peitsche und holte mit einem lauten Kichern aus – sein Jodeln, als sie Schnur hinabschnellte, erfüllte die ganze Arena mit Grauen. Selbst dem König lief ein Schauer über den Rücken.

Doch Vlaindar schrie nicht. Er blendete den Schmerz irgendwie erfolgreich aus, sein Kopf summte zwar und er wusste, dass irgendetwas ihn verletzt hatte, doch er fühlte nichts. Wenn es ihm wieder gut ging, musste er sich dringend bei Hairima für dieses Geschenk bedanken.
 

Palinor würgte, als nach wiederholten Bestrafungen immer noch keine Antwort seitens Vlaindar erfolgt war. Der General war nicht umsonst der Reiter eines grünen Drachen. Die Farbe war Symbol für Standhaftigkeit, Disziplin und Entschlossenheit. Er würde nicht nachgeben!

„Um Ismiras Willen! So hört doch auf!“, schrie eine adelige Frau und erhielt kräftige Zustimmung von allen Seiten. Doch aus Angst, offen gegen den König vorzugehen, war noch niemand tatkräftig geworden. Proteste und Bitten waren noch akzeptabel, aber nicht die Befehlsverweigerung oder -widersetzung.

Vlaindars Rücken war inzwischen von vielen Striemen durchzogen, man sah die Risse im Fleisch und das Blut quoll unaufhörlich daraus hervor. Die alten Wunden waren ebenfalls wieder aufgesprungen und erfüllten ihren Teil der Verletzungen. Doch obwohl ihm all diese Wunden zugefügt worden waren, sprach der Drachenreitergeneral nicht. Vielleicht fiel es dem König nur nicht auf, aber das lag hauptsächlich daran, dass Vlaindar ohnmächtig war. Der Folterknecht hatte ebenfalls keinen Spaß mehr an seiner Arbeit: Schweiß stand ihm im Gesicht und verbissen versuchte er immer noch, seine Arbeit zu tun, doch er schaffte es nicht, den Mann zum Reden zu bringen. Die Sturheit des Gefangenen ließ ihn immer verbittertere Methoden anwenden und einige Zuschauer sprangen auf und liefen aus der Arena. Männer nahmen ihre Frauen und verließen entrüstet den Schauplatz und Drachenreiter fanden plötzlich Ausreden und Termine, die ihre ungeteilte Aufmerksamkeit erforderten. Keiner wollte noch etwas mit diesem Geschehen zu tun haben. Selbst Famiran und Mikanor hatten aufgehört, aufzuschreien, sobald die Peitsche niedersauste. Sie wirkten wie zu Stein erstarrt.

Palinor biss sich auf die Lippe und fasste langsam einen Gedanken. Vollkommen darauf konzentriert, entwickelte er einen Plan: Er würde in die Arena stürmen, Vlaindar befreien und fortschaffen. Mit einer rechtzeitigen Heilung würden vielleicht nicht einmal Narben zurückbleiben! Dieser Gedanke musste auf seinem Gesicht zu sehen gewesen sein, denn Keoran starrte ihn an und sagte:

„Egal, was du denkst, tu nichts Unüberlegtes!“

„Er wird sterben, wenn keiner hilft!“, widersprach Palinor und schüttelte stur den Kopf.

„Dummkopf! Denk doch auch an dich! Du hast eine Familie! Was soll aus ihnen werden, wenn du dich dem König widersetzt!“, schollt ihn Keoran und griff nach seinem Arm. Doch Palinor riss sich los und flüsterte:

„Was hilft mir meine Familie, wenn ich Vlaindars Leben auf dem Gewissen habe?!“

„Lass einen anderen die Arbeit tun. Mehr will ich doch gar nicht“, seufzte Keoran.

„Wen?! Schau sie dir doch an! Mikanor, Famiran, Cinnamon, Nut, die Königin! Keiner hilft! Keoran, selbst du scheinst nichts aufgeben zu wollen!“, erwiderte er wutentbrannt.

„Palinor! Beruhige dich!“, versuchte der jüngere Drachenreiter den Vize-General zu beschwichtigen, doch auch das klappte nicht.

„Wie soll ich im Angesicht dieser Lage Ruhe bewahren?! Und du nennst dich Vlaindars Freund?!“

„Ich will nur sagen, dass du durch unüberlegtes Handeln alles nur noch schlimmer machst! Nicht nur für Vlaindar, auch für deine Familie, die Garde und dich! Zieh sie nicht alle mit hinein! Das kannst du allen Ernstes nicht von ihnen erwarten! Sei nicht immer so temperamentvoll!“, rügte Keoran nun ebenfalls wütend.

„Das ist mein Charakter! Reiter von goldenen Drachen sind temperamentvoll! Als wärst du besser! Du bist nur feige!“

„Nein, nicht feige. Ich handele überlegt, durchdacht und gründlich. Komm zurück auf den Boden der Tatsachen, Palinor! Du kannst nicht einfach in die Arena stürmen und einen gewaltigen Kampf heraufbeschwören! Ressota würde dich hinrichten lassen!“

„Da spricht doch nur die Angst aus dir!“

„Nein! Was passiert mit deiner Frau? Was würde Sedara dazu sagen? Hast du daran gedacht, wie sie ohne dich die Kinder großziehen soll?! Wer wird sie ernähren, umsorgen, lieben? Palinor, an deinem Leben hängen zu viele Leute. Stirbst du, bringst du nicht nur ein Opfer sondern gleich mehrere!“

Palinor ließ sich zurücksinken und fluchte. Er konnte diesem Punkt nicht widersprechen. Ohne ihn hatte Sedara nichts – eine Witwe mit zwei Töchtern, die ein Leben lang eine Belastung für die Familie wäre, bei der sie unterkam, würde kaum irgendwo Unterschlupf finden. Aber er konnte Vlaindar nicht einfach beiseiteschieben!

„Mach dir keine Sorgen, schau!“, flüsterte Keoran und deutete auf den Groß-General der Drachenreiter. Ruiyan, der nach dem Tod seiner Frau nie wieder geheiratet hatte, hatte Vlaindar immer als seinen Sohn angesehen, weil seine Ehe kinderlos verlaufen war und er sich als Mentor des jungen Mannes stets als eine Art Vaterfigur gefühlt hatte, nachdem dieser zunächst unglaublich starke Schwierigkeiten in seiner Ausbildung durchleben musste.

Der achtundvierzigjährige Mann sprang auf und, bevor ihn jemand aus den Rängen aufhalten konnte, schwang sich mit einem Ruck über die Balustrade der Arena. Der ungefähr drei bis vier Meter tiefe Fall wurde elegant abgefangen und der Drachenreiter lief auf die Mitte des Ovals zu, wo Vlaindar und der Folterknecht waren. Schreie der Zustimmung ertönten und erstickten die wütenden Rufe der königlichen Berater, die protestierende Warnungen schrien. Der König hatte sich erhoben und starrte wütend auf die Szene hinab, doch Keoran sagte lediglich zu Palinor:

„Ruiyan-soireyliar wird das königliche Gewitter eher vertragen als du.“

„Nur, weil er eine höhere Position inne hat“, schmollte der Vize-General und Keoran lächelte:

„Aber gerade das rettet unseren lieben Anführer!“

Die Zuschauer rannten, plötzlich losgelöst von dem Schauspiel, heillos umher und schnitten so die von den Beratern gerufenen Wachen vom Weg in die Arena ab, wo sie den Groß-General festnehmen sollten. So halfen sie Ruiyan geschickt, alle Wachen im Oval für kurze Zeit auszuschalten und Vlaindar loszubinden. Doch die Entschlossenheit, die nach einem königlichen Befehl stets in den Soldaten aufkeimte, konnte sie auch dieses Mal nicht lange aufhalten: Schon bald bahnten sie sich einen Weg durch die Menge und umringten das Podest. Einer der königlichen Berater rief daraufhin triumphierend über die verstummte Masse hinweg:

„Ruiyan-soireyliar! Das war das Dümmste, was Ihr hättet tun können!“

Bevor er jedoch weitersprechen konnte, hob der König die Hand und brachte den Mann zum Schweigen. Mit wutverzerrtem und hasserfülltem Gesicht schwieg er sofort und Ressota wandte sich an den Groß-General:

„Soireyliar, ich habe Euch immer für einen meiner besten Vasallen gehalten – meinen Verbündeten, beinahe ein entfernter Verwandter. Verlasst Ihr mich jetzt auch? So wie Vlaindar?“

„Meine Loyalität könnte niemals stärker sein als jetzt, Neyantear! Ich beschütze Euch gerade jetzt, wo Ihr mich am meisten braucht!“, rief der Mann mit eisern entschlossener Miene zurück.

„Ach ja?“, heuchelte der König sein Interesse und verbarg mehr schlecht als recht eine gewisse Belustigung.

„Seht doch! Vlaindar ist bereits ohnmächtig, es wird Euch nichts als Abneigung einbringen, einen Verletzten zu foltern. Unzufriedenheit im Volk schürt nur Animositäten! Ich versuche die Feindschaften der Zukunft in der Gegenwart zu unterbinden! Habt Ihr vergessen, dass Vlaindar einer von Saitan-Hetens größten Sympathieträgern ist?!“, warf Ruiyan dem König entgegen.

„Ihr seid also der Meinung, dass einige es wagen werden, sich von mir abzuwenden, wenn ich ihren Volkshelden bestrafe?“

„Das ist eine Tatsache, Neyantear“, erwiderte Ruiyan bloß und hob sich Vlaindar in die Arme. Den Mann fest an sich gedrückt, untersuchte der Groß-General das Aussehen des Mannes, als könne er daraus etwas ablesen.

„Neyantear, ich stimme Soireyliar zu“, piepste die Königin und legte ihrem Mann einen Arm auf die Schulter. Er sah zu ihr hinab und seufzte ergeben.

„Fein, Ihr habt gewonnen, Soireyliar. Aber überreden brauchtet Ihr mich nicht … Ich fand das Ganze langsam auch ein bisschen übertrieben.“

„Ein bisschen übertrieben!“, schnappte Palinor leise wütend nach Luft und schnaubte.

„Ich danke Euch“, sagte die Königin und plötzlich löste sich der Kreis der Wachen auf. Einige halfen Ruiyan Vlaindar fortzutragen, andere räumten die Überbleibsel des Schauprozesses weg. Die Zuschauer verstreuten sich, um die Neuigkeiten zu verbreiten und Gesehenes zu berichten. Man sammelte sich an vielen Orten und diskutierte – tatsächlich würden sich im Verlaufe des Tages einige Menschen mit stärkeren Animositäten gegenüber dem König zusammenfinden und sich wütend in hitzigen Besprechungen der Lage vergraben. Zu ihrem Kreis stießen an diesem Tag noch einige weitere Menschen, die der schwelenden Wut der Mitglieder weiteres Futter gaben.

„Warum nicht gleich so?“, versuchte Mikanor die Lage aufzuheitern.

„Menschen sind nun einmal kompliziert“, philosophierte Famiran leichthin und schnalzte mit der Zunge.

„Sagt gerade der Richtige“, stichelte Mikanor zurück und die beiden begannen wieder, sich gegenseitig zu ärgern, in ihren Köpfen schwebte jedoch ständig die Sorge um Vlaindar im Vordergrund. Palinor seufzte und sagte zu Keoran, nachdem sie mit der Masse aus der Arena gespült worden waren:

„Ich gehe zu Sedara und den Kindern.“

„Das hast du dir verdient!“, antwortete der jüngere Drachenreiter mit einem schiefen Lächeln.

„Ich bin froh, dass es Reiter für braune Drachen gibt“, murmelte der Ältere lediglich.

„Das solltest du auch.“

„Also sehen wir uns morgen?“

„Wieso?“, fragte Keoran und runzelte die Stirn, als würde er nicht verstehen.

„Na, du willst doch sicherlich Vlaindar besuchen, oder etwa nicht?“

„Natürlich!“

„Siehst du, also sehen wir uns morgen, wenn wir ihn besuchen gehen, gleich nach dem Frühstück um die gleiche Zeit.“

„Warum nicht heute?“, fragte Keoran.

„Machst du Witze?! Hast du seine Wunden gesehen?! Als würden die uns heute noch zu ihm lassen!“, rief Palinor aus und winkte ab.

„Du hast Recht, morgen dann also.“

„Genau“, verabschiedete sich Palinor von Keoran, eilte vor, um den Termin auch Famiran und Mikanor zu sagen, die etwas vor ihnen gingen und verschwand dann mit winkender Hand in einem der Gänge, die zu den größeren Behausungen der größeren Drachenreiter-Familien führten.

Love

Dorothea atmete tief durch und streckte sich. Die Arme dem blauen Frühlingshimmel entgegen gereckt, stöhnte sie befriedigt auf. Ihre verkrampften Muskeln lösten sich und die erschöpfende Schiffspassage fiel langsam aber sicher von ihr ab.

„Wuh! Endlich da“, pflichtete Uman ihr bei und lächelte zufrieden, seinen Rucksack aus Leder fester gezurrt als zuvor. Wie er es zu Beginn der Reise gesagt hatte, hatte sich das Wetter des Frühlings als perfekt herausgestellt und sie waren gut durchgekommen: Die Unebenheiten des Hetens waren durch das Schmelzwasser aus den Bergen ausgeglichen worden und die Verläufe des Flusses somit auch tiefer und besser für die Schiffe. Da der Wind zusätzlich mitgespielt hatte, hatten sie am gleichen Tag noch ihr Ziel erreicht. Die Hauptstadt, Saitan.

„Ah! Bille!“, rief Uman und Dorothea schaute dahin, wo der junge Mann hin winkte. Eine junge Frau kam auf sie zu und man konnte durchaus sagen, dass sie schön war. Vielleicht war sie keine Stadtschönheit, aber ihr Aussehen würde ihr dennoch einige Aufmerksamkeit einbringen: Die langen blonden Locken tanzten durch die Luft, ihr üppig gebauter Körper bewegte sich schelmisch unter einem Städterinnenkleid und ihr Lächeln war offen und warmherzig.

„Uman! Endlich bist du da“, lachte sie und warf sich in seine Arme. Der Mann fiel in ihr Gelächter ein und die beiden drehten sich eine Weile selig um die eigene Achse. Erst dann bemerkte die junge Frau Dorothea und löste sich etwas peinlich berührt von ihrem Verlobten:

„Oh, hiandaan. Verzeiht meine Unhöflichkeit! Seid Ihr ein Freund von Uman?“

„Äh …“, stammelte sie und räusperte sich verlegen. Uman unterbrach sie und sagte:

„Klar! Er kommt auch aus Tandandom!“

„Ehrlich? Auch aus dem Bezirksdorf?“, meinte sie interessiert und schaute Dorothea abschätzend an.

„Nein, nicht direkt. Zwar aus Sekain aber nicht aus Tandandom“, wehrte sie ab und verstellte ihre Stimme extra ins Tiefere.

„Wie heißt Ihr denn?“

Dorothea war von der Frage so überrascht, dass sie Bille zunächst nur einen seltsamen Blick zuwarf. Die junge Frau schaute verwirrt zu Uman, als hätte sie etwas Falsches gesagt und ihr Lächeln gefror leicht. Uman hüstelte und legte den Kopf schief – er wusste ebenfalls nicht, wie sie hieß.

„Haha, verzeiht! Ich bin noch nicht so gut in … Kiiama!“, versuchte sie ihren Patzer zu verstecken und lachte peinlich berührt. Bille glaubte ihr sofort und lachte:

„Ach so! Ich wollte nur Euren Namen wissen!“

„Alan! Genau, ich bin Alan!“

„Oh, hübscher Name“, meinte Bille und lächelte Uman zu, der Dorothea einen berechnenden Blick zuwarf. Er schien ihr Zögern bemerkt zu haben, übersah es aber trotzdem gnädig. Stattdessen wechselte er das Thema:

„Komm, wir gehen zu dir, Bille! Lange ist es her, seit ich deine Familie das letzte Mal gesehen habe! Da lebtet ihr noch in Tandandom! Geht es ihnen gut?“

„Oh ja, komm nur, sie freuen sich schon! Alan-sikar, möchtet Ihr mitkommen?“, erbot sie sich, doch Dorothea schüttelte den Kopf. Sie hatte anderes zu tun und meinte daher:

„Danke, nein! Bille-sika, ich danke für das Angebot, aber ich muss noch etwas erledigen.“

„Dann ein andern Mal. Kommt doch vorbei, wenn Ihr die Zeit findet.“

„Billes Familie sind Kaufmänner. Sie leben im Bereich der Bürger. Such einfach nach ‚Simmers Markt‘, das ist der Laden ihrer Familie“, ergänzte Uman und lächelte.

„Gut, dann … auf bald!“, sagte Dorothea und winkte, bevor sie sich umdrehte, ihren Beutel schulterte und mit zielstrebigen Schritten über die Docks und durch die Hafenläden – Fischereien, Werften, Anglerläden und Passagierpassstellen – in den Hauptbereich Saitans gelangte. Da es aber Abend und die Sonne bereits am Horizont verschwunden war, musste sie enttäuscht feststellen, dass sie sich nicht umsehen konnte. Sie folgte einer breiten Straße ins Innere des Häuserrings und landete auf einem Platz, nachdem sie das Kleinbürgerviertel, Großbürgerviertel und schließlich auch das Marktviertel durchquert hatte. Letzteres hatte ihr sichtlich Angst eingejagt und sie hatte sich beeilt auf den Marktplatz zu kommen, weil immer wieder Huren an sie herangetreten oder schmierige, betrunkene Halunken ihr hinterhergelaufen waren.

Den Beutel fest an sich gedrückt, überquerte sie den Marktplatz und erneut den Marktring so schnell, wie sie konnte. Das bessere Viertel mit den riesigen Häusern und Gärten sprach ihr daher schon mehr zu. Dort verlangsamte sie ihre Schritte und schaute sich neugierig um. Im Schein der Laternen an den Mauern der Gebäude konnte sie einige schön gepflegte Anlagen ausmachen und geriet sogar ins Schwärmen. Welcher Reichtum sich hinter diesen Fenstern wohl verbarg?

Die Kleider der Frauen und Männer waren pompös und verdeckten möglichst viel Haut, die Frauen trugen sogar Schleier! Wie unanständig! Schleier trugen nur die Toten! Dorothea schüttelte sich und beeilte sich wieder. Sie musste ein Gasthaus mit angemessenen Preisen finden und sich dann überlegen, wie sie an den Drachenreitergeneral herankam! Sollte er denn einer der Drachenreiter von Saitan sein …

„He, Sikar!“, sprach eine Stimme sie an und sie blickte sich um. Ein schlanker Mann stand hinter ihr und schaute sie interessiert an. Seine Kleidung war fein, aber nicht so gut wie die der Adeligen und Bürger um sie herum. Sie blieb stehen und schaute ihm direkt in die Augen – Direktheit war Sache der Männer. Also musste sie ihn anschauen, damit er nicht auf dumme Gedanken kam. Der Mann schnalzte jedoch bloß mit der Zunge und sagte:

„Meine Aug‘n werd‘n auch immer besser. Siehst‘e, Jon, ich hab‘ dir doch gesagt, dass is’n Reisender!“

Dorothea konnte ihn kaum verstehen, weil er einen Dialekt hatte wie ein kleiner Fischerssohn. Doch sie wusste, dass er mit jemandem hinter sich sprach. Der mittelalte Mann entschied sich schließlich, sich ebenfalls zu erkennen zu geben und trat ins Licht der Laterne, die auch den anderen erhellte. Jon hatte einen verfilzten Bart, trug aber ebenfalls recht feine Kleidung.

„Ho! Was’n so spät noch unterwegs, Kleener!“, krächzte er.

„Ich bin gerade erst angekommen und suche ein Wirtshaus“, meinte sie wahrheitsgemäß.

„Besser hättest‘ es nich‘ treff’n könn‘, Kleener. Kennst’e das ‚Gasthaus zum brüllenden Oger‘?“, sagte wieder der Jüngere. Der Name war seltsam und Dorothea sagte:

„Nein.“

„Jon is‘ der Sohn der Familie! Da kannst’e für wenig Geld ‘ne Pause mach’n. Is‘ janz angenehm“, antwortete er und lächelte offen, als wäre er der glücklichste Mensch der Welt.

„Oh“, erwiderte sie bloß und drehte sich um, bevor sie weiterging. Mit solchen Leuten sollte sie sich am besten nicht abgeben.

„He! Nich‘ einfach so geh’n! Hör mal! Wir sin‘ zwar nich‘ die Besten, aber wir hab’n auch ‘ne Menge zu biet’n“, krächzte Jon wieder. Dorothea marschierte weiter und erhöhte sogar ihre Geschwindigkeit. Schon bald ließ sie den großbürgerlichen Bereich hinter sich, vernahm aber dennoch die Schritte, die ihr stets folgten. Schließlich ging sie sogar immer nur unter Laternen entlang und hastete durch dunkle Ecken hindurch, um schneller in die Nähe der Menschengruppen zu kommen, die sich in der Ferne vor einigen Wirtshäusern gebildet hatten. Als sie dort ankam und verschnaufte, da sie sich nun sicherer fühlte, schaute sie auf das Schild des Gasthauses und ärgerte sich: ‚Gasthaus zum brüllenden Oger‘ stand dort groß geschrieben.

„Ich hab‘ dir doch gesagt, wir sin‘ gut!“, meinte Jon hinter ihr und sie fuhr herum. Sein junger Partner zuckte die Schultern und die beiden gingen davon, um weitere Kunden anzuwerben. Dorothea beruhigte ihre Atmung und betrat das Gasthaus – es war recht voll und genauso lärmend wie das in Fandenstar. Sie trat an die Theke und fand dort zwei junge Frauen vor. Die Eine musste so alt sein wie sie, die Andere war vielleicht Anfang dreißig.

„Hiandaan“, begrüßte sie die Wirtinnen. Die Beiden sahen auf und lächelten geschäftsmäßig, doch Dorothea hatte dennoch Zeit, sie genauer zu betrachten. Die Ältere kam ihr bekannt vor …

„OH!“, rief diese in dem Moment aus, in dem auch Dorothea sie erkannte. Es war ihre Tante Pilea! Die Frau beäugte die Reisekleidung und sprach daher nicht weiter, sondern nahm ihre Nichte einfach mit ins Hinterzimmer.

„Was machst du denn hier, Doro?“, flüsterte sie erstaunt, nachdem sich beide an einen Tisch gesetzt hatten.

„Lange Geschichte“, wich sie aus und Pilea sah sie fürsorglich an. Die Frau gab ihr immer das Gefühl zu Hause zu sein. Ihre verständnisvolle Art und ihre warmherzige Lache riefen in Dorothea immer die Sehnsucht nach einer heilen Familie hervor. Manchmal, in den hintersten Ecken ihres Kopfes, hatte sich das Mädchen gefragt, ob sie vielleicht nicht Teil ihrer Familie war, sondern in Wirklichkeit irgendwie näher mit Pilea in Verbindung stand. Pilea hatte wie Dorothea sehr helle braune Augen, sodass sie fast gelb wirkten und feine Gesichtszüge, die im Nordosten von Saitan-Heten sehr verbreitet waren. Man fand sie aber auch in Belquat-Heten, dem Land, das sich an eben diese Grenzen angebunden hatte und seit einigen Jahren mit Saitan-Heten auf dem Kriegspfad stand. Wenn sie so darüber nachdachte, war sie wirklich eher Pileas Kind als Matias.

„Pilea-sitoka! Was machst du hier?“, fragte Dorothea.

„Wuh, das Übliche. Ich bin viel herumgereist und habe dabei den Wirt dieses Hauses getroffen. Seine Frau war früh gestorben und er brauchte eine Mutter für seine drei Kinder, also habe ich mich bereit erklärt, diese Rolle zu übernehmen“, meinte sie lässig.

„Du hast geheiratet?!“

„Nein! Was denkst du?! Ich bin lediglich ein Hausmädchen, könnte man sagen. Außerdem ist sein Ältester schon alt genug, um keine Mutter mehr zu brauchen, das Mädchen … sie ist so alt wie du und etwas anhänglich, aber sein Jüngster ist gerade elf. Um den ging es eigentlich nur.“

„Ach so, ich dachte schon!“, kicherte Dorothea noch etwas geschockt.

Pilea lachte und winkte ab.

„Nie im Leben! Ich bin, wie ich eben bin. Erwarte nicht von mir, dass ich plötzlich einen Schleier trage“, sagte sie und wies damit auf die Tradition der Stadtbewohner hin, die verheirateten Frauen unter Schleier zu stecken.

„Aber was machst du nun hier, kleine Dorothea?“

„Ich bin von Zuhause weggelaufen, um ehrlich zu sein.“

„Gab es wieder Streit?“

„Es war furchtbar und ich habe auch keine Lust mehr. Glücklicherweise hat Isim geholfen! Ich bin ziemlich schnell vorangekommen, mein Dank gilt dabei auch der Geschichtenerzählerin. Sie hat mir ihren alten Gaul geliehen“, erzählte Dorothea kurz und Pilea lächelte:

„Ah ja, diese alte verrückte Frau. Ich mochte sie schon immer. Nun ja, was führt dich aber hierher?“

„Eigentlich mag ich das gar nicht erzählen …“

„Ist es so schlimm?“, fragte ihre Tante und zog eine Augenbraue hoch.

„Schlimmer“, antwortete sie und seufzte.

„Immer her damit!“, freute sich Pilea.

„Aber schimpf‘ ja nicht!“, warnte sie, bevor sie sich auf ihrem Stuhl reckte und zu sprechen begann:

„Du weißt aus den Briefen, die die Wirtin für mich geschrieben hat, dass ich in Fandenstar im Wirtshaus gearbeitet habe, nicht wahr?“

„Hm-hm.“

„Ich habe da einen Mann kennengelernt“, gestand Dorothea und druckste.

„Ich verstehe. Du hast dich in ihn verliebt, ihr beide hattet eine schöne Zeit und …?“, ergänzte ihre Tante und gab Dorothea den Freiraum, selbst darüber zu reden.

„Kurz gesagt: Wir haben uns geküsst und geliebt.“

Pilea schaute Dorothea entsetzt an, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah sich um, als müsse sie noch einmal überprüfen, ob wirklich niemand in diesem Raum war außer ihnen. Wenn herauskam, dass eine unverheiratete Frau ihre Jungfräulichkeit verloren hatte, würde man in der Stadt zu schärferen Methoden greifen als auf dem Lande. Dort passierte das generell häufiger.

„Nun gut“, beruhigte sich die Frau und lehnte sich über den Tisch, damit sie leiser reden konnten.

„Ehrlich, es war dumm und unüberlegt, aber ich mochte ihn sehr gern und … es ist einfach passiert. Ich bereue es ja auch!“, versuchte Dorothea sich zu verteidigen.

„Du mochtest ihn? Lass mich raten, er hat dich sitzen lassen.“

„Ja“, gab sie zu und senkte den Blick.

„Bist du deshalb hierher geflohen? Weil du ihn nicht sehen willst?“

„Nein, ich will ihn ja gerade sehen-“

Pilea unterbrach sie schroff und flüsterte:

„Bist du so dumm, wie das gerade klingt?! Du rennst ihm auch noch hinterher?!“

„Warte, warte! Ich will ihn nicht sehen, um den gleichen Fehler nochmal zu machen!“

„Ach, und was dann?“, meinte Pilea schnippisch.

„Ich will ihm in den Hintern treten! Er soll mir Schadensersatz geben oder … Ach, keine Ahnung! Ich weiß auch nicht“, maulte Dorothea zurück.

„Als ob! Mädchen, du willst ihn nicht verletzen, sondern bist hier, um ihn anzuschmachten. Nein! Versuch mir nichts vorzumachen! Ich hab den gleichen Mist schon einmal gesehen, glaube mir, nur dass ich die Dumme war, die dem Mann hinterhergerannt ist. Dich jetzt genauso zu sehen, schmerzt irgendwie schon, aber, wenn ich ehrlich bin, war das die schönste Zeit meines Lebens“, sagte Pilea und ihr Blick wurde träumerisch und sanft. Ihre Augen lagen auf Dorotheas Gesicht und das zarte Lächeln, das an den Lippen ihrer Tante zupfte, machte sie so wunderschön, wie keine andere Frau es je sein könnte.

„Du machst Witze! Er hat mich sitzen lassen! Als würde ich so einem hinterherlaufen!“, weigerte sie sich trotzdem zu akzeptieren.

„Quatsch nicht herum, dummes Ding. Schau dich doch bloß an! Du bist hier, weil er hier ist. Wie lange warst du dafür unterwegs? Was hast du dafür aufgegeben? Wie viel musstest du dafür bezahlen und aufbringen? Lüg mich nicht an, es ist leider zu offensichtlich.“

Dorothea sah die Frau an und bemerkte den liebevollen Ausdruck in den Augen ihrer Tante. Wenn die Frau rügte, dann konnte sie schon einmal böse werden, doch mit Dorothea hatte sie sich schon immer gut verstanden. Sie war schnippisch und unberechenbar, abenteuerlustig und verrückt, aber sie war die Einzige in der Familie, die Dorothea ohne Vorbehalte mochte. Nein, liebte. Ihre Tante liebte sie, das konnte Dorothea aus ihrem ganzen Verhalten heraus ablesen. Pilea würde niemals wütend auf das junge Mädchen sein, das wusste es genau.

„Na gut“, gab Dorothea nach und seufzte. Eigentlich war das auch ziemlich offensichtlich gewesen.

„Siehst du?! Warum nicht gleich so?!“, lachte ihre Tante und erhob sich. Sie eilte aus dem Raum und ließ Dorothea für kurze Zeit allein zurück, bevor sie wiederkam und ein Tablett mit Suppe und Brot vor ihr abstellte, auf dem auch ein Becher Wasser stand.

„Danke“, murmelte Dorothea und machte sich über das wohlschmeckende Essen her, nachdem sie seit Tagen nichts Gutes mehr gegessen hatte.

„Mein Mädchen“, seufzte ihre Tante und versteckte ein Lächeln hinter ihrer Hand, bevor sie schließlich sagte:

„Wo ist der Gute denn? Ich würde ihn ja gern kennenlernen!“

Dorothea verschluckte sich und hustete. Konnte sie ihrer Tante wirklich erzählen, wer er war? Wer weiß, was die Frau mit dieser Information anstellen würde! Womöglich würde sie das halbe Land nach ihm durchforsten und wenn sie ihn fand, würde sie ihm so die Ohren langziehen, dass er nie wieder auch nur ein Wort mit Dorothea wechseln wollte!

„Hm-hm?! Will da etwa jemand nichts sagen?!“, stichelte Pilea. Die Frau war vertrauenswürdig und wenn sie all das tun würde, dann nur für Dorothea und nur so weit, wie der Mann das noch verkraften konnte. Als Dorothea das klar wurde, lächelte sie und meinte zu ihrer Tante, die sich ebenfalls ein Glas Wasser geholt hatte und daraus trank:

„Er ist ein Drachenreitergeneral!“

Pilea prustete den Schluck, den sie gerade genommen hatte, quer über den Tisch in Dorotheas Gesicht und starrte ihre Nichte erstaunt an, bevor sie in heilloses Gelächter ausbrach.
 

Palinor schnalzte zum wer-weiß-wie-vielen Mal mit der Zunge und brachte seine Frau zum Seufzen, weil sie nervige Angewohnheiten schon immer verabscheut hatte.

„Palinor“, meinte sie genervt.

„Verzeihung“, sagte er zurück und schnalzte mit der Zunge. Sie sah ihn scharf an und er zuckte zusammen.

„Wenn du dich nicht zusammenreißen kannst, geh bitte. Rebecca und Finya schlafen noch“, warnte sie ihn, während sie weiter die Kleidung der Familie nähte. Sie wusste genau, warum er so nervös war, duldete aber dennoch nicht seine Regungen.

„Sedara, glaubst du …?“, begann er und sie unterbrach ihn. Sie hatten dieses Gespräch schon hunderte Male geführt.

„Ihm geht es gut“, antwortete sie und zeigte ihm sehr offensichtlich, dass für sie das Gespräch nun beendet war. Seit dem Vorabend saßen sie nun schon so zusammen und dachten über Vlaindars Bestrafung und seinen Gesundheitszustand nach. Immer wieder waren Famiran und Mikanor zu ihnen gekommen, um sich nach Neuigkeiten zu erkundigen und immer wieder hatten sie nichts Neues zum Erzählen gehabt. Selbst Keoran hatte nichts herausfinden können und saß nun wie die beiden anderen ebenfalls in diesem Raum und verbreitete Nervosität. Sedara ermahnte die Vier immer wieder, doch auch das war nur eine Angewohnheit, die ihre Nervosität ausdrückte.

Da es noch Morgen war, der Morgen nach der Bestrafung Vlaindars, hatten sich nur wenige Menschen bereits erhoben, daher waren auch Vlaindars Heiler vom Vortag noch nicht entlassen worden – ein Schichtwechsel – und konnten so auch noch nichts berichten. Eigentlich wartete man nur darauf, dass genau das geschah.

„Glaubt ihr …?“, begann dieses Mal Famiran das Gespräch und Mikanor antwortete zittrig:

„Ihm geht es bestimmt gut.“

„Ja, bestimmt“, stimmte Keoran zu und Sedara rollte mit den Augen, bevor sie sagte:

„Warum geht ihr nicht einfach zu ihm?“

„Dürfen wir das?“, fragte Palinor erstaunt und schaute zu Keoran, der mit den Schultern zuckte.

„Dürfen wir das?“, fragte Famiran also Sedara, die schnaubte und meinte:

„Fragt doch nach, wofür sonst hat Ismira euch Münder gegeben?!“

„Richtig, nachfragen“, meinte Mikanor und alle Männer sanken zurück. Als ob einer von ihnen das tun würde!

„Gehen wir!“, rief Palinor in einem Anflug von Mut aus und alle Vier sprangen gleichzeitig auf und rannten hektisch aus dem Raum. Sie ließen eine völlig genervte und erschöpfte Sedara zurück, die sich wenig später neben ihren Töchtern ins Bett kuschelte, um die verlorene Mütze voll Schlaf nachzuholen, die sie sich nach diesem anstrengenden Morgen wohl verdient hatte.
 

Vlaindar kam langsam wieder zu sich. Bevor er überhaupt die Augen öffnete, wusste er bereits, dass er nicht in einer Zelle lag. Es roch nach Lavendel und er lag in einem weichen Bett. Allein diese Mischung verriet ihm, dass er auch nicht in seiner Wohnung war. Der seltsame Lichteinfall und die Daunenbettdecke eröffneten ihm die ganze Wahrheit: Er lag in dem Zimmer, in dem er als Prinz immer geschlafen hatte. Seinem ‚Prinzenzimmer‘.

„Shiarireyliar?“, fragte eine piepsige Stimme neben ihm. Die Frau hatte normalerweise keine piepsige Stimme, doch Aufregung und Anstrengung ließen sie schrill wirken. Eigentlich war ihre Stimme sanft und gleichmäßig. Die Königin.

Vlaindar stöhnte als Antwort und öffnete blinzelnd die Augen. Sofort stellten sich mehrere Menschen an die Bettkante und blickten auf ihn hinab. Er wollte sich vom Bauch auf den Rücken drehen, hielt aber mitten in der Bewegung inne, weil ihn ein Schmerz durchzuckte, den er nicht ignorieren konnte. Die Wunden seiner Bestrafung waren also noch da. Er konnte noch nicht lange hier liegen, höchstens ein oder zwei Tage. Eher Einer, weil Wunden von Drachenreitern schneller verheilten und solche größtenteils oberflächlichen Verletzungen ziemlich schnell verschwanden.

„Vlaindar? Hörst du mich?“, fragte eine männliche Stimme. Das war der Groß-General der Drachenreiter, diese melodische Stimme würde Vlaindar immer erkennen, egal wie schlecht es ihm ginge. Ruiyan hatte sich wohl neben ihn gehockt und legte eine Hand auf seine Stirn.

„Vlaindar?“

Vlaindar blinzelte, um seine Sicht zu verbessern und konnte schließlich auch die Gesichter der Leute erkennen, die sich um ihn scharten. Ruiyan, die Königin, zwei Heiler mit beigen Roben, Palinor, Keoran, Mikanor, Famiran, die beiden Prinzen Cinnamon und Nut und auf einem Stuhl entfernt thronte sogar der König.

„Vlaindar?“, fragte Ruiyan erneut.

„Soireyliar“, krächzte Vlaindar als Antwort und schloss erschöpft die Augen. Sein Hals kratzte furchtbar, so als hätte er Sand gegessen und er wusste, dass er sowohl nichts getrunken, als auch gegessen hatte, als sein Magen knurrte. So auf dem Bauch liegend, hilflos unter all den Decken, schaute er müde umher und blickte in die Gesichter der Menschen, die ihm ermunternd zulächelten. Die beiden Heiler begannen wieder, blutige Verbände auszuwaschen und die Königin zog sich neben ihren Mann zurück. Die Prinzen setzten sich zu ihren Eltern, sodass sich schon bald die erdrückenden Schatten der Anwesenden von ihm hoben. Ruiyan blieb neben ihm hocken und sagte:

„Beweg dich nicht so viel, die Wunden heilen noch.“

Vlaindar nickte und schloss die Augen.

„Schlaf noch ein bisschen. Schlaf hilft immer!“

Und mit diesen Worten sank Vlaindar wieder in diese ohnmachtsähnlichen Traumzustände, in denen er zwischen Alptraum und Glücksgefühlen hin und her schwankte wie ein Boot im Sturm. Alles durchzogen vom stetigen Pochen des Schmerzes, der sich immer wieder bemerkbar machte und ihn ab und zu aus seinen Träumen riss. Wann immer dies geschah, war jemand neben ihm, um ihm durch sein Fieber hindurch gut zu zureden.
 

Dorothea hatte die Suche nach einem vertrauenswürdigen Feinschmied oder normalen Schmied schon lange aufgegeben und brachte es auch nicht übers Herz, einfache Passanten um eine Auskunft zu bitten. Wenn sie ihnen diese Gardenbrosche unter die Augen hielt, würde die Hälfte von ihnen doch sicherlich nicht wissen, womit sie es zu tun hatten, obwohl Drachenreiter in dieser Stadt residierten. Die andere Hälfte könnte wahrscheinlich auch nur ähnliche Angaben machen, wie es bereits Isim und die Geschichtenerzählerin getan hatten.

Seufzend warf sie sich auf einen Hocker an der leeren Theke im Gasthaus und versank in einer depressiven Stimmung – wenn sie diesen Mann nicht finden sollte, wären all ihre Mühen umsonst gewesen!

„Kleine Doro“, flötete die Stimme ihrer Tante hinter ihr und kurz darauf setzte sich die Frau neben sie. Das schöne, lange braune Haar Pileas war in einem einfachen Knoten in ihrem Nacken zusammengebunden und auch das Städterinnenkleid war ihrer Schönheit unwürdig. Wenn man Pileas Ausstrahlung sah – sie kam zum Großteil von den Augen und ihrer aufrechten Haltung –. dann konnte man sich immer nur wünschen, sie in einem feinen Kleid aus den besten Stoffen mit den teuersten Accessoires zu sehen. Doch das warmherzige Lächeln dieser Frau ließ sämtliche distanzeintreibenden Gedanken verschwinden – diese Frau brauchte Menschen und gehörte nicht abgeschottet in einen Adelshaushalt!

„Pilea-sitoka!“, antwortete Dorothea mit einem schwachen Lächeln. Im Vergleich zu ihrer Tante sah sie wirklich aus wie ein Bauernlümmel: Das lange rote Haar war unter einem Hut sorgfältig verborgen, ihre Brust war abgebunden und die Reisekleidung ließ sie männlicher erscheinen. Nicht zu sprechen von dem für eine Frau untypischen direkten Blick, der immer so viele Männer abgeschreckt hatte!

„Mit jedem Seufzen verschwindet ein bisschen Glück aus deinem Leben“, rezitierte Pilea ein altes Sprichwort, das Dorothea schon in Kindheitstagen ständig zu hören bekommen hatte. Ihre Tante verkörperte das genaue Gegenteil. Ihr würde nie im Leben einfallen, deprimiert an der Theke herumzuhängen und zu seufzen. Schon gar nicht tagsüber!

„Ich weiß, ich weiß“, erwiderte Dorothea genervt und verdrehte die Augen.

„Was ist los? Geht es um IHN?!“, hakte ihre Tante nach und traf damit natürlich den Nagel auf den Kopf.

„Nein“, log sie.

„Lügen haben rote Wangen, Schätzchen“, wies Pilea sie zurecht und Dorothea seufzte.

„Als ob!“

„Ist irgendetwas passiert?“

„Ganz ehrlich? Ja! Ich habe dir doch erzählt, dass er ein Drachenreitergeneral ist, nicht wahr?“

„Das hast du. Gibt es da irgendwelche weiteren Probleme?“

„Ich kenne seinen Namen nicht“, gab Dorothea zu und schluckte ihre aufwallende Hilflosigkeit hinunter. Wie sollte sie ihn da bloß finden?!

„Das ist doch das Erste, wonach man fragt!“, erstaunte sich Pilea und schnalzte mit der Zunge.

„Na und?! Ich halt nicht“, murrte sie zurück und schmollte.

„Wie willst du ihn also finden?“, fragte ihre Tante, obwohl sie genau wusste, dass Dorothea eben an dieser Tatsache schwer zu schlucken hatte.

„Gar nicht, wie es scheint! Wie soll ich ihn denn finden?! Ich kann doch nirgendswo hinein und keiner erscheint mir vertrauenswürdig genug, als dass ich ihm meine Geschichte erzählen könnte! Selbst wenn ich ihnen das Gardeabzeichen unter die Nase reiben würde, würden sie doch alle erstaunt sein, dass ich so etwas habe – wie soll ich diesen Umstand dann erklären?“, sprudelte es aus ihr hervor und sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, die sie schon die ganze Zeit unterdrückt hatte.

„Ein Gardeabzeichen? Wo? Zeig her!“, forderte Pilea sofort und Dorothea schaute ihre Tante erstaunt an, die daraufhin nur drängend meinte:

„Dummerchen, warum sagst du so etwas nicht gleich?! Ich kenne doch sämtliche Garden! Schon vergessen, dass ich ganz Saitan-Heten bereist habe?! Das Erste, womit man sich da natürlich beschäftigt, sind doch die Garden! Ich darf stolz verkünden, dass ich zumindest die Gardeabzeichen der acht wichtigsten Städte kenne!“

Mit einer plötzlich aufkeimenden Hoffnung suchte Dorothea das Abzeichen aus ihrer Umhanginnentasche hervor und legte es vor ihrer Tante auf den Tisch. Wie immer fing sich in den Formen das Licht ein und wurde auf die wunderschönste Art und Weise reflektiert. Beinahe hätte sie es wieder eingesteckt, um es eifersüchtig wie ihren eigenen Augapfel vor Fremden Blicken zu hüten, doch das würde ihr natürlich nicht helfen. Wenn sie ihn finden wollte, musste sie ihrer Tante seine Brosche zeigen.

„Eine handflächengroße, silberne Brosche in Form einer Raute mit einem goldenen Kreis in der Mitte, in dessen Mitte wiederum ein silberner Kreis eingelassen ist, der einen Wirbel beinhaltet. Hm, ein sehr ausgefallenes Abzeichen!“

„Wieso? Was ist denn? Sag schon!“, drängte Dorothea und setzte sich auf.

„Was weißt du darüber?“, fragte ihre Tante stattdessen und sie sagte:

„Isim meinte, er sei ein Drachenreitergeneral, weil Gold in der Brosche verwendet wurde. Der Wirbel für die vier Lebensalter ist auch ein Symbol für irgendetwas, laut der Geschichtenerzählerin – sie ist auch der Meinung, dass die Rautenform etwas mit dem Herkunftsort der Garde zu tun hat.“

„Das stimmt schon, ja. Da hat sie Recht.“

„Echt? Nun sag doch endlich, was du weißt!“

„Sieh her, kleine Doro! Der Wirbel für die vier Lebensalter ist das Symbol für die Sturmjägergarde von Saitan-Heten. Du hast also nicht nur irgendwen zu deinem Geliebten gemacht, sondern den General einer der höchsten Drachenreiterinstitutionen“, erzählte ihre Tante beeindruckt.

„Was? General der Sturmjägergarde?! Oh, Ismira!“, quiekte Dorothea bloß und sank erschrocken in ihrem Stuhl zurück.

„Es kommt noch schöner: Die Rautenform wird für die Garden in Saitan verwendet, du bist also schon am richtigen Ort. Dein Drachenreiter ist also General der Sturmjägergarde von Saitan und somit der zweithöchste Drachenreiter Saitan-Hetens“, führte Pilea ihre Analyse fort und lächelte. Natürlich würde diese Frau diese Entwicklung über alles lieben! Das war eines der gewaltigsten Abenteuer, die man als Frau erleben konnte: Die Ehre, das Bett mit einem Drachenreiter zu teilen, war schon riesig. Wie groß wäre der Ruhm dann, wenn herauskäme, dass eben dieser Ritter General der ranghöchsten Sturmjägergarde war? Oh ja, ihre Tante liebte solche Sachen. Aber Dorothea war angesichts des Erfahrenen sprachlos und das nicht von der positiven Sorte. Wie jedes Mädchen hatte sie sich erträumt, einen Mann zu treffen, sich in ihn zu verlieben, ihn zu heiraten, weil die Gefühle auf gegenseitiger Basis beruhen und mit ihm glücklich bis ans Ende ihrer Tage zu leben – und natürlich viele Kinder zu haben.

Was passierte aber, wenn dieser Traummann plötzlich in einem der gefährlichsten Berufe des Landes agierte, ständig in Lebensgefahr war und sogar darin umkommen konnte? Was passierte, wenn dieser Mann sie vom gesellschaftlichen Status und Rang um Wellen übertraf und sie keine Möglichkeit hatte, überhaupt an ihn heranzukommen, weil er in einem Sperrbezirk lebte? Außerdem würde kein Mensch von klarem Verstand ein Bauernmädchen neben einem adeligen Drachenreiter sehen wollen – das wäre Gotteslästerung! Ihr Traum zerplatzte wie eine Luftblase im Wasser. Einfach so.

„Schöner Fang“, kommentierte ihre Tante die Tatsache, dass Dorothea mit einem solchen Mann angebändelt hatte. Doch allein der Gedanke daran war nun unerträglich und sie schämte sich dafür, überhaupt davon geträumt zu haben, ihm ihre Gefühle zu gestehen. Er wäre nicht in der Lage, sie zu akzeptieren und sie würde es nicht übers Herz bringen, ihn auf ihre Stufe hinabzuziehen. Nein, das durfte sie nicht. Dafür war er viel zu wertvoll.

Bei diesen Gedanken schossen ihr die Tränen in die Augen und sie ließ ihren Kopf auf den Tisch plumpsen. Mit den Armen überm Kopf versuchte sie ihr Schluchzen zu unterbinden, versagte aber kläglich, als ihr wieder einmal ein Bild des Drachenreiters in den Sinn kam. Ihre Erinnerungen an ihn waren kaum verschwommen, sie hatte schon immer ein gutes Gedächtnis gehabt, daher schmerzte es umso mehr. Es war ein Bild an sein schlafendes Gesicht, nachdem sie sich geliebt hatten und kurz bevor sie eingeschlafen war. Er war so unglaublich schön gewesen! Wie hatte sie je glauben können, dass seine aristokratischen Gesichtszüge nur die Liebe zu ihr beinhalteten?

Pilea nahm ihre Nichte in den Arm und lächelte traurig. Sich hin- und herwiegend, summte sie ein beruhigendes Lied in der Hoffnung, dass die Tränen des jungen Mädchens bald versiegen und ein Lächeln über das junge Gesicht huschen würde.

„Meine kleine Dorothea, was hält das Leben nur für dich bereit?“, fragte sie leise, doch in ihrer Stimme schwang nicht nur Mitleid sondern auch Belustigung mit. Sanft streichelten die Hände ihrer Tante über ihren Kopf.

„Pilea-sitoka, was würdest du jetzt tun?“, fragte Dorothea mit tränenerstickter Stimme.

„Ich? Ich bin ein Mensch, der alles aus dem Bauch heraus entscheidet, ohne viel darüber nachzudenken – mein Handeln geschieht rein impulsiv. Meine Entscheidungen fälle ich nach Lust und Laune, aber ich habe mein Schicksal schon immer selbst in die Hand genommen. Ich werde dir kaum gescheite Ratschläge geben können außer diesem einen: Tu, was du nicht lassen kannst. Das hat schon meine Mutter immer gesagt und ich gebe es an dich weiter. Für Menschen wie uns beide ist das wohl das Beste!“, sagte Pilea mit einer festen Stimme – sie schien wirklich daran zu glauben.

Obwohl sie immer noch weinte, musste Dorothea aufgrund dieser Tatsache doch lachen:

„Du bist verrückt.“

„Verrückt aber glücklich, Schätzchen! Und das ist, was zählt, nicht wahr?“
 

Am Mittag des fünften Figan, einen Tag nach der Bestrafung, wachte Vlaindar aus seinen Fieberträumen auf und fühlte sich wie neugeboren. Sein Rücken pulsierte nicht mehr so unangenehm durch die Schmerzen und er hatte auch nicht mehr das Gefühl, in Watte eingepackt zu sein.

„Shiarireyliar?“, fragte die Stimme eines Mannes von rechts und Vlaindar drehte seinen Kopf zu ihm herum. Er lag immer noch auf dem Bauch, aber er konnte sich wieder bewegen, was für ihn einer gewaltigen Erleichterung gleichkam.

„Geht es Euch gut?“, erkundigte sich der Sprecher nach seinem Befinden. Nachdem Vlaindar einige Male geblinzelt und seine Augen an das Licht gewöhnt hatte, erkannte er nun auch den Besitzer der Stimme: Traen, der Erzpriester des Hohen Tempels von Saitan.

„Traen-sorar“, flüsterte er und schämte sich seiner krächzenden Stimme.

„Das ist doch immerhin schon besser als zuvor“, meinte dieser bloß und lächelte von seinem Platz am Fenster, auf dem am Vortag der König gesessen hatte, zu ihm hinüber. Vlaindar lächelte und drehte sich vorsichtig auf den Rücken. Als er weder durch die Bewegung, noch durch das Niederlegen auf den Wunden Schmerzen verspürte, atmete er erleichtert ein.

„Die Heiler haben ganze Arbeit geleistet und das die ganze Nacht durch. Ich darf erwähnen, dass es Euch nicht sehr gut ging.“

„Das habe ich mir schon gedacht“, antwortete Vlaindar und lächelte schwach.

„Es sind keine Narben zurückgeblieben und das muss schon was heißen! Der Folterknecht hat seine Arbeit sehr zufriedenstellend erledigt. Schade, dass es nicht immer so zuverlässige Menschen gibt“, meinte Traen und konnte das bittere Lachen nicht unterdrücken, das sich nach seinen Worten hervorquetschte. Vlaindar verstand den trockenen Humor des Priesters und schmunzelte.

„Ich glaube, das liegt daran, dass nicht jeder Mensch seinen Lieblingsberuf ausführt. Vielleicht hatte mein Henker bloß Glück? Ich kann gut beurteilen, dass er in seinem Element zu sein schien. Es hat ziemlich geschmerzt!“

Traen lachte und erhob sich, bevor er zum Bett herüber kam und sich auf den Hocker neben das Kopfende setzte. Dort angekommen meinte er:

„Dann lasst uns hoffen, dass Ihr nicht noch einmal das Privileg erhaltet, seine vorzügliche Arbeitsausführung an Euch auszuprobieren. Ich habe mir Sorgen gemacht. Ihr hättet Soireyliar sehen müssen, mein Guter. Ich habe ihn noch nie so aufgewühlt erlebt.“

„Das hätte ich mir denken können. Der arme Mann. So etwas von ihm zu hören, schmerzt“, erwiderte Vlaindar und dachte an seinen Mentor. Ruiyans Frau war sehr früh gestorben – soweit Vlaindar aus Gerüchten erfahren hatte sogar beinahe direkt nach der Hochzeit. Es war eine Liebesehe gewesen, was in Adelskreisen noch heute eine Seltenheit darstellte. Die Beiden hatten geheiratet, ohne die Zustimmung ihrer Familien zu bekommen, weil die junge Frau damals schon schwer krank gewesen war und man ihr kein langes Leben prophezeite. Genau so war es auch geschehen.

„Ihr wisst, wie er reagiert, wenn ihm nahe Menschen verletzt werden“, stimmte Traen ihm zu. Anscheinend hatte auch der Erzpriester an diese Begebenheit gedacht. Eine Weile saßen beide so schweigend und in ihren Gedanken versunken nebeneinander, jeder hing in anderen Erinnerungen, bis schließlich Traen wieder das Wort ergriff. Ein Glitzern in seinen Augen verriet seine Neugierde:

„Aber sagt mir, mein guter Mann, warum seid Ihr nun bestraft worden?“

Vlaindar seufzte ob des Gesichtsausdrucks. Traen liebte Gerüchte. Er würde sie nie weitererzählen, wenn er keinen guten Grund dafür fand und dann auch nur unverfälscht, wie er sie gehört hatte, dennoch mochte Vlaindar die bloße Vorstellung nicht, dass so jemand über sein Geheimnis verfügte.

„Ehrlich?“

„Ja, ganz ehrlich – oder soll ich raten?“, gluckste der Mann belustigt. Lieber die Wahrheit weiterverbreiten als eine ausgedachte Sache. Wer weiß, was Traen für Fantasien hegte?!

„Erinnert Ihr Euch an das Gespräch, das wir vor gut drei Jahren geführt haben?“, begann Vlaindar.

„Welches im Besonderen? Es gab viele“, erwiderte Traen bloß und lächelte zufrieden.

„Na ja, über meinen Zölibat … Ihr wisst schon“, meinte Vlaindar vage und sah das Erinnern in Traens Augen aufblitzen. Das Gespräch würde der Erzpriester nie vergessen – nie!

„Ach, das!“

„Genau“, stimmte Vlaindar zu. Traen wusste wahrscheinlich sofort, was nun folgen würde und lächelte daher auf die hinterhältigste Weise, die ihm ermöglicht war – es sah eher belustigt aus, als er verstand, worum es ging.

„Ich sehe, worauf das hier hinausläuft.“

Vlaindar lächelte schwach und legte seine linke Hand über sein Gesicht, um sein vor Scham errötetes Gesicht zu verstecken. So offen über diese Liebesbeziehung zu reden, war etwas befremdlich. Doch Traen lachte laut und schlug begeistert mit einer Hand auf die Schulter seines Freundes – in seinen Augen ein schelmisches Glitzern.

„Sieh an, sieh an. Kein Wunder, dass Hairima vor belustigtem Schnauben das Heu in ihrem Stall angezündet hat!“, rief er aus.

„Nicht ehrlich?!“, stieß Vlaindar entsetzt vor Scham hervor.

„Doch, doch! Wenn ich es Euch doch sage! Als Palinor und Keoran sie befragten … Es ist einfach so passiert! Die Novizen haben tagelang gelacht, weil es wohl so komisch ausgesehen haben muss, dass niemand mehr an sich halten konnte!“

„Oh, nein! Ismira, hilf!“, stöhnte Vlaindar und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. So vornübergebeugt in seinem Bett sitzend, schwelgte er plötzlich wieder in den Erinnerungen an die Tage mit dieser jungen Frau. Hairima schien ihm seine Gedankengänge wieder geöffnet zu haben und hatte ihm wohl auch die Erinnerungsblockaden genommen. Dorothea war wieder bei ihm.

„Wir sind allein, Shiarireyliar“, flüsterte Traen neben ihm und Vlaindar wusste, warum der Mann ihm das nun erzählte.

„Traen-sorar! Was hätte ich denn tun sollen?! Plötzlich überkam es mich einfach!“

„Ich verstehe. Und –“, doch bevor er weitersprechen konnte, unterbrach der Drachenreitergeneral ihn:

„Versteht doch! Sie ist so schön und lieblich und … Ich kann es nicht beschreiben! Ganz plötzlich! Ganz plötzlich habe ich mich in unbekanntem Terrain wiedergefunden und wusste nichts Besseres, als mich an sie zu halten! Ich konnte einfach nicht aufhören! Mein ganzer Fokus lag nur noch auf ihr, so sehr ich all die anderen um mich herum liebe – die Königsfamilie, meine Garde, meinen Drachen, meine Freunde, einfach alle –, ich kann mich nicht mehr davon losreißen!“

„Ruhig, Shiarireyliar, ruhig! Atmet tief durch!“, befahl Traen ihm mit seiner sanften Stimme und Vlaindar tat, wie ihm geheißen. Als sein Gefühlsausbruch abgekühlt war, fühlte er sich seltsam frei, so als hätte er eine Last abgelegt.

„Ich habe es Euch prophezeit, nicht wahr? Wie drückte ich es damals aus? Ah, genau! ‚Es ist nicht so, wie du denkst. Es ist intensiver, ergreifender, mitreißender als jedes Gefühl, das du kennst. Niemand wird dir beistehen, wenn du zum ersten Mal verstehst, was es heißt, zu lieben. Glaube mir, du weißt es jetzt nicht, weshalb du es leichtfertig abtust, aber du wirst es nie wieder missen wollen.‘ Ich erinnere mich sehr genau an meinen Ratschlag. Es scheint wahr geworden zu sein“, sagte Traen und lächelte mitfühlend aber auch stolz. Es war, als würde er Vlaindar sagen, dass er etwas richtig gemacht hatte und ihn dafür loben.

Der Drachenreitergeneral konnte nicht anders, er musste einfach lachen – keine trockene, bittere Lache. Eine fröhliche, erleichterte Lache. Seine Erheiterung sprudelte aus ihm heraus, wie Wasser aus einem Springbrunnen. Traen hatte Recht! Er hatte Recht behalten! Vlaindar konnte es nicht fassen, wie einfach es ihm nun fiel, die Worte des Erzpriesters zu akzeptieren, obwohl er sie damals noch vehement bestritten hatte. Dieses Gefühl war unersetzbar, unteilbar, unzerstörbar, unverbesserlich und unmöglich! Er konnte es nicht abtun, es war ein Teil von ihm – gerade erst geweckt, aber es war schon immer in ihm gewesen. Jetzt, da er es freigesetzt hatte, wollte er es auch nicht mehr abgeben. Es musste um jeden Preis beschützt werden!

Mit einer Hand auf seiner Brust schwelgte er in den Erinnerungen an diese Frau und genoss den Augenblick, in dem niemand ihn zur Rechenschaft zwang, niemand ihm versuchte, seine Liebe zu nehmen. Sein Herz klopfte wie wild und ein Lächeln hatte sich auf seine Lippen geschlichen.

„Wenn Ihr weiter so dümmlich grinst, verratet Ihr Euch noch“, warnte Traen ihn noch, bevor der Besucher sein Zimmer verließ und ihn allein ließ. Vlaindar lachte darüber und zog dann die Knie an die Brust – mit der einen Hand über seinem Herzen und der anderen um seine Beine geschlungen, legte er sein Kinn auf die Knie und schloss hingebungsvoll die Augen.

Wie ein kleiner Junge saß er in seinem Bett, mit leicht erröteten Wangen und kostete den neuen Geschmack aus – es war eine Entdeckungsreise, die er langsam angehen musste, um jede ihrer Facetten in sich aufzunehmen. Er würde nicht versuchen, zu verstehen, warum gerade diese junge Frau seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog oder wie das Ganze funktionierte. Es war tatsächlich das erste Mal, dass er die Zügel aus der Hand legte und sich treiben ließ, keine Kontrolle ausübte. Doch es gefiel ihm und er spürte, dass es richtig war.

Schon oft hatte er von seinen Kollegen gehört, dass, wenn sie sich verliebten, plötzlich nichts Anderes mehr wichtig war außer dieser einen Person. Dass sich plötzlich alles nur noch um diese Person drehte und der Drachenreiter ihr bedingungslos gehorchte. Genauso fühlte sich nun auch Vlaindar, der wusste, dass es zwar nicht vorteilhaft für seine Karriere war, weil er einer im Grunde ‚unwichtigen‘ Person seine ganze Loyalität schenkte, der sich davon aber nicht beunruhigen ließ. Nein, alles war richtig. Es gehörte so. Es war einfach richtig so!

‘Ach, Kleiner‘, summte ihm seine Drachendame zufrieden in die Gedanken und er lächelte. Auch sie hatte schon lange akzeptiert, dass Vlaindars Herz nun einem anderen außer ihr gehörte. Doch das schien sie nicht zu beunruhigen, denn sie wusste, dass keiner die magische Verbindung zwischen ihnen lösen konnte.

‘Hairima, ich liebe dich‘, flüsterte er und merkte, wie eine weiche Note in seine Züge schlich.

‘Ich weiß, mein Kleiner, ich dich auch. Aber vergiss nicht, dass du sie mehr liebst – in gewissen Maßen‘, erwiderte sie neckisch und er lachte leise.

‘Ich liebe dich, aber ich liebe auch sie. Nur es ist so unterschiedlich‘, meinte er und versuchte dadurch die komplizierten, verwobenen Gefühle in ihm auszudrücken. Hairima lachte.

‘Deine Liebe zu mir ist von anderer, wenn nicht sogar magischer Natur, während die Liebe zu ihr eher auf die Ur-Art zurückgeht, falls du verstehst. Die menschliche Tradition, mein Kleiner‘, erklärte sie.

‘Mit Tradition meinst du doch den Urinstinkt, oder?‘, fragte er zurück und Hairima antwortete:

‘Genau. Weil du mein Drachenreiter bist und diese Frau deine ausgewählte Partnerin, nach eben diesem uralten Instinkt, liebe auch ich sie, nur auf freundschaftlichere Weise‘, fügte Hairima an und Vlaindar lächelte.

‘Bist du nicht eifersüchtig? So ganz und gar nicht?!‘, stichelte er.

‘Und ich wollte endlich einmal ein ernsthaftes Gespräch mit dir führen!‘, schnaubte sie zurück und zog sich beleidigt aus seinen Gedanken zurück – aber auch das war nur Neckerei.

‘Verzeih.‘

‘Bring mir morgen eine saftige, fette Kuh und wir sind quitt‘, schlug ihm Hairima vor und Vlaindar lachte.

‘Fein, möchtest du vielleicht sonst noch irgendetwas? Einen Brutpartner, zum Beispiel?‘, ergab er sich ihrer Forderung und kicherte, als sie daraufhin liebevoll seinen Geist an stupste – es kam einem Rammbockangriff gleich und Vlaindar fiel zurück in die Kissen, so benommen war er. Mit einem triumphierenden Schnauben zog sie sich aus seinen Gedanken zurück und flüsterte noch:

‘Schafskopf!‘

Vlaindar lachte. Sie musste auch immer das letzte Wort haben.

Game

Dorothea schlenderte eine der acht Hauptstraßen Saitans entlang, die sich strahlenförmig vom Markplatz zur Stadtmauer anordneten. Sie befand sich auf der in Richtung Osten, die den Platz mit der angrenzenden Drachenreiterakademie, dem Palast und dem Tempel verband, die bekanntermaßen in einem angrenzenden Bereich zu Saitan erbaut wurden, sodass sich die Stadt um die Hälfte verdoppelte: Sie sah aus wie eine auf die Seite gelegte Acht.

Entlang eben dieser Straße hatten viele Wirtshäuser aufgemacht, aber auch Bordells und andere Einrichtungen. Eines davon war das ‚Gasthaus zum brüllenden Oger‘, in dem sie untergekommen war und wo sie ihre Tante Pilea wiedergetroffen hatte, nachdem diese für einige Jahre wie vom Erdboden verschluckt unauffindbar gewesen war.

„He, Alan!“, sagte ihre Tante und lenkte Dorotheas Aufmerksamkeit zurück in die Wirklichkeit. Alan war jetzt ihr Name, sie gab sich schließlich als Mann aus und war somit Pileas Neffe Alan. Zwei Tage hatte sie bereits im Gasthaus der Familie verbracht und die Zeit kam ihr bedrückend lang vor, weil sie sich an diesen Ort gefesselt fühlte. Pilea hatte ihr mehr als einmal erklärt, dass in den Bereich der Tempel, Paläste und Akademien nur Drachenreiter und ihre Novizen, sowie die Königsfamilie, Priester und einige ausgewählte Anwohner Saitans gehen konnten. Dorothea war der Zutritt also versagt worden und in ihr hatte sich eine unüberwindbare Hilflosigkeit breit gemacht.

„Alan!“, rief Dorotheas Tante noch einmal und sie schaute zu ihr auf.

„Was ist, Pilea-sitoka?“, fragte Dorothea und stellte die Stimme wieder tief. Inzwischen hatte sie genug Übung, als dass sie nicht mehr aus Versehen wie eine Frau klang oder nicht auf den Namen ‚Alan‘ reagierte. Pilea hatte sie die zwei Tage lang ziemlich gut vorbereitet.

„Wusstest du, dass heute der monatliche Besuch der hohen Herren ansteht?“

„Was ist das?“, antwortete Dorothea bloß und die beiden blieben vor einem Krämerladen stehen, der in seinen Auslagen fantastischen Schmuck zur Schau stellte. Doch Dorothea tat, als interessiere sie dieser nicht und schaute lieber zu den Büchern hinüber, die der Buchladen nebenan anbot.

„Einmal im Monat kommen einige Höhergestellte aus dem Sperrbezirk und mischen sich unters Volk, um Neuigkeiten, Gerüchte und Proteste zu erfahren, damit der König über den Zustand seiner eigenen Stadt gut im Bilde ist“, erklärte die Krämersfrau, die hinter der Auslage stand, an Pileas statt, die sich weit über das Angebot gebeugt hatte und einen Ohrring bewunderte.

„Und was ist daran so besonders?“, versuchte Dorothea Interesse zu heucheln, doch ihre Stimme klang genauso gelangweilt, wie sie sich fühlte.

„Viele von ihnen sind unverheiratet!“, flötete die Krämersfrau und Dorothea seufzte.

„Als würde mich das interessieren!“, rief sie aus und die Frau lachte. Pilea schnalzte mit der Stimme und zog sie weiter die Straße hinab, ohne etwas gekauft zu haben. Als sie sich etwas entfernt hatten und unter die Menge mischten, meinte sie:

„Es ist die Möglichkeit für die Frauen, ihre Töchter zur Schau zu stellen. Versteh diese Frau doch!“

„Das tue ich ja, aber was hilft mir dieser Besuch, wenn ich trotzdem nicht in den Sperrbezirk kann?!“, maulte Dorothea zurück und seufzte wieder.

„Wer weiß, wer uns heute einen Besuch abstattet? Vielleicht ein guter Freund deines Geliebten? Oder ein anderer Schönling?“

„Pilea-sitoka!“, empörte sich Dorothea und ihre Tante lachte leise.

„Ach, mein guter Alan! Wer weiß, was dabei herauskommt?!“, sagte sie.

„Was meinst du?“, fragte Dorothea und schaute wieder zu ihrer Tante hin, die geheimnisvoll lächelte.

„Wenn die Herren gute Laune haben, dann passieren durchaus außergewöhnliche Dinge. Erst vor vier Monaten haben sie einem Stallburschen eröffnet, er wäre passend für eine Priesterausbildung. Soweit ich das weiß, wurde davor dem Sohn des Schneiders ein Platz unter den Drachenreiternovizen angeboten, doch wegen seiner schlechten Gesundheit musste er ablehnen.“

„Was willst du damit sagen?“, sagte Dorothea, doch sie hatte schon verstanden. Die Hoffnung, die in ihr aufkeimte, war kaum noch zu ersticken und ihr Herz pochte laut und schnell.

„Denk doch nach, Dummerchen! Vielleicht bist du der Nächste?!“, lachte Pilea und die beiden betraten das Wirtshaus, das sie soeben erreicht hatten. Auch heute hatten sie nichts unter den angebotenen Waren gefunden, was von Vorteil für das Gasthaus gewesen wäre, also kamen sie mit leeren Händen und vollen Geldbörsen zurück. Der Wirt war nicht überrascht, brummte nur und wies sie dann an, in der Küche auszuhelfen. Dorothea tat es dankend, weil sie während ihres Aufenthalts hier nichts bezahlen musste, auch wenn sie sich ein wenig für diesen Familienbonus schämte. Also trat sie an die Spüle neben die Tochter des Hauses, die Gemüse schnitt und machte sich daran, das Geschirr abzuwaschen.

„Heute Abend kommen die hohen Herren“, flüsterte die leise Stimme des Mädchens neben ihr und Dorothea lächelte. Das Mädchen war sechzehn und nicht sehr groß, auch vom Aussehen eher unauffällig mit langen braunen Haaren, die ihr ständig im Gesicht hingen, sodass man es nicht gut sehen konnte. Ihr Name war Lira und Pilea hatte ihrer Nichte gesteckt, dass das Mädchen einen Narren an Alan gefressen hatte. Das wiederum war Dorothea ziemlich peinlich, weil Alan nun einmal in Wirklichkeit ein Mädchen war!

„Ah, ich habe schon davon gehört“, stammelte sie mit ihrer männlichen Stimme. Lira nickte schüchtern und schnitt eine Weile weiter, bevor sie sagte:

„Sie kommen jeden Monat hierher.“

„In dieses Gasthaus?!“, erstaunte sich Dorothea und Lira lächelte zaghaft.

„Ja, es ist sicherlich seltsam, aber wir sind die Beliebtesten hier in der Gegend und die Herren suchen immer ein volles Gasthaus, weil sie ja viel erfahren wollen.“

„Das hätte ich nicht erwartet. Kein Wunder, dass hier alles so sauber glänzt!“

„Manchmal mischen sie sich so sehr unters Volk, dass sie sogar mit ihnen wetten oder Karten spielen. Die Herren mögen Glücksspiele“, erzählte Lira mit ihrer leisen Stimme.

„He! Echt?! Das hätte ich nicht gedacht! Ich dachte, der Adel ist zu fein für so etwas?“, rief Dorothea aus. Lira lächelte schüchtern zurück und meinte:

„Anfangs waren wir alle erstaunt, aber inzwischen freut sich jeder auf den Besuch.“

„Vor allem die unverheirateten Frauen, nicht wahr?“, fragte Dorothea und Lira nickte.

„Du auch?!“, fragte Dorothea neckisch und das Mädchen errötete, empörte sich jedoch wild:

„Nein! Gar nicht! Oder doch, ein bisschen … Aber nicht so, wie die Krämerstöchter!“

„Wie soll man die auch übertreffen?“, erinnerte sich Dorothea und lachte leise, als ihr die Krämersfrau einfiel.

Unter solchem Geplänkel und Geschwätz verbrachten der Wirt, Dorothea und die Wirtsfamilie den Tag über mit den Vorbereitungen. Bald war alles blitzend sauber, man hatte ordentliches Essen im Ofen und gute Kreationen erstellt, der Karmin war entzündet, man zog sich ordentlich an und engagierte Tänzerinnen, Sängerinnen, Spielleute und sogar einen Schausteller. Als am Abend die Sonne untergegangen war, kamen die ersten Gäste mit ihren weiten Kleidern und hübschen Töchtern – alle fein herausgeputzt – und man setzte sich zu Wein an die langen Tische. Bald war der Wirtsraum gefüllt mit den Düften von Essen und unterschiedlichen Parfums. In diese Woge schritten pünktlich um sieben Uhr die feinen Herren – sechs an der Zahl. Zwei von ihnen trugen rote Kleider, einer blau, wiederum zwei gelb und einer grün. Es waren die höfischen Kleider in ihrem ganzen pompösen Prunk, doch die Männer wurden herzlich aufgenommen und schon bald begannen die Menschen gemeinsam zu feiern. Man spielte Karten und Würfel, man trank gemeinsam Wein, Töchter wurden vorgestellt, Frauen verführten, Söhne angepriesen, aber am häufigsten lachte man doch.

Dorothea war beeindruckt, dass sich Adel und Bürgertum so gut verstehen konnten. Sie hatte sich hinter der Theke zurückgezogen, während ihre Tante und die anderen fleißig servierten. Sie goss Bier und Wein in Gläser, wusch, wenn zu wenig da war, auch das Geschirr, verteilte sogar Essen. Doch die ganze Zeit hämmerte ihr Herz in ihrer Brust, sie wollte zu den feinen Herren stürmen und sie anflehen, Zutritt zum Sperrbezirk zu bekommen. Doch sie hielt sich von ihnen fern und beobachtete sie bloß.

„Hiandaan“, begrüßte einer sie und sie, ohne sich ihm zu zuwenden, grüßte zurück. In ihrer Hand drehte sich unablässig ein Glas in einem Geschirrtuch.

„Ihr seht nervös aus!“, stellte der Mann fest und Dorothea fuhr zu ihm herum. Auch das noch! Ein äußerst aufmerksamer Gast! Als ihre Augen sich trafen, stockte sie in ihrer frechen Antwort. Es war einer der rotgekleideten Männer. Sie lächelte und sagte:

„Ich hoffe nur, dass alles gut geht. Nicht, dass sich jemand …“

„Daneben benimmt?“, half er aus und sie nickte. In dem Moment fiel ihr wieder ein, dass sie als Alan verkleidet war und versuchte, erneut eine männliche Fassade über ihr Gesicht zu schieben. Hoffentlich hatte er es nicht bemerkt!

Doch der Mann schien sich dessen nicht bewusst geworden zu sein und bestellte sich stattdessen ein Glas Wein – sie gab ihm pflichtbewusst den besten Jahrgang, den sie hatten.

„Danke sehr“, meinte er.

„Keine Ursache“, erwiderte sie und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Auch der Mann ging zurück zu seiner Gruppe und spielte mit dem Krämer und einem Bauer ein Würfelspiel, aus dem in vorigen Runden bereits vier Männer ausgeschieden waren. Man feuerte den hohen Herren aufmunternd an, als es auch für ihn nicht gut aussah. Er hielt sich jedoch noch eine Runde länger, dafür musste der Krämer aufhören, bevor auch er von einem Bauern geschlagen wurde. Lachend strich der Glücksspieler den Wetteinsatz ein und ließ sich beklatschen, der besiegte Herr rettete sich zu seinen Freunden, von denen er sich trösten ließ.

„He, Alan, wir brauchen dich“, meinte Pilea zu ihr, als sich Dorothea schon sicher war, den Abend ohne Auffälligkeiten verbracht zu haben. Ihre Tante drückte ihr ein Tablett in die Hand und nahm ihre Position ein, sodass ihr nichts Anderes übrig blieb, als weiter zu bedienen. Sie brachte immer mehr Alkohol zu den Tischen und die Stimmung besserte sich merklich, je später es wurde. Gerade deshalb stolperte sie ein paar Mal über die Beine eines Tänzers oder über Stühle. Jedes Mal lachte man mit ihr und über sie, applaudierte und gratulierte. Es war schon eine witzige Gesellschaft, das konnte man nicht verbergen. Irgendwann erhob sich der blaugewandete hohe Herr und sagte:

„Heute ist mir wohl!“

Man klatschte Beifall und dankte, selbst die hohen Herren standen auf und nickten. Der Mann fuhr fort:

„Daher haben wir uns etwas überlegt! Ein Spiel!“

Es wurde still in Erwartung der großen Überraschung, die der hohe Herr verkündet hatte. Einiges Tuscheln war noch kurz zu hören – man fragte sich, was für ein Spiel nun stattfand –, doch schon bald wartete man hibbelig auf die Ankündigung des Mannes. Der grüngewandete Mann fuhr fort:

„Als Leiter der Studien der Akademie habe ich mir gedacht, wir verlosen Eintrittspässe für den so genannten Sperrbezirk!“

Ein Raunen ging durch den Raum und dann jubelte die Menge. Es brach ein heilloses Durcheinander aus, weil alle nahe genug herankommen wollten, um ein Los zu ziehen, doch der ‚blaue Herr‘ lachte und rief:

„Alle jungen Burschen im Alter von dreizehn bis zwanzig kommen zu uns, der Rest möge bitte zurücktreten!“

Es geschah, die Menge nahm widerwillig wieder Platz mit den Gesichtern den Herren zugewandt. Die acht jungen Männer, die sich angesprochen fühlten, traten an den Tisch der Männer und blieben dort in einer Reihe stehen. Dorothea betrachtete dieses Schauspiel und erschrak fürchterlich, als ihre Tante Pilea sie neben die Acht geleitete und sich dann wieder in die Menge mischte. Eigentlich wollte Dorothea sich zurückziehen, doch der rotgewandete Mann von eben lächelte ihr ermutigend zu – er hatte ihre Miene als ängstlich eingeschätzt. Wenn herauskam, dass sie eine Frau war, würde sie schwer bestraft werden! Das war beinahe Hochverrat! Was hatte Pilea sich bloß dabei gedacht?!

„Sind diese Neun alle?“, fragte der Mann und man stimmte murmelnd zu. Der ‚grüne Mann‘ sprach weiter:

„Unter den Neun sollen zwei Pässe verteilt werden: Einen für die Priesternovizenschaft und einen für die Drachenreiternovizenschaft!“

Man jubelte, denn beide Möglichkeiten bedeuteten für die ärmlichere Bevölkerung eine erhebliche Steigerung der Lebensumstände. Die jungen Männer gratulierten sich gegenseitig für ihr Glück und lächelten selig – nur Dorothea wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. In ihr schwelte noch immer die Angst vor der Entdeckung ihres Geschlechts. Doch schon bald, durch Rückenklopfer und Armknuffe, fühlte sie sich mitgerissen von einem Strom der Glückseligkeit und gab sich voll und ganz diesem Spiel hin – anfängliche Sorgen waren vergessen. Ein Pass für den Eintritt in die Drachenreiterakademie würde sie direkt zu ihrem geliebten Drachenreitergeneral bringen!

Man setzte die Neun an den Tisch der hohen Herren und gab ihnen zwei Würfel. Derjenige, der die niedrigste Zahl warf, schied aus. Der Gewinner würde einen Pass für die Drachenreiterakademie erhalten, der zweite Platz zum Tempel. Die Jungen sahen ihren Rivalen in die Augen und schluckten. Einmal tief Luft holend, begann das Spiel mit dem ersten Kandidaten. Sein Name war Merun, er war der Sohn des glücklichen Bauers. Die Würfel flogen durch die Luft, prallten von der Tischplatte ab und drehten sich. Als sie zum Stillstand kamen ergab ihre Augensumme sieben: Eine Vier und eine Drei.

Man applaudierte ihm, als der grüngewandete Mann das Ergebnis ansagte. Dann folgte der zweite Wurf. Kilian, der Sohn eines Boten, war an der Reihe. Er zitterte, weil er sehr aufgeregt war, warf dann nach einer gefühlten Ewigkeit und man starrte wieder auf die Würfel. Sie gaben ihm eine Zehn: Zwei Fünfen.

Jubel brach aus, als seine Familie den klaren Vorsprung hörte. Doch schon nahm Derum, der Sohn eines Wanderers, die Würfel und das Spiel wurde fortgeführt. Eine Acht, zwei Vieren. Immerhin mehr als Merun!

Klarn warf schließlich eine Zwölf und sicherte sich somit den Rundensieg. Auch Dorothea hatte Glück – mit einer Neun schoss sie auf Platz Drei. Dorm und Parrn warfen wie Derum eine Acht, die Zwillinge des Krämers waren einfach zu gleich. Man lachte über diesen Zufall und applaudierte laut. Morar würfelte bloß eine Vier und enttäuschte damit seine Eltern, die Schmiede, sehr. Dern konnte sich mit einer Fünf auf den vorletzten Platz retten und man beklatschte den Verlierer Morar, der sich zu seinen Eltern setzte und schmollend weiterzusah.

Wieder begann das Spiel mit einer neuen Runde, nur noch acht Kandidaten waren übrig. Merun würfelte eine Neun, Derum eine Elf. Kilian ärgerte sich über eine Vier. Klarn hatte dieses Mal nicht so viel Glück und erreichte mit einem Paar Dreien nur eine Sechs. Dorm und Parrn erheiterten erneut den Abend, als sie gemeinsam eine vier warfen. Dorothea würfelte glücklicherweise eine Sieben und, da Dern nur eine Zwei erreichte, war auch diese Runde beendet.

Sieben Spieler starrten sich mit ernsten, entschlossenen Blicken an und man suchte nach einer Schwäche im Blick des anderen. Merun begann und verlor offensichtlich mit einem Paar Einsen. Derum erreichte eine Vier, Kilian eine Fünf, Klarn eine Sechs, auch Dorothea musste kämpfen: Ihre Fünf rettete sie glücklicherweise, aber im Vergleich zu Dorm und Parrn, die beide eine Neun würfelten, stand sie schlecht da.

Ohne Merun mit sechs Kandidaten wurde es langsam ernst. Diese Runde verlor Parrn, der nur eine Drei würfelte. Kilian schied in der Darauffolgenden aus. In der nächsten Runde musste Derum gehen – so blieben nur noch Dorm, Klarn und Dorothea. Die Drei hibbelten schon aufgeregt auf ihren Plätzen herum, doch auch diese Runde erbrachte ein klares Ergebnis: Dorm verlor. Zwischen Klarn und Dorm herrschte schon von Anbeginn der Zeit eine gewisse Rivalität und man wollte sich möglichst gegenseitig aus dem Weg räumen. So kam es, dass sie versuchten, den jeweils anderen zu erschrecken, was auch klappte: Dorm warf nur eine Drei und Klarn bloß eine Vier. Dorothea schluckte, konnte sich dann aber mit einer Elf den Rundensieg sichern – Dorm verließ den Tisch unter bitterlichen Flüchen. Klarn lachte und fiel in den Applaus ein.

Daraufhin breitete sich wieder eine Stille aus, in der man eine Nadel hätte fallen hören. So oder so brachte Klarn seiner Familie nun Ehre ein und schien sich auch mit dem zweiten Platz zufrieden stellen zu können. Doch er würfelte eine Zwölf und Dorothea nur eine Vier – was sollte sie mit einem Pass zum Tempel?!

Als Klarn ihre offensichtliche Enttäuschung sah, rief er über die Menge hinweg:

„He, Sionar, Siona!“

Seine Eltern antworteten ihm:

„Was ist, zukünftiger Drachenreiter!“

„Ist ein Priester so schlimm?!“

Die Eltern schüttelten den Kopf und die Mutter sagte:

„Beide Varianten finden wir wundervoll, auch ein Priester und Gelehrter hat einen wundervollen Beruf.“

Daraufhin schenkte Klarn Dorothea seinen Sieg und sagte:

„Ich will lieber Priester sein. Kämpfen mag ich nicht.“

Man gratulierte ihr und schlug ihr kräftig auf die Schultern. Außerdem reichte man ihr ein Weinglas, damit sie ihren Sieg feiern konnte und die hohen Herren gaben sich mit dem Tausch des Sieges zufrieden. Der ‚blaue Mann‘ zog also ein Dokument hervor, füllte es aus und fragte sie:

„Wie ist denn dein Name, Kleiner?“

„Do- … Ich meine, Alan.“

„Alan Wer?“

Weil ihr auf die Schnelle nur der Name ihres Großvaters einfiel, den ihres Vaters wollte sie nicht benutzen, wer weiß, ob man ihn hier kannte, nannte sie ihn:

„Alan Luiranssohn.“

„So, Alan Luiranssohn! Das hier ist der Pass. Pack deine Sachen und komm in einer Woche zur Akademie. Den Pass musst du am Tor vorzeigen. Bald beginnt ein neues Ausbildungsjahr und weil wir noch einen Platz freihatten, haben wir uns dafür dieses Spiel ausgedacht. Man sollte auch ärmeren Menschen die Möglichkeit geben, Drachenreiter zu werden. Ich hoffe, du nimmst sie wahr.“

„Ja, Feldar“, murmelte sie, jetzt wieder unsicher ob der Angst vor Entdeckung. Dann wurde sie wie in einer Trance von der Menge mitgerissen, man feierte sie und Klarn und schließlich stolperte sie erschöpft in den Raum hinter der Theke, an dem sie bei ihrer Ankunft von ihrer Tante verhört worden war. Kurz darauf kam auch sie und setzte sich ihr gegenüber.

„Meinen Glückwunsch, auf in die Akademie!“, lachte die Frau und strahlte über das ganze Gesicht.

„Pilea-sitoka, was ist, wenn sie es herausfinden?“, fragte Dorothea ängstlich zurück. Die Frau schwieg eine Weile und meinte schließlich:

„Hör mal, Kleine. Willst du ihn nun treffen oder nicht?“

„Natürlich will ich ihn treffen! Aber ich will nicht deswegen am Galgen enden!“, rief sie.

„Stell dich schlau genug an und glaube mir, ich weiß, dass du klug bist, dann wird nichts passieren. Keine Frau käme je auf die Idee, sich in die Drachenreiterausbildung zu schleichen. Die Leute sind unaufmerksam geworden – was man nicht weiß, das macht einen nicht heiß!“, sagte sie leichthin und wedelte abwehrend mit der Hand. Pilea war einfach so und das machte Dorothea Angst.

„Es könnte ein Unfall passieren oder sonst irgendetwas und ich muss auf die Krankenstation, was, wenn sie dort herausfinden, was ich bin?! Es könnte so viel schiefgehen!“, erklärte Dorothea. Pilea schnalzte mit der Zunge und sagte:

„Und hier, Kleines, komme ich ins Spiel. Ich bin nicht umsonst Pilea! Die Wassermädchen und die Krankenschwester, sowie die meisten Heiler, kenne ich. Einige von ihnen sind meine guten Freunde – ich könnte dir helfen.“

„Bist du dir da sicher?“, bezweifelte Dorothea ungläubig und betrachtete ihre Tante. Pilea nickte mit einem wissenden Glanz in den Augen:

„Ich weiß, ich weiß. Ich bin nur eine abenteuerlustige, verrückte Tante, bla, bla, bla. Von wegen, Schätzchen! Glaubst du nicht, ich hätte noch nicht versucht, dort hineinzukommen, nachdem ich bereits in den anderen Städten drinnen war?!“

„Bitte was?!“, rief Dorothea erstaunt aus.

„Was meinst du, woher ich so viel über die Drachenreiter weiß, Kleines. So schwer ist das nicht, wenn man sich als Wassermädchen verkleidet, oder als Krankenschwester, als Dienerin … Gib einen triftigen Grund an und du wirst eingelassen. Na ja, zumindest hat das überall geklappt bis auf hier“, gab Pilea zu und seufzte zum ersten Mal.

„Bist du verrückt?! Was ist, wenn etwas passiert wäre?!“

„Ja und ich weiß es nicht. Fakt ist, es ist nicht passiert und auch dir kann ich versichern, dass, solltest du dich so geschickt anstellen wie in den letzten zwei Tagen, nichts geschehen wird.“

„Das ist nicht wahr! Hier ist der König, der Groß-General, die talentiertesten Menschen leben dort! Es ist so offensichtlich!“

„Hör mal, Doro. Willst du ihn nun treffen?“

„Natürlich!“

„Für mich klingt das aber nicht danach. Du gibst auf, bevor du es überhaupt versucht hast. Du kannst nicht immer darauf warten, dass andere dich holen kommen, dich retten. Irgendwann musst du auch einmal selbst dein Schicksal in die Hand nehmen. So wie du es bereits getan hast, als du von zu Hause weggelaufen bist. Jetzt schleichst du dich halt in die Akademie ein, daran ist nichts Besonderes“, meinte ihre Tante und sah Dorothea aufmunternd an. Pilea war verrückt, aber sie schätzte Situationen in der Regel richtig ein. Darauf konnte man sich verlassen. Dennoch fühlte Dorothea in sich eine Unruhe, eine Warnung, eben dies nicht zu tun. Sie könnte Kopf und Kragen verlieren, wenn ihre Maskerade aufflog!

„Wenn der Mann dich liebt, dann wird er dich beschützen. Du musst dich ihm nur zu erkennen geben“, beruhigte ihre Tante sie. Damit traf sie den Kern des Problems.

„Und was ist, wenn nicht?“, zweifelte Dorothea nun an den Gefühlen des Mannes. Ihre Tante hatte ihr durch dieses Gespräch gezeigt, wo ihre wahren Sorgen und Ängste lagen. Schon so oft hatte Dorothea sich als Mann ausgegeben, auch dieses Mal wäre bloß Routine, wenn ihre Tante ihr zusätzlich auch noch half, dann käme sie wunderbar zurecht. Doch Angst machte ihr, dass sie nicht wusste, was der Drachenreitergeneral von dieser Sache hielt. Natürlich hatte er sie aufgefordert, zu sich zu kommen – doch ob er sie als Novize verkleidet akzeptieren würde? Er war angetrunken gewesen, als sie sich geliebt hatten – er hätte sich furchtbar irren können!

„Dann werde ich dich unter Einsatz meines Lebens retten, Doro. Aber nur du kannst dich glücklich machen, denn solange du nicht von dir aus glücklich bist, kann auch kein anderer dich glücklich machen. Manchmal ist eine einzige Entscheidung in deinem Leben, obwohl sie noch so schwerfällt und unangenehm ist, der Wendepunkt zum Besseren.“

„Oder zum Schlechteren“, fügte Dorothea an und seufzte. Pilea strich ihr über den Kopf.

„Denk darüber nach, du hast die Möglichkeit dazu. Du stehst vor der Wahl: Gibst du auf oder kämpfst du für ihn? Schau in dein Herz! Wie wichtig ist dir dieser Mann? Niemand kann dir diese Entscheidung abnehmen, die musst du ganz alleine fällen. Ich werde dich immer unterstützen und deine Entscheidung werde ich akzeptieren, egal wie schwer mir das vielleicht fallen wird. Beide Optionen haben ihre schlechten und guten Seiten. Erinnere dich an deine tiefsten Wünsche, deine tiefsten Gedanken und komme mit ihnen in Einklang. Nur so wirst du letztlich verstehen, was dich ausmacht und antreibt. Wer suchet, der findet, pflegte meine Mutter immer zu sagen. Ich habe immer das verfolgt, was mir am nächsten lag, egal was die anderen gesagt haben und ich bin glücklicher als jeder, der zuvor über mich gelacht hat. Weil ich glücklich bin, kann ich das Glück aller an mich nehmen – ich ruhe in mir und handele daraus hervor.“

„Pilea-sitoka …“, hauchte Dorothea, doch ihre Tante lächelte bloß und verließ den Raum. So allein zurückgelassen, dachte sie über das Gespräch nach.

Confidence

Dorothea stand in ihrem Zimmer im Wirtshaus. Es war tiefste Nacht, deshalb lief sie nicht im Kreis, obwohl ihr danach zumute war. Sie wollte die Wirtsfamilie und die Gäste nicht stören, nur weil sie sich selbst so unsicher war, was sie mit ihrer Zukunft anfangen sollte.

In ihren Händen hielt sie die Dokumente, die ihr den Eintritt in den Sperrbezirk ermöglichten – die Einladung in ihr neues Leben! Und dennoch hatte sie Lust, die Papiere zu zerreißen und nach Hause zurückzugehen. Egal, ob ihre Familie sie quälte oder nicht, irgendwie war ihr diese ganze Sache nicht geheuer. Wenn ihre Maskerade aufflog, dann befand sie sich direkt der Gnade des Königs ausgesetzt und der galt als nicht sehr gnädig. Eine Frau als Mann verkleidet, die sich in die Drachenreiterausbildung geschlichen hatte, das würde ihr sicherlich mindestens die Todesstrafe einbringen! Würde man ihren Leichnam verstümmeln und den Schweinen zum Fraß vorwerfen?!

Bei diesem Gedanken lief ihr erneut ein eiskalter Schauer über den Rücken. Wollte sie ihr Leben wirklich für einen Mann wegwerfen? In den romantischen Geschichten ihrer Tante waren alle Frauen so blind vor Liebe, dass sie sich ihren Männern ohne Fragen unterwarfen, ihnen hinterherliefen wie treudoofe Schoßhündchen und sie anbeteten. Keine dieser Frauen würde jemals an sich zweifeln und einfach tun, was ihr Herz ihnen sagte. Sie würden ein Abenteuer nach dem anderen bestehen, um zu ihrem Geliebten zu kommen. Natürlich bekamen sie ihn auch.

„Aber was ist mit mir? Warum bin ich nicht so?!“, fragte Dorothea sich und ließ sich auf die Bank vor dem Spiegeltisch mit integrierter Waschschale fallen. Ihr Gesicht erhellte und verdunkelte sich durch das Flackern der Kerze, das durch den sanften Luftzug ausgelöst wurde, der unter der Tür durch den kleinen Schlitz kroch und sich ins Zimmer quetschte.

„Warum bist du nicht so?!“, warf sie ihrem Spiegelgesicht vor. Doch die Spiegelung blieb still und warf lediglich ein panisches Gesicht zurück, das ihr nicht im Mindesten Mut machte.

„Warum kannst du nicht so sein?! Schau dir Pilea an!“, flüsterte sie und hob eine Hand an, bevor sie diese auf die kalte glatte Oberfläche des Spiegels legte. Ihr Zeigefinger strich über ihre Gesichtszüge und verfolgte die Laufbahn der Tränen, die bereits seit einer ganzen Weile aus ihren Augen schossen. Schon die vorigen Tage hatte sie damit verbracht, darüber nachzudenken, ob sie es wagen sollte, den Sperrbezirk als Alan zu betreten. Doch auch nach fünf Tagen war ihr keine Antwort zugekommen. Bald war ihre Woche vorbei und sie musste bis dahin mit ihrem Pass zum Tor gekommen sein, um aufgenommen werden zu können oder ihre Chance war vertan.

Dorothea legte die Dokumente vor sich auf die Tischplatte und starrte wieder in den Spiegel. Ihr Blick fuhr über die vertrauten Züge und inspizierte jede Kurve, jede Rundung und jeden Schwung. Genauso hatte sie jahrelang vor dem Handspiegel in ihrem Zimmer zuhause gesessen und gehofft, dass sie von einem Tag auf den anderen plötzlich jemand anderes war. Doch natürlich war das nie passiert. Es würde auch jetzt nicht passieren, niemand würde kommen und die Entscheidung für sie fällen.

„Sieh dich an, Dorothea!“, forderte sie ihren Spiegel auf und fuhr wieder mit dem Zeigefinger über die kalte Oberfläche.

„Schau dich an und sag mir, wo ist sie geblieben?! Wo ist die Dorothea, die nächtelang davon geträumt hat, dass sie plötzlich Prinzessin wird? Die als Kind immer davon geträumt hat, Drachenreiter zu werden und den Menschen zu zeigen, wie wertvoll wir Frauen sind? Wo ist die Dorothea, die nur den Mann heiraten wollte, den sie liebt? Sag mir, wo ist sie?! Wo bin ich in diesem Abbild von Bitterkeit und Scham?!“, weinte sie ihrem Spiegelbild entgegen, plötzlich losgelöst von aller Zurückhaltung. Schluchzer drangen aus ihrer Kehle und sie presste ihre andere Hand über den Mund, während sie die Augen schloss und versuchte, sich wieder zu fangen. Als es wieder einigermaßen ging, murmelte sie weiter:

„Haben sie deine Träume kaputt gemacht, sodass du jetzt nur noch im Stillen weinen kannst und aufgibst, bevor du angefangen hast?! Nein, du weißt genau, dass ihre Häme nicht der Grund war, warum du nicht mehr das tust, was du tun willst. Du hast dich selbst aufgegeben, Dorothea! Dich selbst! Und wofür? Um nicht mehr ausgelacht zu werden? Für solch minderen Gründe hast du den Kampf deines Lebens abgebrochen und hast dich zurückgezogen?! Wo bist du geblieben? Wo ist die Dorothea, die von jeder noch so hohen Stelle gesprungen ist, um das Fliegen nachzuahmen? Die Frau, die den Männern ohne Scheu gezeigt hat, dass sie einen aufgeweckten Geist hat? Wo ist deine Direktheit, deine Frechheit, wo ist dein Mut?! Du hättest für einen Schmetterling alle Arbeit niedergelegt, nur um ihn tagelang zu verfolgen! Du hast niemals einen Schatz aus der Hand gelassen, der dir wirklich viel bedeutet hat! Du hast getanzt und gelacht, ohne dich um die entsetzten Blicke der anderen zu kümmern! Vergisst du nicht? Du hast immer mit den Jungen gespielt, weil du mit Stöcken und Holzschwertern mehr anfangen konntest als mit Puppen und Schmuck! Hast du nicht immer geschimpft wie ein Kutscherssohn? Warst du nicht schneller als der Hirtensohn? Nicht stärker als der Schmiedssohn? Oder fleißiger als der Schneiderssohn? Wo ist die Dorothea, die nie – und damit meine ich, NIE – aufgegeben hat und jedes Negative ins Positive umwandelte?“

Gegen Ende war sie immer lauter geworden und musste sich zusammenreißen, ihr Spiegelbild nicht anzuschreien. Sie verkrampfte ihre Hände und konzentrierte sich darauf, ihre eindringliche Stimme wieder in einen Flüsterton umzuwandeln.

„Dorothea, die sich so sicher war, später einmal eine Drachenritterin zu werden, hätte mein heutiges Ich mit Verachtung bestraft. Die Dorothea hätte niemals den Mann gehen lassen und gezögert, ihm hinterherzulaufen. Sie würde auch nie weinen, weil sie Angst davor hat, zurückgewiesen zu werden. Weil sie stark war! Und du bist schwach! Weil du dich selbst vergessen hast, während du aufgewachsen bist! Und weshalb? Weil du dir weismachen wolltest, dass deine Träume nur dummes Kindergeplauder waren! Mit deinen Träumen hast du deine Hoffnung fortgeworfen, mit der Hoffnung deinen Lebenssinn! Dummes Gör!“

Sie riss ihre Hand vom Spiegel weg und funkelte sich durch das Glas hinweg an. Schließlich sprang sie auf und zerwuschelte sich die Haare. Innerlich kochte sie vor Wut. Warum war sie bloß so dumm geworden? Sie war doch intelligent! Zumindest meinten das immer diese alten Frauen, die nichts zu tun hatten außer Tratschen!

Mit einem festen Blick schaute sie an sich hinab und drehte sich um die eigene Achse, um ihr Spiegelbild zu betrachten. Das Nachthemd störte, also zog sie es aus und betrachtete sich nun nackt. Wenn sie ihre Brust abband und das Haar ganz kurz schnitt, konnte sie so leicht als Junge durchgehen wie ihr Bruder Isim! Der Junge hatte auch ein mädchenhaftes Gesicht. Wenn sie dann noch ihre Stimme verstellte, dann hätte sie eine reelle Chance, nicht sofort aufzufliegen. Kompliziert wäre es nur, ihre Regelblutungen zu verbergen, aber da konnte sie ja ihre Tante fragen. Die würde sicherlich wissen, was man in solchen Fällen machte, schließlich hatte sich die Gute nicht umsonst öfter als Mann verkleidet.

„Was noch?“, fragte sie sich, während sie in den Spiegel schaute. Die Haare! Kurzgeschnitten reichte vielleicht nicht aus – was, wenn einer der anderen Drachenreiter von der Gruppe des Generals sie erkannte! Farbe musste her. Apfelrot war keine Männerhaarfarbe, also schwarz. Schwarz war wie die Stärke! Und die Augenfarbe? Dieses Gelb-braun würde jeder wiedererkennen …

„Pilea hat bestimmt auch dafür eine Lösung!“, versicherte sich Dorothea und nickte. Dann zog sie wieder die Männerkleidung an und betrachtete sich noch einmal, bevor sie das Zimmer verließ und den Gang entlangwanderte. Die Nacht hatte sich während ihrer Selbstgespräche zum Ende geneigt und der Himmel hellte sich bereits etwas auf, dennoch war noch keiner unterwegs.

„Wo ist ihr Zimmer?“, fragte Dorothea sich und schaute die verschlossenen Türen an. Sie mochte nicht anklopfen und hineinsehen, wer weiß, wer dahinter lebte?! Daher ging sie unerfüllter Dinge hinab in die Wirtsstube. Dort war auch noch niemand, also schaute sie in das Nebenzimmer bei der Theke. Auch dort war keiner.

„Was denke ich auch?“, meinte Dorothea ironisch und schnalzte mit der Zunge. Wenn sie jetzt noch länger wartete, dann würde sie sich vielleicht wieder umentscheiden! Jetzt konnte sie sich noch dazu aufraffen, die Vorbereitungen abzuschließen und sich zum Eingangstor des Sperrbezirks zu schleppen – später aber sicherlich nicht mehr! Wo war bloß ihre vermaledeite Tante!

„Alan?“, fragte eine weibliche Stimme hinter ihr und Dorothea fuhr herum. Auch das noch! Lira, die Wirtstochter!

„Morgen“, grunzte sie als Antwort und tat so als wäre sie bloß etwas früh aufgestanden. Lira nahm ihr das ab und lächelte warmherzig:

„Morgen! So früh schon?!“

Heute schien das Mädchen aber sehr gute Laune zu haben, wenn sie plötzlich so offen war, wo sie doch in den Tagen zuvor kaum den Mund aufmachen konnte.

„Ja, schlecht geschlafen“, grummelte sie – anscheinend sehr glaubwürdig.

„Oh, das ist nicht gut! Aber umso besser! Du kannst mir helfen, ich mache Frühstück!“, antwortete sie fröhlich und grinste. Ah! Das Mädchen dachte, Dorothea könne nicht kochen. Jeder normale Mann hätte wahrscheinlich spätestens jetzt das Weite gesucht. Sie gab sich diesem Spiel hin.

„Hä, ja … hm. Ich muss noch … Na, du weißt schon!“

„Ah, genau. Das! Nur zu, geh schon! War ja nur ein Vorschlag“, lachte das Mädchen und machte eine wegscheuchende Geste, doch Dorothea konnte nicht anders und musste noch schnell etwas fragen:

„Wo ist das Zimmer meiner Tante?“

„Neben meinem, oben im ersten Stock“, erwiderte diese prompt.

„Ah, und wo ist das?“

„Direkt gegenüber der Treppe, du kannst es gar nicht verfehlen! Rechts daneben wohnt Pilea!“, gab sie gerne Auskunft. Dorothea bedankte sich und machte sich auf den Weg dorthin. Auch wenn es noch recht früh war und es ziemlich unhöflich anmutete, wenn sie ihre Tante jetzt weckte, doch Dorothea konnte nicht anders. Sie musste ihren Entschluss jetzt loswerden! Also klopfte sie wenig später an die Holztür, die das Zimmer ihrer Tante vom Flur abtrennte.

„Ja?“, fragte eine Stimme von drinnen und Dorothea trat ohne zu Zögern ein. Als die Tür hinter ihr zuschlug, fand sie sich endgültig im völlig erleuchteten Zimmer wieder. Ihre Tante war bereits angezogen und stand vor dem mannshohen Spiegel.

„Dorothea“, erstaunte sich diese im Flüsterton. Doch ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Natürlich wusste sie sofort, worum es ging. Warum sonst sollte Dorothea sie aufsuchen?

„Und? Wie hast du dich entschieden, meine Kleine?“, fragte sie, ohne zu zögern. Dorothea schluckte und sagte:

„Ich will hineingehen!“

„Braves Mädchen“, meinte ihre Tante und lächelte, bevor sie weitersprach:

„Ab jetzt heißt es: ‚Abenteuer, hier komme ich!‘ für dich!“

Dorothea nickte und wurde ob der Freude ihrer Tante wieder unsicher. Tat sie das Richtige?

„Also? Was willst du machen? Wo sollen wir anfangen?“, holte Pilea sie aus ihren Gedanken.

„Ich brauche alles Mögliche, um dort zu Recht zu kommen. Frauenartikel, kurze Haare, schwarze Färbung für die Haare und andersfarbige Augen! Brustbandagen, Seife, Männerkleidung …“, begann Dorothea aufzuzählen.

„Klar, das erledigt sich doch von selbst!“
 

Dorothea schnalzte anerkennend mit der Zunge, als ihre Tante wenig später mit den Armen voller Sachen wieder ins Zimmer kam. Pilea hatte angeordnet, dass sie hierbleiben und warten sollte, während sie losging, um alles Benötigte zu besorgen. Das Meiste davon hatte die Frau – aus irgendeinem unersichtlichen Grund – in ihrem Schrank vergraben.

„Schau! Ich habe dir, weil du ja die gleiche Kleidergröße hast wie ich, gleich ein paar Sachen herausgesucht“, frohlockte die Frau.

„Warum hast du so was?!“, fragte Dorothea erstaunt und schaute auf die Kleider, die ihren Weg auf das Bett ihrer Tante gefunden hatten.

„Weißt du, man kann ja nicht immer in den gleichen Sachen herumlaufen. Selbst Männer nicht!“, summte Pilea lediglich, doch das schelmische Glitzern ihrer Augen verriet sie. Pilea schien sich gut in dieser Richtung auszukennen.

„Ah, ja. Und der Rest?“

„Nun mal nicht so eifrig. Bandagen habe ich, Männerkleidung ist hier, Seife, Frauenartikel … Brauchst du noch Haarbürsten oder Waschlappen? Ich hoffe, ich muss dich nicht auch noch mit Bettlaken ausstatten – das ist wirklich teuer!“

„Nein, das ist doch eine Akademie, Pilea-sitoka! Wieso sollten die keine Bettlaken haben?!“

„Warst du jemals in einer dieser Akademie-Gebäude, Schätzchen?! Die leben alles andere als luxuriös, glaube mir“, meinte ihre Tante lediglich und schaute Dorothea abschätzend an.

„Zahnbürste, Haarbürste, Waschlappen, Seife, Bandagen, Frauenartikel. Ich habe dir fünf Hosen, fünf Hemden und drei Wamse herausgesucht. Deine Stiefel reichen doch, oder? Kauf dir Neue, wenn sie kaputt gehen – Handschuhe und Mützen sind unwichtig. Ich nähe dir welche, wenn es wieder kalt wird, ja? Aber Umhänge brauchst du noch – zwei sind sicherlich gut.“

„Pilea-sitoka …“, seufzte Dorothea und versuchte ihre Tante zu beruhigen. Doch die ließ sich nicht beeindrucken und eilte weiterhin umher.

„Dank meiner guten sozialen Verbindungen habe ich hier ein paar Wundermittelchen und Erfindungen der besten Art, schau her!“, ereiferte sich Pilea und zog aus einer kleinen Box aus dem Schrank ein kleines Fläschchen hervor, indem bis oben hin Pillen lagen. In der anderen Hand hielt sie ein kleines Päckchen. Als sie beides auf den Nachttisch stellte, trat Dorothea näher, um diese Dinge zu begutachten. Pilea lächelte und begann zu erklären:

„Eine Pille pro Woche und dein Haar ist pechschwarz – ich habe es selbst ausprobiert. Ah, und das hier sind so genannte Augenlinsen.“

„Augenlinsen, was bitte ist das?!“, antwortete Dorothea skeptisch.

„Na, schau doch her!“, rief Pilea und öffnete das Päckchen. Auf dem Innenfutter lagen runde aus Glas gemachte Linsen, wie sie für Lupen verwendet wurden. Sie waren nur viel kleiner.

„Was soll ich damit?“, fragte Dorothea und schaute das Glas an.

„Dummerchen, die steckst du dir ins Auge! Du schiebst sie dir über den farbigen Teil und der ändert die Farbe – sofort und das, bis du sie wieder entfernst! Toll, nicht?“, meinte Pilea und lächelte.

„Wie jetzt?“

„Na, so!“, rief ihre Tante aus und demonstrierte mit einem Glasplättchen, was sie meinte. Weil es rundherum blau war, veränderte sich die Farbe von Pileas Auge sofort. Diese nahm die Linse daraufhin wieder heraus und hatte wieder ihre normale Augenfarbe.

„Völlig ungefährlich!“, flötete sie.

Dorothea war überrascht. Dass so etwas möglich war, hätte sie nie gedacht! Aber mit Magie gestalteten sich viele Dinge einfacher, als man dachte. Während ihre Tante also ihre Kleidung in einem riesigen Beutel verstaute, die Pillendose ebenfalls hineinlegte und die anderen Sachen dazugab, wandte sich das junge Mädchen seinem Spiegelbild zu. Mit den Geräuschen einer aufgeregten Frau im Hintergrund, übte sich Dorothea am Einsetzen der Linsen. Es war zunächst unangenehm und sie tatschte sich ein paar Mal ungewollt ins Auge, doch schon bald schaffte sie es ohne Probleme, die Linsen hinein und wieder hinaus zu nehmen. Obwohl ihre Augen anfangs immer tränten, konnte sie nach längerer Zeit des Wartens wieder klar sehen. Auch das Glas verminderte nicht ihre Sehfähigkeit – das war eindeutig Magie! Das musste unglaublich teuer gewesen sein! Woher hatte Pilea diese Linsen?!

„Und die Haare sollen wirklich ab?“, versicherte sich ihre Tante von hinten. Dorothea nickte und schaute durch den Spiegel zu Pilea. Die Frau betrachtete bemitleidend ihre Locken, schien jedoch nicht lange zögern zu wollen und zückte eine Schere. Strähne für Strähne fiel das apfelrote Haar zu Boden und bildete dort eine herbstlich aussehende Fläche. Nie im Leben hätte Dorothea gedacht, dass ihr einmal als Frau die Scham zugestanden werden musste, kurze Haare zu haben. Sie war doch keine Verbrecherin, der man den Kopf kahl rasierte! Oh, wie schlimm, wie schlimm!

„So schlimm sieht es gar nicht aus“, versuchte ihre Tante sie aufzumuntern, doch sie redete eindeutig an einem Kloß im Hals vorbei, sodass sie wenig glaubwürdig klang. Dorothea lächelte schon etwas befreiter. Mit kurzen Haaren konnte sie jetzt nicht mehr zurück – der Rückzug war ausgeschlossen.

„Hier, nimm eine Pille“, sagte Pilea und reichte ihr ein kleines weißes Kügelchen und ein Glas Wasser. Dorothea schluckte sie schnell hinunter und starrte sich an. Es dauerte nicht einmal fünf Minuten und das wenige Haar, was sie jetzt noch auf dem Kopf hatte, wurde schwarz – Magie! Mit den blauen Augenlinsen und dem schwarzen Haar sah sie nun wirklich ganz anders aus.

„Ich habe alles eingepackt, wenn du Hilfe brauchst, kontaktiere mich per Brief. Ich komme sofort – deine Vorräte frische ich einmal im Monat auf. Ich schicke dir ein Paket, ja?“, meinte ihre Tante und lächelte traurig durch den Spiegel zu Dorothea. Pilea hasste Abschiede.

„Hm! Mach dir keine Sorgen, ich renne um mein Leben, wenn’s eng wird!“, versuchte sie ihre Tante zu trösten.

„Tu das! Also … Ich habe ein paar Freundinnen um Hilfe gebeten, sie werden sich um dich kümmern. Eine Heilpriesterin auf der Krankenstation, ihr Name ist Emma. Lisa ist eine der Wasserdamen, sie wird dich ansprechen, sobald ich ihr erklärt habe, wie du aussiehst. Maria ist eine Nonne im Hohen Tempel, glaub mir, sie wird sich um deine Sorgen kümmern. Die Drei haben auch noch andere gute Verbindungen, die dir aus der Klemme helfen können, sollte es einmal eng werden. Aber ich bin immer hier für dich, wenn es also nicht mehr geht, komm zurück, ja?“, erklärte ihr Pilea und sie nickte beflissentlich.

„Ah! Bevor du gehst … Hier! Zieh anstatt deiner alten Kleidung das hier an.“

„Aber das ist so neu!“, beschwerte sich Dorothea und starrte ihre Tante an. Doch die nickte nur und lächelte ermutigend.

„Mach nur, mach nur. Je besser du aussiehst, desto weniger Probleme wirst du haben. Reiche Leute können manchmal echt anstrengend sein – der Großteil der jungen Burschen in der Drachenreiterausbildung gehört nun einmal dem reichen Volk an, also musst du dich schon ein wenig zurecht machen, nicht wahr?“

Dorothea druckste noch etwas herum, tat dann aber, was man ihr riet und zog sich aus. Ihre alte Kleidung landete auf dem Boden. Mit diesen Kleidern hatte sie eine ziemlich lange Zeit verbracht – ein paar Jahre und Monate und Tage und Stunden … Nein. Das machte jetzt nichts mehr aus. Sie ließ schließlich ihr Leben hinter sich, da durfte sie alten Dingen nicht hinterhertrauern.

„Was ist das?!“, fragte ihre Tante plötzlich und Dorothea schaute zu ihr hinüber.

„Was ist was?“

„Na, das! Da, auf deinem Bauch! Bist du hingefallen?“

„Nein, wieso?“, erwiderte Dorothea und sah an sich hinab. Und da tatsächlich! Um ihren Bauchnabel herum hatte sich ein verschwommener Schatten gebildet. Es sah aus, wie ein fast verblasster Blauer Fleck. Nur dass, verblasste Blaue Flecken normalerweise gelb-grünlich waren. Dieser hier war jedoch schwarz – oder grau.

„Hm“, meinte ihre Tante, schien jedoch nicht erstaunt oder überrascht oder entsetzt. Es war lediglich eine Feststellung gewesen, die von ihr geäußert worden war. Mit einem genaueren Blick auf das kreisrunde Gebilde schnalzte sie anerkennend.

„Meine Liebe!“

„Was denn?“, maulte Dorothea und schaute in den mannshohen Spiegel. Kreisrund und schwarz zeichnete sich der Fleck um ihren Bauchnabel herum ab. Es wurde mit jeder Sekunde deutlicherer – ein Symbol!

„Bin ich verflucht?!“, fragte sie panisch und rubbelte an ihrer Haut in der Hoffnung, dass es doch nur Schmutz war. Doch es ging nicht ab und sie seufzte, als lediglich ihre Haut rot anlief.

„Quatsch! Verflucht sagst du?! Andere in diesem Viertel würden von großer Ehre reden, Schätzchen!“

„Wie bitte?“

„Das ist ein Mal.“

„Ein Mal?“, erwiderte Dorothea bloß und starrte auf das Symbol, das sich nun klar und deutlich mit einer tiefschwarzen Färbung abzeichnete. Um den Bauchnabel herum war eine Kreislinie gezogen und ungefähr drei fingerbreit darum herum, die zweite. Dazwischen befanden sich äußerst symmetrische Schnörkel und Schriftzeichen der Magie – wenigstens das konnte Dorothea verstehen. Magische Schriftzeichen muteten wie ein verworrenes Spiel von Punkten, Kreisen und Wellenlinien an. Alle Zauberformeln waren darin aufgeschrieben, sonst verloren ihre Worte an Kraft.

„Ein Drachenreitermal“, stimmte ihre Tante zu und lächelte. Dorothea runzelte die Stirn.

„Lach nicht! Was ist das?!“

„Hm, wie soll ich das erklären? Pass auf: Der Legende nach gab es auf der Welt vor langer Zeit keine Drachenreiter wegen eines schrecklichen Kriegs zwischen Menschen und Drachen. Als der Krieg zu seinem Höhepunkt kam, verbündeten sich ein Mensch und ein Drache zu einem Paar, um dem Ganzen ein Ende zu setzen. Das magische Band des Drachen riss den jungen Mann an sich und ließ ihm kaum Spielraum – seine bis dahin große Liebe verwelkte, ohne je erblühen zu dürfen. Als der Drache das sah und durch den Bund die Trauer des Mannes spürte, rief er die große Mutter der Erde, die Göttin Ismira, um Hilfe an. Es heißt, sie erschien und erfüllte der beiden Wunsch: Ein unzertrennbarer Bund zwischen ihnen, doch die Möglichkeit einer Liebe außerhalb. Der Drachenreiter konnte sich fortpflanzen und man dankte seinem Drachen von ganzem Herzen. Die anderen Drachen wurden neidisch und wünschten sich auch bald den Respekt der Menschen. Sie entschlossen sich ebenfalls, Menschen als ihre Mitstreiter zuzulassen. So kam es zu der Entstehung der Drachenreiter.“

„Was hat das mit diesem Mal zu tun?“, murrte Dorothea, die den Sinn der Geschichte nicht verstanden hatte. Pilea lächelte und schaute an die Decke, bevor sie weitersprach:

„Drachenreiter erhalten als Form ihres Bundes zu ihrem Drachen ein leuchtend helles Mal auf ihrer Stirn, dass nur zu sehen ist, wenn diese es wünschen. Auf ihren Rücken jedoch, über die Schulterblätter und weiter hinab, erscheinen nach vollendeter Ausbildung und Aufstieg in den Drachenreiterstand zwei Drachenschwingen. Eben ein solches Mal wie das deinige.“

„Hä? Was hat das jetzt mit mir zu tun?“, empörte sich Dorothea, doch Pilea lächelte weiter. Sie schaute liebevoll zu Dorothea hinab und sagte:

„Rate mal! Die Antwort liegt in der Geschichte von eben!“

„Bitte?!“, rief Dorothea aus und schaute ihre Tante mürrisch an. Innerlich jedoch überlegte sie. Wo war die Antwort? Drachenreiter erhielten ein Mal für den Bund zu ihren Drachen und ein Mal für den Bund zu ihrer Aufgabe – was also hatte das mit ihrem Mal zu tun? Moment! Mal, das war ein Mal! Pilea meinte, es sei ein Drachenreitermal. Wie konnte Dorothea an ein Solches herankommen, ohne selbst einer zu sein?!

Pilea sah das Erkennen in ihren Augen aufblitzen und nickte.

„Ich glaube, du verstehst, was ich meine!“

„Du meinst also … Dieses Mal ist Zeichen für meinen Bund zu dem Drachenreiter?!“

„Genau!“

„Bist du sicher?“, fragte Dorothea aufgeregt und strich über das Symbol auf ihrem Bauch. Das war fast wie eine Markierung! Sie gehörte diesem Drachenreiter! Das klang irgendwie nach Markierungsverhalten von Tieren, die ihr Territorium absteckten. Diese Auslegung hätte ihr nicht gefallen dürfen, doch allein der Gedanke, nun zu diesem Drachenreiter zu gehören, hob sie über alle Sphären hinweg in den Siebten Himmel.

„Glaube mir, ich habe Ahnung, was das angeht“, antwortete Pilea bloß geheimnisvoll.

„Hat er auch so ein Zeichen von mir?“

„Nein.“

„Warum denn nicht?“, maulte Dorothea zurück.

„Weil du kein Drachenreiter bist, Schätzchen! Nur Drachenreiter haben die Möglichkeit einen magischen Bund mit ihren Partnern einzugehen, weil Ismira es ihnen erlaubt hat – anderenfalls wäre die Anziehung der Drachen zu stark für die Menschen und sie wären nicht in der Lage, Personen der gleichen Rasse zu lieben.“

„Das heißt also, er hat mich markiert, weil er ein Drachenreiter ist. Mehr hat das Mal nicht zu bedeuten?! Er könnte herumlaufen und jeder Lustdame seine Markierung auferlegen, bloß weil er ein Drachenreiter ist?!“, antwortete Dorothea enttäuscht.

„Rede doch keinen Unsinn, Kind!“, wies Pilea sie zurecht.

„Was ist denn daran so falsch?!“

„Ich hab’s dir doch gerade erklärt: Drachenreiter sind nicht in der Lage, einen magischen Bund mit einem Partner einzugehen, wenn sie diesen nicht lieben.“

„Was soll das heißen?“

„Ach, Dorothea! Denk doch mal nach! Kein magisches Zeichen würde erscheinen, wenn du nicht in einem magischen Bund mit einem Drachenreiter wärst. Das Mal ist das Symbol für diesen magischen Bund. Der magische Bund wird aber nur ausgelöst, wenn der Mann dich liebt. Keine Lustdame würde nach einer Nacht ein solches Zeichen erhalten. Drachenreitergefühle auszulösen gilt als die höchste Auszeichnung einer Frau, die es gibt! Schau dich bloß an, mein Mädchen! Andere Frauen würden jetzt vor Freude an die Decke springen! Das Zeichen ist der beste Liebesbeweis, den du von einem Mann bekommen kannst – ‚Ich liebe dich!‘ ist schnell gesagt. Das Zeichen zu produzieren, ist unmöglich, wenn es nicht der Wahrheit entspricht. Dorothea, dein Drachenreitergeneral liebt dich von ganzem Herzen.“

Dorothea schluckte und schaute an sich hinab. Der schwarze Kreis stach klar und deutlich hervor, wie eine Warnung an alle anderen Männer. Ein Zeichen, dass die dazugehörige Frau vergeben war. Das ‚Ich liebe dich‘ eines Drachenreitergenerals um ihren Bauch zu tragen, war schöner, als seine geflüsterten Worte in dieser einen Nacht. Tränen rannen ihr hinab – Freudentränen natürlich.

„Oh“, meinte die sprachlose Dorothea bloß und Pilea klopfte ihr auf die Schulter.

„Ja, oh! Aber genauso, wie es ein Liebesbeweis ist, kann es dir auch zeigen, wie du im Herzen desjenigen stehst, der dir das Mal auferlegt hat. Je schwärzer und stärker das Mal, desto größer seine Liebe zu dir. Wenn es grau wird und verblasst, dann hört seine Liebe auf, zu existieren. Wenn du ihn heiraten willst, versuche immer, das Symbol auf tiefschwarz zu halten.“

Dorothea nickte bloß, überwältigt von dem Erfahrenen. Das enthüllte Geheimnis um dieses Mal gab ihr den letzten Schubs. Nun wollte sie ihren Drachenreitergeneral endlich wiedersehen! Nichts würde sie davon abhalten, wie die Frauen in Pileas Geschichten! Sie hatte ihr Selbstbewusstsein wiedergefunden – als kleines Kind hatte sie dies in sich selbst gefunden, nun, als fast erwachsene Frau, fand sie ihre Unterstützung in ihm. Diese Veränderung zeigte ihr, dass sie anders war, aber sich selbst nicht aufgegeben hatte.

„Geh zu ihm, kleine Doro. Schau wie schön es ist! Seine Liebe zu dir ist so stark! Wie kannst du da einen Fehler machen? Geh schon!“, ermutigte Pilea sie lächelnd. Dorothea grinste zurück und schaute wieder in den Spiegel. Langsam, noch immer verträumt, nahm sie die neue Männerkleidung zur Hand, band sich die Brust ab und zog die Hose an. Gerade wollte sie das Hemd überziehen, da begann das Mal zu prickeln. Es war kein unangenehmes Gefühl, aber dennoch machte ihr das Angst.

„Es prickelt, das Mal, meine ich“, sagte sie zu ihrer Tante. Pilea lachte und antwortete:

„Ich sagte doch: Es ist ein magischer Bund! Er denkt an dich. Je stärker er an dich denkt, desto stärker wird das Prickeln. Deine Haut wird ganz heiß und kribbelig, wenn … Na ja, wenn halt.“

Dorothea legte ihre Hand über das Zeichen und unterdrückte wieder ihre Tränen, bevor sie hervorwürgte:

„Bin ich froh, dass du so viel über die Drachenreiter weißt! Ich hätte mich für schwanger gehalten, hätte das Gefühl angehalten. Es ist angenehm!“

„Schwanger?!“, schnaubte Pilea und winkte ab, sagte dann jedoch:

„Du merkst, wenn du von einem Drachenreiter schwanger bist, glaub mir. Angeblich entziehen dir die Kinder eines magiebegabten Mannes die eigene Energie. Deshalb sind die Frauen der Drachenritter auch immer so schläfrig und schlaff während ihrer Schwangerschaft.“

„Echt? Oh, ist es wirklich so schlimm?“

„Das ist doch nicht schlimm! Je mehr du schläfst, desto besser! Außerdem hast du ja dann einen Mann, der für dich sorgt! Aber schwanger bist du nicht, so aktiv wie du bist! Na ja, man bringt den guten Herren übrigens eine magische Formel bei, die verhindert, dass bei einer Verbindung eine ungewollte Schwangerschaft entsteht.“

„Gut, ich dachte, ich muss mir Sorgen machen!“

„Nicht wirklich. Zumindest nicht, wenn der Drachenreiter ein fähiger Magier ist und deiner war das ganz sicher – General der Sturmjägergarde von Saitan. Er muss gut sein!“, versicherte Pilea ihr und Dorothea lächelte. Ihre Tante wurde nachdenklich und meinte plötzlich:

„Bist du sicher, dass die anderen ihn nur ‚General‘ nannten?“

„Ja, sehr sicher“, erwiderte Dorothea verwirrt.

„Das ist seltsam. Normalerweise hat der zweithöchste Drachenreiter einen anderen Titel.“

„Wie meinst du das?“

„Der höchste General ist der Großgeneral – er herrscht über alle Drachenreiter: Die Kriegsgarden, die anderen Drachenreitergarden für Transport, Botschaften und so weiter und über den Ältestenrat. Als Nächster kommt dann der Lordgeneral. Er ist der Anführer aller Kriegsgarden und Mitglied des Ältestenrats. Der Ältestenrat setzt sich aus allen Anführern der Gardenbereiche zusammen: Krieg, Transport und so weiter. Verstehst du?“

„Ja. Also hätte mein General eigentlich ein Lordgeneral sein müssen?“, fragte Dorothea.

„Vom Ding her, ja … Vielleicht wird der Titel aber gerade von einem anderen getragen.“

„Wie das?“

„Wenn ein Drachenreiter versetzt wird, hat er das Anrecht auf eine Position, die ihm würdig ist. Wahrscheinlich hat sich der ehemalige Lordgeneral über die Versetzung beschwert und durfte seinen Titel behalten – so läuft das nun einmal in der Politik. Dumme Waschweiberei!“, meinte Pilea abwinkend, lächelte dann aber wieder und sagte:

„Komm, mach dich auf! Geh zu deinem Drachenreitergeneral! Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich für dich freue!“

„Ich danke dir, Pilea-sitoka“, antwortete Dorothea und neigte den Kopf. Sie zog sich zu Ende an, nahm den großen Reisebeutel und verließ das Zimmer ihrer Tante. Pilea folgte ihr und sagte:

„Ich bringe dich bis zum Tor. Sollte noch etwas fehlen, sag mir Bescheid.“

Dorothea nickte und schritt stillschweigend neben ihrer Tante zur Stadtmauer des Sperrbezirks her. Innerlich bereitete sie sich auf die Zeit vor, die nun vor ihr lag. Ihre Angst wurde bald jedoch von freudiger Erwartung verdrängt.

Bald sah sie ihn wieder!

Arrival

Dorothea ließ ihren Reisebeutel auf den gepflasterten Boden vor dem Eingangstor des Sperrbezirks sinken. Das Tor war aus stabilem Holz, mit Eisenstreben zusammengehalten und dadurch nicht zu passieren, wenn die Wächter es nicht öffneten. Es war in die gewaltige steinerne Mauer eingelassen, die den Bezirk umschloss und vor Eindringlingen von außen beschützen sollte.

„Hier hast du noch etwas“, murmelte ihre Tante und reichte ihr einen Flakon, in dem eine orangene Flüssigkeit hin- und herschwappte. Dorothea schaute misstrauisch in diese durchsichtige Brühe.

„Was ist das denn?“

„Ein weiteres meiner Wundermittelchen. Rate!“

„Reichen diese Pillen nicht? Wofür sollte ich jetzt dieses Gebräu auch noch trinken?“, erwiderte Dorothea hartnäckig und schüttelte angewidert den Kopf. Sie hatte gar keine Lust, sich diese Flüssigkeit auch noch einzuflößen.

„Doch nicht trinken, Dummerchen! Du verstreichst einen Tropfen dieser Flüssigkeit auf deinem Drachenreitermal und es verschwindet. Wenn du nicht auffliegen willst, ist das das Erste, was du verbergen musst, Schätzchen, sonst bringst du deinen Geliebten nur in Schwierigkeiten. Du giltst offiziell als Mann – wenn man an dir dieses Mal entdeckt, wird man dich für einen Knaben halten. Und deinen General gleich mit“, meinte ihre Tante bloß und drückte ihr das Fläschchen in die Hand. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht fuhr die Frau dann fort:

„Einmal in der Woche, wie die Pille – verstanden?“

„Jawohl!“, antwortete Dorothea und steckte das Fläschchen in ihren Beutel. Dann wandte sie den Blick wieder auf das Tor vor sich. Es war ihre Tante, die ihr schließlich den entscheidenden Schubs gab und lächelnd ausrief:

„Auf geht’s, komm. Ruf mit mir zusammen!“

„Abenteuer, hier komme ich!“, rief Dorothea halblaut und unbegeistert mit ihrer Tante zusammen und die Frau lachte. Als Pilea ihr zuwinkte, wusste sie, dass sie nun gehen musste. Hinein in eine Welt, von der sie nichts wusste und in der sie sich auf niemanden verlassen konnte.

„Ich schreib‘ dir ein paar Briefe“, murmelte sie nun wieder in ihrer männlichen Stimme – ein wenig nuschelnd und mürrisch, damit sie männlicher wirkte.

„Nur zu, lenk dich aber nicht zu sehr vom Lernen ab“, antwortete ihre Tante bloß und machte eine wegwerfende Handbewegung. Doch in den Augen der Frau schimmerten Tränen – eigentlich war sie in Sachen Abschied nicht so leicht zu rühren.

„Wein doch nicht“, warf Dorothea ihr vor und die Frau strich sich die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie lachend sagte:

„Verzeihung, ist bloß die Nervosität. Du verstehst?“

„Nicht wirklich, nein. Mach’s gut, Pilea-sitoka.“

„Mach’s besser, Alan“, warnte Pilea sie und zwinkerte. Ihr Glückwunsch war nicht nur auf die Drachenreiterausbildung bezogen, sondern auch auf ihre Liebesbeziehung.

„Ach! Und vergiss‘ nicht! Emma, Lisa und Maria! Niemanden sonst!“

„Ja, ja, schon verstanden“, antwortete Dorothea und seufzte. Das waren die einzigen Menschen, denen sie sich anvertrauen durfte, aber, weil sie diese noch nie gesehen hatte, konnte sie sich noch nicht eindeutig auf deren Ruf verlassen.

Mit zaghaften Schritten ging sie auf das Wachhäuschen am Eingangstor zu und klopfte an die Tür. Ein alter, kleiner, runzliger Mann mit einem Bart bis über den Bauchnabel öffnete.

„Ja?“, blaffte er und starrte sie unter buschigen Augenbrauen heraus an. Sein Blick wanderte von ihren Füßen bis über ihren Kopf und er schnalzte. Dann murmelte er zu sich gewandt:

„Wie armselig. Jetzt haben sie keine richtigen Burschen mehr, jetzt holen sie die Schwächlinge, um wenigstens ein paar Drachenreiternovizen pro Jahr ausbilden zu können. Als würde so etwas jemals Drachenreiter werden. Tse!“

Dorothea sagte nichts dazu und verbarg ihren Ärger über den Kommentar des Mannes. Sie hatte schon immer gute Ohren gehabt, deshalb hatte sie das Gemurmelte auch gut verstehen können – ganz im Gegensatz zu den Erwartungen des Mannes. Stattdessen zog sie ihre Dokumente aus ihrer Westentasche und reichte ihm die Papiere. Er schaute sie finster an und untersuchte dann jeden Buchstaben auf dem Blatt, als würde er ihr nicht trauen. Das tat er wahrscheinlich eh nicht.

„War ja klar, dass Lorian-shiarmagistar wieder derjenige ist, der auf solche Ideen kommt“, brummte der Wächter. Dorothea zuckte nicht einmal mit der Wimper, als dieser niedere Soldat so über einen Drachenreiter sprach. Eigentlich wollte sie am liebsten den Kragen dieses Mannes erfassen und den Kleinwüchsigen kräftig schütteln, doch sie beherrschte sich. Stattdessen seufzte sie bloß.

„Bist ja der erste von den Novizen, der hier ankommt. Der Rest kommt erst ein oder zwei Tage vorher.“

„Man hat mir gesagt, ich solle innerhalb einer Woche kommen und die ist bald vorbei“, versuchte Dorothea sich zu rechtfertigen. Der Mann schnalzte.

„Bist’e denn auch derjenige, der hier angekündigt wird?“, fragte er und kniff die Augen zusammen, während er die Buchstaben auf dem Blatt zu entziffern versuchte. Mit erhobener Augenbraue fuhr er fort:

„Alen Lulrenssohn?“

„Alan Luiranssohn“, verbesserte sie ihn und nickte. Der Mann schaute sie finster an und meinte schließlich:

„Scheinst ja ein ganz gescheites Bürschchen zu sein. Und unhöflich noch dazu. Aber keine Bange, auch dich werden sie noch ordentlich erziehen, die da oben in der Akademie!“

Dorothea unterdrückte ihren Drang, laut zu protestieren und schluckte die Beleidigung stillschweigend. Besser, als es sich gleich am ersten Tag mit dem Torhüter zu verscherzen. Der Mann nickte und sagte:

„Bist ja nicht so helle, hast nicht mal ein paar Sprüche auf Lager … Nun ja, wie auch immer. Warte hier! Ich werde eben Kontakt zum inneren Torwächter aufnehmen. Wenn du’s dir anders überlegt hast, verschwinde – das Leben da drinnen ist kein Zuckerschlecken.“

„Danke für die Warnung“, erwiderte sie bloß und der Mann lachte trocken.

„Das war keine Warnung, ich habe dir lediglich genug Informationen gegeben, damit du dich auf dein weiteres Leben gefasst machst – würde ich dich warnen wollen, hätte ich dir gesagt, dass du auf gar keinen Fall über diese Schwelle treten solltest – es sei für dein Bestes. Aber das habe ich nicht getan, ich schicke dich ohne Warnung hinein und freue mich, dich in ein paar Jahre nach gescheiterter Eiprobe in den Reihen der Soldaten wiederzusehen.“

„Ich verstehe“, antwortete sie und schluckte den dicken Kloß in ihrem Hals hinunter. Offensichtlicher hätte er nicht sagen können, dass sie hier fehl am Platze war. Wenn selbst Männer es schwer hatten, wie würde sie bloß ihre Zeit dort zubringen? Aber all das wurde ja von der Eiprobe entschieden – sollte sie dabei Erfolg haben, dann musste sie nicht mit diesem Torwächter in der gleichen Fußarmee dienen. Immerhin war die Eiprobe das entscheidende Fest, bei dem ein Drachenreiter entstand. Kein Drachenreiternovize wurde zum Drachenreiter, wenn er bei der Eiprobe nicht wenigstens ein Drachenei zugeteilt bekommen hatte.

Der Mann reichte ihr die Dokumente und schlurfte zurück in sein Häuschen. Aus dem dunklen Innenraum drang bald durch alle Spalten ein sanftes blaues Licht und kurz darauf hörte man den Wächter sprechen. Er blaffte und schimpfte, erreichte aber, dass sich das Tor wie von Geisterhand öffnete. Aber nur einen Spalt, der groß genug war, um einen Menschen hindurchzulassen.

„Verschwinde, Kleiner. Wir sehen uns bei der Fußarmee!“, rief der Mann von drinnen und sie hob ihren Beutel vom Boden auf. Dann ging sie hinüber zum großen Eingangstor, durch dessen Spalt sie nichts weiter als ewige Dunkelheit sehen konnte.

„Alan, mach’s gut!“, rief ihre Tante von hinten und Dorothea drehte sich um, um noch einmal zu winken. Erst dann überquerte sie die Schwelle des Tors und betrat ihr neues Leben.

„Ah! Ich habe mich schon gefragt, wann du kommst“, ertönte eine Stimme von rechts aus der Dunkelheit. Sie wandte sich dorthin, nur um zu sehen, dass das riesige Eingangstor sich geräuschlos geschlossen hatte, ohne dass sie auch nur irgendetwas davon bemerkt hätte. Sie konnte also nicht mehr zurück. Ein Knoten bildete sich in ihrer Brust. Es war stockfinster.

„Alan Luiranssohn! Ein Glück, dass der innere Wächter mich informiert hat – ich hätte dich sonst nicht abgeholt und das wäre nicht gut ausgegangen!“, redete die Stimme weiter.

„Wer seid Ihr?“, fragte Dorothea statt einer Antwort und der Mann lachte.

„Verzeiht, es ist etwas zu dunkel für ein Gespräch“, erwiderte er bloß und zündete eine Fackel an – Dorothea konnte nur staunen, als ihr klar wurde, wie er das getan hatte. Mit Magie.

„Ich stelle mich noch einmal vor: Mein Name ist Lorian, ich bin meines Zeichens Drachenreiter-Studienleiter. Wann immer du mich zu Gesicht bekommst, musst du mich daher mit ‚Lorian-shiarmagistar‘ anreden.“

Dorothea nickte bloß und schaute den Mann an. Es war einer der hohen Herren, die das Gasthaus besucht hatten – er war derjenige, der ihr das Dokument erstellt hatte. Der ‚blaue Mann‘.

„Folge mir, ich werde dich herumführen und dich dann zu deiner Kammer bringen. Dort wartet bereits ein Satz Schulbücher und ein paar Novizenuniformen auf dich – du musst diese immer tragen, außer im Falle einer außerakademischen Aktivität in der Stadt. Sie wird also dein ständiger Begleiter sein. Ach, solltest du die Wege vergessen, wir haben eine Karte auf deine Bücher gelegt.“

„Ich danke Euch, Shiarmagistar.“

„Wie du sicherlich vom äußeren Wächter gehört hast, kommen die meisten Novizen erst ein oder zwei Tage vorher – das liegt daran, dass sie aus sehr weit entfernten Häusern kommen und ihre Familien einen hohen Status inne haben. Du hingegen …“, erklärte er.

„Ich bin ein armer Bürger und zufällig bereits in Saitan“, half Dorothea aus, während sie ein Schmunzeln verbarg. Also gingen die Drachenreiter ebenfalls nach Ständesystemen vor.

„Diese Privilegien verschwinden aber durch die Ausbildung wie von selbst und im Endeffekt interessiert es keinen vollwertigen Drachenreiter mehr, ob du adelig bist oder dein Leben lang nur gearbeitet hast.“

„Ich verstehe.“

Der Mann führte sie zielsicher durch die Dunkelheit und trat schließlich aus dem langen Tunnel in ein Oval, das vom Licht nur so durchflutet wurde. Dorothea schaute sich um, beeindruckt davon, dass es einen so schönen Ort auf der Welt gab. Dann sah sie wieder zu Lorian, der inzwischen die Laterne zum Erlöschen gebracht hatte.

„Das hier ist der ‚Platz der Mitte‘, er heißt zwar so, ist aber nicht in der Mitte. Hier laufen bloß die Gänge der unterschiedlichen Einrichtungen zusammen: Tempel, Palast, Akademie, Öffentliche Einrichtungen, Behausungen und andere Orte wie zum Beispiel die Arena und der Landeplatz für Drachen.“

Dorothea nickte und folgte Lorian dann, der dabei war, den Platz zu überqueren und auf einen anderen Tunnel zu zuhalten. Vom Platz selbst gingen tatsächlich weitere Tunnel strahlenförmig ab, ein jeder hatte die Aufgabe, den Besucher zu einem anderen Ort zu führen.

„Dieser Tunnel führt zur Akademie. Erkennbar an der roten Fahne über dem Eingang. Die weiße Fahne symbolisiert den Tempel, die purpurne den Palast. Wenn du zu den Behausungen möchtest, musst du nicht zwangsweise hierher zurückkehren und den grünen Eingang nehmen. Sie sind jederzeit durch andere Gänge und Korridore zu erreichen, das wirst du aber noch sehen.“

„Verstanden“, murmelte Dorothea vollkommen überrumpelt, doch sie folgte dem Mann durch den roten Eingang und trat dann nach einer Weile im dunklen Tunnel in ein weiteres lichtdurchflutetes Oval. Ringsherum gab es kleine Unterstände, in denen verschiedene Waffen oder Übungspuppen standen. Lorian lächelte.

„Der Übungsplatz! Das Herz der Akademie. Ein Teil davon ist überdacht, ein Teil nicht. Dadurch kann man bei gutem Wetter und bei schlechtem Wetter üben. In den Unterständen befinden sich verschiedene Dinge, die man benötigen könnte, sollte man einmal hier sein.“

Lorian überquerte auch diesen und ging die einzige Treppe hinauf in eine Galerie – die Treppe selbst besaß nur wenige Stufen und die Galerie war auch nicht unbedingt sehr hoch über dem Übungsplatz erbaut worden.

„Das ist die ‚Galerie der Drachenreiter‘. Seltsamer Name? Nicht unbedingt, schließlich führt sie überallhin: Zum Tempel, Palast, den Unterkünften und Sälen, den Klassenzimmern und der Bibliothek, zu den Drachenställen und so weiter und so fort“, erklärte Lorian kurz und fügte dann an:

„Wir gehen jetzt nach Süden – im Osten liegt der Palast, im Nordosten der Tempel.“

„Was liegt im Süden?“, erkundigte sich Dorothea und schaute bewundernd die Marmorträgersäulen an.

„Die Akademie, die Ställe und der Landeplatz. Im Westen befinden sich die Behausungen aller Drachenreiter, der Novizen, der Lehrer und Gelehrten, der Diener und Wächter, sowie der Wasserdamen und der Heiler. Habe ich jemanden vergessen? Bestimmt – außer der Nonnen, Priester und der königlichen Familie wohnen dort alle, deswegen ist die Mauer nach dorthin auch so gewaltig. Es gibt viele Gänge, Korridore, Stockwerke und Keller – ach und so vieles mehr. Das schreckt die Bürger in der Regel ab – sie nennen das Regierungsviertel schon ‚Sperrbezirk‘“, meinte Lorian und kicherte über letzteres. Dorothea fand das aber nicht sehr lustig und schwieg.

Er ging sicheren Schritts die Galerie entlang und erzählte hin und wieder knapp, was es mit irgendwelchen Mosaiken oder Korridoren auf sich hatte und was die Fahnen bedeuteten, die an einigen Türen hingen. Die Hälfte davon war nachvollziehbar, die andere Hälfte verstand Dorothea nicht, nickte jedoch höflich und hoffte inständig, dass auch über das Erzählte ein Lehrbuch in ihrem Zimmer war, damit sie wenigstens die Grundlagen in sich aufnahm.

Lorian grüßte die Menschen, die ihm begegneten. Einige neigten dabei ihr Haupt tiefer, vor anderen zeigte er äußersten Respekt. Dorothea fielen dabei einige junge Männer auf, die die gleichen Kleider trugen: Braune eng anliegende, lange Hosen, die in kniehohe Schnürstiefel gesteckt wurden, darüber trugen sie braune Tuniken, die auf der Hüfte mit einer Kordel festgebunden waren. Einige hatten immer noch ihre Wintermäntel übergeworfen, andere liefen bereits nur noch mit zusätzlichen Wämsern herum.

„Einige fleißige Novizen“, meinte Lorian bloß, als diese sich nach einer tiefen Verbeugung entfernten. Anscheinend war es möglich, während der Semesterferien nach Hause zu fahren – nur wenige Novizen nahmen dieses Privileg nicht wahr und blieben, um zu lernen. Sie alle sahen müde und abgekämpft aus – keiner lächelte. Mit gesenkten Häuptern hasteten sie über die Gänge, neigten respektvoll den Kopf, wenn ein Höhergestellter vorüberging und konzentrierten sich ganz auf ihr eigenes Leben.

„Willkommen in der Drachenreiter-Akademie!“, rief der Akademie-Studienleiter plötzlich aus und trat in eine riesige Eingangshalle, deren Decke in einer schwindelerregenden Höhe über ihnen thronte. Dorothea lächelte schwach, weil sie in ihren Gedanken immer noch die erschöpften Novizen vor sich hatte. Würde sie bald vielleicht genauso aussehen?

Im Folgenden beschrieb Lorian ihr in allen Einzelheiten die Akademie – wo auch immer sie vorüberging und etwas Interessantes hervorstach, nahm er sich die Zeit und erklärte es ihr. Obwohl ihr Kopf vor Informationen schwirrte, nickte sie höflich und lächelte dabei. Irgendwann kamen sie dann in den Novizenbehausungen an. Behausung war vielleicht sogar etwas zu nett ausgedrückt. Es war ein einziger Korridor, der viele Stockwerke besaß, die man über Wendeltreppen am Rand des Gangs erreichte. Einsehbar waren die obersten Etagen nur insoweit, als es dort Galerien mit steinernen Balustraden gab, über die man sich beugen musste, um zum Boden hinabschauen zu können. Entlang dieses Korridors befanden sich in den Wänden die Zimmer der Novizen – kleine Holztüren führten zu ihnen.

„Da uns erst am Ende des letzten Semesters der Großteil der Drachenreiternovizen verlassen hat – die Eiprobe, wie dir der äußere Wächter bereits erklärte, besteht kaum einer, daher kommen nur wenige in die C-Ausbildung, die auf diese Probe folgt –, gibt es einige freie Räume. Die ehemaligen Novizen haben zu eurem Glück nicht auf einer der untersten von zehn Etagen gelebt.“

„Wieso ist ein unteres Stockwerk so schlecht?“, hinterfragte Dorothea diese Aussage.

„Schau hinaus, Kleiner, dann weißt du, warum“, antwortete Lorian. Dorothea tat, wie ihr geheißen und starrte durch die kleinen Luken in den Wänden hinaus und wusste sofort, wieso es Pech genannt wurde, unten zu leben: Die Drachenställe befanden sich direkt neben den Novizenbehausungen – es stank – und das ziemlich heftig.

Sie erklommen eine Wendeltreppe, die auf die sechste Etage führte und Dorothea atmete den frischen Wind ein, der sich durch die Luftschlitze hineingequetscht hatte. Lorian begleitete sie die Galerie hinab zu einem Eckzimmer und schloss die Tür auf. Erst dann reichte er ihr den sperrigen, alten Schlüssel.

„Das ist der Zimmerschlüssel. Wenn ich dir einen Tipp geben darf: Schließ deine Tür immer ab. Novizen kommen öfters auf dumme Ideen, wenn sich durch harte Arbeit und wenig Freizeit Frustration aufstaut“, riet ihr Lorian und lächelte schelmisch. Dass diese Novizenspielchen von ihm auf die leichte Schulter genommen wurden, fand Dorothea beängstigend, doch sie schwieg.

Schließlich betrat sie den Raum und staunte. Er war kleiner als jede Besenkammer in den kleinsten Häusern auf dem Land. Höchstens sieben Ellen breit und sechzehn Ellen lang mit einem Fenster so groß wie ein Kindergesicht in der gegenüberliegenden Wand. So eröffnete sich ihr ihre neue Welt. Das Fenster war mit widerstandsfähigem Eisen vergittert und fast direkt unter der Decke, daher befand sich darunter eine Art Schrank. Dorothea zog die Augenbrauen hoch.

„Ein Alkoven“, erklärte ihr Lorian. Sie kannte das Wort nicht und ging neugierig hinüber. Die Schranktüren klemmten und öffneten sich erst, nachdem sie sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegengestemmt hatte. Die freundliche Farbe der Schnitzereien auf den Türen war schon lange abgeblättert und nur einige Überbleibsel in Rissen und Rillen erinnerten an den Farbton, der dort vielleicht einmal gewesen war. Dorothea schaute in den Schrank und fand dort auf Hüfthöhe ein Schlaflager vor. Die Matratze war aus Stroh und mit einem Laken bezogen, darauf lag ein hartes rechteckiges Kopfkissen, das einem wahrscheinlich eher einen steifen Hals bescherte als eine gute Nacht und vier Wolldecken von unterschiedlichster Dicke, die an einigen Stellen bereits geflickt worden waren. Unter dem Alkoven, zwischen Fußboden und Schrankboden, befanden sich Schubladen, in denen die Kleidung des Novizen verstaut werden sollte.

Dorothea schluckte und schloss die Schranktüren, dann ließ sie ihren Reisebeutel auf den Boden sinken und sah sich weiter um. In einer Nische in der Wand links vom Alkoven befand sich ein kleiner Sekretär, vor dem ein dreibeiniger Hocker stand. Auf dem Tischchen stand ein hölzerner Kerzenhalter und einige Bücher lagen dort fein säuberlich aufgereiht. Das mussten ihre Schulbücher sein. Tatsächlich fand sie auf einigen Pergamenten auch eine Karte des gesamten Sperrbezirks.

„Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Hier, dein Stundenplan“, erinnerte sich Lorian und reichte ihr einen Zettel. Sie schaute darauf hinab und hielt die Luft an. Der äußere Wächter hatte Recht gehabt. Das Novizenleben war alles andere als ein Zuckerschlecken.

Morgens, von Fünf bis Sechs, musste sie öffentliche Dienste leisten. Das hieß also, dass sie Frühstück machen sollte, das man von Sechs bis Sieben einnehmen durfte. Von Sieben bis Acht musste sie jeden Tag an einem Ausdauerlauf teilnehmen. Von Eins bis Drei war dann das Mittagessen an der Reihe, das sie in der ersten Stunde vorbereiten musste. Um sechs Uhr abends musste sie dann Abendessen machen, um das von Sieben bis Acht zu sich zu nehmen. Dann, von acht Uhr bis zehn Uhr, sollte sie die Drachen pflegen – also Ställe ausmisten, füttern, waschen und so weiter und so fort. Letztendlich würde sie nur sechs Stunden Schlaf bekommen. Schließlich war zwischen den Pausen immer Unterricht. Dieser erstreckte sich über Priesterlehre, Amtssprache, Reiten, Geschichte, Rechnen, Morallehre und Gesellschaftsregeln zu Kampfsport, Bogenschießen und Schwertkampf. Dorothea wusste jetzt schon, dass sie jämmerlich zugrunde gehen würde – kein Wunder, dass die Novizen, denen sie begegnet war, so abgewrackt ausgesehen hatten. Wieder einmal fragte sie sich, ob ihre Entscheidung klug gewesen war.

Lorian lachte plötzlich auf und Dorothea fuhr herum. Er verbarg sein Grinsen hinter seiner Hand und schaute zur Decke hoch, doch dort oben war nichts weiter als eine brennende Lampe, deren Licht kaum ausreichte, um den Raum zur Hälfte auszuleuchten.

„Dein Gesichtsausdruck“, erläuterte er ihr sein Lachen, als ihm ihr fragendes Gesicht auffiel. Sie lächelte schwach und antwortete:

„Hätte ich nicht so ausschauen sollen?“

„Glaube mir, deine Reaktion war noch relativ neutral – es gibt durchaus auch andere Novizen. Besonders heftig protestieren die Adeligen.“

„Wieso?“

„Pf, aus ersichtlichen Gründen natürlich. Keiner von diesen Bengeln ist jemals früher aufgestanden als der zehnte Glockenschlag - keiner von ihnen hat je den Sonnenaufgang erblickt. Die spärliche Schlafenszeit erreicht nicht annähernd den Standard von zehn bis zwölf Stunden Schönheitsschlaf, den viele Familien pflegen. Außerdem steht man ständig unter Zeitdruck, das Essen ist nicht pompös und muss eilig eingenommen werden. Zusätzlich dazu die ganze Arbeit: Öffentliche Dienste und Drachenpflege empören unsere jungen Novizen über alle Maßen hinaus – niemand von ihnen hat je einen Finger nach einem Haushaltsgerät gekrümmt, schließlich sind die zarten Hände nur für zarte Porzellanteetassen vorgesehen. Der lange, anstrengende Unterricht setzt dem ganzen noch die Krone auf – die Hälfte der jungen Adeligen wirft noch vor Ablauf eines Monats das Handtuch.“

Dorothea staunte nicht schlecht über diese leichthin ausgesprochene Bemerkung – Lorian nahm seinen Beruf und die Drachenreiterausbildung als eine Art Witz. Oder er fand einfach in den seltsamsten Situationen eine gewisse Ironie. Vielleicht erleichterte ihm diese Einstellung sein ganzes Leben.

„Ist das so? Habe ich es dadurch etwas leichter? Dank meines niedrigen Status?“, fragte sie schließlich und schaute zum Drachenreiter-Studienleiter auf. Der runzelte beinahe sofort die Stirn.

„In gewisser Weise schon – du bist sicherlich an einen solchen Tagesablauf gewöhnt. Vergiss aber nicht, dass die Adeligen durchaus anderes besser können als du. Sie werden weniger Probleme mit den Schulfächern haben, schließlich ermöglicht man ihnen sämtliche Schwertkampfübungen, Sport im Allgemeinen und eine ausgeweitete Ausbildung bezüglich Religion, Sprachen, Manieren, Moral und Regeln.“

„Ich hinke also von vornerein hinterher?“, antwortete sie völlig entmutigt.

„Im Grunde genommen … Ja. Aber das lässt sich ziemlich schnell beheben. Glaube mir, hier lernt jeder so schnell wie möglich. Der Leistungsdruck ist sehr hoch. Man erlaubt den fortgeschrittenen Schülern die Enthaltung vom Unterricht.“

„Wie das?“

„Nun ja, wenn du adelig bist und schon von klein auf bei gesellschaftlichen Treffen anwesend warst, brauchst du sicherlich keine Gesellschaftsregeln der höheren Kreise mehr lernen, oder?“

„Verständlich“, stimmte Dorothea zu und seufzte. Also musste sie als Einzige jedes Schulfach belegen? Blieb ihr überhaupt noch Zeit, zu lernen oder ihren Drachenreitergeneral zu finden? Apropos …

„Shiarmagistar?“, fragte sie scheinheilig und der Mann sah sie wieder aus freundlichen Augen an.

„Ja?“

„Der Drachenreitergeneral der Sturmjägergarden von Saitan …“

„Was ist mit ihm?“, fragte der neugierig gewordene Studienleiter. Seine Augen blitzten interessiert.

„Ich habe gehört, er sei nicht der Lordgeneral, obwohl ihm diese Position zusteht. Warum?“

„Ach, und ich dachte schon, du wüsstest irgendein spannendes Gerücht oder so … Wenn’s nur darum geht.“

Dorothea seufzte ob der Enttäuschung des Mannes, wie gut, dass sie vorsichtig war. Sie musste in Zukunft aufpassen, keine ungewollten privaten Informationen über den Mann auszuplaudern – man schien nach Fehlern äußerst aufmerksam zu suchen. Lorian begann zu sprechen:

„Im Grunde gilt er überall bereits als Lordgeneral – offiziell darf er so aber nicht angesprochen werden, weil ein anderer Drachenreiter diesen Titel innehat. Vor drei Jahren hat der Gute die Position als General der Sturmjägergarde Saitans übernommen, weil er bereits stärker und taktisch besser war als der damalige General. Es gibt ein gewisses Gesetz für Drachenreiter, die ihre Stellung verlieren: Sie müssen eine gleichwertige Position erhalten. Der ehemalige General ist jetzt Anführer einer anderen Sturmjägergarde und hat aufgrund dieses Gesetzes seinen Titel behalten dürfen. Doch sein Besitztum scheint auf wackeligen Beinen zu stehen – immer mehr Drachenreiter wünschen sich, dass der neue General diesen Titel übernimmt, schließlich hängt nicht nur eine andere Anrede an ihm sondern auch verschiedenste Rechte und Pflichten.“

„Das heißt, es könnte passieren, dass er bald zum Lordgeneral wird?“, erkundigte sich Dorothea und Lorian überlegte.

„Ich bin zwar vollwertiges Mitglied im Ältestenrat der Drachenreiter, aber noch ist ein Austausch von Titeln nicht zur Sprache gekommen, soweit kann ich dir deine Frage beantworten. Es sind inoffizielle Stimmen, die diese Forderungen stellen – vielleicht kommt das Gespräch in näherer Zukunft einmal auf diesen Punkt hinaus. Das ist der Wissensstand aller Drachenreiter zu diesem Thema“, antwortete Lorian ehrlich und zuckte dann mit den Achseln. Mehr schien auch er nicht zu wissen. Auch seine anfängliche Neugierde war erloschen. Er schien sich für dieses Thema nicht großartig zu interessieren. Ihn wunderte es auch nicht, dass Dorothea danach gefragt hatte. Diese sah sich unterdes weiter im Raum um. Außer einer Truhe an der rechten Wand, in der man Wertsachen einschließen konnte, gab es nur noch ein Regal, das in eben diese Wand eingelassen war. In die oberen Fächer stellte man Bücher, darunter waren würfelartige Regalböden für Pergamente und kurz oberhalb des Bodens waren Regale hinter gläsernen Türen, für die Dorothea keine Verwendung finden konnte. Daher fragte sie Lorian, der lediglich antwortete:

„Da lagerst du magische Utensilien – Glaskugeln, magische Tränke … Und was es nicht alles gibt! Alles natürlich für den Unterricht. Im Grunde braucht das keiner.“

Sie seufzte. Mit diesem spärlichen Zimmer musste sie nun die nächste Zeit auskommen – sie hatte nicht einmal einen Spiegel oder eine Waschschale, geschweige denn einen Nachttopf! Lorian musste ihr Seufzen bemerkt haben, denn er meinte:

„Man gewöhnt sich an dieses enthaltsame Leben, glaube mir. Ich hab das Gleiche durchgemacht. In einer Woche ist der Beginn des neuen Semesters – richte dich also in aller Ruhe hier ein und gewöhne dich an deine neue Umgebung. Erkunde sie, lerne Leute kennen, die dir im Verlaufe deiner Novizenzeit behilflich sein könnten – hierbei spreche ich von Heilern und Bibliothekaren – und stöbere ein wenig in den Büchern. Du musst schließlich den großen Vorsprung deiner Mitschüler aufholen, nicht wahr?“

„Ich danke Euch, Shiarmagistar. Danke, dass Ihr Euch Zeit für mich genommen habt!“, meinte sie, doch er winkte ab und sagte:

„Das ist meine Aufgabe, du hast nicht mehr Privilegien als die anderen, nur weil du ein gewisser Sonderfall bist. Ich begrüße jeden so wie dich jetzt – und nun kümmere dich um deine eigenen Sachen. Es wird Zeit, dass du dich auf dein neues Leben vorbereitest. Immerhin wird dir das erste Jahr – die A-Ausbildung – alles abverlangen. Am Einweihungstag, an dem du zum Drachenreiternovizen wirst, erscheinst du um acht Uhr morgens im großen Audienzsaal der Akademie – bitte in der Uniform, hast du mich verstanden?“

„Jawohl, Lorian-shiarmagistar“, sagte sie und der Mann nickte zufrieden. Mit einer steifen Verabschiedungsfloskel entschwand er aus dem Raum und ließ sie allein zurück. Weil sie ihre aufkeimende Nervosität niederringen musste, begann sie, ihre Sachen auszupacken. Kleider, die sie anscheinend nicht brauchen würde, verstaute sie in der einen Schublade unter dem Alkoven, in der anderen fand sie schließlich auch ihre triste Uniform. Die Wertsachen, die Wundermittelchen ihrer Tante sowie die Binden, schloss sie in der Truhe ein, für die es einen extra Schlüssel gab. Die Bücher vom Sekretär räumte sie in das Regal ein und schaute dann unter die Tischplatte. Pergament, Tinte und Feder lagen dort fein säuberlich aufgereiht.

„Was nun?“, flüsterte sie sich zu und verstaute schließlich auch Kamm und Seife in der Truhe. Dazu kam ihr Reisebeutel, den sie wohl nicht mehr brauchen würde. Langsam richtete sie sich auf und beschloss dann, sich umzuziehen. Die Uniform war ihr etwas zu groß, doch sobald sie diese Feststellung gemacht hatte, verkleinerte diese sich schlagartig und passte sich ihrer Körperform an. Staunend schaute Dorothea an sich hinab und schluckte – es war ein seltsames Gefühl, Magie an sich angewendet zu wissen. Erst ein schüchternes Klopfen riss sie aus ihren Gedanken.

„Ja, bitte?“, fragte Dorothea, als sie die Tür öffnete. Eine Dienerin stand vor der Tür. Sie war leicht rundlich und schaute freundlich aber schüchtern – ihre schlichte Kleidung passte perfekt zu den Novizenquartieren.

„Ich komme auf Lorian-shiarmagistars Wunsch.“

„Weshalb?“, wollte Dorothea wissen und die Frau trat von einem Fuß auf den anderen.

„Euer Haar ist zu lang, Sikar. Man hat mir den Befehl erteilt, Euch das Haar zu schneiden.“

Dorothea hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren – das Haar noch kürzer schneiden? Die Strähnen, die zuvor noch stolz bis fast zu ihrer Taille gereicht hatten, waren bereits nur noch so lang wie der kleine Finger ihrer Hand. Wie kurz sollte das Haar denn noch sein?

Doch sie beschwerte sich nicht und setzte sich stumm auf den Hocker, der ihr von der Frau zugewiesen wurde. Diese zog ein Rasiermesser hervor und begann langsam und vorsichtig Strähne für Strähne von ihrem Kopf zu trennen, bis nur noch millimeterlange Stoppeln überblieben. Als Dorothea ihre Hand über ihren Kopf fahren ließ, musste sie ein Würgen unterdrücken und gab sich gefasster, als sie sich fühlte, während die Dienerin ihr Haar aufkehrte und damit auf dem Gang verschwand. In diesem Moment war sie nur froh, dass kein Spiegel in der Nähe war, der ihr von ihrem Unglück berichten konnte. Sie wäre womöglich in Tränen ausgebrochen.

Die Dienerin kam wieder und sagte:

„Da in einer Woche das neue Semester beginnt, hat Lorian-shiarmagistar mir aufgetragen, Euch folgendes auszurichten: Diese Woche gibt es Frühstück um Acht, Mittagessen um Zwei und Abendessen um Sieben. Vormittags und nachmittags werdet Ihr noch zusätzlich Nachhilfestunden nehmen. Euch werden ab heute gewisse Lehrer in den Fächern der Amtssprache, dem Rechnen, der Moral- und Priesterlehre sowie in den Gesellschaftsregeln unterweisen. Ihr braucht nichts mitzubringen, wenn ihr zum Unterricht in die Bibliothek kommt. Nach dem Mittagessen, um Drei, beginnt der Unterricht.“

Dorothea horchte auf und erwiderte:

„Aber er sagte doch gerade erst, ich solle mich in Ruhe einrichten und die Umgebung erkunden.“

„Das könnt Ihr immer noch – abends, wenn es Euch recht ist. Es ist wichtiger, dass Ihr den Vorsprung der Adeligen aufholt“, informierte sie Dorothea bloß und neigte dann unterwürfig das Haupt. Erst dann verließ sie ohne ein weiteres Wort das Zimmer und hinterließ ein entrüstete Dorothea, die sich wieder auf den Hocker fallen ließ. Mit Mühe unterdrückte sie einige ausgewählte Flüche und verbarg schließlich ihr Gesicht in ihren Händen, um leise aber bitterlich zu weinen. Das war alles andere als ein schönes Leben – es hatte bereits schlimm begonnen. Wie würde es also weitergehen?
 

Vlaindar seufzte und stützte seinen Kopf auf einen Ellbogen – zurückgelehnt in seinen steinernen Thron gab er somit das Bild eines erschöpften Mannes. Das war er aber auch. Zu seinem Erstaunen war die Ältestenratssitzung nicht so schnell vergangen, wie er es gern gehabt hätte. Er hatte keine Schmerzen, wegen der er sich die baldige Beendigung der Sitzung wünschte, er wusste deshalb selbst nicht, warum er so aufgewühlt war. Seine Gedanken kreisten um jedes Thema, nur nicht um das, um das sie sich eigentlich drehen sollten.

„Vlaindar-shiarireyliar, so sagt doch auch etwas dazu! Es geht hier schließlich um Euch!“, forderte der Lordgeneral der Transport-Drachenreiter ihn auf. Vlaindar seufzte und gab sich aufmerksam. Trotzdem wusste er nicht, worüber er jetzt sprechen sollte. Gerettet wurde er vom Großgeneral. Ruiyan hatte Vlaindars Zögern bemerkt.

„Ressota-neyantear wünscht sich Eure Bestrafung, Vlaindar-shiarireyliar. Würdet Ihr eine Strafe annehmen, nachdem ihr bereits die Befragung durchlebt habt?“

Kurz gesagt: Fühlte er sich bereit, noch einmal bestraft zu werden, nachdem er gefoltert worden war?

„Meine Loyalität zu Seiner Majestät bleibt unverändert, wenn er sich meine Bestrafung wünscht, so werde ich mich fügen“, beteuerte er erneut seinen Standpunkt. Wie oft hatte er das heute schon getan? Acht- oder neunmal? Vielleicht sogar öfter, er wusste es nicht mehr.

„Fein, das wissen wir jetzt. Welche Bestrafung wäre milde genug, um die Menschen nicht in Empörung zu versetzen, jedoch hart genug, um Ressota-neyantear zufrieden zu stellen?“, fragte der Lordgeneral der Post-Drachenreiter zum vierzehnten Mal – wenigstens das hatte sich Vlaindar merken können.

„Ich plädiere für den Ausschluss von öffentlichen Versammlungen“, meinte der Lordgeneral der Transport-Drachenreiter. Mit einem unbefriedigten Laut machte der Lordgeneral der Bau-Drachenreiter auf sich aufmerksam.

„Unnötige Bestrafung, Vlaindar-shiarireyliar nimmt kaum an diesen Teil.“

Man stimmte diesem Punkt allgemein zu und suchte nach weiteren Möglichkeiten.

„Und wie ist es mit einem kurzzeitigen Ausschluss von seinem Beruf? Die Leitung der Garde wird währenddessen seinem Vize-General übertragen.“

Dieses Mal schienen einige der Idee zu zustimmen.

„Wahrlich interessant. Man könnte die Strafe durch gemeinnützige Arbeit ausweiten und Vlaindar-shiarireyliar zu gewissen Unterrichtseinheiten der A-Ausbildung schicken. Damit er seine Moral wiederfindet!“, schlug der Lordgeneral der Brut-Drachenreiter vor. Diese Aussage löste ein allgemeines Gemurmel aus – das war keine schlechte Idee. Diesen Punkt nahm der Großgeneral auf:

„Fein, drei Wochen Berufsausübungsverbot – nach Beginn des neuen Semesters. Ihr werdet an den Fächern der A-Ausbildung teilnehmen, die man Euch weist. Ich persönlich empfehle Moralunterricht, Priesterlehre und Gesellschaftsregeln. Gemeinnützige Arbeit bezieht sich nicht auf die Öffentlichen Dienste der Novizen und die Drachenpflege – ich finde, Tempelarbeit und Bibliotheksaushilfe würden vielleicht eher bestrafende Wirkung zeigen.“

Der Lordgeneral der Bergarbeit-Drachenreiter meldete sich zu Wort:

„Der Moralunterricht bezieht sich nur auf die Kampfmoral eines Drachenreiters und die Aushilfsbereitschaft. Es wird eher wenig Wert auf Disziplin gelegt, obwohl das ab und zu erwähnt wird. Ich halte dieses Fach für unnötig. Weiterhin wundere ich mich über die Priesterlehre. Wozu dieses Fach?“

Ruiyan nickte und begann dann zu erklären:

„Die Priesterlehre bezieht sich nicht nur auf die Religion sondern auch auf das Verhalten eines Priesters. Wie Ihr Euch sicherlich noch aus Eurer eigenen Novizenzeit erinnern werdet, predigte man Zurückhaltung und Anstand genauso lang wie Frömmigkeit.“

„Das ist wahr. Ich halte dieses Fach für angebracht. Dennoch fühle ich mich nicht bereit, Vlaindar-shiarireyliar in den Unterricht der ‚Gesellschaftsregeln‘ zu schicken. Das halte ich für unter seiner Würde. Jeder von uns weiß, dass der General sich seines Regelverstoßes und seines unziemlichen Verhaltens bewusst ist – deswegen hat er seinen Fehltritt ja erst gebeichtet. Außerdem kam es nur in diesem Bereich zu einem Fehler, in allen anderen Bereichen verhielt er sich tadellos.“

Man konnte dem Großgeneral die Erleichterung ob dieser Worte deutlich ansehen und auch die anderen Lordgeneräle waren mehr als nur glücklich, dass jemand sich dazu durchgerungen hatte, Vlaindars Würde zu verteidigen, weil der Mann dies selbst nicht tat. Tatsächlich schien ihn das Gespräch gar nicht zu interessieren, daher war der Großteil der Anwesenden unsicher und verwirrt und wusste nicht, was zu tun war.

Vlaindar bemerkte diese Gefühle sehr wohl und er war selbst erleichtert, zu hören, dass seine Strafe so milde ausfallen sollte. Dennoch gelang es ihm nicht, Interesse und Dankbarkeit zu heucheln. Seine Gedanken führten ihn in einen ganz anderen Raum als diese pompöse Ratshalle. Ein schlichtes Zimmer in einem einfachen Wirtshaus und ein quietschendes Bett. Vlaindar riss sich von diesem Bild los und atmete tief ein – er musste jetzt dringendere Sachen tun. Zum Beispiel Reue für sein Handeln zeigen. Warum war er bloß so in diese Frau vernarrt?

„Also gut, die Strafe scheint mir ausgereift und gerecht. Ein dreiwöchiges Berufsverbot und die Teilnahme an der Priesterlehre der A-Ausbildung. Als körperliche Aktivität empfehlen wir Tempelarbeit und Bibliotheksaushilfe, korrekt?“, resümierte der Großgeneral. Man nickte. Nur ein Lordgeneral enthielt sich. Ruiyan fragte ihn:

„Seid Ihr Euch über etwas im Unklaren, Lordgeneral der Wachtruppen?“

„Erinnert Ihr Euch an die letzte Bestrafung eines Drachenreiters? Unser Vorschlag wurde vom königlichen Hofe zurückgewiesen mit der Begründung, wir seien zu milde. Das hatte die Verschärfung der Strafe zur Folge, weil die königlichen Ratgeber es sich selbst zur Aufgabe gemacht hatten, die ordentliche Ausführung einer gerechten Strafe heraufzubeschwören. Sollten wir nicht vielleicht noch eine Stufe härter durchgreifen, um die Wiederholung eines solchen Vorfalls zu vermeiden?“

„Inwiefern? Wie stellt Ihr Euch das vor?“, fragte Ruiyan überzeugt von den aufrichtigen Worten des Mannes. Alle sahen gespannt zu diesem Lordgeneral hinüber.

„Uns ist allgemein bekannt, dass es in Vlaindar-shiarireyliars Garde Frivolitäten gibt. Mikanor-shiar und Famiran-shiar sind uns eben solche bekannten Fälle. Ich denke, die Ausweitung der Strafe auf die gesamte Garde würde genügen, um die Ratgeber zufrieden zu stellen. Das Aussetzen der Sturmjägergarde wird nicht so schwer genommen, da sie nicht sehr oft zum Einsatz kommt – schließlich gehört sie zur Drachenreiter-Elite.“

„Ich verstehe Euren Standpunkt und halte ihn für angemessen“, stimmte ihm der Lordgeneral der Transport-Drachenreiter zu. Der Rest nickte und die Sache war beschlossen: Die gesamte Garde würde drei Wochen lang aus dem Dienst genommen, um an der Priesterlehre der A-Ausbildung teilzunehmen und Tempelarbeit zu leisten. Außerdem erweiterte man die körperliche Ertüchtigung noch auf die in dieser Zeit anfallenden Reinigungstage. Nur Vlaindar sollte zusätzlich dazu noch in der Bibliothek aushelfen.

Vlaindar unterschrieb diese Strafe, die bei weitem hätte schlimmer ausfallen können und machte, dass er den Raum verließ. Er wollte sich nicht noch in ein ewig andauerndes Gespräch zwischen den Ratsmitgliedern verwickeln lassen, das stets nach jeder Sitzung entstand. So sozial engagiert war er nun auch wieder nicht, um den Männern sein Ohr und seine Schulter zu leihen.

Eiligen Schrittes kehrte er in seine kleine Wohnung zurück und ließ sich dort erschöpft auf einen Stuhl fallen. Mit Erschrecken stellte er fest, dass er auf dem Rückweg respektlos keinen einzigen Menschen gegrüßt hatte, dem er begegnet war und diese umso verwunderter weitergegangen waren. Doch auch dieses Gefühl schob er beiseite und bettete seinen Kopf auf seinen Armen. Es dauerte nicht lange und er befand sich wieder in seinem Traumland, weit entfernt von seinen alltäglichen Sorgen, die er besaß, seit er in Saitan angekommen war.

Sein Herz blühte förmlich auf, als er sich wieder an Dorothea erinnerte und er durchlief noch einmal sämtliche Zeit, die er mit ihr verbracht hatte. Warum war er so in sie vernarrt? Er kannte sie kaum, er wusste nichts über ihre Herkunft und ihren gesellschaftlichen Stand – es fehlte jegliche Vernunft hinsichtlich der Grundlage einer anständigen Vereinigung. Woran lag es also, dass er sie so sehr beschützte und sich für sie einsetzte? Wieso war er in sie verliebt? Weshalb jagten ihn ihre Bilder in Träumen am Tag und in der Nacht?

Fasziniert stellte er fest, dass er dieser Frau hilflos ausgeliefert war. Vlaindar, General der Sturmjägergarde Saitans, war einer Frau vollkommen unterlegen – er würde sich ihr, ohne zu überlegen, einfach unterwerfen, wenn sie ihn darum bat. War es dieser lächerliche magische Bund zwischen Drachenreiter und seiner Geliebten, dieser Urinstinkt, der ihn dazu zwang? Aber warum war dieser dann ausgelöst worden? Woher kam seine bedingungslose Liebe zu ihr?

‘Ach, du liebe Güte. Hör auf, darüber nachzudenken, Vlaindar! Mein Kopf schwirrt schon!‘, beschwerte sich Hairima in seinen Gedanken. Vlaindar schnaubte und erwiderte bloß:

‘Deine Verwirrung ist nichts gegen meine Kopfschmerzen!‘

‚Als ob du jemals solche Kopfschmerzen haben könntest wie ich.‘

‚Natürlich kann ich das nicht, da hast du Recht. Dein Kopf ist ja auch größer als meiner.‘

‚Siehst du! Deswegen finde ich deine sich kreisenden Gedanken unangenehm.‘

‚Dann erkläre mir, warum ich sie liebe!‘

‚Das kann ich nicht. Nur, weil ich ein Drache bin, heißt das nicht, dass ich alles verstehe. Liebe ist ein unendlich weit gefasster Begriff und ein ungreifbares Gefühl. Warum sie entsteht, liegt außerhalb meines Verständnisses. Finde dich damit zurecht oder lehne sie ab, aber denk nicht ständig darüber nach! Das macht die Sache auch nicht einfacher. Dieses ganze komplizierte Gedenke erschöpft mich nur unnötig. Es ist nutzlos – du kannst eh nichts dagegen tun.‘

‚Du hast Recht. Mich würde nur einfach einmal interessieren, warum es gerade Dorothea war, in die ich mich verliebt habe.‘

‚Frag mich nicht – mich interessiert deine Strafe viel mehr. Herzlichen Glückwunsch dazu. Berufsverbot bedeutet auch Flugverbot, mein Kleiner. Ich werde jetzt also in der hintersten Ecke meines Stalles für die nächsten vier Wochen in Ruhe schmollen. Sprich mich erst an, wenn du wieder ein richtiger Drachenreiter bist.‘

Mit diesen Worten zog sich seine Drachendame beleidigt aus seinen Gedanken zurück. Hairima war alles andere als begeistert von der milden Strafe. Vlaindar seufzte. Er musste ihr also dringend ein Bestechungsgeschenk zukommen lassen – Frauen waren ja so kompliziert!
 

Dorothea hätte fluchen mögen, doch sie tat es nicht, denn das hätte nur unnötig Komplikationen zu ihrer prekären Lage hinzugefügt. Sie befand sich in der Bibliothek zum Nachmittagsunterricht, den man ihr angekündigt hatte und kämpfte sich durch Satzgebilde und hochverworrene Texte, geschrieben in der Amtssprache. Wären es wenigstens Interessante gewesen, dann hätte sie nicht so schlechte Laune gehabt, doch das waren sie nicht. Zu allem Überfluss hatte man ihr zuvor verzweifelt versucht, dividieren und multiplizieren beizubringen – teilweise hatte es funktioniert, aber nur im einstelligen Bereich. Sobald einer der Faktoren oder Summanden oder wie auch immer man diese Dinger nannte größer war als zehn, hörte ihr Verständnis auf. Der Verlust ihres Geistes bescherte ihr nun auch Schwierigkeiten beim Interpretieren von Gedichten und Balladen.

„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du – verdammt nochmal – nicht mit so einer Sauklaue schreiben sollst? Wer soll denn das lesen?!“, blaffte ihr Lehrer sie zum unendlichsten Male an. Ihre Schrift ähnelte der eines Kleinkindes oder wirren Bildern aber niemals Buchstaben. Wie oft hatte der alte Mann ihr nun mit dem Rohrstock einen Klaps auf die Finger gegeben? Irgendwann würden diese bestimmt auch blau anlaufen …

„Verzeiht“, grummelte sie zurück und versuchte, entschuldigend auszusehen, obwohl sie in Wirklichkeit ziemlich wütend war. Am liebsten hätte sie dem Mann einmal gehörig ihre Meinung erzählt, doch sie hielt sich zurück. Ärger mit dem Personal war keine gute Idee.

Schlimmer war jedoch die Tatsache, dass ihr Bauch schon die ganze Zeit prickelte. Und zwar genau an der Stelle, wo das Drachenreitermal war – dachte ihr Drachenreiter gerade an sie? Diese Frage beschäftigte sie so sehr, dass sie sich kaum konzentrieren konnte. Deswegen bekam sie ja gerade diese Prügel. Sie passte einfach nicht auf, obwohl der Lehrer sich bemühte, ihr den Studien-Nachteil auszutreiben. Das war auch der Grund, warum sie fluchen wollte. Ihr Geliebter lenkte sie ab! Und das nicht wenig.

Wenigstens hatte sie schon mit der Heilerin gesprochen, die Pilea ihr empfohlen hatte – da der führende Heiler nicht auf der Krankenstation angestellt war, sondern ein eigenes Krankenhaus in der Stadt besaß, war sie mit einigen anderen Heilerinnen die einzige Person dort. Sie hatte Dorothea versichert, dass sie sich nicht im Gemeinschaftsbad waschen musste, sondern einfach in das Badezimmer der Krankenstation gehen sollte – ein Glück! Emma hieß die Heilerin – wie eine der Wirtstöchter aus Fandenstar, deshalb konnte sich Dorothea diesen Namen gut merken.

Emma hatte ihr auch die restliche Prozedur der Geheimhaltung erklärt: Sie hatte in die Akten die Bestätigung ihres männlichen Geschlechts geschrieben, sodass sie auch auf Verdacht nicht zwangsweise auffliegen würde. Pilea würde ihre Pakete der Nonne Maria im Tempel geben, die durch die Wasserdame Lisa besucht würde, damit diese in ihrem Krug die Pakete zur Krankenstation bringen konnte. Dort könne Dorothea sich ihre Geschenke dann abholen.

„Hör auf zu träumen!“, blaffte der Lehrer sie an – seinen Namen hatte sie vergessen. Ein Mann, der in der Bibliothek schimpfte, respektierte sie nicht. Die Menschen, die mit ihnen an diesem Ort der Stille weilten, schüttelten ebenfalls den Kopf oder rollten mit den Augen. Die allgemeine Meinung über ihn war somit also klar.

Das Prickeln wurde stärker und Dorothea legte ihre Hand auf ihren Bauch, während sie so tat, als würde sie das Gedicht vor sich abschreiben, so wie man es von ihr verlangte. Warum lenkte er sie bloß ab? Merkte er nicht, dass sie in ganz üblen Schwierigkeiten steckte? Aus irgendeinem Grund beruhigte sie sich jedoch, obwohl sie zuvor aus Wut hätte platzen können. Selig streichelte sie das unsichtbare Mal ihres Drachenreiters, das durch diese Flüssigkeit verschwunden war. Vielleicht würde das Prickeln ihr die nötige Kraft geben, das Leben hier zu meistern.

Inauguration

Die Einweisungswoche in der Akademie war die reinste Hölle gewesen. Hölle mit Großbuchstaben, dick und doppelt unterstrichen. Hölle mit H, Ö, L, L und E. Das war das erste Wort, das Dorothea perfekt zu schreiben beherrschte, seit sie mit dem Unterricht in der Amtssprache begonnen hatte. Kein Wunder.

Die meisten Lehrer waren ihr nicht unbedingt sehr freundlich gegenüber getreten, da es sich inzwischen herumgesprochen hatte, dass Lorian-shiarmagistar ihr das Eintrittsticket in die Drachenreiterakademie mit einem Spiel überlassen hatte. Wahrscheinlich fühlte sich der Großteil der Drachenreiter in der Ehre gekränkt. Dorothea seufzte und erinnerte sich unwillig an die letzten sieben Tage ihres neuen Lebens.

Das Fach „Amtssprache“ war ihr noch mit am leichtesten gefallen. Dank ihres Drachenreitergenerals hatte sie die Amtssprache und deren Grammatik bereits verstanden, bevor der Unterricht überhaupt begonnen hatte. Glücklicherweise hatte er ihr auch das Schreiben beigebracht, anderenfalls wäre auch dieses Schulfach eine Qual gewesen. Obwohl Pinar, so hieß der barsche Lehrer, dessen Namen sie ständig vergaß, sich nicht häufig gütig gegenüber Anfängern zeigte, musste er doch zugeben, dass sie schnell gelernt hatte: Ihre Schrift sah nun beinahe normal aus und Texte abschreiben und verstehen gelang ihr jetzt auch in den meisten Fällen. Das reichte, um diesen Mann mit ihr zufrieden zu stellen – logisch, er hatte nicht viel mehr von ihr erwartet.

Ganz im Gegensatz dazu stand der Gelehrte, der ihr rechnen beibringen sollte. Anfangs schien er beeindruckt von ihrer schnellen Rechengabe hinsichtlich Addieren und Subtrahieren – so nannten Gelehrte das einfache Plus- und Minusrechnen. Doch je mehr Aufgaben er ihr im Bereich des Dividierens und Multiplizierens stellte, desto eher wurde er enttäuscht. Sein enttäuschter Gesichtsausdruck hatte Dorothea immer einen Stich versetzt, doch sie konnte nichts dagegen unternehmen: Wenn man vier Äpfel hatte und zwei Personen sie untereinander aufteilen wollten, dann musste man Vier-Durch-Zwei rechnen. Das war ihr klar. Aber im praktischen Leben rechnete man doch nicht erst aus, wie viele Äpfel jedem zustehen würden – man nahm sie sich einfach und wer mehr Hunger hatte, bekam mehr und wer weniger wollte, überließ einen Teil halt dem anderen. So etwas nannten Landbewohner gerecht!

Nach dieser deprimierenden Ausbeute musste sie sich auch mit den Gesellschaftsregeln plagen. Ein Jungspund hatte die Arbeit als ihr Lehrer übernommen und war mit viel Elan an sie herangetreten – irgendwie hatte er sie ziemlich schnell mit seiner faszinierenden Art angesteckt. Seine Liebe zur Etikette wirkte sich jedoch nicht sehr positiv auf den Unterricht aus: Mit einer ungeahnten Strenge bestrafte er Haltungsfehler beim Gehen oder Stehen, Schrittfehler bei Gesellschaftstänzen und ihre Tischmanieren brachten ihn fast um. Immerhin erreichte er, dass Dorothea sich spielerisch einfach die Gesellschaftsregeln einprägte und innerhalb einer Woche für deren Umsetzung in ihrem Alltag gelobt wurde. Wenigstens etwas …

Dann waren da noch die Unterrichtsstunden über Moral. Sie waren genauso langweilig, wie der Name sagte. Ein paar Mal war sie sogar eingeschlafen, während ein Gelehrter ihr einen Vortrag über Kriegermoral hielt. Die Antworten auf dessen Fragen konnte man sich denken. Im Endeffekt war die Belegung dieses Fachs reine Zeitverschwendung gewesen.

Die Priesterlehre brach in überwältigender Dunkelheit über ihr zusammen – auf dem Land nahm man diese ganze Ich-verehre-Ismira-Religion nicht ganz so ernst, doch hier in der Stadt galt das als größter Frevel, den es gab. Kein Wunder also, dass sie absolut gar keine Ahnung von irgendwelchen Legenden hatte! Der Priester, der sich netterweise bereit erklärt hatte, ihr zu helfen, wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, als sie auf seine Frage („Du glaubst doch sicherlich auch an Ismira?“) geantwortet hatte:

„Als ob hier irgendwo eine Göttin mit überwältigender Schönheit herumschwirren würde und gute Taten vollbringt – dafür gibt’s zu viel Leid auf der Welt. Ismira ist doch bloß die Personifizierung der menschlichen Hoffnung auf eine bessere Zeit.“

Dorothea stöhnte über ihre eigene Dummheit. Hätte sie doch bloß den Mund gehalten! Nun wussten alle Bewohner des Regierungsviertels, dass sie ungebildet und noch dazu ungläubig war! Die kühlen Blicke, mit denen man sie bedacht hatte, hatten sich schon ziemlich bald entmutigend auf sie ausgewirkt und sie wünschte sich bereits, wieder nach Hause zu gehen.

„Hätte ich auf den Wächter hören sollen?“, zweifelte sie weiter und wollte sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr klemmen, nur um mitten in der Bewegung inne zu halten, weil dort kein Haar mehr war. Das versetzte ihr einen Stich. Ihr Drachenreitergeneral hatte ihr Haar so sehr geliebt und was tat sie? Bei der ersten Gelegenheit ließ sie sich scheren wie ein Schaf!

Es war Sonntagmorgen und die Sonne schien wärmend auf die Akademie hinab – erst gestern war es hier wieder richtig geschäftig geworden, als alle Novizen aus dem Familienurlaub zurückgekehrt waren. Zu allem Überfluss waren auch ihre neuen Kameraden darunter gewesen. Jeder Jahrgang wohnte in den Novizenunterkünften auf einer Etage, sodass immer ein Stockwerk für eine Novizengarde reserviert war. So hatte Dorothea im Verlauf des Vortags schon einen Blick auf die neuen Gesichter werfen können. Ausnahmslos alle waren adeliger Herkunft: Einige trugen noch protzige Kleider, während andere bereits die Novizenuniform angezogen hatten, um sich an ihr neues Leben zu gewöhnen. Dennoch strahlten sie alle eine gewisse Erhabenheit aus, die sie über jegliche niedere Klasse hinweghob. Und es waren alles Tratschtanten. Von dem Moment an, an dem die jungen Männer realisiert hatten, wer sie war, wurde heftig hinter ihrem Rücken geflüstert und mit großer Wahrscheinlichkeit auch gelästert. Das war nichts Neues für sie.

Mit langsamen, bleischweren Schritten schleppte sich Dorothea nach dem Glockenschlag, der das Ende des Frühstücks verkündete, in Richtung des großen Audienzsaals der Drachenreiterakademie zur Einweihungszeremonie. Inzwischen kannte sie die Karte des Regierungsviertels insofern auswendig, als sie sich im Tempel grob und in der Akademie sehr gut zurechtfand. Den Palast hatte sie nie betreten und auch keinerlei Informationen darüber erhalten – im Grunde wusste sie nur, dass der Thronsaal der einzige Raum war, den sie in ihrem Leben betreten würde. Wenn überhaupt.

Der breiten Masse folgend schlurfte sie unwillig in die Vorhalle, an die sich der Audienzsaal anschloss. Die Bewohner des Viertels strömten bereits auf ihre Plätze im Saal, während die Neulinge vor den großen Holztorflügeln stehen blieben. Sie schlich sich von hinten an die Gruppe und versuchte, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Es klappte recht gut. Keiner kümmerte sich um sie.

Nur langsam wanderte der große Zeiger der Uhr über dem Eingang zum Audienzsaal zur Zwölf hinauf. Um fünf Minuten vor Acht trat im Saal Stille ein. Die Novizen zitterten nervös und versuchten, ihre Uniform zu Recht zu rücken, um ehrwürdigerer auszusehen. Unter den Novizen befanden sich zwei Gruppen: Die mit den schlammig-braunen Uniformen gehörten eindeutig zur Drachenreiterakademie, die mit den weißen Tuniken zum Tempel.

Zwei Gelehrte traten an sie heran: Lorian-shiarmagistar wandte sich mit einem schelmischen Lächeln den Drachenreiternovizen zu, während sein Kollege, Seran-sorarmagistar, sich mit einem ernsten Gesicht zu den Tempelnovizen drehte. Unter den neugierigen Blicken erkannte Dorothea den Jungen, der ihr seine Drachenreiterausbildung überlassen hatte und Priester werden wollte. Wie hieß er noch gleich? Klarn oder so. Der junge Mann bemerkte sie und zwinkerte kurz – sie lächelte schwach.

„Novizen, eure Zeit ist gekommen! Betretet diese Halle, schwört den Eid und werdet Teil einer Welt, die fantastischere Abenteuer bietet als das ewige Kinderspiel der jungen Adeligen, die versuchen, einer Frau unter den Rock zu schauen.“

Die Novizen lachten teilweise laut los und Lorian fing sich einen bösen Blick von seinem Kollegen, was logisch war. Nach allem, was man wusste, würden die zukünftigen Priester ja im Zölibat leben. Was für ein Pech! Dennoch lachten auch diese.

„Wenn man euch aufruft, antwortet mit ‘Ja, ich schwöre.‘ und ihr seid Teil unserer Gemeinschaft. Ihr könnt euch auch noch in letzter Sekunde umentscheiden und hinauslaufen, das bleibt aber euch überlassen.“

Wieder Lachen. Dorothea wusste, dass hinter diesem Satz mehr stand. Lorians Augen waren ernst, während sein Mund nur belustigt zuckte. Das war eine Warnung gewesen, die keiner ernst genommen hatte. Sie schluckte.

„Folgt mir in Reih‘ und Glied genauso, wie ich euch aufrufe“, sagte Lorian dann und begann, die jungen Männer aufzurufen. Diese stellten sich ordentlich hin – die Aufstellung ging nach Familiennamen, daher befand sich Dorothea ziemlich in der Mitte der Drachenreiternovizen. Die Jungs neben ihr verzogen angewidert das Gesicht, sagten aber nichts weiter. Besser so.

Der Tempelstudienleiter tat es Lorian gleich und formte aus seinen Novizen ebenfalls eine Schlange – Klarn war relativ weit vorne, daher konnte sie nicht noch einmal einen Blick austauschen. Dann erfolgte der Einmarsch in den Audienzsaal, den Dorothea für ein gewaltiges Erlebnis hielt und wahrscheinlich für immer im Gedächtnis behalten würde.

Der Saal war riesig und an den Wänden befanden sich in ansteigender Höhe Ränge mit unzählbaren Stuhlreihen. Ganz weit oben waren Fenster, durch die jedoch nur wenig Licht und Luft in den Raum gelangte, daher verwendete man eine beträchtliche Menge an Fackeln, um den Saal zu erleuchten. Die Atmosphäre war schwer aber nicht bedrückend. Feierlich war vielleicht der richtige Ausdruck dafür.

Gegenüber der Flügeltür, am anderen Ende des Saals, hing Ismiras Symbol: Die heilige Rosette. Darunter waren ebenfalls in Stufen Sitzreihen. Dort saßen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die Höhergestellten: Priester, Drachenreiter, Adelige von Rang und die Königsfamilie. Alle Plätze waren restlos belegt.

Dorothea starrte wie die anderen Novizen die Zuschauerränge hinauf und hinab, nicht um ihre Familie zu suchen, sondern um ein Zeichen von ihrem General zu sehen. Als General und im inoffiziellen Sinne ‘Lordgeneral der Armee‘ müsste er eigentlich auf den höheren Rängen sitzen. Sie schaute also nach vorne und versuchte, zu erkennen, ob dort irgendwo ein ihr bekanntes Gesicht hervorstach. Doch das Oval des Audienzsaals war so groß, dass sie nicht gut sehen konnte, da fast alle Zuschauer im Halbdunkel saßen.

Sie erreichten das Ende des von Zuschauerrängen gesäumten Ganges und Dorothea erkannte, dass dieser Weg zu einem Platz führte, auf dem in der Mitte ein Podium stand. Selbst wenn dort jemand stehen würde, würde die erste Reihe der höheren Ränge ihn überragen, sodass man von dort alles überblicken konnte. Dorothea erkannte, dass in einer extra Loge ganz oben die Königsfamilie untergebracht war: Sie sah den massigen Schatten des Königs, dessen Krone von einer flackernden Fackel ab und zu erhellt wurde. Daneben musste sich seine Frau befinden, denn die Andeutung eines gewaltigen Schleiers war keinem anderen zu zuschreiben. Die Prinzen fand sie nicht.

Man wies den Novizenschlangen, am Ende des Gangs stehen zu bleiben, sodass niemand außer den beiden Studienleitern den Platz betrat. Lorian und Seran erklommen das Podium und wandten sich von ihren neuen Novizen ab. Dann knieten sie nieder, küssten ihre rechte Hand, ballten diese zur Faust und legten sie auf ihr Herz. Sie verneigten sich vor dem König. Einige Sekunden später erhoben sie sich, nur um eine ähnliche Verbeugung zu machen: Ismiras Ehrerbietung. Erst dann neigten sie gefasst ihre Köpfe vor den höheren Herren. Je niedriger diese auf den Rängen saßen, desto eher erwiderten sie diese Geste. Lorian bedeutete den Novizen, es ihnen gleichzutun:

„Neigt das Haupt vor der strahlenden Macht der Oberhäupter dieses Landes! Heil ihnen, die wir die Höheren nennen! Neyantear, Neyantea, Neyanmonar, Neyanmonar, Miyankerear, Miyankerear, Soireyliar, Ruireyliar, Ireyliar, Imireyliar, Sorar!“

Plötzlich fielen alle neuen Novizen auf ihre Knie und legten ihre Hände flach auf den Boden, bevor sie die Stirn auf den kalten Stein legten. Die vollkommene Unterwerfung! Dorothea brodelte innerlich, tat es den anderen aber schnell genug nach, um nicht aufzufallen. Und diese Aufzählung an Titeln! Shiarireyliar kannte sie. So hatten die anderen ihren Drachenreitergeneral angesprochen, aber den Rest … Könnte sie sich doch bloß daran erinnern! Sie war leider viel zu nervös.

Lorian unterbrach ihre Gedanken und sagte:

„Erhebt euch! Hiermit beginnen wir die Einweihungszeremonie. Seran-sorarmagistar segnet heute zwölf Novizen, ich, Lorian-shiarmagistar, segne heute zweiunddreißig Novizen. Begrüßen wir unsere neuen Mitglieder der Gemeinschaft!“

Applaus brandete auf, aber nur von den Zuschauerrängen. Die höheren Ränge blieben still, keine Regung verriet die Gedanken der Höheren. Dorothea erhob sich mit den anderen Novizen und schaute die höheren Ränge an. Ireyliar war gesagt worden. Also mussten dort auch einfache Generäle sitzen! Mit zusammengekniffenen Augen tastete sie Zentimeter für Zentimeter die Plätze ab, während Seran zu sprechen begann:

„Wendet euren Novizen das Gesicht zu!“

Alle drehten sich zur Seite, um den jeweils anderen Novizen ins Angesicht zu blicken. Die beiden Schlangen standen jeweils an einer Seite des mittleren Gangs – Dorothea verlor ihre Chance, nach ihrem Geliebten zu suchen.

„Das sind von nun an eure Mitschüler. Ihr gehört verschiedenen Disziplinen an, doch ihr seid vom selben Jahr! Ihr wohnt im selben Stockwerk in den Novizenunterkünften, esst das gleiche Essen und lernt den gleichen Stoff. Ihr seid Novizen – als solche sollt ihr euch verhalten! Werdet eine Gemeinschaft, die nicht auf Status beruht, sondern auf Freundschaft und Respekt!“

Applaus brandete auf und die Novizen neigten den Kopf, um ihr Einverständnis anzudeuten. Seran sprach weiter:

„Euer Ziel in dieser Akademie ist die Erlangung von Wissen und vielleicht für einige Weisheit. Euer Ziel in dieser Akademie ist die Überschreitung der Grenzen, die euch Körper und Geist auferlegen. Euer Ziel in dieser Akademie ist das Beschützen des Wohls der Allgemeinheit.“

Applaus.

„Novizen! Einige von euch, werden vor Beendigung eines Monats aus der Ausbildung ausscheiden, weil sie verstehen, dass vieles außerhalb des eigenen Machtbereichs steht. Andere von euch sind vielleicht klug genug, um diese Ausbildung zu überstehen. Es mag sogar sein, dass es unter euch ein Wunderkind gibt, das sich durch das Leben hier durchbeißt, obwohl es alles hier schwer hat, um im Nachhinein als gefeierter Gelehrter ins Leben zurückzugehen. Aber behaltet dabei immer Folgendes in eurem Herzen: ‘Können ist das Ergebnis von harter Arbeit und Talent gemischt mit Willenskraft.‘. Wer eines davon nicht besitzt, sollte sich schleunigst nach einer neuen Beschäftigung umsehen.“

Kein Applaus. Totenstille. Die Novizen starrten entsetzt zu Seran-sorarmagistar auf. Lorian neben ihm grinste aus vollem Herzen, bevor er das Sprechen übernahm:

„So viel zur Vorgeschichte. Kommen wir zur Einweihung. Novizen! Ihr werdet vor den Höheren ein Gelübde ablegen, einen Schwur besiegeln und somit rechtlich in die jeweilige Disziplin aufgenommen werden. Die erste Phase der Ausbildung ist die A-Ausbildung – das Basiswissen und Basiskönnen steht hier im Vordergrund, egal welcher Disziplin ihr angehört. Erst in der B-Ausbildung werden allen von euch Mentoren zugesprochen – es gibt aber auch die Möglichkeit, bereits jetzt einen Mentor zu erhalten, doch diese Entscheidung liegt allein bei den jeweiligen Personen. Kommt nach vorne auf das Podium, um euch vor den Höheren einweihen zu lassen – ich rufe euch auf.“

Wieder ergriff Nervosität die Reihen der Novizen und man trat ängstlich von einem Fuß auf den anderen. Besonders die ersten Beiden waren plötzlich furchtbar blass.

„Anderssohn Kuon – Tempelnovize. Adrianssohn Hem – Drachenreiternovize“, rief Lorian die beiden Namen auf und die zwei hasteten stolpernd ans Podium heran, wo sie stehen blieben. Erst segnete man Kuon, dafür musste er zwischen Seran und Lorian aufs Podium klettern und dort niederknien. Der Schwur und das Gelübde waren im Grunde nichts Atemberaubendes. Das Einzige, was man sagen musste, war: ‘Ja, ich schwöre.‘. Sobald der Novize sich aufgerichtet hatte, fragte der jeweilige Disziplinherr, ob man sich seiner annehmen würde. Doch keiner erklärte sich bereit, in der A-Ausbildung ein Novizenlord zu werden.

Die Reihen wanderten immer weiter auf den Platz zu, während die Novizen aufrückten, weil die vorigen aufgerufen wurden. Die Eingeweihten stellten sich wieder hinten an ihre Schlange an. Irgendwann war auch Klarn an der Reihe, der vor Angst stolperte und hinfiel, sich jedoch aufraffte und dann tapfer die Zeremonie überstand. Dorotheas Knie wurden schwach und ihr Magen rumorte unheilvoll – das käme sicherlich gut an! Ganz vorne in der ersten Position auf den Aufruf mit einem Würgen zu antworten und sich vor allen versammelten Menschen zu übergeben.

Die Reihe der Tempelnovizen war schon eine ganze Weile durch, als Dorothea die zweite Stelle erreichte. Kein Wunder: Es waren nur zwölf, während die Drachenreiternovizen zweiunddreißig umfassten! Der Junge vor ihr trug die Einweihung mit Fassung und stellte sich brav hinten an, nachdem ihn keiner als Novizen persönlich unterstützen wollte. Keiner hatte sich als Mentor gemeldet. Das allein war jedoch keine ungewöhnliche Sache. Ein Novizenlord sah seine Mentoren-Aufgabe im Allgemeinen als Qual und nervige Arbeit an.

„Luiranssohn Alan“, rief Lorian sie auf und sein schelmisches Grinsen kehrte zurück – obwohl er zuvor noch ernst gewesen war, musste er jetzt grinsen und sie verunsichern! Ihre Knie zitterten, als sie sich den Rängen der Höheren wieder zuwandte und mit dem Blick auf das Podium und wackeligen Beinen unendlich langsam den Platz überquerte. Alle Aufmerksamkeit ruhte auf ihr und sie spürte die Neugierde und die Feindseligkeit, als man herausbekam, wer sie war. Murmeln durchlief die Ränge und selbst die Höheren richteten sich stellenweise auf. Innerlich verfluchte Dorothea Lorian. Hatte er andere Novizen vor ihr in ähnliche Situationen gebracht oder war sie die erste, die ihr Eintrittsticket per Glücksspiel gewonnen hatte?

Langsam erklomm sie die Stufen des Podiums und stellte sich zwischen den beiden Studienleitern auf. Erst dann richtete sie den Blick von ihren Füßen auf die Ränge über sich. Alle starrten sie an – ausnahmslos alle. Sie holte tief Luft. Lorian faselte. Sie warf sich hastig auf den Steinboden. Seran faselte. Sie legte das Gelübde ab. Lorian sang. Seran sang. Ihre Augen richteten sich vom Boden auf die Höheren und suchten die nun deutlicheren Gesichter ab. Sie schwor. Man klatschte verhalten. Seran segnete sie. Lorian segnete sie. Sie erhob sich. Und fand ihn.

„Möchte einer der Höheren der Mentor von Alan Luiranssohn werden?“

In der Reihe unter der königlichen Loge neben dem Großgeneral – nach dessen Thron zu schließen – saß der junge Drachenreitergeneral. Beinahe ganz oben. Ihre Tante hatte Recht gehabt! Er war ein verdammt hohes Tier! Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass keiner sich regte. Lorian grinste weiterhin schelmisch und sagte auf die nicht vorhandene Begeisterung schließlich nur:

„Willkommen in der Gemeinschaft, Alan Luiranssohn.“

Dorothea schluckte und wandte sich ganz langsam ab in der Gewissheit, dass er sie beobachtete. Er hatte sie nicht erkannt. Wie auch? Sie verließ das Podium durchmaß den Platz und die wenigen Meter des Gangs bis zum Ende der Drachenreiternovizen und stellte sich an. Dann tat sie so, als würde die Einweihungszeremonie der anderen sie interessieren und schaute dorthin, obwohl ihre Augen auf seinem Gesicht ruhten. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch den anderen Novizen, wenn überhaupt. Er sah gelangweilt aus, falls Dorothea seinen starren, verschlossenen Gesichtsausdruck richtig deutete. Ihn hier zu sehen, rief in Dorothea eine alte Zweigespaltenheit hervor. Auf der einen Seite Enttäuschung und sogar ein bisschen Hass und auf der anderen Seite Liebe und Treue, sowie Freude und Stolz.

Er sah prächtig aus in seinen feinen Hofkleidern. Sie schimmerten im Fackelschein grünlich und passten sich wunderbar seiner schlanken Körperform an. Die langen Haare hatte er im Nacken zusammengebunden. Obwohl er dadurch strenger wirkte, konnte Dorothea nicht anders, sie musste ihn einfach anschmachten. Irgendwie verabscheute sie ihn und sich selbst dafür.
 

Vlaindar wusste nicht recht, warum seine Anwesenheit bei der Einweihungszeremonie der neuen Novizen so wichtig war. Am liebsten hätte er sich jedes Jahr davor gedrückt, doch Pflicht war nun einmal Pflicht und er erfüllte sie stets mit Perfektion.

Seine edelsten Hofkleider hatte er hervorgeholt und sich zurechtgemacht wie ein feiner Herr. Obwohl er gerne allen Schmuck und jeden Stoff gegen seine Drachenreiteruniform ausgetauscht hätte, musste er sich für die lange Dauer dieser Zeremonie mit den zwickenden, ungemütlichen Kleidern des Adels herumschlagen. Es wurde nur noch schlimmer: Schön, dass es zweiunddreißig neue Novizen gab, die Drachenreiter werden wollten, schlecht, dass das die Zeremonie ungefähr eine Stunde in die Länge zog, wenn man die Tempelnovizen dazurechnete.

Zu allem Überfluss war die Zeremonie natürlich nur für Betroffene spannend: Novizen und deren Familien. Kein anderer war gerne hier. Ruiyan zappelte bereits die ganze Zeit mit seinen eingeschlafenen Beinen umher, Palinor rutschte unruhig neben Vlaindar herum, um eine gemütlichere Sitzposition zu erlangen und er selbst langweilte sich zu Tode. Und das taten sie alle auf so ruhige, elegante Art und Weise, dass man es ihnen nicht ansah. Er würde sich später wieder mit begeisterten Adeligen beschäftigen müssen, die ihn ob seiner Disziplin bewundert anstarrten – wie würde er sie dieses Mal abwimmeln?

‘Von wegen Disziplin‘, schnaufte Hairima in seine Gedanken und er unterdrückte ein Schmunzeln. Die Reiter von grünen Drachen galten als diszipliniert, aufmerksam, selbstbeherrscht und gefasst. Manchmal stimmte das bei ihm jedoch nicht im Geringsten.

Ein Raunen ging durch die Zuschauerränge und die Sitzreihen der Höheren, als ein schmächtiger junger Mann vortrat – Alan Luiranssohn. Das war der Novize, über den alle heimlich sprachen und der seine Zugangsbescheinigung durch ein Glücksspiel mit Lorian-shiarmagistar gewonnen hatte. Irgendwie fand Vlaindar das lustig. Das hatte er zwar nicht öffentlich gezeigt, doch der Rest seiner Garde hatte genug darüber gelacht, um das Fehlen seiner Belustigung zu verschmerzen.

Der Junge schien genauso nervös wie die anderen auch, doch seine Augen wanderten ununterbrochen über die Ränge der Höheren. Geistig war er ebenfalls leicht abwesend, denn er antwortete immer mit einer kleinen Verzögerung – suchte er nach etwas oder jemandem?

Vlaindar beugte sich leicht vor, um einen genaueren Blick auf den Jungen zu werfen, während dieser sich auf den Boden kauerte. Beinahe hätte die Dreistigkeit dieses Bengels seinen Sitznachbarn zum Lachen gebracht: Ruiyan hatte bemerkt, dass Alan alles andere als aufmerksam seiner Einweihung folgte und unter seinen Wimpern hervorlugend weiter Ausschau hielt. Ruiyan unterdrückte das Lachen, bebte jedoch leicht. Vlaindars Mundwinkel zuckten ob dieser Reaktion und er spürte, wie Palinor ihm einen Ellbogen in die Seite stieß. Die Drei schauten weiter zu dem Jungen hinab, der gerade seinen Segen von Lorian erhalten hatte und sich erhob.

Vlaindar ließ sich ganz langsam zurücksinken und in dem Moment, in dem er seine Stuhllehne in seinem Rücken fühlte, begegnete der Blick des Jungen seinem. Sie hielten sich fest und Alan schien es als nicht unhöflich zu empfinden, zu starren, denn er gab in diesem Blickduell keineswegs nach, wenn er dieses überhaupt registrierte. Wahrscheinlich konnte man von da unten nicht so viel sehen wie von Vlaindars Platz aus. Vlaindar behielt seine nichtssagende Miene bei.

Ein kurzes Runzeln von Seiten Alans und der junge Mann drehte sich um, nachdem auch hier niemand Mentor werden wollte und verließ das Podium. Vlaindar folgte erst der Gestalt des Jungen und richtete dann seinen Blick auf den nächsten Novizen, immer noch über Alan nachdenkend. Palinor stieß ihm drucksend den Ellbogen in die Seite und die beiden schmunzelten im Gleichklang, bevor das jeweilige Lächeln so schnell verschwand, wie es aufgekommen war.

‘Irgendwie war das Bürschchen ja ganz niedlich‘, meinte Hairima zu ihm und Vlaindar wandte sich seiner Drachendame zu.

‘Vielleicht nicht niedlich aber interessant …'

Meditation

Nach der Einweihungszeremonie waren die vierundvierzig Novizen schweigend zurück zu den Unterkünften gegangen – sie alle waren noch ganz mitgenommen von der feierlichen Atmosphäre und dem Rausch der Aufnahme in die Akademie. Jetzt standen sie in kleinen Gruppen im Flur ihres Stockwerks und begannen langsam, sich füreinander aufzuwärmen und die Bedrückung fortzureden, sodass leises Gemurmel entstand. Man hörte allerlei Dinge.

„Meine Mutter gehört zu einem hohen Adelsgeschlecht aus Ivenstar“, protzte einer und erhielt daraufhin natürlich äußerste Bewunderung unter den jungen Männern.

„Aus Marnaim? Dem Adelsbezirk? Du hast es gut! Wie hat dein Vater sie bekommen?“

„Es war eine Vernunftehe – meine Mutter hatte eine große Mitgift und die Familie meines Vaters brauchte außerdem die politische Unterstützung einer hohen Familie. Weil meine Mutter das einzige Kind ihrer Familie war, brauchte diese eben einen Erben – da bot sich mein Vater an, der nur der zweite Sohn war.“

„Oh!“, staunten die jungen Männer. In ihren Kreisen galten solche Hochzeiten nicht als Frevel und waren eine der alltäglichsten Begebenheiten. Kaum ein Ehepaar liebte sich. In den meisten Fällen bequemte sich die Hochzeit und man akzeptierte die Konditionen und Vorteile. In der Öffentlichkeit darüber zu sprechen, fand Dorothea geschmacklos gegenüber den Betroffenen, aber anscheinend war auch das nicht gegen die Etikette. Sie stand ein wenig abseits von allen Adeligen und hörte hier und da in die Gespräche hinein, um etwas mehr über ihre Umwelt zu erfahren, damit sie wusste, mit wem sie die nächsten Jahre zusammen sein musste. Innerlich bangte sie natürlich um ihren eigenen Status in dieser Herrengesellschaft: Sie sah ziemlich feminin aus, kam aus einem niederen Stand und galt als ungebildet und ungläubig. Jeder redete hinter ihrem Rücken über sie, daher war sie sich relativ sicher, dass keiner ihre Anwesenheit billigte. Dennoch hoffte sie, dass vielleicht ein Junge Lust bekam, mit ihr zu reden. Wenigstens Klarn könnte doch auf ein Wort vorbeikommen, doch der junge Mann redete ausgelassen mit seinen Novizenkameraden aus dem Tempel. Unter ihnen gab es keine Schwierigkeiten hinsichtlich der Stände der Novizen.

„Ich habe gehört, der Lehrer für Schwertkampf ist sehr kriegserfahren. Er wird mir sicherlich mehr beibringen können, als mein Schwertmeister zu Hause“, ertönte eine Stimme aus einer anderen Gruppe von Drachenreiternovizen. Um den jungen Mann herum standen noch vier andere Novizen und nickten zustimmend.

„Er soll zwar kein Drachenreiter sein, aber als Soldat eine hohe Position inne haben“, warf einer ein.

„Immerhin! Ich würde es als abwertend empfinden, wenn mein Lehrer eine niedrigere Position bekleidet als mein Pferd zuhause im Stall“, lachte ein weiterer Novize dazwischen und man kicherte. Der vierte Bursche mischte sich ebenfalls aktiv in das Gespräch ein:

„Ich habe seit meinem zehnten Lebensjahr ausführlich trainiert. Jeden Tag eine Stunde und das sechs Jahre lang – glaubt ihr, es ist nötig, das Fach noch zu belegen?“

„Mirar, überschätze dich nicht! Vielleicht hat der Mann noch einige Tricks auf Lager, die dir dein Lehrmeister nicht zeigen konnte“, antwortete der Erste.

„Ach, sagst gerade du, Belkan, der seit seinem achten Lebensjahr vom Kämpfen förmlich lebt“, schnaubte Mirar zurück und die fünf Novizen lachten. Dorothea spürte, wie sie blass wurde – das war alles andere als witzig. Wenn das stimmte, was die jungen Männer sagten, dann hatte sie ein nicht minderwertiges Problem. Sie war in gewissermaßen ein blutiger Anfänger.

„Habt ihr die Tochter von Lord Emarn gesehen? Athala heißt sie“, drängte sich eine andere Stimme in den Vordergrund und Dorothea wandte sich dieser Gruppe zu – es waren ebenfalls fünf Novizen.

„Ein Wunderwerk der Natur – glaubt ihr, es ist möglich Kinderspielchen mit ihr zu spielen?“, fragte ein zweiter Novize und verwies damit auf Lorians Worte hinsichtlich des Zeitvertreibs junger Adeliger. Man kicherte.

„Athala ist nichts im Vergleich zu Grunja. Habt ihr die Brüste gesehen? Das sind vielleicht gute Argumente, das sag ich euch und ich spreche aus Erfahrung, meine Herren!“, warf der dritte Novize ein und gehässiges Lachen folgte. Dorothea wandte sich angeekelt ab und schaute zu einer etwas kleineren Novizengruppe hinüber. Sie waren ruhiger und wirkten dadurch erwachsener als die überheblichen Adeligen, die sie zuvor beobachtet hatte. Die Gruppe stand ganz in ihrer Nähe und unterhielt sich sachlich.

„Ionandar heißt du? Woher kommt der Name?“, fragte der erste der drei Novizen.

„Meine Mutter mochte den Namen. Angeblich ist es ein Name aus einer Drachenreiterlegende“, antwortete der Angesprochene. Es war ein schlanker, großer, junger Mann mit dunkelbraunen Augen. Seine braunen Haare waren ebenso kurz geschoren wie bei jedem anderen Novizen auch. Er trug auch die Uniform, aber in einer sehr ehrwürdig aussehenden Art und Weise.

„Ich habe mich schon gefragt. Normalerweise gibt man Kindern ja einen ersten Namen und wenn sie dann Drachenreiter werden, erhalten sie einen Berufsnamen. Wirst du deinen Namen ändern?“, erkundigte sich der Erste.

„Ich mag den Namen eigentlich. Kommt darauf an, ob er tatsächlich so ehrwürdig ist, wie meine Mutter behauptet!“, antwortete Ionandar und lächelte. Der dritte Novize wurde auf Dorothea aufmerksam, die wahrscheinlich ziemlich unverschämt gestarrt hatte. Doch er lächelte und meinte:

„Komm doch zu uns … Alan heißt du, nicht wahr?“

Sie wunderte sich, dass überhaupt einer mit ihr redete. Tatsächlich brachen die Gespräche für eine Weile ab und die Novizen sahen sich nach ihr um. Beinahe sofort flüsterte man pikiert über diesen Aufruf, doch schon bald gingen die Gehässigkeiten wieder in normale Gespräche über. Dorothea zögerte kurz und ging dann vorsichtig zu der dreiköpfigen Gruppe hinüber. Sie lächelte schwach und sagte:

„Stört es euch nicht?“

„Ach was, lass die anderen doch reden!“, erwiderte der, der sie gerufen hatte und Ionandar nickte zustimmend. Der erste Novize jedoch verzog missbilligend das Gesicht und meinte knapp:

„Ich sollte vielleicht einmal nach meinem Kumpel Ausschau halten.“

Dann verschwand er zwischen den Gruppen und gesellte sich schließlich zu einer anderen, um sich dort einzuklinken. Dorothea schaute entschuldigend zu den beiden anderen Novizen, doch die zuckten mit den Schultern.

„Es ist nicht unser Problem, wenn er sich zu ehrwürdig fühlt, um sich mit dir abzugeben“, beruhigte der Rufer sie. Sie schaute zu ihm auf, denn auch er war größer als sie. Seine blonden Haare waren ebenfalls geschoren, doch die helle Farbe schien immer noch deutlich hervor. Er hatte ein spitzes Gesicht und große Augen – alles in allem sah er ziemlich gut aus. Seine grünen Augen leuchteten klug auf und er hatte ein angenehmes Lächeln, als er sich vorstellte:

„Ich bin Lamaran und das ist Ionandar. Wir haben beide das Glück aus einer ärmlicheren Adelsfamilie mit vielen Söhnen zu kommen und deswegen in diese Ausbildung abgeschoben zu werden.“

„Ich bin Alan Luiranssohn. Ich bin nicht adelig, weil ich aus einer einfachen Handwerksfamilie komme – aus Sekain, um genau zu sein“, antwortete sie und lächelte freundlich. Die Beiden waren also zu viel in ihrer Familie: Töchter konnte man verheiraten, wenn man ihnen genug an Mitgift mitgab. Der erste Sohn war der Erbe der Familie, der zweite der Reservemann hinsichtlich Familienfortführung, falls dem ersten etwas zustoßen sollte. Doch alle Söhne, die danach kamen, bildeten nur ein Problem: Man musste ihnen ein gleichwertiges Erbe zuteilen, um sie zufrieden zu stellen und dem Gesetz gerecht zu werden. Das stellte aber für viele Familien ein Problem dar, also schob man die überflüssigen Söhne von Herzen gerne in Tempel ab – Ionandar und Lamaran waren glücklicherweise in die Drachenreiterakademie gebracht worden. Kein Wunder also, dass sie sich ihr gegenüber nicht so feindselig verhielten.

„Du hast also per Glücksspiel einen Zulassungsschein von Lorian-shiarmagistar erhalten?“, fragte Ionandar interessiert und sie nickte.

„Eigentlich dachten alle Teilnehmer, das Ganze sei nur ein dummer Scherz von seiner Seite. Keiner hat das wirklich ernst genommen, aber irgendwie habe ich gewonnen und wurde schließlich in die Akademie eingeladen“, erklärte sie aufrichtig und Ionandar schnalzte.

„Ein Glück für dich! Meine Familie musste ewig lang mit irgendwelchen Offiziellen debattieren, um mir eine Empfehlung zu besorgen – ich bin ziemlich froh, dass sie es geschafft haben. Stell dir bloß einmal vor, wir wären jetzt Tempelnovizen!“, mischte sich Lamaran ein und schmunzelte, dann fügte er hinzu:

„Ach, ich komme übrigens aus Mornien, der Hauptstadt des Kartum-Bezirks. Mein Vater ist dort General der Armeesoldaten, deswegen dachte man nicht, dass ich Magie beherrschen könnte. Daher war das alles so schwierig mit der Zulassung.“

„Nur, weil dein Vater Soldat ist und keinen Beruf in Verbindung mit Magie ausführt?“

„Ja, seltsam oder? Auf der anderen Seite verschenken sie Zulassungsbescheinigungen unterm Volk, ohne sich nach dem magischen Potential desjenigen zu erkundigen“, lachte Lamaran. Er nahm diese Sache nicht persönlich, deswegen lachte Dorothea mit und meinte dann:

„Was soll ich sagen? Ich bin der Sohn eines Wirts, der auch sein eigenes Bier braut. Das ist nicht ganz so ehrwürdig wie Armeegeneral! Ionandar … Was ist dein Vater von Beruf?“

„Meiner? Der ist der General der Schattenreitergarde von Mornien. Daher kenne ich auch Lamaran – manchmal hat sich meine Familie mit seiner getroffen.“

„Das ist aber eine ganz schön hohe Position! Musste deine Familie auch für deine Zulassung plädieren?“

„Nein, glücklicherweise kennt man meinen Vater hier und ist der Meinung, dass meine Abstammung ausreicht, um eine Legitimierung heraufzubeschwören. Ich wette, die erwarten von mir, dass ich der nächste General der Schattengarde von Mornien werde!“, lachte Ionandar bloß und Lamaran klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

„Ihr seid ziemlich gute Freunde, oder?“, erkundigte sich Dorothea, als sie diese Geste sah und die Beiden sahen sich an. Ionandar antwortete schließlich.

„Wenn du es als ‘gut befreundet‘ bezeichnest, wenn man sich gegenseitig von seinen Leiden erzählt und sich gegenseitig Leid tut, dann ja.“

Lamaran gluckste und die beiden Jungen lachten schließlich. Dorothea fiel mit ein und eine Weile lachten sie zusammen. Schließlich meinte Lamaran:

„Ich kann gar nicht fassen, dass wir morgen schon mit dem Unterricht anfangen! Gerade ich, der keine Ahnung von irgendwelchen Gesellschaftsregeln oder von Geschichte hat!“

Dorothea schnaubte spielerisch und lenkte so die Aufmerksamkeit der beiden auf sich:

„Soll ich dir erzählen, was ich die letzte Woche durchgemacht habe? Irgendwelche ungeduldigen Lehrer sind an mir verzweifelt, während sie mir beizubringen versucht haben, wie ich richtig gehen, stehen oder tanzen soll! Außerdem musste ich noch speziellen Unterricht in Morallehre, Rechnen und Amtssprache überstehen! Du weißt gar nicht, was ich alles nicht kann! Ich habe in meinem Leben noch nie einen Bogen angefasst, geschweige denn etwas anderes als ein Holzschwert – ich werde wohl jämmerlich versagen.“

„Kannst du reiten?“, fragte Ionandar lächelnd und sie nickte.

„Dann kannst du doch schon ziemlich viel! Rechnen, Sprechen, Schreiben, Lesen, Reiten, Gehen, Stehen, Tanzen, Essen sicherlich auch … Das macht schon eine Menge aus!“, versuchte er, sie aufzumuntern, doch sie lehnte diese Geste mit einer wegwerfenden Handbewegung ab:

„Nett gemeint, aber nutzlos! Ihr seid doch sicherlich besser als ich. Vielleicht wäre es besser, wenn ihr euch nicht mit mir aufhaltet …“

„Rede doch keinen Unsinn! Wir sind auch nicht so viel besser als du. Ich habe mich lang genug davor gedrückt, das Schwert zu ergreifen, weil Bücher mich eher interessiert haben“, meinte Ionandar und Lamaran zuckte mit den Achseln.

„Ernsthaft, außerdem kommt in der B-Ausbildung ja noch Magie dazu. Spätestens da hinke ich ebenfalls hinterher. Ich habe höchstens zwei Jahre Erfahrung in Sachen Schwertkampf. Bogenschießen und Kampfsport kann ich auch nicht!“, fügte er hinzu und Ionandar stimmte ihm zu:

„Was soll ich denn sagen? Ich habe vor einem Jahr das Schwert das erste Mal hochgehoben! Als würde ich mit dem Bogen oder mit dem Faustkampf besser klar kommen – ich habe mich auch noch nie aus Spaß geprügelt oder so. Gesellschaftsregeln, Moral- und Priesterlehre werden wohl die Fächer, mit denen ich am ehesten klarkomme! Reiten, Rechnen und Amtssprache werden sowieso nicht so stark gezählt. Zu Geschichte kann ich nichts sagen.“

„Immerhin bin ich dann nicht ganz so auffällig! Ich habe mit dem Holzschwert gespielt und noch nie mit dem Bogen. Aber mit den Leuten aus meinem Dorf habe ich immer Kämpfen gespielt! Und den Rest habe ich letzte Woche schon angelernt … Irgendwie beruhigt mich das“, meinte Dorothea und lächelte schon erleichterterer. Die Drei redeten noch eine ganze Weile über die Unterrichtsfächer und die Lehrer, die Dorothea unterrichtet hatten – tatsächlich stellten sie auch Überlegungen zu den Unterrichtsinhalten an.

Irgendwann zerstreuten sich die Novizen aber langsam. Einige wollten sich noch auf den nächsten Tag vorbereiten und machten sich daher auf den Weg in ihre Zimmer. Lamaran hatte vor, noch ein wenig in den Büchern zu stöbern, um wenigstens etwas Geschichte zu verstehen. Ionandar war erst am späten Abend des Vortags angekommen und hatte sich daher noch nicht gut eingerichtet. Er wollte das ziemlich schnell nachholen und sich dann in der Akademie umschauen. Dorothea entschloss sich, ein Bad auf der Krankenstation zu nehmen und wollte wie Lamaran hinterher noch ein wenig durch die Schulbücher schnüffeln. Also verabschiedeten sie sich voneinander.

„Bis Morgen in alter Frische! Unterrichtsbeginn um acht Uhr in der Tempeleingangshalle! Nicht vergessen, als erstes steht Priesterlehre an“, erinnerte Ionandar sie und Lamaran meinte:

„Wenigstens müssen wir erst Übermorgen mit den öffentlichen Diensten anfangen … Frühstück um halb Sieben?“

„Vorschlag angenommen!“, stimmte Dorothea zu und die Drei trennten sich – Lamaran und sie gingen eine Weile durch das Stockwerk und verabschiedeten sich vor ihren Zimmern, während Ionandar ihnen vorauseilte.
 

Vlaindar saß mit seiner Garde in Palinors Wohnung um den runden Esstisch herum. Keoran trank seinen selbst mitgebrachten Tee, Famiran und Mikanor diskutierten über die Einweihungszeremonie und die anwesenden Frauen, Palinor las die Tageszeitung und Vlaindar selbst rauchte seine Pfeife. Er hielt den Holm in seiner linken Hand und kaute auf dem Mundstück der schwarzen Pfeife umher – ab und zu blies er den wohlriechenden Rauch in den Raum.

„Morgen beginnt das neue Semester“, meinte Sedara, Palinors Frau. Sie nähte ein kleines Kleidchen, das einer ihrer Töchter gehörte. Rebecca und Finya, wie die Beiden hießen, spielten bei den Nachbarn und waren daher nicht zu Hause. Sedara nutzte die Ruhepause dazu, ihre stark mitgenommenen Stoffe wieder in Stand zu setzen, denn die Drachenreiter bedienen konnte sie nicht – sie wusste, dass alle immer höflich ablehnten, weil ihr Essen nie gut schmeckte. Selbst Tee war eine eigenwillige Angelegenheit, daher machte Palinor meistens das Essen.

Die Drachenreiter sahen auf, einige überlegend, andere schelmisch. Dank Vlaindars geheimnisvoller Bestrafung mussten sie am nächsten Tag in der neuen A-Ausbildung die Priesterlehre mitmachen und einige öffentliche Dienste von den neuen Novizen übernehmen. Vlaindar hatte ihnen immer noch nicht erklärt, warum er bestraft worden war, daher wunderten sich alle über eine solche Degradierung der Höheren. Famiran erwiderte:

„Und drei Wochen nichts tun: Priesterlehre der A-Ausbildung, Tempelarbeit, Mitarbeit bei den Reinigungstagen und Vlaindar-shiarireyliar darf noch in der Bibliothek aushelfen. Keiner von uns darf in diesen drei Wochen seinen Drachen besteigen oder einen Auftrag ausführen!“

„Wird es nicht langsam einmal Zeit, dass Ihr uns erzählt, wofür das Ganze?“, fragte Mikanor und übernahm damit die Rolle, die er die Tage zuvor bereits eingenommen hatte, als das Gespräch auf dieses Thema kam. Vlaindar seufzte. Natürlich hatten sie das Recht dazu, aber irgendwie druckste er schon die ganze Zeit herum. Er würde ihnen sein größtes Geheimnis anvertrauen und das würde für die nächsten Tage Spottthema Nummer eins werden – besonders bei Famiran und Mikanor.

„Kommt schon“, drängte Famiran und schaute mit Hundeaugen zu seinem General auf. Vlaindar riss sich zusammen und meinte plötzlich:

„Fein, ich erkläre es euch.“

Sofort waren alle Blicke auf ihn gerichtet und alle anderen Aktivitäten vergessen. Aufregung erfasste seine Garde. Vlaindar seufzte und saugte an seiner Pfeife, bevor er kleinlaut zu sprechen begann:

„Ich habe gegen das königliche Gesetz verstoßen.“

„IHR?!“, rief Mikanor ungläubig aus und drückte damit die Meinung seiner Gardemitglieder aus, aber Vlaindar nickte nur. Palinor legte die Tageszeitung auf den Tisch und beugte sich vor, bevor er schließlich fragte:

„Was habt Ihr gemacht?“

Vlaindar schluckte den Kloß aus seinem Hals weg und versuchte, seine Augen auf einen Punkt zu konzentrieren, als er bemerkte, dass diese ziellos durch den Raum wanderten. Keoran räusperte sich und erkundigte sich ebenfalls nach dem Grund. Vlaindar gab nach.

„Ich habe meinen Zölibat gebrochen.“

Größer hätte der Stoß vor den Kopf seiner Gardemitglieder nicht sein können. Keoran verschluckte sich an seinem Tee und hustete, Famiran stieß einen langgezogenen Pfiff aus, Palinor keuchte entsetzt und Mikanor seufzte leise. Sedara starrte Vlaindar nur an und meinte schließlich:

„Ich gehe Rebecca und Finya besuchen!“

Damit verschwand sie und ließ den Drachenreitern elegant ihre Ruhe, die sie zur Besprechung der Lage dringend nötig hatten. Palinor ließ sich sprachlos gegen seine Stuhllehne zurücksinken, während er geistesverloren Keoran auf den Rücken klopfte, der schon rot angelaufen war.

„Wie das?“, fragte Mikanor und war plötzlich Feuer und Flamme. Famiran fing sich auch ziemlich schnell wieder ein und nickte eifrig.

„Na ja, ich habe meinen Zölibat gebrochen, indem ich … und eine Frau …“, stotterte Vlaindar und sog vor Nervosität kräftig an seiner Pfeife. Famiran half ihm aus:

„Ihr seid eine Verbindung mit einer Frau eingegangen?“

Vlaindar nickte und knabberte wieder an seiner Pfeife. Mikanor und Famiran tauschten Blicke aus, jeder mit einem schelmischen Glitzern in den Augen. Palinor unterbrach dieses Spiel und fragte:

„Wann, wo und warum?“

Die Knappheit seiner Frage erstaunte Vlaindar nicht und tatsächlich war er seinem Vize-General dafür auch sehr dankbar, denn er wollte nicht so viel darüber sprechen. Daher antwortete er:

„Auf der Rückreise in Fandenstar … Ich weiß auch nicht warum. Sie gefiel mir einfach.“

Mikanor schnalzte mit der Zunge und beugte sich dann verschwörerisch vor:

„Kennen wir die Frau denn?“

Vlaindar nickte bloß und die Drachenreiter sahen sich untereinander an, bevor Keoran den Mut dazu fasste, sich nach der Person zu erkundigen. Vlaindar schwieg, weil er dachte, es sei besser nicht darüber zu sprechen – er würde sie in Gefahr bringen, wenn einer seiner Drachenreiter nicht sehr vertrauenswürdig war. Also entschloss er sich stattdessen dazu, ihnen die Wahrheit über seine Situation zu sagen:

„Der König sucht nach ihr, natürlich. Er will sie wegen Verführung als Hochverräterin anklagen … wegen Verführung an einem höchstloyalen Vasallen. Wenn herauskommt, wer sie ist, dann muss sie vielleicht sterben, daher …“

„Ihr wollt es uns nicht genauer sagen?“, erriet Palinor verständnisvoll, doch Keoran begehrte plötzlich auf:

„Keiner von uns würde sie verraten! Vertraut uns! Wir können sie vielleicht beschützen oder ihr geheime Nachrichten zukommen lassen oder …“

Mikanor hörte das und unterbrach Keoran schließlich:

„Vorausgesetzt, Ihr wollt sie wiedersehen und dass sie keine einfache Dirne ist.“

„Ist sie nicht, sonst hätte ich nicht meinen Zölibat für sie gebrochen“, empörte sich Vlaindar sofort über diesen Gedanken. Mikanor lachte und meinte:

„Ihr mögt sie?“

„Ich …“

„Versteckt Euch nicht, das passiert jedem Mann einmal. Also, wer ist sie?“

Vlaindar legte seine linke Hand über sein Gesicht und ließ die andere mit seiner Pfeife auf den Tisch sinken. Er schämte sich etwas und wollte am liebsten nicht sprechen. Famiran platzte plötzlich förmlich vor Lachen. Als der Mann sich gefasst hatte, sagte er:

„Dann rate ich halt! Wenn sie keine Dirne war, dann gehörte sie nicht zu den Prostituierten … Ich glaube nicht, dass sie eine der mittelalten bis älteren Frauen im Dorf war.“

„Gehörte sie … zufällig … zu den Wirtstöchtern?“, mischte sich Mikanor ein. Vlaindar schüttelte den Kopf und erwiderte:

„Ist schon gut, hört auf zu raten, ich sag es ja schon. Es war … die Kellnerin, die mit den roten Haaren, ihr wisst schon, Dorothea.“

Die Stille, die dieser Aussage folgte war ziemlich unangenehm, besonders für Vlaindar. Palinor schaute seinen General entsetzt an, denn er erinnerte sich daran, wie sie am ersten Tag noch über Famirans und Mikanors Geschmack gelacht hatten. Vlaindar hatte genau die Regel gebrochen, die er damals selbst verkündet hatte. Das junge Mädchen nicht anzufassen, war den beiden jungen Drachenreitern schwer gefallen, deshalb hatte Vlaindar diese Regel erfunden. Palinor hätte nie gedacht, dass eben dieses Mädchen im Interessensbereich seines Generals stehen würde. Er kämpfte schwer gegen die unangenehmen Bilder an, die in seinem Kopf entstanden – Vlaindar und diese junge Frau. Unvorstellbar! Keoran hingegen trank schweigend seinen Tee. Mikanor begann zu lachen und Famiran stimmte bald mit ein. Die zwei kicherten immer noch, als Palinor sich wieder gefasst hatte und fragte:

„Wie ist das möglich?“

„Ich weiß es nicht, ehrlich. Es überkam mich plötzlich einfach und dagegen konnte ich echt nichts tun!“, versuchte Vlaindar sich zu rechtfertigen. Keoran hob abwehrend die Hand und meinte dann:

„Dorothea also, hm? Ich habe nichts dagegen, falls du meine Zustimmung brauchst. Sie kam mir recht nett vor und schien auch keines dieser abgehobenen, arroganten Biester zu sein, das man teilweise hier antrifft.“

„Danke“, antwortete Vlaindar trocken und Keoran lächelte warmherzig zurück. Palinor beugte sich etwas vor und nahm sich wieder die Tageszeitung vom Tisch, bevor er diese aufschlug, sich in seinem Stuhl zurücklehnte und zu lesen begann.

„Palinor?“, fragte Vlaindar zögerlich und sein Vize-General erwiderte:

„Keoran besitzt eine gute Menschenkenntnis. Wenn er der Meinung ist, sie ist in Ordnung, dann ist sie das auch. Nicht mein Geschmack, aber Ihr seid ja nicht ich. Die Überraschung muss ich erst einmal verdauen, aber böse bin ich Euch nicht.“

„Ernsthaft, Shiarireyliar! Ich darf mich gar nicht beschweren! Wie oft musste unsere Garde eine Gemeinschaftsstrafe wegen einer meiner Liebeleien ertragen? Ich verbringe die Zeit meiner ersten von Euch heraufbeschworenen Strafe genüsslich. Macht Euch keine Sorgen! Ich werde meinen vollen Spaß haben“, erklärte Famiran seine Meinung und lehnte sich ebenfalls zufrieden zurück.

„Famiran hat Recht. Wie könnten wir Euch verurteilen, nachdem wir Euch auf den falschen Pfad geleitet haben? Wenn überhaupt. Ich bin stolz darauf, dass Ihr entdeckt habt, was das Leben auch noch ausmacht. Und ich für meinen Teil muss sagen, Ihr habt weise gewählt.“

„Was für ein Kompliment“, schnaubte Vlaindar und sog wieder an seiner Pfeife. Erleichtert, wie er jetzt war, konnte er sein Herz beruhigen. Ihm war es sehr wichtig, dass seine Garde diese Beziehung akzeptierte, denn die Männer waren im Grunde seine Familie. Daher begann er erneut:

„Ich weiß, sie hat keinen hohen Stand, der meiner in den Augen der Gesellschaft angemessen wäre und ich weiß, dass sie anders aussieht als die meisten Frauen. Sie ist nicht reich und auch kein Wunderwerk der Natur, aber …“

„Das ist doch egal, Hauptsache Ihr könnt sie so leiden, oder etwa nicht?“, beruhigte Mikanor ihn.

„Ja, ich kann sie so leiden, wirklich. Sehr sogar“, stimmte Vlaindar ihm zu und Famiran mischte sich daraufhin ein:

„Oho! Da spricht aber einer aus sehr romantischen Zügen. Sind wir etwa verliebt?“

Vlaindar wusste, der junge Drachenreiter wollte ihn nur necken, doch er traf unvorhergesehen natürlich ins Schwarze. Er errötete und wandte das Gesicht zum Boden. Das Schweigen, das dieser Reaktion folgte beantwortete seinen innerlichen Tumult.

„Ihr liebt sie“, stellte Palinor fest und Vlaindar nickte.

„Ja, sehr sogar. Ich kenne den Grund nicht und ich verstehe es auch nicht, aber es ist einfach passiert und es fällt mir schwer, mich davon loszureißen. Ich habe Lust, jetzt sofort aufzuspringen und zu ihr zu gehen und neben ihr zu liegen und sie einfach nur anzuschauen und sie atmen zu sehen und …“

„Oh, Ismira! Wir haben unseren General verloren“, stöhnte Mikanor plötzlich.

„Wie auch immer du das geschafft hast, Dorothea, meinen größten Respekt“, fügte Famiran an und lächelte stolz. Keoran lächelte selig und trank beruhigt seinen Tee. Palinor sah zu seinem General hinüber:

„Ich kenne das Gefühl.“

Vlaindar sah auf und erkannte in Palinors Blick, dass der Mann die Wahrheit sprach und aus eigener Erfahrung erzählte. Seine verträumten Augen ließen auf Erinnerungen von vergangenen Zeiten schließen.

„Was …“, setzte Vlaindar an, wurde jedoch von seinem Vize-General unterbrochen, der lächelnd erzählte:

„Ich habe Sedara auf einem Maskenball kennengelernt. Ich wusste nicht, wie sie aussah, nur, wie sie roch. Nach einer Mischung aus Lilie und Paprika, wenn ich erwähnen darf.“

Mikanor und Famiran wieherten los und Keoran prustete in seine Tasse. Vlaindar lachte.

„Daran habe ich sie erkannt – hinterher, meine ich. Es war vielleicht nicht Liebe auf den ersten Blick, aber auf den ersten Riecher!“

Dieses Mal lachten alle laut los, selbst Palinor, der zuvor noch ernst geblieben war.

„Ich habe mit ihr an dem Abend getanzt und war so verzaubert. Ihr Geruch, die Art, wie sie sprach oder mit den Augen blinzelte … Alles gefiel mir. Zu sehen, dass sie atmete und ihre Haut warm war, während darunter das heiße Blut durch die Adern schoss, reichte, um mich selig zu machen. Verzaubert war ich und hierbei ist ‘verzaubert‘ das richtige Wort! Ihr kennt doch alle diese Legende mit dem ersten Drachenreiter und seiner großen Liebe und den Verbindungen – also dem Mal?“

Man nickte und alle schauten interessiert zu Palinor hinüber. Die Ohren gespitzt und schweigend folgten sie seiner Geschichte.

„Das ist Liebe, sage ich euch! Mein sehnlichster Wunsch war es, ihr mein Mal zu verpassen und sie für immer als mein Eigentum zu kennzeichnen, sodass kein anderer Mann sich ihrer annehmen konnte – nur ich. Was ihr beide, Famiran und Mikanor, für Liebschaften pflegt, die niemals ernst werden … Davon halte ich nichts. Vielleicht, weil ich genau weiß, dass ich von solchen Dingen keine Ahnung habe, aber Sedara reicht mir vollkommen aus, falls ihr versteht. Und deswegen kann ich die Frau, die Vlaindar sich aussucht, nur akzeptieren, weil eine solche Frau für einen solchen Mann das Beste ist, dass es auf dieser Welt gibt, weil er sie sich so ausgesucht und sich so in sie verliebt hat. Das gewaltig niederringende Gefühl der Liebe, das einen Drachenreiter vor seiner Frau auf die Knie zwingt … Dagegen, fürchte ich, kann niemand bestehen. Aber warum auch? Bis jetzt liefen alle Ehen, die auf dieser Basis gegründet wurde, gut – keine Scheidung und ewige Treue.“

„Du hast Recht“, meinte Vlaindar plötzlich und alle schauten den General an. Er errötete und meinte dann:

„Ich habe sie gesehen und gedacht, sie sei nichts Besonderes. Aber je mehr ich sie kennenlernte, desto schöner kam sie mir vor. Ihre Stimme bohrte sich tief in mein Gedächtnis – ihr Lachen sandte mir die stärksten Schauer über den Rücken. Und ihre Haut … Ich kann ihren Duft nicht vergessen, ich liebe ihn zu sehr. Als ich ihn das erste Mal gerochen habe, wäre ich fast verrückt geworden, so stark brach mein animalischer Drachenreiterinstinkt über mir zusammen. Ich wollte sie kennzeichnen, genau wie du es gerade von dir und Sedara erzählt hast. Mein Mal wollte ich auf ihr sehen, obwohl sie so jung ist, dass ich mich richtig schuldig fühle.“´

„Du kannst nicht widerstehen“, stimmte Palinor zu und sein Blick wurde wieder träumerisch.

„Das war nicht möglich, du hast Recht. Es war überwältigend.“

Eine Weile schwelgten alle in Gedanken – Palinor und Vlaindar in Erinnerungen an große Momente der Liebe in ihren Leben, Keoran dachte über den Duft nach, den er an seiner Frau riechen wollte oder der ihm gefallen würde, Famiran brütete über seinen Liebschaften, die ihm keine wahre Liebe gebracht hatten und Mikanor erinnerte sich an Kiria, seine Verlobte. Doch plötzlich wurde Letzterer stutzig.

„Moment. Wenn du sagst, du wolltest sie markieren, so stark war deine Liebe … Hat sie dann jetzt dein Drachenreitermal?“

Vlaindar sah auf und fühlte, wie sein Herz panisch zu schlagen begann. Das hatte er ganz vergessen! Sein Symbol würde sich auf ihrem Bauch niederschlagen … Ressota-neyantear hätte leichtes Spiel: Er brauchte bloß Soldaten nach Sekain schicken, weil Vlaindars Garde nur dort gewesen war und sie beauftragen, nach einer jungen Frau mit einem Mal, das zufällig so aussah wie Vlaindars Drachenreitersymbol, auf dem Bauch zu suchen. Dorothea wusste bestimmt nicht, was das Symbol zu bedeuten hatte. Sie war in Gefahr!

„Keine Panik. Sie ist sehr intelligent, das wissen wir von den Gesprächen der anderen Dorfbewohner Fandenstars. Sie wird bemerkt haben, dass das Mal erst nach eurer Verbindung erschien und somit etwas damit zu tun hat. Selbst eine Landbewohnerin würde so etwas geheim halten, schließlich ist das Symbol auch Zeichen für den Verlust ihrer Jungfräulichkeit. Im Grunde macht sie dies also für eine Ehe unbrauchbar – müsste ich in so einer Situation leben, würde ich alles daran setzen, nicht aufzufliegen“, beruhigte Keoran den Tumult und alle lehnten sich seufzend zurück. Vlaindar jedoch war alles andere als beschwichtigt. Wenn sich die Gelegenheit ergab, musste er sie warnen.
 

Dorothea fühlte sich wie gerädert und sie sah, dass es Ionandar und Lamaran nicht besser ging. Alle Drachenreiternovizen hatten tiefe Ringe unter den Augen und hingen in den Seilen wie schlaffe Sandsäcke. Es war einfach noch zu früh am Morgen und die Aussicht auf noch weniger Schlaf in der nächsten Nacht war weniger rosig. Sie standen in der Eingangshalle zum Tempel und wirkten wie winzige Ameisen unter der hohen Decke. Zweiunddreißig schlammig-braune Uniformen in einem komplett weißen Raum.

Auf der Treppe zu einer Galerie ins erste Stockwerk erschien ein weißgewandeter Priester und begann mit einer Ruhe und Eleganz den Abstieg der unzähligen Stufen. Staunend starrten die Novizen zu ihm hinüber und beobachteten jede seiner Bewegungen.

Die Novizen hatten sich innerhalb eines Tages in Fraktionen aufgeteilt: Dorothea, Lamaran und Ionandar gehörten zu einer und der Rest zur anderen. Die Drei galten als gefährlich – gegen alle Maße unanständig. Besonders Dorothea. Daher standen sie etwas abseits von der Hauptgruppe, die sich ziemlich mittig in der Halle auf einem weißen Mosaik aus gläsernen Steinchen befand. Der Priester blieb schließlich auf der circa fünften Stufe von unten stehen und lächelte. Es war, als ging die Sonne im Tempel auf: Blonde lange Haare, blaue strahlende Augen und ein breites Lächeln – ein perfektes Abbild der Reinheit.

Alle warteten gespannt darauf, dass der Mann zu sprechen begann, damit der Unterricht endlich anfing, doch er schwieg und blieb still an Ort und Stelle stehen. Kein Novize wagte es, die Ruhe zu durchbrechen und ihn aufzufordern, zu beginnen. Schritte unterbrachen die rasenden Gedanken der Novizen, man drehte sich um und schaute zu den großen Toren des Tempels. Hindurch schritten zwei Personen, die ordentlich und fein säuberlich gekleidet waren. Dorothea erkannte sie sofort – zwei Drachenreiter aus der Sturmjägergarde, die eine Rast im Wirtshaus zu Fandenstar eingelegt hatte. Die Beiden sahen sich verwundert um, gesellten sich dann jedoch zu der Gruppe der jungen Novizen, indem sie sich etwas abseits gegen die Wand lehnten. Dorotheas Gruppe hatte den besten Blick auf die beiden: Es waren die Zwei, die immer Späße trieben. An ihre Namen erinnerte sie sich leider nicht mehr.

Wieder wandten sich alle um, als neue Schritte ertönten. Der Lehrmeister, der sie in diesem Unterricht begleiten sollte, kam mit einem weiteren Drachenreiter aus der Sturmjägergarde herein – es war der blonde. Sie diskutierten und das leise Gespräch wehte zu ihnen hinüber:

„Das Transportwesen war nicht gut im letzten Krieg. Es fehlte an Nachschub, daher kam es zu Behinderungen“, erzählte der Blonde nachdrücklich und der Lehrmeister nickte.

„Darauf kann man keinen Drachenreiter gut genug vorbereiten. Wir haben nicht verloren, aber auch nicht wirklich gewonnen – der Krieg war nicht ganz so erfolgreich, wie wir es gerne gehabt hätten, das ist mir klar.“

„Die Soldaten waren müde und wurden immer wieder überrascht. Die Moral der Truppen war nicht schnell genug gestärkt worden und dann fehlte es auch noch an Ausrüstung! Kein Wunder, dass viele nicht sehr selbstbewusst kämpften. Es gab Schwächen in der Verteidigung.“

„Da muss ich Euch leider zustimmen. Die Transport-Drachenreiter machen sich selbst genügend Vorwürfe, daher denke ich, dass so etwas nicht wieder vorkommen wird … Hoffen wir es.“

Der Blonde nickte und schloss sich seinen Gardemitgliedern an. Auch er lehnte sich gegen die Wand der Eingangshalle und schwieg.

„Sind alle da?“, fragte der Lehrmeister für Priesterlehre, Simkar hieß er. Dann zählte er schnell ab und nickte befriedigt. Der junge Priester stieg die letzten Stufen hinab und ging zur Drachenreiter-Gruppe hinüber. Mit leiser Stimme fragte er:

„Wo sind die anderen Beiden?“

Es war einer der Männer mit den kurzen schwarzen bzw. braunen Haaren, der antwortete:

„Lasst uns noch etwas warten, Traen-sorar. Sie werden kommen.“

Der Priester, der Traen hieß, nickte und verschränkte seine Arme. So warteten sie noch eine Weile, bevor um kurz nach Acht die anderen Drachenreiter eintrafen. Dorothea traf fast der Blitz: Der vierte der Garde, ebenfalls mit kurzen Haaren und ihr General! Beinahe wäre sie zu ihm hingerannt, doch sie hielt mitten in ihrem ersten Schritt inne und erinnerte sich schmerzlich daran, wer sie war. Sie war nicht Dorothea Matiastochter! Sie war Alan Luiranssohn!

Der junge Mann ging zu der Gruppe Erwachsener hinüber und stellte sich ohne Zögern dazu. Seine Mundwinkel zuckten belustigt, als Traen ihn etwas steif und förmlich begrüßte. Der Lehrmeister tat es dem Priester gleich, nur etwas außergewöhnlicher:

„Ich kann gar nicht glauben, dass mir die Ehre gebührt, Euch einmal zu meiner Gruppe zählen zu dürfen. Lasst mich Euch ehrerbietig begrüßen, Shiarireyliar.“

„Ich danke Euch“, war die leise knappe Antwort des Drachenreitergenerals, der nur sehr leicht den Kopf neigte, während Simkar den halben Körper beugte. Die Novizen begannen zu murmeln und auch Ionandar und Lamaran flüsterten aufgeregt. Dorothea lauschte dem Gespräch aufmerksam, weil sie sich wunderte, warum alle plötzlich so aufgewühlt waren.

„Ist er das?“, fragte Lamaran und beäugte den General, der von Traen in ein Gespräch verwickelt worden war. Seine Garde unterhielt sich daneben untereinander und Simkar stand bloß selig lächelnd daneben.

„Ja, das ist er. Ganz sicher. Ich kann mich noch ziemlich genau an ihn erinnern. Das Ganze ist ja erst zwei Jahre her, wenn nicht sogar weniger. Vater war so stolz, als er ihn zu uns nach Hause eingeladen hatte und er tatsächlich kam!“

„Wer ist er?“, mischte sich Dorothea ein und begutachtete ihren Geliebten genauer. Er war nicht nur ein hohes Tier, sondern auch noch bekannt! Ionandar sah sie an und antwortete:

„Das ist der General der Sturmjägergarde von Saitan. Du weißt, dass diese Garde die höchste in Saitan-Heten ist, oder?“

„Natürlich. Merkwürdig. Müsste er dann nicht Lordgeneral der Armeen sein?“, fragte sie neugierig, was Ionandar zu dieser Situation sagen würde.

„Angeblich soll er das bald werden. Vater hat das Gerücht bei den Höheren aufgeschnappt. Erst fing es ja in ziemlich niedrigen Ständen an, aber wenn es jetzt schon bei den Höheren ist …“

„Warum ist er hier?“, fragte Lamaran verwundert. Dorothea schaute zu ihrem Geliebten hinüber und versuchte, nicht schmachtend auszusehen. Das stellte sich als ziemlich schwer heraus.

„Keine Ahnung. Wäre er alleine hier, würde ich sagen, er ginge beten … Aber mit seinen Gardemitgliedern … Ich weiß nicht. Vielleicht ein Treffpunkt für einen neuen Auftrag oder so!“, beantwortete Ionandar die Frage seines Freundes. Dorothea fand nicht, dass die Garde aussah, als würde sie zur Arbeit gehen. Sie waren zu fein angezogen. Eine Weile wunderte sie sich über das Auftreten der Gruppe, doch schließlich wurde ihr Grübeln unterbrochen, als der Priester und ihr Lehrer sich vor ihnen aufbauten. Traen-sorar begann zu sprechen:

„Willkommen im Hohen Tempel der Ismira! Dieser Tempel ist der älteste aber auch zugleich der größte und weitläufigste Tempel von Saitan-Heten – hier wird nicht nur dem ismiranischen Kult gehuldigt, sondern auch allen Kulten, die diesem angehören: Marluk, der Sonnengott, Sombra, die Mondgöttin, Libra, die Freiheitsgöttin und viele mehr haben hier ihre eigenen Altare, denn sie alle sind Kinder der Ismira! Ismira ist, wie ihr sicherlich wisst, die Göttin der Fruchtbarkeit, der Gefühle und der Geschöpfe, des Landes, des Meeres und des Himmels, sowie der Magie und der Himmelsrichtungen. Der ismiranische Kult ist demnach ein national vorherrschender Kult, daher könnte es vorkommen, dass in anderen Ländern eine andere Religion mehr Beachtung zukommt als der Ismiras. Zurück zum Tempel: Ismiras Weisheit und Reinheit sollen die Menschen hier mit jedem Atemzug aufnehmen, daher erbaute man ihn in weißem Marmor. Es gibt also keine andere Farbe und somit Ablenkung durch anderes. Daher würde ich euch bitten, mir jetzt zu folgen und euch ebenfalls weiße Uniformen anzuziehen.“

Der Heilige hatte einen sehr eleganten Schritt, bei dem man das Gefühl bekam, er glitte über den Boden. Mit gemäßigten und leisen Schritten schlichen die Drachenreiternovizen, der Lehrmeister und im Anschluss in einiger Entfernung auch die Garde durch einen an der Eingangshalle angrenzenden Korridor zu einigen Räumen auf der linken Seite. Die Novizen wurden in den ersten Raum geleitet, die Garde in einen anderen. Dort gab es Bänke und Fächer für Kleidung und Schuhe, die man im Alltag verwendete, in die die Novizen jetzt auch ihre Dinge verstauten. Jeder von ihnen bekam auch eine weiße Tempelnovizenuniform – Dorothea machte sich zunächst Sorgen, dass sie vielleicht auffliegen würde, doch niemand achtete auf sie, die sich in die hinterste Ecke des Raums verkrümelt hatte. Glücklicherweise durfte man das Unterhemd anbehalten, sodass niemandem ihre Bandagen auffallen konnten. Gemeinsam mit dem Lehrmeister und den anderen Jungen zog sie sich um und machte sich dann wieder bereit, Traen-sorar zu zuhören. Als sie aus dem Raum trat, kamen auch die Drachenreiter aus ihrem Umkleideraum zurück und man gruppierte sich wieder um den Heiligen im Gang.

„Heute soll es um das Meditieren gehen – den Kult Ismiras werde ich euch nächstes Mal zeigen. Solange ihr nicht wisst, wie er auszuführen ist, könnt ihr nicht an Messen oder Festen teilnehmen, daher ist es meine Aufgabe, euch schnell darauf vorzubereiten.“

Simkar fügte hinzu:

„Traen-sorar ist der Erzpriester dieses Tempels und somit Schirmherr der ismiranischen Religion. Wenn ihr Fragen habt, wendet euch an ihn, er kann euch sicherlich weiterhelfen.“

Die Novizen nickten und begannen, sich murmelnd und erwartungsvoll mit ihren Nachbarn zu unterhalten, bis plötzlich eine Stimme dies unterbrach. Ein Novize fragte:

„Warum ist die Sturmjäger-Garde hier?“

Es war sofort still und man reckte in Anspannung die Hälse, um einen besseren Blick auf die fünf Männer zu erhalten, die bis jetzt noch nichts gesagt hatten. Traen-sorar sah zum Anführer der Truppe hinüber, dessen Gesichtsausdruck sich nicht veränderte: Verschlossen und unlesbar hatte er den Unterricht bis hierhin verfolgt und auch jetzt nahm er keinen Anteil an der Frage. Er warf einen Blick auf den Novizen, verzog keine Miene und lehnte sich dann an die Wand. Kein Anzeichen auf eine Antwort. Die Frage wurde ignoriert. Der Rest der Garde lächelte wissend oder sagte ebenfalls nichts und schwieg beharrlich, deswegen entfuhr dem Heiligen ein Seufzer und er antwortete:

„Nun, bestimmte Umstände haben dazu geführt, dass die Garde uns heute begleitet. Ich weiß nicht genug darüber, um Genaueres zu sagen, außer: Sie sind nicht zum Spaß hier.“

Das sagte genug über die Situation aus, um den Novizen zu verraten, dass die Garde bestraft worden war. Man begann sofort, zu munkeln. Und das mit Spaß. Die Jungen, die sich am Vortag noch über die beiden Schönheiten unterhalten hatten, flüsterten jetzt aufgeregt. Dorothea schnappte einige Annahmen auf:

„Sie wurden bestraft!“, bestätigte der erste Novize. Man nickte.

„Die Bestrafung heißt also ‘Priesterlehre in der A-Ausbildung‘? Warum das Ganze?“, fragte der Zweite.

„Priesterlehre ist fast wie Morallehre – man meditiert zwar über seine Fehler und einem werden die Sünden vergeben, aber man lernt auch Disziplin und Treue. Ich glaube, die Bestrafung hat damit zu tun, dass diese Werte verletzt wurden“, vermutete der Dritte und man staunte.

„Mein Vater hat mir erzählt, dass die Männer der Sturmjäger-Garde Saitans als Frauenhelden berühmt geworden sind“, warf der Vierte ein. Dorothea hielt die Luft an – alles, bloß nicht das! Wenn sie einem Frauenhelden aufgesessen war, dann hatte es sich ausgeträumt! Innerlich begann wieder Wut aufzukochen. Vielleicht hatte er sie doch bloß sitzen lassen! Zweifel zerfraßen sie, obwohl sie sich auch an die Worte ihrer Tante erinnerte, die ihr erzählt hatte, dass das Drachenreitermal auf ihrem Bauch Symbol für tief empfundene Liebe war. Konnte man es aber nicht auch einfach so heraufbeschwören? Mit einem winzig kleinen Zauber?

„Aber nicht alle!“, empörte sich der Erste.

„Er hat Recht – der Vize-General ist beispielsweise schon verheiratet. Einer der Drachenreiter pflegt wohl eine heimliche Liebschaft, aber er scheint dieser Frau nicht fremd zu gehen – zumindest hat sie sich noch nicht gemeldet. Und der Anführer lebt im Zölibat!“, bestätigte der Dritte. Dorothea atmete erleichtert und leise auf, zuckte aber gleich darauf wieder zusammen. Lamaran und Ionandar sahen sie fragend an, doch sie lächelte nur schwach. Die Beiden wandten sich ab und überließen sie wieder ihren Gedanken. Ihr Geliebter lebte im Zölibat! Er hatte sein Zölibat gebrochen, als er mit ihr geschlafen hatte!

„Glaubst du also, einer der beiden Frauenhelden hat sich wieder im Dienst an den Busen einer Frau gelächelt?“, fragte der zweite Novize leise und die ganze Gruppe beäugte die Garde, die weder sprach, noch Anzeichen auf das Recht etwaiger Vermutungen gab.

„Ich glaube nicht, dass einer der anderen Drachenreiter irgendetwas Unanständiges gemacht hat. Ehebruch wird mit dem Tod bestraft, wenn die Frau keine Mätresse war und Affären in höheren Kreisen kommen ziemlich schnell ans Tageslicht, glaubt mir. Weder der Vize, noch der andere können es also gewesen sein“, stimmte der Vierte zu.

„Und der Anführer? Könnte der sein Zölibat gebrochen haben?“, fragte der Dritte.

„Bist du dumm? Der Mann ist doch nicht lebensmüde!“, rief der Erste aus und Dorothea zuckte wieder zusammen – die merkwürdigen Blicke ihrer neuen Freunde ignorierte sie gekonnt.

„Wieso?“, maulte der Dritte zurück.

„Das war ein Zölibat mit königlichem Siegel. Das zu brechen, wäre Hochverrat!“, empörte sich der Vierte und der Erste nickte.

„Was so viel bedeutet wie: Kurz und schmerzlos an den Galgen.“

Dorothea zwang sich dazu, nicht entsetzt aufzukeuchen. Ihr Geliebter könnte sterben, wenn herauskam, was in dieser Nacht geschehen war. Sie durfte sich nicht verplappern. Kein Wort sollte aus ihrem Mund kommen, also biss sie die Zähne zusammen und verschloss fest ihren Mund.

„Außerdem …“, fügte der Dritte an und alle lauschten auf die folgenden Worte.

„Außerdem?“

„Die Frau, mit der er den Zölibat brechen würde, würde ebenfalls hingerichtet werden. Auch wegen Hochverrat, weil es als ‘Verführung höchst-loyaler Vasallen‘ gilt, einen königlich besiegelten Zölibat zu brechen.“

„Die Frau will ich sehen, die das bei dem Mann schafft“, schnaubte der Erste zustimmend und alle warfen einen Blick auf den General der Sturmjäger-Garde, dessen unbeteiligte, verschlossene, aber gleichzeitig auch harte Miene auf stahlharte Disziplin schließen ließ. Dorothea nickte. Gleiches hatte sie anfangs auch gedacht, aber mit ein wenig Soka und einer guten Atmosphäre, sowie lieben Worten und verführerischen Gesten war es ihr dennoch gelungen, die Fassade dieses Mannes aufzureißen. Dahinter hatte sich ein äußerst schüchterner und liebenswürdiger Mann befunden, den sie mit ihren nun geübten Augen ab und zu einmal aufblitzen sah – allgemein fiel ihr mehr auf als den Jungen hinter ihr, die ihn analysierten. Ihnen war entgangen, dass der Vize-General und der Heilige ständig besorgte Blicke zu ihm warfen, dass die beiden jüngeren Drachenreiter ständig wie wild leise kicherten und dass das einzig ruhige Mitglied der Garde ständig hastige Blicke nach seinem General warf. Dieser war ganz im Gegensatz zum ersten Anschein überhaupt nicht entspannt: Seine Muskeln waren so sehr angespannt, dass man das Gefühl hatte, er würde gleich angegriffen werden. Doch auch das entging den Jungen, was Dorothea merkwürdig fand, aber ihre Gedanken mussten anderes verarbeiten: Anscheinend lag die Strafe also doch an ihrem Geliebten. Hatte man herausgefunden, dass er seinen Zölibat gebrochen hatte? Suchte man womöglich nach ihr? Sie schluckte, ein Glück, dass sie ihr Dorf verlassen hatte, sonst hätte sie jetzt riesige Probleme.
 

Vlaindar ertrug das Gerede nur, weil er es musste, sonst wäre er schon lange in irgendeinem ruhigen Raum verschwunden und hätte dort seinen inneren Frieden wieder hergestellt, den er noch vor gut einer Stunde gehabt hatte. Sein scharfes Gehör verschaffte ihm die äußerst unangenehme Möglichkeit, das Geflüster und Gemunkel der Novizen klar und deutlich zu verstehen. Eine Gruppe debattierte über die Chance, dass Famiran und Mikanor wieder Ärger gemacht hatten – eine andere fragte sich, ob es vielleicht auch andere Gründe als eine Bestrafung gab, die die Garde in den Tempel gebracht hatte. Doch keiner kam der Wahrheit so nahe wie die fünf Novizen in seiner Nähe. Dass sie darüber redeten, ob er in der Lage war, seinen Zölibat zu brechen, brachte Famiran und Mikanor natürlich an die Grenzen ihrer Kontrolle: Mit vor den Mund gelegten Händen versuchten sie verzweifelt, das in ihren Kehlen aufsteigende wilde Gackern zu unterdrücken. Auch, dass Palinor, Keoran und Traen ihn immer wieder mitleidig ansahen, verbesserte seine Situation nicht. Eigentlich machte das Ganze ihn nur noch verrückter. Glücklicherweise entschloss sich nach einigen Minuten Simkar-profar das Geplänkel zu unterbrechen und den Unterricht offiziell zu beginnen:

„Ruhe! Wir beginnen mit der ersten Lektion. Meditieren.“

Traen fasste dies als Stichwort auf und wies die Novizen an, ihm zu folgen. Eine lange Weile gingen sie die weißen Korridore entlang und störten die heilige Stille des Tempels, denn die Novizen trampelten, obwohl sie schlichen, hinter dem elegant gehenden Heiligen her. Der Lehrmeister schritt ebenfalls stolz voran, gefolgt von den Novizen, die in Reihen jedoch in Gruppen gingen, sodass die perfekte Formation eines Rechtecks nicht erreicht wurde.

Vlaindar störte diese Unordnung, doch wieder schwieg er. Innerlich starrte er von hinten die Rücken der Novizen böse an und befahl den Jungen, sich diszipliniert hinzustellen, sie waren schließlich die Zukunft der Drachenreiterakademie. Von Tag Eins an hatte man darauf zu achten, wie man sich verhielt, man gehörte nun zu den höheren Adeligen. In der Akademie war Individualismus immer schon geächtet gewesen und erst nach dem Ende dieser Ausbildung durfte man sich verhalten wie jemand, der wirklich wichtig war. Dieses ganze Gruppengebilde und das gegenseitige Ausschließen und Fernhalten der Novizen förderte besonders in der Anfangsphase nicht den Fortlauf der Bildung und der Disziplin. Wie lange es wohl dauern würde, bis der erste Fall von Ächtung im Novizenkreis geschah? Nach allem, was er wusste, gab es unter den Neuen ja einen ganz besonderen Fall. Ein ganz armer Junge war unter die Adeligen gekommen: Der Sohn eines Wirts aus einem kleinen Dorf. Und das alles aus purem Glück! Der jetzige Frieden würde nicht lange anhalten, das wusste Vlaindar ganz genau.

Die Novizen, die Lorian-shiarmagistars Empfehlung in den Jahren zuvor erhalten hatten, waren schwer belästigt worden. Da die Tradition des Glücksspiels um ein Eintrittsticket erst seit circa zehn Jahren existierte, sie war von Lorian selbst eingeführt worden, waren nur zwanzig Novizen überhaupt davon betroffen gewesen: Die Zehn, die in der Priesterausbildung gewesen waren, hatten ihre Laufbahn erfolgreich begonnen und lebten nun glücklich in den Tempeln über Saitan-Heten verstreut. Die anderen Zehn, die in der Drachenreiterakademie aufgenommen worden waren, hatten nicht das gleiche Glück erleben dürfen: Zwei waren nach einem Monat spurlos verschwunden und hatten nur eine schnell hingemalte Notiz hinterlassen, dass sie nicht zurückkehren würden – wie man später herausfand, hatte der Eine geheiratet und der Andere auf einem Schiff angeheuert; Drei waren bis zum Ende der B-Ausbildung gekommen, aber kein Drache war ihnen zugeteilt worden, sodass sie sich jetzt in verschiedenen Großstadt-Bibliotheken als Gelehrte verdingten; Zwei waren Drachenreiter geworden, jedoch nicht für die Armee sondern im Transport- und im Postwesen; Einer hatte versucht, sich umzubringen, doch man hatte ihn rechtzeitig gefunden und gerettet, sodass er in einem Heilstempel untergekommen war und Zwei waren von ihren Lehrern so ungleich behandelt worden, dass sie in ihre Familien zurückkehrten. Vlaindar fragte sich, ob der jetzige Drachenreiternovize in der Lage war, den Rekord zu brechen und ein Armeedrachenreiter zu werden.

Während er so überlegte, folgte er der Gruppe durch die Korridore in eine große Halle: Der Raum der Meditation. Die Halle war natürlich ganz weiß gehalten und durch Fackeln an den Wänden erleuchtet. Über den Köpfen der Gruppe hing ein gewaltiger, ausladender Kronleuchter und warf mit seinem kristallenen Glas Lichtpunkte an die Wände. Diese waren mit Nischen versehen, in denen wiederum Kerzen standen. Gegenüber der Tür, durch die sie gerade gekommen waren, befand sich ein weißer Altar mit weißen Blumen über dem Ismiras Rosette befestigt war. Auf dem Boden lagen in gleichmäßigen Abständen weiße Matten in Reih und Glied.

Die Novizen drängelten sich durch die Tür und stellten sich wie eine Horde verschreckter Schafe nah beieinander hin, nur drei Jungen standen etwas abseits. Vlaindar vermutete, dass diese Drei die Ersten sein würden, die von den gestressten Adeligen geächtet werden würden. Der Lehrmeister und der Heilige durchschritten die Halle und traten vor die Altarstufen, doch nur Traen bestieg das Podium, auf dem der Altar stand. Vlaindars Garde stellte sich an die Wand hinter den drei ‚ausgestoßenen‘ Novizen.

„Willkommen im Raum der Meditation! Jeder von euch sucht sich jetzt eine Matte aus und setzt sich im Schneidersitz darauf“, befahl Simkar-profar. Die Novizen, wenn auch etwas zaghaft, taten, was ihnen geheißen wurde und auch Vlaindar und seine Gardemitglieder bewegten sich auf die freien Matten zu. Wie erwartet blieb die Reihe mit den ersten zehn Matten frei, sodass sich die Fünf auf die rechte Seite des kleinen Mittelgangs setzten. Die drei Geächteten setzten sich auf die linke Seite.

„Meditieren ist der Ausdruck für die Achtsamkeits- und Konzentrationsübungen, die jedem Drachenreiter in der Akademie beigebracht werden. Ziel dieser Übungen ist es, euren Geist zu beruhigen und zu sammeln, euch freizumachen von Gedanken, sowie Gefühlen und Empfindungen. Leert euren Geist und ihr erreicht mehr als nur Konzentration: Eure Sinne werden geschärft und eure Empfindungen stärker, besonders hinsichtlich der Achtsamkeit, beispielsweise im Falle einer drohenden Gefahr. Außerdem ist es mit einem ‚stillen‘ Geist auch einfacher, in Gedanken zu kommunizieren, Träume zu sehen und zu behalten oder psychische Heilungen durchzuführen. Kurz: Durch Meditation erweitert ihr euer Bewusstsein. Erst das Meistern dieser Übungen bringt euch dem Wesen der Drachenreiter näher, schließlich könnt ihr nur mit einem gestählten Geist Magie ausüben. Nur ein konzentrierter Geist bringt euch den gewünschten Erfolg“, belehrte Simkar-profar die neuen Novizen, die fasziniert an seinen Lippen hingen. Keiner von ihnen hatte Meditieren für so wichtig gehalten, doch ihnen ging langsam auf, was für eine Rolle die Priesterlehre im Alltagsleben der Drachenreiter spielte.

Traen-sorar trat vor und lenkte somit die Aufmerksamkeit der Novizen auf sich. Mit sorgfältig gefalteten Händen begann er leise zu sprechen. Aber auch diese Tonlage reichte völlig aus, um durch den Hall im Raum laut genug zu sein.

„Schließt eure Augen, setzt euch im Schneidersitz hin und faltet eure Hände in eurem Schoß. Legt dazu am besten die Daumenkuppen an- und die restlichen Finger aufeinander. Vergesst nicht, dass ihr ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Spannung und Entspannung aufrechterhalten müsst, sonst werdet ihr es schwer haben. Wobei ich sagen muss, dass es auch Solche gibt, die dabei einschlafen und trotzdem hinterher zu den erfolgreichsten Drachenreitern gehören, die es in diesem Land gibt, nicht wahr Famiran-shiar?“

Famiran hustete laut und tauchte zur Seite weg, als Mikanor ihn anstieß. Die beiden lachten über Traens Kommentar, während Palinor und Keoran wenig überrascht nur mit den Köpfen schüttelten. Vlaindar hätte am liebsten geseufzt, doch er verhielt sich diszipliniert und schwieg. Im Vergleich dazu war die Reaktion der Novizen eine Explosion. Die Jungen lachten laut los und reckten die Hälse, um einen Blick auf den Drachenreiter zu werfen, der von Traen vorgestellt worden war. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die Lage wieder beruhigt hatte. Simkar-profar gab sich alle Mühe, die Jungen mit bösen Blicken zu Recht zu weisen, doch es war Traen, dessen erhobene Hand den Ausschlag für die Stille gab.

„Beginnt!“, forderte Simkar seine Novizen auf und die Jungen taten, wie ihnen geheißen worden war. Sie setzten sich in der Position hin, die man ihnen erläutert hatte und schlossen die Augen. Die Stille, die daraufhin einkehrte, war für Vlaindar die Erfüllung. Also versetzte auch er sich in den Zustand der Meditation und verbannte alle Gedanken, Gefühle und Empfindungen aus seinem Körper, die ihn seit Tagen verfolgten: Die Strafe, die Folter, Dorothea, die Blicke der Drachenreiter und das Getratsche der Frauen. Alles musste weg und weil er sehr geübt darin war, verschwanden seine Sorgen beinahe sofort. Er spürte noch, wie seine Garde es ihm gleichtat, dann hüllte er sich in der Stille ein, die nur von Traens ferner Stimme durchbrochen wurde:

„Wenn ihr euch im Einklang mit eurem Wesen befindet, dann versucht, den Einklang eures Wesens mit der Natur um euch herum zu verstehen – erweitert euer Bewusstsein. Solltet ihr diese Stufe erreicht haben, dann konzentriert euch auf das Leben um euch herum und ihr werdet die Magie spüren. Sobald ihr auch den Lauf der Magie durch euren Körper verstanden habt, beginnt ihr zu schweben. Das ist das Zeichen für eine vollendete Meditation – diesen Zustand erreichen Geübte in wenigen Minuten. Ihr werdet noch sehr lange dafür brauchen, aber verzagt nicht.“

Gemurmel unterbrach Vlaindars Konzentration und er öffnete sein linkes Auge einen Spalt weit, um zu schauen, was diese Reaktion hervorgerufen hatte. Ein Novize meldete sich und sagte dann:

„Wie wissen wir, dass wir einen Einklang erreicht haben?“

Traen lächelte und erwiderte bloß:

„Der Einklang fühlt sich für jeden anders an, daher kann ich ihn nicht gut beschreiben, aber man erhält ein gewisses Gefühl der Erfüllung. Probiert es aus. Leert euren Geist.“

Vlaindar schloss seine Augen wieder und setzte sich gerade hin. Seine Ruhe kehrte zurück und verbannte auf ein Neues alle unwichtigen und wichtigen Dinge aus seinem Geist. Langsam leerte er seinen ständig aufmerksamen Geist. Seine Atmung wurde ruhig und das Rauschen seines Bluts lauter, bis er schließlich seinen sich verlangsamenden Herzschlag vernahm. Ohne nachzudenken, verstand er plötzlich, wie und warum sein Körper so funktionierte. Dieses Wissen erfüllte ihn und kurz darauf verwischten die Grenzen zwischen seinem Geist und der Welt um ihn herum: Die Barriere, die sonst immer sein Innerstes umgab – sein Körper –, löste sich aus seinem Bewusstsein. Vlaindar erspürte das Pulsieren der Welt um sich herum und das Fortlaufen des Lebens – das Verstreichen der Zeit. Dann stieß seinen Geist etwas an: Das Verständnis um die Magie, die durch sein Wesen hindurchlief und ihm sein Leben ermöglichte. Die Magie, die jeden Stein und jede Pflanze umgab, jedes Tier erfasste und in den Strom des Lebens riss. Vlaindar spürte das Zupfen und Drängen der Magie, die ihn aufforderte, sich in ihr zu verlieren. Seine Regung, ihr zu widerstehen, unterband er und unterwarf sich dem Willen der Natur. Die Magie übernahm die Kontrolle und führte ihn durch ihre unendlichen Ströme in die vollkommene Meditation.
 

Dorothea schaffte es nicht, sich zu konzentrieren. Von wegen Erfüllung! Frustration bescherte ihr diese Übung! Sie setzte sich noch einmal richtig hin, schloss die Augen und begann systematisch zunächst ihre Gedanken, Empfindungen und Gefühle auszulöschen – blöd nur, wenn drei Sitzkissen weiter ein Mann saß, dessen reine Anwesenheit ihr jegliche Lust auf den Unterricht nahm: Sie hatte unheimlich Lust, etwas ganz anderes mit ihm anzustellen. Etwas, dass nicht auf dem Stundenplan der Novizen stand und nur zwischen ihr und ihm vorherrschte.

‘Halt, Dorothea, konzentriere dich!‘, forderte sie sich selbst auf und atmete tief ein und wieder aus. Dann leerte sie wieder ihren Geist, doch sobald dieser still war, zischten schon neue Gedanken durch die Leere: Was sollte sie nun tun? War ihr Vorgehen bis hierhin richtig? Wie stand es um die anderen Novizen? Dorothea seufzte. So würde sie sich nie konzentrieren können!

„Es ist mir jedes Mal ein Vergnügen!“, hörte sie Traen-sorars Stimme durch den Raum wehen und sie schlug die Augen auf – so wie jeder andere Novize auch. Nicht einmal zwei volle Minuten waren vergangen. Logisch, dass keiner von ihnen die Meditation auch nur im Geringsten erreicht hatte. Wieso war der Heilige dann so begeistert?

Wie alle anderen schaute auch Dorothea sich neugierig um und ihr Blick blieb an ihrem Geliebten kleben, der drei Plätze weiter rechts saß. Sie beugte sich vor, um ihn besser sehen zu können. Seine Garde und er saßen vollkommen entspannt in einer meditativen Haltung, ohne sich zu bewegen. Es brauchte nicht lange und Dorothea verstand, was Traen so begeistert hatte. Die Männer leuchteten in einem schwachen Licht und ihr Atem ging so langsam und tief, dass man meinen könnte, sie seien tot. Doch die größte Überraschung für die Novizen bildete das darauffolgende. Der General begann plötzlich, zu strahlen und ganz langsam, ohne dass man es sofort bemerkte, stieg er in die Luft auf: Erst hob sich sein Gesäß, dann seine Beine und zuletzt seine Knie. Er schwebte! Ihr General hatte die vollkommene Meditation erreicht!

Der junge Mann hing circa einen Meter über den Marmorfliesen in der Luft, begafft von allen Novizen, deren Münder offen standen. Das Strahlen war sanft und nicht blendend aber beständig und Dorothea spürte förmlich die Ruhe, in der ihr Geliebter sich gerade befand. Sie bewunderte den gutaussehenden Mann noch eine Weile, wurde dann aber von erneutem Gemurmel abgelenkt – einer der anderen Drachenreiter begann, zu strahlen und erhob sich ebenfalls in die Luft. Es war der Ruhige. Gefolgt wurde der Mann vom Vize-General, dem Blonden. Sie stiegen nur wenige Minuten nach dem General in die Luft. Kurz danach, beinahe gleichzeitig, schwebten auch Famiran und der andere Drachenreiter. Die Fünf waren die Einzigen, die es geschafft hatten – und das Ganze in unglaublich kurzer Zeit.

„Ismira“, murmelte eine Stimme von hinten und Dorothea stimmte dem Jungen insgeheim zu. Es war unglaublich. Unmöglich. Sie musste es schaffen! Sie war intelligent! Sie hatte genug Konzentration! Wenn sie ihren Kopf in eine Angelegenheit steckte, dann klappte diese auch!

Dorothea wandte sich von der Drachenreitergarde ab, nahm wieder die meditative Position ein und schloss die Augen. Dann leerte sie ihren Geist und lauschte den Geräuschen ihres Körpers. Sie spürte, wie ihr Herzschlag sich verlangsamte und die restlichen Laute in ihr auffälliger wurden. Das Rauschen ihres Blutes, das Rauschen der Luft in ihrer Lunge, das Knurren ihres Magens …

Moment, Knurren des Magens? Oh, sie war so hungrig! Wer kann schon an einem Tag nur mit einer kleinen Schüssel Haferschleim auskommen! Der Vormittag war noch nicht einmal vorbei! Sie hatte doch noch öffentliche Dienste zu verrichten! Bis das Mittagessen sie erlösen würde, wäre sie wahrscheinlich schon längst verhungert. Missmutig brummte sie in sich hinein, nur um wenig später festzustellen, dass sie sich abgelenkt hatte. Von wegen leerer Geist! Ein leerer Magen war jetzt ihr Hauptproblem!

Accomplice

Dorothea stellte in den nächsten Wochen an der Akademie fest, dass sie bis zum Eintritt in die Drachenreiterschule ein sehr behütetes Leben geführt hatte. Voller guter Erinnerungen. Hier musste sie zum ersten Mal zugeben, dass ihr neues Leben die reinste Hölle war. Hätte sie auf den Torwächter gehört, hätte sie wahrscheinlich außerhalb des Sperrbezirks ein gutes Leben gehabt und mit ihrer Tante Pläne entwerfen können, näher an ihren Drachenreitergeneral heranzukommen. Den Gedanken an ein Treffen mit ihm hatte sie schon vor zwei Wochen aufgegeben. Ihre Tante hatte sie zu gut verkleidet, daher hatte der General sie nicht erkannt und er sprach eher wenig und gab sich auch eher wenig mit den Leuten außerhalb seiner Garde ab. Die vereinzelten Blicke, die sie ihm zuwarf, nahm er gar nicht wahr und ihr fehlte der Mut, ihm in einem unbemerkten Moment die Wahrheit zu sagen. Zudem wirkte er nicht wie jemand, der ihren kleinen Ausflug ins männliche Leben billigen würde. Er schien sehr traditionell veranlagt zu sein.

Die erste Woche war noch ganz mitreißend gewesen. Sie hatte viele neue Dinge kennenlernen dürfen: Das Bogenschießen, den Schwertkampf und Kampfsport, die Geschichte der Drachenreiter und Saitan-Hetens und die Drachenpflege. Letzteres gefiel ihr am meisten. Die riesigen Geschöpfe waren so unterschiedlich – nicht nur farblich, sondern auch charakterlich -, dass es ihr richtig Spaß machte, sie kennenzulernen. Zu ihrer Freude durfte sie den Drachen nicht nur Futter und Wasser in den Trog schütten, sondern sie auch streicheln. Erst in späteren Jahren durften die Novizen die Drachen auch pflegen, d.h. sie waschen, ihre Klauen schneiden und schärfen, ihre Schuppen polieren und ihre Zähne reinigen, weil man einfach mehr Erfahrung brauchte, um das zu tun. Außerdem wollten die Lehrer, dass die Drachen sich an die neuen Gesichter gewöhnten und ihnen ihre Zustimmung gaben.

Wie erwartet, war sie im Bogenschießen, Schwertkampf und Kampfsport eine der Schwächsten gewesen. Die blauen Flecken, die sie sich in dieser Zeit zugezogen hatte, waren inzwischen schon so viele, dass sie bereits den Überblick verloren hatte. Dazu kam noch, dass sie sich auch keine der Positionen und Bewegungen merken konnte. Ihre Lehrer waren durchgängig nur am Schimpfen. Die Novizen lachten über ihre Tollpatschigkeit und die Aufmunterungen von Ionandar und Lamaran wirkten auf sie wie pures Mitleid. Sie hasste Mitleid. Es war, als ob sich ihre Freunde über sie lustig machten. Sie lernte, wegzuhören, wenn die beiden ihr ihre Aufmerksamkeit zuwandten. Ihr Herz setzte jedes Mal vor Wut und Angst aus.

Das einzige Fach, das ihr vielleicht ein wenig Entspannung gab, war Rechnen. Das hatte ihr gefallen, denn sie lernte schnell und war fleißig. Die Amtssprache machte ihr nach gut einer Woche kaum noch Probleme und sie ging nur noch hin, um sich von ihrem ungewollten Dialekt zu befreien. Geschichte hatte sich als äußerst langweilig entpuppt. Der Lehrer, der das Fach unterrichtete, war ein monoton redender alter Mann, der beinahe selbst von seiner Stimme einschlief. Dennoch gab er ihnen immer haufenweise Aufgaben auf, die sie zum nächsten Mal zu erledigen hatten und entließ sie dann in eine schlaflose, kurze Nacht.

Nach zwei Wochen waren viele Novizen bereits kaum noch am Reden. Ihnen war das Sprechen vergangen mit jedem neuen Tag, der sich mit der Morgenglocke um fünf Uhr morgens anbahnte. Keiner hatte erwartet, dass sie alle so früh aufstehen mussten, sodass sich die Novizen nur langsam an das Leben in der Akademie gewöhnten. Außerdem kamen sie abends erst sehr spät ins Bett: Manchmal waren sie bis elf Uhr in irgendwelche Arbeiten eingespannt und dann mussten sie noch Baden. Fünf bis sechs Stunden Schlaf reichte den verwöhnten Novizen natürlich nicht. Anfangs drohten viele junge Adelige damit, sich bei ihren Familien zu beschweren, doch das Schnauben der Lehrer trieb ihnen diesen Gedanken schnell aus. Die erwachsenen Männer wussten mit eiserner Hand gegen die rebellischen Kinder vorzugehen: Des Öfteren kamen die Schlafraum-Aufseher und schütteten eimerweise kaltes Wasser auf die jungen Leute, wenn diese nicht aufstehen wollten. Andere Male verboten sie den Jünglingen, Frühstück zu essen, wenn diese zu spät kamen. Oder sie schlugen mit Kochlöffeln gegen Bratpfannen und sangen brüllend den Novizenkodex in den schrägsten Tönen. Und das jeden Morgen, wenn es sein musste. So trieben sie die müden Schafe der A-Ausbildung schneller in den Essensaal, als den meisten von ihnen lieb war. Dazu sollte noch gesagt werden, dass die Beschwerden der Familien ziemlich fruchtlos verliefen, weil die Akademie sie mit gekonnten Totschlagargumenten in den Sand verlaufen ließ. Zudem hatte die Schule ja den König auf ihrer Seite und sobald der ein Machtwort sprach, verstummten die wilden Klagen über den Umgang mit den verwöhnten Jungs schleunigst.

Dorothea hatte anfangs noch den kleinen Vorteil gehabt, dass sie auf dem Land immer sehr früh hatte aufstehen müssen und abends noch nach Sonnenuntergang im Haus Arbeiten zu verrichten hatte, doch auch sie holte der mangelnde Schlaf sehr bald ein. Die schwarzen Augenringe und blutunterlaufenen Augen ließen sie wie einen Zombie aussehen. Außerdem bekam sie durch das winzige Essen nur wenig Nahrung zu sehen: Morgens musste sie mit einer Schüssel Haferschleim auskommen, mittags gab es meistens eine Schüssel Suppe (Hühnersuppe, Rinderkraftbrühe, Erbsensuppe, Tomatensuppe, Kichererbsenbrühe, Karotten- oder Kürbissuppe), und abends gab es wieder Haferschleim. Jedes Mal zog sich ihr Herz zusammen, wenn sie die kleine Holzschüssel in die Hand nahm und den letzten Rest Essen mit dem Löffel vom Boden kratzte. Die knurrenden Mägen ersetzten bald jegliche gute Laune mit Verständnislosigkeit, Wut, Schlaflosigkeit, Neid und mieser Laune.

Die gestressten Novizen suchten sich schnell ihre persönliche Zielscheibe untereinander: Und das war sie. Seit geschlagenen drei Wochen floh sie nun schon vor den gehässigen Worten, merkte aber bald, dass das die jungen Leute erst richtig anstachelte. Die bösen Wörter verwandelten sich bald in kleinere Geplänkel: Man schubste sie, goss Tinte über ihre Notizen, stellte ihr ein Bein, schüttete dreckiges Putzwasser über sie, verschüttete ihr Essen, attackierte sie mit Holzstöcken im Schwertkampf-Unterricht, spuckte sie an und beleidigte ihre Familie. Kein Wunder also, dass sie sich nach einem Monat kaum mehr wiedererkannte: Ihr strahlendes Haar war stumpf geworden und sie sah durch den furchtbaren Haarschnitt der Novizen aus wie ein Verbrecher, ihr Gesicht war eingefallen, ihre Lippen rissig, ihre Fingernägel brüchig, sie war sehr dünn geworden und konnte bereits die Rippen über dem eingefallenen Bauch zählen, ihre blutunterlaufenen Augen mit den dunklen Ringen darunter machten sie zum Zombie und der Mangel an Essen und Schlaf ließ sie schwach werden. Ihr Körper zitterte teilweise unkontrolliert und sie fror von einem Moment auf den anderen.

Inzwischen waren von den zweiunddreißig Drachenreiternovizen nur noch achtzehn übrig geblieben, weil es für den Rest einfach zu hart gewesen war. Auch sie hatte mehrfach den Gedanken gehegt, sich einfach aus dem Staub zu machen, doch ihr Herz hatte sich verkrampft, wenn sie daran dachte, dass sie ihren Geliebten somit aus den Augen verlieren würde. Das Schlimme war, dass der Teil der Novizen, der zurückblieb, nun stark damit zu kämpfen hatte, in dieser Hölle am Leben zu bleiben. Ionandar und Lamaran waren ebenso mit sich selbst beschäftigt, wie alle Adligen auch und schafften es kaum noch, sich mit ihr zu unterhalten. Die beiden hatten sich von ihr entfremdet, als sie auf ihre gutgemeinten Ratschläge mit Unverständnis geantwortet und sie wütend ignoriert hatte. Sie hielten sich daher von ihr fern und warfen ihr nur noch ab und zu freundschaftliche Blicke zu. Dorothea war also auf sich allein gestellt: Ihr blieb kaum noch Zeit, über etwas anderes nachzudenken als ihr Studium und sie begann währenddessen sogar zu Ismira zu beten, weil sie sich irgendwie dadurch Erleichterung versprach. Doch ihre Hoffnungen blieben unerfüllt, denn nach eineinhalb Monaten waren die jungen Novizen so frustriert, dass sie begannen, sie mit Holstöcken zu attackieren, sobald der Lehrer der Schwertkunst wegschaute. Man verprügelte sie und stahl ihr Essen, klaute ihr sogar das Taschengeld, das alle Novizen von der Akademie bekamen! Während des morgendlichen Ausdauerlaufs schubste man sie Hänge hinab, sodass sie hinterher zu Heilern gehen musste.

Die Schwäche und Kälte kroch ihr in die Glieder und machte sie taub für die Gefühle, die ihr Herz ihr schenken wollte. Außer dem nächtlichen Weinen brachte sie fast kein Wort mehr über ihre Lippen. Auch die Briefe ihrer Tante beantwortete sie nicht mehr. Ihr fehlte einfach die Kraft, so zu tun, als ob es ihr gut ginge. Ihre monatlichen Blutungen waren schwächer und weniger geworden, was ein eindeutiges Zeichen dafür war, dass es ihr wirklich nicht gut ging. Doch das kam ihr nur recht: Je weniger Frau sie war, desto eher konnte man sie für einen Mann halten. Dass ihre Brüste sich nicht entwickelt hatten, sondern sogar kleiner geworden waren, versetzte ihr schon einen Stich, aber sie tat diese Empfindung schnell ab. So wie vieles andere auch.
 

Es war einer der Tage gewesen, die ihr Leben zur Hölle machten. Erst hatte sie die Nacht zuvor so schlecht geschlafen, dann musste sie den schweren Küchendienst übernehmen und war demnach vollkommen kraftlos in das morgendliche Ausdauertraining gegangen, während dem sie mehrfach fiel und sich die Hände und Knie blutig schlug. Zusätzlich dazu fiel sie weit zurück und kam deswegen auch noch zu spät zum Folgeunterricht: Schwertkampf. Der Lehrer verdonnerte sie zum Putzdienst, weswegen sie am Rand saß und Waffen schrubbte, ohne dabei die Übungen aus den Augen zu verlieren. Hinterher erwartete man schließlich von ihr, auf dem gleichen Niveau zu sein, obwohl sie nicht mitgemacht hatte.

So schaute Dorothea den ganzen Vormittag zu und fand sich erst bei der anschließenden Reitstunde wieder unter Leuten. An diesem Tag hatte sie natürlich Pech gehabt und das störrische Pferd, Dongo, bekommen, von dem sie gleich viermal hinunterfiel. Das Mittagessen war eine sehr leichte, wenig stopfende Gemüsesuppe, weswegen sie mit knurrendem Magen den Saal wieder verließ. Nach dem Essen gab es erneut eine Unterweisung in der Schwertkunst, bei der sie dieses Mal teilnehmen durfte. Da sie den Vormittag jedoch nicht mitmachen durfte, hinkte sie selbstverständlich hinterher. Der Lehrer bestrafte sie, indem er ihr erneut Putzdienst aufgab und das noch nach der Drachenpflege am Abend! Das Abendessen war ein bereits erkalteter Haferschleim, den sie inzwischen nur noch lustlos in sich hineinstopfte. Sie würgte und hatte ziemliche Mühe, die ersten Bissen im Magen zu behalten. Deswegen schob sie die Schüssel von sich und verließ den Saal alleine. Dann erledigte sie ihre Drachenpflege – früher als die anderen und konnte daher früher zum Putzdienst antreten. Das scharfe Poliermittel trieb ihr die Tränen in die Augen und sie bekam Kopfschmerzen. Als sie aufstand, erfasste sie ein Schwindel, den sie nur diesem Mittel zuschrieb. Vorsichtig machte sie sich auf den Rückweg zu ihrem Zimmer, doch der Schwindel wollte nicht gehen. Sie wankte einen Korridor entlang und kam am Ratssaal der Drachenreitergemeinde vorbei. Dann wandte sie sich nach rechts und prallte unverhofft gegen eine Säule, die da eigentlich schon immer gestanden hatte, die sie nur dieses Mal übersehen hatte. Sie fiel hin und blieb dort liegen, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, sich nicht mehr bewegen zu können.

„He! Kleiner! Geht’s dir gut?“, rief eine Stimme hinter ihr, doch ihr Sichtfeld verschwamm und sie erkannte nur noch unscharfe Umrisse. Zuordnen konnte sie die Gestalt nicht mehr, denn es wurde schnell schwarz um sie herum.
 

„Es ist jedes Jahr das gleiche Spiel, jedes Jahr! Neue Novizen kommen, die meisten von ihnen verschwinden nach einem Monat und die, die übrig bleiben, enden dann so“, meinte die weibliche Stimme in ihrer Nähe. Dorothea öffnete ihre Augen nur einen Spalt breit, denn das Sonnenlicht fiel ihr ins Gesicht und blendete sie. Blinzelnd versuchte sie, Tränen weg zu kämpfen, die in ihr aufgestiegen waren, weil das Licht so hell war.

„Wird er wach?“, fragte eine männliche Stimme im Gegenzug. In dieser wehte ein kleiner Hauch Erleichterung mit. Der Mann hatte sich wohl Sorgen gemacht. Ein Knarren, als würde jemand das Gewicht auf einem Stuhl verlagern, ertönte und die weibliche Stimme antwortete, jetzt näher:

„Ja. Endlich, wenn ich das sagen darf.“

Dorothea öffnete schließlich die Augen, nachdem sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte und schaute sich um. Der Raum, in dem sie lag, war nicht größer als eine kleine Kammer: Ein Bett stand darin, an der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Regal und über ihr ein Fenster. Sie schaute hinüber zu den beiden Gestalten an ihrem Bettrand – eine davon war die Freundin ihrer Tante Pilea, die in der Akademie auf Dorothea aufpassen sollte, Emma, die Heilerin. Der andere war ein schon etwas älterer Drachenreiter. Er musste die Mitte seines Lebens bereits überschritten haben, denn mit den Furchen im Gesicht und den ergrauten Haaren sah er aus wie ein Gnom. Oder ein anderes dieser Schreckenswesen aus den Geschichten ihrer Großmutter.

„Guten Morgen, junger Mann“, begrüßte er sie mit einem Lächeln, dass sein Gesicht in so tiefe Furchen legte, das sie wie Täler zwischen Bergen anmuteten. Er wirkte zwar freundlich, doch seine Augen blieben auch streng und stechend. Das ließ auf einen sehr wachen Geist schließen. Er trug die Drachenreiter-Uniform eines dunkelblauen Drachen. Sie war gut poliert und in gepflegtem Zustand. Die Auszeichnungen auf seiner Brust schimmerten golden im Sonnenlicht.

Dorothea schaute zu Emma hinüber, die ein wenig unsicher zwischen dem Mann und ihr hin- und hergeschaut hatte, so als müsse sie darauf achten, dass nichts Unbedachtes gesagt wurde. Die Heilerin war in Pileas Alter, Anfang bis Mitte dreißig und wies schon die ersten Sorgenfalten auf. Ihre Haut wirkte leicht fahl und ihre Augen erschöpft. Das lange braune Haar war zu einem Zopf im Nacken zusammengebunden und anschließen geflochten worden. Sie trug die beigen Heileruniformen, die an ihrem schmalen Körper jedoch riesenhaft wirkten und bei jedem Lüftchen zu flattern schienen.

„Oder sollte ich eher sagen, junge Frau?“, fuhr der Mann fort und Dorotheas Augen sprangen zu ihm zurück. Hastig setzte sie sich auf und drückte sich in die Ecke der Wände. Wie ein gefangenes Tier keuchte sie erschrocken und starrte ihn ängstlich an, doch er hob bloß die Hand.

„Nicht so eilig, meine Gute“, versuchte er sie zu beruhigen, nur dass das bei ihr nicht so gut klappte, bemerkte er wahrscheinlich sofort. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und sie versuchte verzweifelt, es wieder an den richtigen Ort zurück zu schlucken. Dass ihre Blicke nach einem Fluchtweg suchten, unterstütze ihre Angst nur zusätzlich.

„Nun beruhigt Euch doch, Gnädigste“, begann er erneut und dieses Mal schaute sie ihn direkt an. Es hatte nur eineinhalb Monate gedauert, bis man ihr Geheimnis herausgefunden hatte! Pilea hatte sie nicht darauf vorbereitet, so schnell aufzufliegen! Sie fühlte, dass sie zitterte, wollte jedoch nicht die Augen von dem Drachenreiter wenden und ließ es daher sein, sich mit den Armen wärmend zu umschlingen. Langsam und unter den beruhigenden Augen des Mannes verklang ihre anfängliche Aufregung und legte sich wieder schlafen. Sie räusperte sich.

„Imia, ich möchte Euch nur ein paar Fragen stellen“, meinte er ruhig, doch sie traute ihm nicht. Was, wenn er ihr Geheimnis lüftete und sie hinrichten ließ? Warum hatte sie ihrem Drachenreitergeneral bloß nicht ihre Liebe gestanden?! Sie hatte so vieles in ihrem kurzen Leben nicht geschafft und nun würde sie es nie erfüllen können! Wie grausam das Schicksal einzelne Menschen doch treffen konnte – Menschen wie sie!

„Ruhig, ich will Euch nichts tun“, flüsterte er erneut und sie schaute ihn an. Widerstand stieg in ihr auf und sie konnte sich ein Schnauben nicht verkneifen, als sie antwortete:

„Dann fragt!“

Der Mann schien erst ein wenig überrascht über ihre Art, fing sich aber schnell wieder und lächelte daraufhin. Mit sanften Worten und gewählter Sprache erkundigte er sich nach ihrem Wohlbefinden. Sie fühlte sich mies, schwach, dreckig, schlecht, krank und verlassen, doch stattdessen würgte sie ein einfaches „Fein, danke“ hervor. Er nickte wenig überzeugt.

„Mein Name ist Ruiyan Filmanssohn. Ich bin der Großgeneral der Drachenreiter“, stellte er sich vor und sie wäre daraufhin fast verwelkt! Von all den Leuten, die es hätten herausfinden können! Der Großgeneral! Ismira! Sie war so tot!

„Ich entsende meine Grüße, Ruiyan-soireyliar“, murmelte sie und schluckte einen Kloß hinunter. Sie würde sterben. Ohne erfüllte Wünsche. Ohne Hochzeit. Ohne Kinder. Als Frau mit kurzen Haaren! Was für eine Schmach!

„Ich fand Euch bewusstlos auf dem Boden und brachte Euch her. Während ich Euch trug, fielen mir die Bandagen auf, die Ihr um Eure Brust gewickelt habt. Ich dachte, Ihr würdet keine Luft bekommen, weil diese sehr eng gebunden waren, also löste ich sie und fand Euer großes Geheimnis heraus.“

Sie konnte nicht um Verzeihung bitten, weil sie in eigenem Interesse gehandelt hatte und zu nichts gezwungen worden war. Sich zu entschuldigen stand ihr demnach nicht zu, das wusste sie sehr gut. Sie würde es auch nicht machen, da sie diese Karten ausgespielt hatte und sie nicht mehr zurücknehmen konnte. Wenn sie die Runde verlor, dann weil sie Pech im Spiel gehabt hatte. Es war an der Zeit, dass sie den Spielertisch verließ, denn ihr Einsatz war verbraucht. Also senkte sie bloß den Kopf.

„Darf ich Eure Beweggründe erfahren?“, fragte Ruiyan plötzlich und Dorothea biss sich auf die Lippen. Nachdem sie eine Weile schweigend und überlegend darauf herumgekaute hatte, entschloss sie sich, zu sprechen:

„Ich wollte die erste Drachenreiterin werden.“

„Und warum?“, hakte er nach und sie wusste instinktiv, dass lügen ihr nicht weiterhalf, also konnte sie auch einfach die Wahrheit sagen.

„Es ist ein Kindheitstraum gewesen. Ich bin mit scharf anmutenden Augen geboren, die im Nordosten des Landes sehr weit verbreitet sind. Deshalb hielt man mich immer für direkt und unverschämt, wenn ich aufsah oder andere Menschen anschaute. Man verachtete mich dafür und hatte Angst vor mir, dabei war ich bloß ein Kind. Ich war einsam und da wir nicht viel Geld und Essen hatten, hungerte ich. Mehr sogar als meine Familie, die sich schon bald von mir entfremdete. Ich begann im Geheimen zu arbeiten, um mir vielleicht doch etwas kaufen zu können, doch das Geld, das ich in die Familienkasse gab, wurde nicht für mich ausgegeben. Meine Schwestern und die Kinder meiner Brüder wurden damit zur Schule geschickt, während für mich nichts übrig blieb. Also beschloss ich steinreich zu werden und alles nachzuholen, was ich in meiner Kindheit verpasste.“

„War das der Grund?“, fragte Ruiyan mit gerunzelter Stirn. Er schien nicht begeistert, doch das sah sie ihm nach. Ein so minderwertiger Grund war schändlich. Sie seufzte und sagte:

„Wenn ich ehrlich bin. Es war ein Auslöser, aber nicht mehr. Ich liebe Drachen – meine Tante erzählte mir viel von ihnen und die Geschichten darüber brachten mich ins Schwärmen, obwohl ich diese Wesen noch nie gesehen hatte. Sie waren der einzige Lichtblick in meinem Leben, also träumte ich von ihnen. Und irgendwann träumte ich mich hinzu – als Reiterin. Schlachten kämpfen, siegen, Ehre – all das will ich nicht durch meine Novizenzeit erreichen. Ich möchte bloß einen Drachen fliegen. Nicht mehr.“

„Und warum habt Ihr nie einen der Reiter gefragt, ob er Euch einmal für eine kleine Zeit mitnehmen könnte? Dann hättet Ihr Euer Ziel ebenfalls erreicht.“

„Als würde man auf dem Land Drachenreiter treffen. Solche wichtigen Herren sind zu fein für den Straßendreck, erzählt mir doch nichts. Ohne Reiter, auch kein Drache. Für mich blieb nichts Anderes übrig, als mich zur Hauptstadt zu begeben, um dort nach ihnen zu suchen.“

„Warum seid Ihr dann hier?“

„Weil ich immer noch keinen Drachen geritten habe und außerdem das Gefühl habe, dass der Wind mich nie wieder loslassen wird, wenn ich es einmal getan habe. Ich liebe das Gefühl der bewegenden Luft. Also entschied ich mich, selbst Drachenreiter zu werden, um einen Drachen zu bekommen, der nur mir allein gehört und mit dem ich stundenlang umherfliegen kann“, gab sie ehrlich zu. Dass der Funken der Explosion aber die Liebe zu ihrem Drachenreitergeneral war, verschwieg sie. Schließlich würde sie ihn dadurch in Gefahr bringen. Wer weiß, was der Großgeneral von ihr wollte.

Ruiyan musterte sie eine geschlagene Ewigkeit, doch sein Gesichtsausdruck gab keine Auskunft zu seinen Gedanken. Lange Zeit ruhten seine Augen auf ihrem Gesicht, er sah sie sogar direkt an, ohne zusammenzuzucken, als sie seinen Blick ganz ohne Scheu erwiderte. Als würde er versuchen, in ihr zu lesen oder sie zu verstehen. Doch nichts davon konnte man bei ihm erkennen. Es waren reine Vermutungen von Seiten Dorotheas.

„Ihr seid eine mutige Frau“, setzte er an und lehnte sich in seinem Lehnstuhl zurück, bevor er sie weiter anstarrte. Er schien es im Gegensatz zu ihr nicht als unhöflich zu empfinden, das zu tun, doch sie wurde unter seinem Blick unruhig und unsicher.

„Das sollte ich auch sein, sonst würde ich schneller auffliegen, als mir lieb ist. Ich werde dafür sterben müssen, nicht wahr?“, erwiderte sie schließlich, widerspenstiger als geplant.

„Das Gesetz besagt nichts Dergleichen“, murmelte Ruiyan und wiegte sich hin und her, als überlegte er, wie er es ihr erklären sollte.

„Einmal ganz ehrlich gesprochen: Kein Unbefugter würde sich im Normalfall trauen, mitten ins Herz der Regierung zu wandern und dort an einer der heiligsten Institutionen teilzunehmen. Man erwartete so eine Infiltration nicht, weil hier so viele Soldaten und Drachenreiter und Priester stationiert sind, dass der Ort als Sperrbezirk bezeichnet wird. Außerdem wohnt hier der „berüchtigte“ König und das Gericht befindet sich ebenfalls hier. Wer ist so dumm und richtet unter den Augen dieser Menschen Unfug an?“

Dorothea hielt den Blick starr auf die Hände in ihrem Schoß gerichtet, während sie nervös die Finger miteinander verschlang und auf ihrer Unterlippe kaute. Er hatte Recht. Das ganze Vorhaben war von Anfang an verrückt gewesen, aber wenn es keine Todesstrafe auf ihr Verhalten gab, war sie fürs Erste sicher.

„Fühlt Euch nicht zu sicher, Imia. Der König handelt gerne ohne Gesetz so, wie er es für richtig hält. Nur weil kein Gesetz dafür existiert, heißt das nicht, dass Ihr unantastbar seid. Schließlich ist es keine Neuigkeit, dass die Akademie nur für Männer zulässig ist“, verunsicherte er sie und sie schaute zu ihm auf, als ob er ihr Hilfe geben könnte. Sein Blick ruhte jedoch auf der Heilerin, die bis jetzt von ihr vergessen hinter ihm gestanden hatte. Dann wandte er sein Wort an Emma:

„Heilerin. Seid Ihr eine Komplizin?“

„Soireyliar, ich bin mir keiner gesetzeswidrigen Aktion bewusst“, erwiderte sie mit zittriger Stimme und Dorothea nickte bekräftigend den Kopf. Ruiyan lächelte plötzlich schelmisch.

„Nun, gut. Ich mache eine Bestandsaufnahme: Wir haben eine Frau als Novize aufgenommen, ohne es gewusst zu haben – unter der Decke steckt ebenfalls eine Heilerin und mit großer Wahrscheinlichkeit noch mehr Menschen, von denen ich noch nichts weiß und auch nichts wissen will. Ich für meinen Teil werde so tun, als sei alles in Ordnung. Ich werde Euch beobachten, meine Dame. Aber mehr auch nicht. Ich fand die Idee, weibliche Novizen aufzunehmen, sowieso schon immer sehr interessant – Ihr dient also meinem unlauteren Zweck.“

„Damit macht Ihr Euch aber zu meinem Komplizen!“, rief Dorothea aus und sah den Großgeneral entsetzt an. Doch der zuckte mit den Schultern.

„Ich habe in meiner Jugend genug Mist gebaut und bin dafür bekannt, gerne meine eigenen Experimente durchzuführen, ohne andere darüber aufzuklären. Bis vor einigen Jahren hatte ich zudem einen äußerst widerspenstigen Novizen, der viele Probleme während seiner Zeit an der Akademie hatte. Wisst Ihr, er war in gewisser Weise ein ebenso ärmlicher Mensch wie Ihr, doch allein seine Disziplin und Standhaftigkeit haben ihn durch die Lehrzeit gebracht. Jetzt ist er ein sehr, sehr erfolgreicher Drachenreiter mit einem furchtbar großen Stolz. Dieser Reichtum an Stolz, den er in seinem Herzen trägt, schneidet ihn von jeglichen persönlichen Kontakten ab – nur mit einigen wenigen Menschen pflegt er engen Umgang, ich gehöre glücklicherweise noch dazu. Manchmal sorge ich mich um ihn und gehe für ihn beten. Ich hoffe, dass die Schwächen und die Brandflecken in seinem Herzen verschwinden werden. Ich hoffe, dass Licht auf ihn scheinen möge. Genauso wie auf Euch. Glück sollte Euren Weg segnen.“

Dorotheas Augen füllten sich mit Tränen. Erleichterung schwemmte ihre Angst hinweg, obwohl sie sich in den tiefsten Ecken ihres Herzens immer noch darüber wunderte, dass der Großgeneral so einfach eine alte Tradition brechen konnte und noch dazu, ohne mit der Wimper zu zucken! Doch an allererster Stelle war sie wirklich dankbar, dass er sie in der Akademie ließ. Als ihr diese Gefühlsregung auffiel, hätte sie beinahe aufgelacht. Sie wollte bleiben! Bleiben! Warum hatte sie das nicht früher bemerkt?! Sie wollte bleiben! Weil sie ihren General sehen, weil sie für sich kämpfen konnte, weil sie mit Drachen in Kontakt kam, weil sie nicht gegen ihre Vergangenheit verlieren wollte. Wo war ihr Selbstvertrauen von vor eineinhalb Monaten geblieben, dass sie sich so mühsam vor dem Spiegel im Wirtshaus zusammengekratzt hatte? Wo war ihre tiefempfundene Liebe zu ihrem Drachenreiter geblieben, die sie bis nach Saitan gedrängt hatte, nur um dort festzustellen, dass auch sie einen großen Teil seines Herzens und seiner Gedanken in Anspruch nahm? Wo war ihre Hartnäckigkeit, ihre Neugierde, ihr Temperament, ihre Stärke abgeblieben?

Unbewusst fuhr sie zum ersten Mal seit vier Wochen über ihren Bauch und umkreiste den Bauchnabel – natürlich konnte sie das Drachenreitermal nicht spüren, doch sie erinnerte sich noch gut an die Gelegenheit, zu der sie das letzte Mal gebadet hatte – nach dem Sonnenstand vorgestern Abend. Es war noch genauso schwarz gewesen wie beim Erscheinen. Er liebte sie immer noch und sie musste ihm zeigen, dass auch sie bereit war, ihre Gefühle mit ihm zu teilen.

„Ich danke Euch“, würgte sie unter Tränen hervor, doch der Großgeneral winkte ab und grinste stattdessen, sodass seine tiefen Falten wieder zu Furchen riesigen Ausmaßes wurden. Dann antwortete er:

„Sagt mir Euren Namen, Novicar!“

„Alan Luiranssohn, Soireyliar“, erwiderte sie prompt in männlicher Stimmlage. Er nickte und beugte sich dann vor, bevor er noch einmal fragte:

„Nennt mir Euren Namen, Inaria.“

„Dorothea“, murmelte sie zurück. Sie musste ihm ja nicht auch noch verraten, wer ihre Mutter war, oder? Doch er schien ihr Zögern bemerkt zu haben und lächelte.

„Ich kannte einmal eine Frau, die Euch sehr ähnlich war.“

Sie schaute auf und konnte ihre Neugierde nicht ganz verbergen. Es gab wenige Frauen, die ihr ähnelten. Sowohl äußerlich, als auch innerlich. War sie doch kein Einzelfall?

„Sie reiste in Männerkleidern und kämpfte mit jungen Burschen – mit Holzstäben als Schwert. Da war ich noch Mitglied der Sturmjägergarde. Vor zwanzig Jahren muss das gewesen sein. Sie war wild wie ein Drache und stark wie einer. Mit Verlaub, ich habe niemanden getroffen, der so faszinierend war. Aber meine Frau war mir trotzdem lieber!“, lachte er und Dorothea konnte sich ein Schmunzeln nicht verwehren. Das klang wahrlich nach ihr.

„Wer war sie?“

„Oh, sie war eine Kaufmannstochter. Sie reiste mit ihren Eltern auf der Handelsstraße von Tandandom nach Belquat-Heten.“

„Belquat-Heten?!“, erstaunte sich Dorothea. Seit sie denken konnte, waren die beiden Länder miteinander im Krieg. Das musste gefährlich gewesen sein!

„Damals waren die beiden Länder noch nicht Feinde, müsst Ihr wissen, Inaria. Das geschah erst vor ungefähr siebzehn Jahren.“

In dem Jahr, in dem sie geboren wurde, brach also der Krieg zwischen Saitan-Heten und Belquat-Heten aus. Was für ein Unglücksjahr das gewesen sein muss! Dennoch hörte sie Ruiyan weiterhin aufmerksam zu, als er von einer weit entfernten Erinnerung erzählte und dabei lächelte.

„Sie lernte auf der anderen Seite einen Drachenreiter kennen und verliebte sich in ihn. Danach habe ich sie nie wieder gesehen. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt oder ob sie Kinder hat oder ob sie mit diesem Mann verheiratet ist. Ich kannte sie auch nicht lange, müsst Ihr wissen, deswegen hatten wir nie großartigen Kontakt. Höchstens ein, zwei Jahre. Doch sie war wirklich eine schöne, unzähmbare Frau.“

„Sie muss glücklich sein. Sie muss leben und glücklich sein“, meinte Dorothea und Ruiyan sah sie erstaunt an, bevor er fragte:

„Wieso das?“

„Eine so starke Frau muss einfach einen wundervollen Mann geheiratet haben und ein glückliches Leben führen. Starke Frauen kämpfen schließlich für ihr Glück!“, behauptete sie und Ruiyan lachte. Emma fiel mit ein und meinte dann:

„Das erinnert mich an meine gute Freundin, Pilea.“

Ruiyan zuckte bei dem Namen zusammen und fuhr zu der Heilerin herum, die sich erstaunt kerzengerade aufsetzte und fragte:

„Was habt Ihr?“

„Pilea, sagtet Ihr?!“

Dorothea schaute von der Frau zu dem Mann und wieder zurück. Ruiyan schien ihre Tante zu kennen! Was hatte die Frau bloß alles in ihrem Leben angestellt oder erlebt?!

„Was habt Ihr?“, wiederholte Emma ihre Frage vorsichtig und Ruiyan schüttelte immer noch überrascht den Kopf.

„Also lebt sie doch noch!“, rief er dann aus und Dorotheas Herz begann wild zu schlagen. Er hatte von ihrer Tante gesprochen! Ihre mutige, starke, verrückte Tante Pilea! Sie war so unglaublich berühmt! Wie konnte sie Dorothea bloß all diese Abenteuer verschweigen und ihr lediglich von Drachen berichten!

„Natürlich lebt sie noch!“, empörte sich Emma und Dorothea nickte bekräftigend.

„Sie ist meine Tante“, fügte sie hinzu und Ruiyan sah sie lange Zeit an, bevor er plötzlich zu lachen begann.

„Das hätte ich mir ja denken können. Ihr Blut fließt eindeutig in Euren Adern, Inaria!“

Es war schon seltsam, was für Zufälle es im Leben gab, fuhr ihr durch den Kopf, während sie den Großgeneral ebenso intensiv musterte wie er sie. Gab es ein Anzeichen von ihrer Tante an ihm? Vielleicht ein wenig von seiner Experimentierfreude. Hatte er die von ihrer Tante?

Lange Zeit schwelgten alle in Erinnerungen und die Sonne wanderte in Dorotheas Rücken weiter und weiter, bis sie zum Ende des Tageskreislaufs den Horizont berührte und die Nacht ankündigte. Emma schickte daraufhin der Großgeneral hinaus, damit Dorothea noch ein wenig Ruhe bekam, bevor sie wieder in die Akademie zurückkehrte. Ruiyan verabschiedete sich nur ungern, weil er weitere Details über seine alte Freundin erfahren wollte, doch Dorothea hatte ihm nur wenig zu erzählen, weil sie bemerkte, dass Pilea immer nur sehr selten und dann auch nur Bruchstücke über sich berichtet hatte. Wenn sie ihre Tante das nächste Mal sah, würde sie diese zur Rede stellen.

Outlaw

Vlaindar konnte nicht anders, als sich Sorgen zu machen. Er hatte seine Strafe zusammen mit seiner Garde abgesessen, hatte geputzt und meditiert und gebetet und noch viel mehr getan, bloß um seine befleckte Weste wieder weiß zu waschen. Dennoch hatte er das Gefühl, das sowohl die Folter als auch die Bestrafung den König nicht vollständig von seiner Sündenbefreiung überzeugt hatten. Er musste etwas dagegen unternehmen.

Inzwischen wusste ganz Saitan-Heten, dass General Vlaindar mit einer Frau geschlafen und sein Zölibat gebrochen hatte. Die Frauen waren ihm reihenweise hinterher gelaufen, weil er ja nun praktisch für ‚vogelfrei‘ erklärt war. Wer seinen Zölibat bricht, der nimmt ihn auch nicht ernst. Wer einen Zölibat nicht ernst nimmt, der lebt in keinem. Wer in keinem lebt, ist Junggeselle. So wie er jetzt. Und er war ein nicht unbeliebter Heiratskandidat: Nach all dieser Zeit war und blieb er ein Prinz. Außerdem hatte er zufällig noch eine Lordgeneral-Position inne – natürlich durfte man ihn noch nicht so nennen, aber das hatte sich den Anzeichen nach bald erledigt. Er war jung, erfolgreich und reich – vielleicht auch ein bisschen gutaussehend – und schwupps! Wie die Frauen ihn liebten. Wie er die Frauen hasste.

Tagsüber verkroch er sich, wenn er es denn schaffte, in allen Winkeln der Akademie und ging den feinen Damen aus dem Weg, die am Hofe hausten: Zu ihnen gehörten nicht nur die Töchter der Angestellten wie Heilern oder Drachenreitern, sondern auch die Töchter der Adeligen, die die Frauen im Zuge der Ausbildung nach Saitan geschickt hatten. Manchmal wurde er förmlich verrückt, wenn er bloß das Rascheln von weiten Röcken hörte und das leise Kichern vernahm, das Frauen ausstießen, um sich bemerkbar zu machen. Hairima hatte ihn dafür ausgelacht und sie begann jedes Mal von vorne, wenn sie durch seine Gedanken hindurch mitbekam, was um ihn herum wieder passierte. Dabei wollte er nichts Anderes, als in Ruhe gelassen zu werden!

Vlaindar seufzte und öffnete seine Wohnungstür, bevor er hindurchging und die Holztür hinter sich verschloss. Den Schlüssel verstaute er in seiner Drachenreiteruniform. Dann ging er den Korridor entlang, passierte dabei Palinors Wohnungseingang und hörte von dort Kinderlachen, warf einen kleinen Blick auf Keorans Wohnungstür und marschierte weiter. Es wurde Zeit, dass er Hairima pflegte und ihr ein wenig die Schuppen streichelte. Sie würde schnurren wie eine Katze und sich an ihm reiben, wenn er ihr nicht fest genug kraulte. Dann müsste er sie waschen und am Ende wäre er genauso sauber wie sie, weil sie ihn während des Badens immer vollspritzte.

Das Rascheln kam unerwartet erwartet. Seit einem guten Monat vernahm er dieses Geräusch beinahe tagein, tagaus. Wie konnte er es also nicht wiedererkennen? Doch dass ihn diese Frauen nun schon bis fast zu seiner Tür begleiteten, fand er aufdringlich und gesellschaftlich unangebracht. Verärgert blieb er stehen und drehte sich um. Wie zu erwarten gewesen war, stand hinter ihm keiner, doch hinter der nächsten Ecke konnte er einen Rockzipfel hervorblitzen sehen und er hob die Augenbraue. Weil er nicht weiterging und sich die Frau anscheinend gewundert hatte, ob sie ihn vielleicht aus den Augen verloren hatte, schaute sie um die Ecke. Von ihm erwischt, zuckte sie schuldbewusst zusammen, kam dann jedoch hervor. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, das mehr ihre Unsicherheit als ihre Zuneigung zu ihm zeigte. Er seufzte. Plötzlich schaute sie auf und drehte sich in Richtung des Korridors, aus dem sie gerade hervorgetreten war, so als hätte sie dort etwas gehört. Ihr Grinsen wurde breiter und sie schaute eilig zu ihm hinüber. Er runzelte die Stirn und verschränkte die Arme. Als er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, unterbrach sie ihn und sagte:

„Heute ist ein besonderer Tag!“

„Warum?“, konnte er sich nicht davon abhalten, nachzufragen. Ihm war diese Frau nicht ganz geheuer. Irgendwas hatte sie an sich, das er beunruhigend fand. Sie heckte irgendetwas aus, ganz sicher. Sie lächelte noch breiter als zuvor und breitete undamenhaft die Arme aus. Dann meinte sie:

„Darum!“

Hinter ihr traten zehn andere junge Frauen aus dem Schatten und Vlaindar wusste sofort, was er tun sollte. Abhauen hieß die beste Taktik. Er tat genau das und drehte sich um. Mit viel Würde ging er, doch die Frauen gaben nicht so schnell auf. Sie trippelten ihm hinterher, bis er ihre Anwesenheit schon in seinem Rücken spürte. Mit einem schnellen Schulterblick versicherte er sich davon, dass sie sich bereit machten, auf die Jagd zu gehen. Und er war die Beute. Er sollte schleunigst die Beine in die Hand nehmen und das Weite suchen. Das tat er auch. Mit einem ungraziösen Wirbel drehte er sich um und lief los. Seine schweren Stiefel knallten auf den Steinboden und verursachten hallende Geräusche in den leeren Korridoren, doch schon bald machten sie nicht den einzigen Lärm. Die Stöckelschuhe und die Stiefel der Frauen klackerten hinter ihm, sodass er sich nicht einmal versichern musste, dass sie noch da waren.

Er hetzte aus dem Wohnungsblock und in den anschließenden verworrenen Tunneltrakt, der aus diesem Teil des Sperrbezirks hinausführte. Dabei rannte er beinahe eine Mutter von zwei Kindern über den Haufen, die erschrocken ihre Einkäufe fallen ließ und ihre Kinder hinter sich schob. Ihr blieb kaum Zeit zu einem entrüsteten Aufschrei, als er schon weiterlief – natürlich während er sich dabei entschuldigte. Wenig später erblickte er seine Verfolgerinnen, genauso wie die Frau auch. Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu und drückte ihre Kinder an sich. Die jungen Damen nickten ihr zu und hasteten hinter ihm her. Seit wann konnten Hofrosen laufen?! Seit wann konnten sie rennen und Männer so bedrängen?! Um Ismiras Willen! Wer hatte Frauen so etwas beigebracht?!

Sein Weg führte ihn durch das Steingemäuer der Tunnel und die Treppe hinauf auf die Galerie, die die Akademie in ihrem Inneren errichtet hatte, damit Leute hinab in die Eingangshalle schauen konnten. Vlaindar prallte beinahe gegen die Balustrade, stieß sich davon ab und lief den marmorierten Gang entlang. Dabei begegnete er einigen verwundert dreinblickenden Drachenreiter, von denen er wenig später ein überraschtes Schnaufen hörte, als diese auf die Mädchen trafen. Die Galerie war ewig lang und die Schritte hinter ihm hörten auch nicht auf, also ging er davon aus, dass die Frauen immer noch hinter ihm her waren.

Vlaindar erreichte nach einer gefühlten Ewigkeit die Treppe zur Eingangshalle und lief sie hinab. Dabei übersprang er ab und zu ein paar Stufen, um schneller hinunter zu kommen. Die Mitte der Halle erreicht, traute er sich noch einmal, einen Schulterblick zu wagen. Die Frauen waren auf den untersten Treppenstufen angekommen und begannen erneut ihre Verfolgung. Er stöhnte und lief weiter. Eigentlich hätte er diesen Lauf als gute Übung ansehen können, doch das Sprinten gehörte nicht zu seinen Lieblingsdisziplinen, weil es sehr viel Energie kostete.

Also hastete er sehr widerwillig schnell durch die geöffneten Flügeltüren der Drachenreiterakademie auf den kleinen Vorplatz und von dem aus in ein weiteres Tunnelsystem, das ihn auf die Galerie des Übungsplatzes bringen würde. Als er durch den finsteren Gang eilte, ärgerte er sich über die erloschenen Fackeln – später würde er dem Fackelmeister gehörig seine Meinung sagen. Das war sehr gefährlich!

Erschöpft preschte er durch den Tunnelausgang ins Licht und auf die Galerie, die er schließlich entlanglief in der Hoffnung, die Treppen auf den Übungsplatz zu erreichen. Dabei sprang er natürlich sehr gekonnt den Menschen aus dem Weg, die ihm entgegenkamen. Einige von ihnen erschraken sich so sehr, dass sie die Ware, die sie mit beiden Armen trugen, fallen ließen. Einige schimpften. Andere wiederum schauten ihm interessiert nach – das aber auch nur, bis ihnen die Frauen auffielen, die ihn verfolgten.

‘Ach, Kleiner. Du bietest mir immer eine Lösung für meine Langeweile‘, seufzte gerade Hairima liebevoll in seine Gedanken. Sie amüsierte sich natürlich köstlich darüber, dass er sich hier zu Tode lief. Drachen! Und soweit er das aus ihrem Kopf entnahm, befand sie sich gerade auf dem Übungsplatz und ließ sich bestaunen. Dort wartete sie immer auf ihn, wenn er sie pflegen wollte. Jetzt sandte sie ihm kontinuierlich Bilder und Empfindungen von staunenden Novizen, die in einem Kreis um sie herum standen und sie lobten. Ja, Drachen liebten es, angestaunt zu werden. Komplimente waren hier nie fehl am Platz. Vlaindar seufzte. Von einer Horde Frauen in eine Horde Novizen zu laufen, war natürlich genau das, was er gerade brauchte.
 

Dorothea sah die grüne Drachendame an und wusste nicht recht, was sie jetzt tun sollte. Das war eindeutig der Drache ihres Generals! Aber Drachen waren klug und ein Prinzess-Drache … Sie würde Dorothea erkennen, selbst in dieser „Alan“-Verkleidung.

Deshalb wagte sie sich nicht in den großen Kreis an Bewunderern, der die Erhabene umgab. Die Drachendame schnaubte belustigt, als man ihr gerade das Blaue vom Himmel herunter versprach, weil sie so schön wäre. Bis jetzt hatte sie noch in keinen Geist gesprochen – gab sich also demnach äußerst animalisch.

„Sie ist wunderschön“, kommentierte Lamaran neben ihr die Drachendame. Insgeheim stimmte Dorothea ihm zu. Ohne Zweifel eine der schönsten Kreaturen dieser Welt. Sie blinzelte. Hatte er gerade wirklich mit ihr geredet? Sie waren doch seit Wochen eher Nicht-Freunde als Freunde! Sie drehte sich zu dem jungen Novizen um, der sie beobachtete. Neben ihm stand Ionandar und blickte ebenfalls zu ihr hinüber. Ihre Augen wanderten von einem zum anderen.

„Verzeihung. Für was auch immer“, meinte Lamaran und grinste entschuldigend. Seine Augen drückten die gleiche warme Freundschaft aus, wie sie es getan hatten, als sie sich kennen gelernt hatten. Dorothea spürte wie innerlich ein Stein von ihrem Herzen fiel und ihr Gemüt sich lüftete. Sie lächelte zurück und spürte als Antwort ein leichtes Klopfen auf ihrer Schulter: Ionandar war um sie herum geschlichen und schlug jetzt mit seiner Hand auf ihre Schulter. Seine Augen sprachen von Vergebung.

„Es tut mir Leid“, murmelte sie beschämt. Die Jungs hatten ihr so schnell vergeben und sie hatte ihnen so schlimme Dinge an den Kopf gebrüllt – innerlich versteht sich –, dass sie jetzt ein wenig schüchtern war.

„Ach was! Das ist vergeben und vergessen“, erwiderte Lamaran bloß mit einer wegwerfenden Bewegung seiner Hand. Ja, sie hatten sich nie gestritten, aber im Grunde hatte sie ihr Leid und ihre Wut an ihnen ausgelassen und sie sogar ignoriert! Wie Leid ihr das jetzt tat!

„Wunderschön“, lenkte Ionandar ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Drachendame und Dorothea war ihm mehr als nur dankbar dafür, sie hätte sonst geweint und echte Kerle heulten nicht.

‘Vielen Dank‘, summte eine weibliche Stimme in ihre Gedanken und die Novizen zuckten zusammen. Hatte sich die stolze Dame also doch dazu entschlossen, etwas zu sagen.

‘Mein Name ist Hairima. Ich bin Vlaindars Drache!‘, fügte sie stolz hinzu und warf sich in die Brust. Die Novizen waren von der koketten Stimme ganz verzaubert und starrten mit offenen Mündern zu ihr auf. Hairima summte und stupste einige Jungen, die ihr zu nahe kamen, mit ihrer Schnauze an, sodass diese Platz machten.

‘Nur Vlaindar darf mich reiten, nur Vlaindar!‘, summte sie, während sie die Novizen sanft von sich stieß. Dorothea war sofort verzaubert. Mit Ionandar und Lamaran trat sie näher und mischte sich unter die Novizen, um dem grünen Drachen näher zu sein. Die Drachendame bemerkte das natürlich und beschnupperte die Neuankömmlinge.

‘Wer seid denn ihr?‘, fragte sie schließlich und die Drei fingen sich eifersüchtige Blicke ein. Vollkommen perplex, weil sie es nicht erwartet hatten, von einem Drachen direkt angesprochen zu werden, erstarrten sie.

‘Hat man euch die Zungen geklaut?‘, erkundigte sich die Drachendame neckend und die Drei lockerten sich etwas. Hairima schnaubte ihre Erheiterung aus und die warme Böe zerzauste die Kleidung der Novizen. Man wich zurück, nur Ionandar, Lamaran und Dorothea blieben stehen. Schließlich hatte der grüne Drache ja mit ihnen gesprochen.

‘Also?‘, fragte Hairima sie ungeduldig und brachte ihren Kopf nahe an die Drei heran, sodass man sehen konnte, wie die Goldadern das grüne Schuppenkleid durchwoben und zum Schimmern brachten. Ionandar und Lamaran waren so sprachlos, dass alle Versuche ihrerseits, sich zum Sprechen zu zwingen, scheiterten. Also war es an Dorothea sich zu räuspern.

„Wir sind auch Novizen im ersten Jahr“, quiekte sie, als sei sie ein Junge im Stimmbruch. Die Drachendame kicherte – oder so ähnlich, denn es klang etwas anders als das menschliche Äquivalent.

‘Ach so, das sieht man ja auch nicht an der Uniform‘, neckte sie und Dorothea lief rot an.

„Mein Name ist Alan und das sind Ionandar und Lamaran“, haspelte sie schnell dazu und wedelte mit einer Hand in Richtung ihrer Wieder-Freunde.

‘Oh, Ionandar ist ein guter Name. Jeder Drache kennt diesen Namen. Ein guter, wertvoller Drachenreiter‘, kommentierte sie Ionandars Namen. Der Junge dazu lief tomatenrot an und neigte hastig den Kopf, während er immer wieder dankende Worte murmelte. Die Drachendame summte und wandte sich dann Lamaran zu.

‘Du riechst lecker‘. Das sollte wohl ein Kompliment sein, doch Lamaran wurde ziemlich blass um die Nasenspitze und schaute sich schleunigst nach einer Fluchtmöglichkeit um. Hairima lachte grollend und schüttelte ihre Flügel aus. Dann blickte sie Dorothea an.

‘Du kommst mir bekannt vor‘, meinte sie und schnüffelte an ihr herum. Dorothea versteifte sich und rief panisch aus:

„Das kann nicht sein. Ich sehe Euch zum ersten Mal!“

Die Drachendame durchschaute sie natürlich sofort und frohlockte:

‘Ach so, natürlich!‘

Doch nicht einmal zwei Sekunden später, sprach sie direkt zu Dorothea. Ganz privat, denn das Hallen ihrer Gedankenstimme war verschwunden und die Wucht ihres mysteriösen Geistes prallte gegen Dorotheas Schädelinnenwände und brachte diese zum Vibrieren.

‘Glaubst du wirklich, du könntest mich veräppeln?‘, schnaubte Hairima in ihren Geist und Dorothea schluckte unwillkürlich. Ihre Handflächen waren schweißnass und ihre Augen aufgerissen, ihr Blick verfangen in den Tiefen der Drachenpupillen.

‘Ich kann besser riechen als jeder Drachenreiter. Ich kenne deinen Duft aus der Nacht in Fandenstar. Du warst die Kellnerin mit den roten Haaren. Vom Wirtshaus. Die, mit den sanften Händen und der natürlichen Wildheit. Du siehst aus wie ein Junge.‘

‘Das ist nötig‘, sagte Dorothea und begann, sich zu beruhigen. Sie durfte nicht auffliegen! Nicht jetzt, nach all dieser schrecklichen Zeit!

‘Nötig? Wofür? Ja, Vlaindar hat mit dir … wie sagen die Menschen? Geschlafen! Und er liebt dich, ja. Aber du bringst nicht nur dich in Gefahr sondern auch ihn, wenn du dich hier einschleichst. Es wäre besser gewesen, wenn du draußen gewartet hättest, bis er seine Angelegenheiten hier geregelt und dich geholt hätte‘, sagte Hairima, die jedoch nicht böse klang sondern belustigt. Dann wandte sich die Drachendame kurzzeitig von ihrem Geist ab und Dorothea hörte sie etwas sagen. Sie sprach mit dem General! Irgendwas mit einer „Lösung für Langeweile“ oder so. Es war so leise, dass sie es nicht wirklich verstand.

‘Verzeihung. Ich bringe Euch nur in Schwierigkeiten‘, entschuldigte sich Dorothea kleinlaut.

‘Nun ja, Schwierigkeiten … Immerhin amüsiere ich mich hier köstlich. Dank dir wird Vlaindar gerade von zehn adeligen Frauen durch die Akademie gejagt, weil er unter ihnen als äußerst beliebter Heiratskandidat gilt. Das muss es ihm aber wert gewesen sein. Er beschwert sich nicht.‘

Dorothea war entsetzt. Sie wusste, dass er im Zölibat gelebt hatte, bevor sie ihn verführte. Jetzt, da es anscheinend herausgekommen war, dass er mit einer Frau geschlafen hatte, galt er wohl als vogelfrei. Die Leute versuchten sicherlich, ihn für ihre Sache zu gewinnen. Frauen als Ehepartner und den bescheidenen Reichtum eines Drachenreiters, Männer für ihre Töchter oder Schwestern und die damit einhergehenden guten Beziehungen.

‘Obwohl er in dieser Situation feststeckt, macht er sich mehr Sorgen um dich. Was mir zwar nicht gefällt aber bitte, soll er doch‘, kommentierte Hairima ihre Gedankengänge. Dorothea sah auf und fragte:

‘Wie meint Ihr das?‘

‘Dorothea war dein Name?, erkundigte sich die Drachendame und Dorothea nickte. Hairima fuhr fort:

‘Also, Dorothea. Er befand sich in einem königlichen Zölibat, das er gebrochen hat, als er mit dir geschlafen hat. Der König war dementsprechend unbegeistert, als er von der Sache erfuhr und hat einige Soldaten entsendet, dich zu finden. In den Sekain-Bezirk, vor allem aber nach Fandenstar. Nach allem, was der König so mitbekommen hat, hat Vlaindar sich auf dir verewigt. Sein Drachenreitersymbol sollte auf deinem Bauch erschienen sein. Du wärest einfach zu finden und noch einfacher des Hochverrats angeklagt wegen Verführung eines höchstloyalen Vasallen. Dafür könntest du sterben! Vlaindar wurde wegen seines Status und seiner Position verschont, aber der König ist wütend. Er will deinen Kopf.‘

Sie schluckte, doch noch bevor sie antworten konnte, hörten die Anwesenden wildes Gekreische und alle drehten sich um. Zu Dorotheas Erstaunen war General Vlaindar auf der Galerie erschienen und hastete zu ihnen hinüber: Erst zur Treppe auf den Übungsplatz und dann hinunter. Hinter ihm rannten, wie Hairima ihr erzählt hatte, zehn junge – äußerst hübsche – Frauen, die eindeutig adeliger Herkunft waren. Sie riefen unanständige Dinge („Ihr solltet nur meine Beine spreizen dürfen!“, „Meine Brüste sind größer als die von Lora!“ oder „Ich kann die ganze Nacht durchhalten!“) und liefen mit lauten Sohlen die Galerie entlang. Die Menschen, die zuvor stehengeblieben waren, um Hairima zu bewundern, sprangen ihnen aus dem Weg – die Novizen zogen sich panisch und empört von der Drachendame zurück an den Rand des Übungsplatzes.

Vlaindar erreichte die Treppe, übersprang die Stufen, landete gekonnt und sprintete sichtlich erschöpft die letzten Meter zu seinem grünen Drachen hinüber. Einige Meter vor ihr machte er einen geübten Hechtsprung bäuchlings unter ihre vor dem Körper ausgebreiteten Flügel. Die beiden sahen aus, als beschützte Hairima ein Nest, in dem er saß. Der Hals des Drachen funkelte gefährlich als er in die Richtung der Mädchen fuhr, während die Schnauze mit den langen Zähnen warnend in die leere Luft vor den Adeligen schnappte. Ein wildes Grollen ertönte – Hairima beschützte Vlaindar eindeutig. Die Frauen erschraken und schrien panisch, bevor sie übereinander fielen und hastig das Weite suchten, nicht ohne noch einmal dem General etwas zuzurufen.

Dann kehrte Stille ein. Man schaute zu Hairima hinüber und fragte nach General Vlaindars Empfinden. Die grüne Drachendame schüttelte ihre Flügel aus und legte sie gemütlich an ihren Körper, bevor sie mit der Nasenspitze ihren Drachenreiter anstupste, der auf dem Boden lag und sein Gesicht in einer Armbeuge versteckte. Sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch – er keuchte.

‘Hallo, Kleiner‘, begrüßte ihn Hairima und er schnaubte, bevor er ihren massigen Kopf mit der flachen Hand des anderen Arms berührte und leicht streichelte. Ihre Stimme hallte in den Köpfen der Anwesenden wieder und ließ sie so am Gespräch teilnehmen.

‘Gut gemacht‘, summte sie und schnaubte ihn an. Dorothea sah, wie er sein Mund zu etwas verzog, das einem Lächeln gleichkam. Dann stieß er die Schnauze des Drachen weg und setzte sich auf.

„Das nächste Mal kommst du aber zu mir!“, brummte er miesmutig und erhob sich. Vlaindar klopfte seine Drachenreiteruniform ab und wischte mit der Hand Steine aus seinem Haar. Er schien selbst nach dem Hechtsprung noch unverletzt zu sein. Vielleicht hatte er sich ja abgerollt.

‘Seit wann kommt ein Drache zum Reiter?‘, neckte sie ihn und setzte sich demonstrativ gemütlicher hin. So zusammengerollt schaute sie sich auf dem Platz um und begann wieder auf ihre Art ein vibrierendes Summen auszustoßen. Vlaindar seufzte und blickte dorthin, wo zuvor die adeligen Frauen gewesen waren. Er grummelte und schüttelte seinen Kopf.

„Geht es Euch gut, Shiarireyliar?“, fragte ein Mann von der Galerie. Vlaindar drehte sich zu ihm um und hob bloß beruhigend die Hand.

„Danke“, war seine Antwort, bevor er damit begann, über die Schuppen an Hairimas Hals zu fahren. Und das mit sehr wichtigtuerischer Miene. Die Drachendame schnaubte.

„Heute machen wir’s genauer als sonst“, murmelte er und nickte. Der Drache summte und erwiderte:

‘Mit Schuppenwachs? Und Feile?‘

„Ja“, bestätigte er ihre Fragen und sie summte lauter in freudiger Erwartung auf ihr „Bad“.

‘Dann lass uns nicht warten. Es juckt mir in den Schuppen!‘



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Kommentare zu dieser Fanfic (26)
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Von:  freddy
2012-10-09T12:10:08+00:00 09.10.2012 14:10
.....
.....*pruuuuuust*

XDDDD

Nein, wie herrlich! Wahahaha! Ich krieg mich nicht mehr! X,DDD Haha, der Arme wird von einer ganzen Meute verfolgt. XD
Das ist einfach klasse!
Hach und Doro wurde erkannt :DD Jetzt bin ich aber gespannt wie es weiter geht! Wird die feine Drachendame den Mund halten oder wird sie es ihrem lieben Reiter sagen? :DD Oder wird sie nur fiese Andeutungen machen so nach dem Motto "ich weiß was was du nicht weißt" XDDD

Geiles Kapitel! Ich hab mich unglaublich amüsiert! :PPPP
Du bist einfach die Beste!
*immer noch schmunzeln muss*
Von:  freddy
2012-10-09T11:51:47+00:00 09.10.2012 13:51
Maaaan... Bei dem Kapitel habe ich so mit Doro gelitten.. Die Arme.. Alle ärgern sie! Dabei ist sie doch so nett. Die sind doch alle doof! Am liebsten würde ich mal in der Geschichte mitmischen! Hmm.. Keine Ahnung als was.. XD Vielleicht wäre ich eine Dienerin oder sowas. Keine Ahnung. Aber ich würde Doro zur Seite stehen und so!

Aber echt schlimm, wie abgemagert sie sein muss und schwach... T__T Doroooohooo....

Uwah, und dann fliegt ihr Geheimnis auch noch auf! Verdammt ey! Aber total gute Wendung!

Du hast es wieder prima hingekriegt! Ich liebe deine Dialoge!

Ruiyan ist ein total netter Charakter! Ich hab mich soeben umentschieden! Ich wäre Dienerin von ihm XDD
Weisst du.. eigentlich hatte ich ja gedacht, dass Doro bei dieser Feier schon gleich einen Mentor bekommt. Irgendeinen Charakter, der die Geschichte dann wendet oder so.. Keine Ahnung. Vielleicht auch einen ganz fiesen, der total streng ist, aber wegen dem sie dann viel lernt..
Ich denke... Ruiyan wäre auch ein toller Mentor. * v* Hab ich schon erwähnt, dass ich den alten Mann mag? XD
*dich an die Seite stubs * Ruiyan.... :DD Hach... Ich bin sicher du bringst noch mehr solch toller Charaktere in die Geschichte mit ein.
Und die beiden Kameraden von Doro scheinen ja auch nett zu sein. ^^

Ich liebe einfach deinen Schreibstil.. Tut mir Leid, dass du immer so ewig auf meine Kommentare warten musst . >,>

Von:  freddy
2012-10-09T11:51:04+00:00 09.10.2012 13:51
Ling- chang sei Dank findet sie Anschluss XD Ich hatte schon Angst, dass sie gar niemanden finden würde. Aber eigentlich musste sie ja jemanden finden, denn sonst müsste sie ja nur mit sich selbst reden und so... Und Kontakte zu anderen sind ja auch wichtig, damit die Charakterlichen Entwicklungen und Veränderungen gut beschreiben oder andeuten kann..^^
Was du natürlich wieder klasse umgesetzt hast.

Ahhh! Du bist so gemein! Hab ich das schonmal gesagt? XDD Wie oft hab ich jetzt schon in diesem Kapitel gedacht..“ Oh man! Ihm muss doch was auffallen! Er muss doch was bemerken! Ihm muss doch was komisch vorkommen!“..?
Ich dachte zum Beispiel ganz oft... Was, wenn jetzt der Duft von Äpfeln in seine Nase wehen würde?? Zum Beispiel als er bei der Meditation so nach bei ihr saß! Er hätte doch ruhig was riechen können, Mensch! XDD Du bist fies.
Aber naja, wie ich dich kenne, hast du dir schon was viel besseres überlegt, wie er auf sie wirklich aufmerksam wird! :P

Ich will auch meditieren können... >.<

„Von wegen leerer Geist! Ein leerer Magen war jetzt ihr Hauptproblem!“ ← *PRUUUUST * XDDD

Von:  freddy
2012-10-09T11:50:20+00:00 09.10.2012 13:50
Hölleeee XDD Zu lustig! Coole Idee Doros ersten Tage damit zu beschreiben! Ich muss immer noch schmunzeln.

Pffffhahahaha! X,DD Wie kann sie auch nur so auf die Frage nach ihrem Glauben antworten?? Ich krieg mich nicht mehr! Du lässt die Arme ja wirklich in böse Fettnäpfchen stolpern. Herrlich. Der Gesichtsausdruck des Lehrers hätte ich nur zuuu gern gesehen!

Oh man.. Ich wäre auch schrecklich nervös gewesen, wenn ich bei dieser Einführungsfeier hätte teilnehmen müssen.. Alle Augen auf einen gerichtet.. Uwahh...

Aaarhg... Da sehen sie sich und er erkennt sie nicht! Wie gemein! Sei nicht so gemein! XD Ahh... Nein... Ich hätte vor lauter Aufregung bestimmt raus geschrieen. „Hier bin ich, Liebster! Hier! Zwar mit geschorenem Kopf und anderer Kleidung! Aber ICH bin es!“... zumindest innerlich hätte ich es geschrieen. :PP

Uhuhuuu.. Ob Hairima schon was ahnt? XD

Von:  freddy
2012-10-09T11:14:41+00:00 09.10.2012 13:14
Wow... Das ganze Gelände stell ich mir riesig vor! Ich bräuchte da auch eine Karte, sonst würde ich mich bestimmt hoffnungslos verlaufen! XD
Wie kommst du nur immer auf sowas? Ich weiß, ich stell die Frage ganz oft... aber hast du dir eine Skizze zu dem Gelände angelegt?

Lorian gefällt mir! ^^ Er scheint ein lustiger Kauz zu sein. Sympathisch. Streng, aber gerecht bestimmt.

Haha, ja bei dem Stundenplan hätte ich bestimmt auch entgeistert geschaut! *lach * Ich bin jemand der gerne und viel schläft... Oh man.. Aber Doro...oder jetzt eben.. Armer Alan.
Und das Zimmer.. Hmm... Nja, vielleicht wird es ja ganz gemütlich, wenn man sich daran gewöhnt hat. Und je weniger Ablenkungen im Zimmer sind, desto besser lässt es sich ja lernen.. Sofern man bei dem Tagespensum „ausreichend“ Zeit hat.

Die schönen Haare..... Q__Q Wie kannst du nur?? Die schönen Haare..... Aww.... Ich empfinde es ihr so nach.. Ich würde bestimmt auch nur mit Müh und Not nicht heulen..

Ich finde es wiedermal richtig schön, wie du die Gefühlsregungen beschreibst. Alles so realistisch und.. hmm... also es wirkt eben überhaupt nicht gestellt. Das ist toll! Großes Lob an dich!

Niahahaha XD Das hast du ja wieder geschickt eingefädelt!
Die Bestrafung von der Truppe... Die armen Jungs müssen wieder die Schulbank drücken XD Und welch ein Zufall! Genau da, wo Doro jetzt ist! :PP

>3< Das prickelnde Mal... Das ist einfach cool... *schmacht *
Von:  Kazu-chanX
2011-04-03T08:36:22+00:00 03.04.2011 10:36
Hey, ein neues Kapitel!^^
War sehr unterhaltsam diesmal. Bei Doros Darstellung auf Seite 7 hätte ich mich echt wegschmeißen können.;D Haha, sie ist so süß.
Auch sonst wieder sehr angenehm zu lesen und alles. Du bist wirklich talentiert, weiter so!^^
Von:  Kazu-chanX
2011-03-10T17:49:13+00:00 10.03.2011 18:49
o____________o...
Es... ist soweit... Ich muss... Sinnvolles... schreiben... omg...
Haaaaa... Also, ich denk einfach, alles was es zu deiner Geschichte zu sagen gibt, hab ich schonmal gesagt. Es ist eben so wie ein Buch. (Es ist auch auf dem Niveau eines Buches, keine Frage, das mein ich ernst.) Das liest man ja auch einfach und versetzt sich in dessen Welt hinein und stellt es nicht infrage oder krittelt irgendwie daran rum, das ist einfach unpassend.
Jedenfalls ist es sehr angenehm zu lesen, keine allzu verschachtelten Sätze, die man beim ersten Lesen überhaupt nicht überblickt und versteht, das find ich gut.
Es ist sehr... glaubhaft, finde ich. Man nimmt den Charas einfach das ab, was sie tun. Man denkt sich nicht, dass das vielleicht unrealistisch oder dumm ist, weil sie es eben einfach tun, weil es eben so sein sollte.
Dorotheas Konflikt hast du auch sehr überzeugend dargestellt. Ich finds immer wieder interessant, wie du dich in "damalige" Denkweisen hineinversetzen kannst, als wäre es völlig selbstverständlich für dich. Woran du so denkst, da wäre ICh jetzt z.B. nie drauf gekommen, Doro aber schon. Das ist wirklich toll.
Ihre Tante ist wirklich liebenswert, obwohl sie eigentlich völlig verantwortungslos und verrückt ist (oder nicht?xDDD), ist ihre Einstellung doch irgendwie eindrucksvoll und regt zum Nachdenken an.
Doros und Vlaindars Art der Liebe ist für mich noch auf einem Niveau, das ich nicht hundertprozentig nachvollziehen kann, denn... sie kennen sich ja nicht wirklich. Sie haben gerade mal eine Handvoll Worte gewechselt und trotzdem sind sie völlig ineinander vernarrt.xD Sowas solls ja geben. Ich nehms ihnen ja auch ab, okay. Ich kann mich da bloß nicht so ganz hineinversetzen. Nja, aber sie werden sich ja bald wiedersehen.^-^
Die Mittelalter-Kontaktlinsen fand ich sehr lustig.xDDD Sind die aber fortschrittlich. Aber Maaann, Kontaktlinsen aus Glas müssen verdammt weh tun bzw. unangenehm sein. O____O Musste erstmal googlen, um zu checken, dass es sowas wirklich gibt/gab. Da dachte ich jedenfalls, dass der Aufwand doch eigentlich nicht nötig ist. Weil Augenfarben von Menschen ja jetzt auch nicht so auffällig sind wie eben z.B. die Haarfarbe (da hatte ich übrigens erwartet, dass sie die mit irgendeinem Zeug färbt, aber gut, so ist es praktischer ;D). Ich hätte gedacht, dass sie an den Augen, wenn überhaupt, nur Vlaindar erkennt. Aber vllt hast du auch Recht. (Ich teile dir schließlich nur meine trivialen Gedanken mit.xD)
Oh, und ich hab um Doros Haare geweint... Noooooooin, wie kannst du das tuuuuuuuun...? *flenn* Ich hätte ihre Haare gern und sie?! So eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!>O<
Ahahaha, ich fand übrigens den Vergleich des Mals mit der Markierung eines Hundes oder so äußerst amüsant.xD *wegrofl* Tut mir leid, ich hab eine Schwäche dafür, wenn jemand Vlaindar mobbt. Er ist einfach zu perfekt, da hat er das auch mal abzukönnen. *muhaha*
Hm, sonst noch was? Fällt mir jetzt so spontan nicht ein. Da haste deinen Kommi.;3 *rüberschieb*
Von:  freddy
2011-03-08T08:28:12+00:00 08.03.2011 09:28
*_____________________________________*
*o*
Ö.Ö
ich. will. auch. so. ein. mal! will haben, haben, haben!
man, wie cool ist das denn? XDD ich liebe es!
bei welchen unpassenden situationen es zu kribbeln anfangen kann etc XDD hohoho~
bin ja mal gespannt was du daraus machst!

hach, deine fanfic ist richtig gut! ich bin neugierig wann sie ihn wieder treffen wird und wie lang er braucht um sie zu erkennen *gg*

die tante ist einfach klasse. so eine mag ich auch haben :))))

wunderbares kapitel, mir hat auch gefallen, wie doro sich selbst mut zugesprochen hat! mach bitte immer immer weiter so ;)
Von:  freddy
2011-03-08T08:08:25+00:00 08.03.2011 09:08
boah das spiel war cool! und dass der eine ihr seinen pass dann gegeben hat... maaan! das ist voll nett *.* dafür liebe ich ihn XDDD

ach und doro ist sooooo ansicher *kicher* wäre ich aber auch! ich hätte auch nicht die sicherheit, dass ich sagen würde, haja der wird sich auf jeden fall freuen mich zu sehen! :D

du hast das wieder ganz toll geschrieben und doros tante gefällt mir auch immer immer mehr!
Von:  freddy
2011-03-08T07:55:19+00:00 08.03.2011 08:55
er ist eeeendlich wieder wach... hach... und seine wunden heilen... und der blöde könig... hmpf... was macht der immer in seinem zimmer. wenn der jetzt kommt so nach dem motto.. "hach eigentlich mag ich dich doch, mein lieber junge... aber die strafe musste sein.. ja, ich hätte dich wahrscheinlich umgebracht, wenn man mich nicht aufgehalten hätte, aber ich mag dich doch..."... dann neeee..... XD ich mag den könig nicht :PPP

arme doro, stellt fest dass gefühlte welten zwischen ihr und vlaindar liegen XD aber das wird schon, wird schon.
nicht? ^^
*grins*

und sein drache, hairima... sie ist soooo cool XD ich will auch einen drachen!


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