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Schneetreiben

Für Angels_Should_Die
von

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Schneetreiben

Als Kanae die Augen öffnete und aus dem Fenster blickte, war ihr eines gleich klar: Sie würde an diesem Tag keinen einzigen schönen Moment erleben. Keinen einzigen.

Vor dem Fenster ihres kleinen Appartements tobte ein Schneesturm, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Wie von Geisterhand bewegt wirbelten die Flocken auf und ab, so stark, dass das Gebäude auf der anderen Straßenseite kaum noch zu erkennen war.

Leise vor sich hinfluchend quälte Kanae sich aus ihrer wunderbar warmen Bettdecke und stellte fest, dass es schon die ganze Nacht durchgeschneit haben musste: ihr Fensterbrett war von einer mindestens drei Zentimeter hohen Schneedecke bedeckt.

Warum Schnee? Und vor allem: warum heute?

Es war der erste Januar, Neujahrstag, und ihre Schwester hatte sie dazu überredet – besser gesagt: gezwungen – den traditionellen Besuch im Shinto-Schrein mit ihr und der ganzen Familie Kotonami zu machen. Zu dem Zeitpunkt hatte aber natürlich noch keiner damit gerechnet, dass es schneien würde.

Und es gab nur wenig, das Kanae mehr hasste als Schnee.

Dennoch zwang sie sich, zu ihrer Einbauküche zu schlurfen und die Kaffeemaschine anzustellen. Während diese vor sich hinblubberte, schwang sie sich kurz unter die Dusche, schminkte sich im Eiltempo und föhnte ihre Haare. Sie hatte das Glätteisen schon in der Hand, als ihr Blick sich angesichts des Schneegestöbers vor dem Fenster verfinsterte.

„Die Hoffnung stirbt zuletzt“, murmelte sie und trennte die erste Strähne ihres langen, schwarzen Haares ab, um sie in das Eisen zu klemmen.
 

Für das Problem, dass der Schnee ihre extra geglätteten Haare binnen Sekunden wieder zum Locken bringen würde, war die Tatsache, dass sie diese sowieso hochstecken wollte, nur eine kleine Erleichterung. Denn ihre schnelle Hochsteckfrisur, die sie bei jedem dieser Anlässe benutzte, machte sich nur dann gut, wenn die Strähnen vor den Ohren glatt waren.

Äußerst schlecht gelaunt machte Kanae sich dann also, nachdem sie eine Tasse Kaffee getrunken, eine kleine Schale Reis gegessen und sich unter Mühen all die Schichten ihres Kimonos übergeworfen und umgeschlungen hatte, auf den Weg zum Schrein – natürlich zu Fuß.

Als sie vor dem roten Torbogen, der sich in der weißen Schneewelt noch stärker abhob als zuvor, angekommen war, schmerzten ihre Füße vom Stapfen durch den Schnee – und das auch noch in den sowieso äußerst unkomfortablen Kimonosandalen – und ihre Socken waren völlig durchnässt.

Und natürlich war ihre Familie auch nicht die einzige, die an diesem Tag hierher kam: Auf dem gesamten Tempelgelände tummelten sich so viele Menschen in traditionellen Gewändern und mit schwarzen Haaren, dass es für jemanden, der sich hier nicht auskannte, praktisch unmöglich war, eine bestimmte Person ausfindig zu machen.

Zum Glück waren die Kotonamis schön öfter hier gewesen, sodass ihnen das rege Treiben bekannt war und sie sich nicht direkt vor dem Schrein, sondern vor dem Café auf der anderen Seite der Straße verabredet hatten. Als Kanaes missgelaunter Blick – den ein jeder ihrer Kollegen sofort unter Hinweis auf ihren Ruf verurteilt hätte ­- auf dieses fiel, stellte sie fest, dass der Rest ihrer Großfamilie noch nicht eingetroffen war. Mit ein paar Schritten rettete sie sich unter das Vordach des Geschäfts, das an diesem Tag gut zu verdienen schien.
 

Während ihre Finger ungeduldig an dem Beutel herumspielten, der heute ihre Handtasche ersetzte, sah sie sich immer wieder um. Sie wusste, dass sie ihre Familie – oder zumindest all die Kinder, die dazu gehörten – eher hören als sehen würde, dennoch konnte sie nicht anders, da sie es vermeiden wollte, überrascht zu werden.

Doch trotz ihrer Familie sah sie nach wenigen Minuten Hiō Uesugi, den Zwölfjährigen Sohn eines Ehepaars von weltberühmten Schauspielern, der mit ihr zusammen in einem Drama spielte, mit seiner Betreuerin durch die Menge stapfen, den für ihn üblichen schmollenden Gesichtsausdruck aufgesetzt.

Erst hatte Kanae den Drang, einfach in eine andere Richtung zu sehen und so zu tun, als hätte sie ihn gar nicht gesehen, da er sie ja sicher auch nicht sehen wollen würde, doch als sie kurz darüber nachdachte, wie sich ihr Verhältnis im Laufe des Drehs gebessert hatte, seit sich das anfängliche Missverständnis zwischen ihnen geklärt hatte, wandte sie den Blick doch nicht ab und sah ihn so lange an, bis er sie auch bemerkte.

Augenblicklich hellte sich seine Miene auf und er packte seine Managerin am Handgelenk, um sie in Richtung seiner Kollegin zu ziehen, die ebenfalls unwillkürlich zu lächeln begann. Ohne wirklich Notiz davon zu nehmen, hatte sie den Kleinen im Laufe der Zeit irgendwie lieb gewonnen. Er war zwar eigentlich noch ein Kind – und sah sogar noch jünger aus als er tatsächlich war – doch benahm er sich dadurch, dass er schon seit mehr als neun Jahren im Showbusiness tätig war, häufig sehr erwachsen – erwachsener als viele Männer in ihrem Alter, wie sie manchmal zugeben musste.

„Na also, Matsuda, ich habe dir doch gesagt, dass ich hier jemanden treffen würde. Kannst du jetzt endlich verschwinden? Ich brauche kein Kindermädchen!“, redete er auf seine Betreuerin, mit der Kanae auch schon zu tun gehabt hatte, ein, ohne vorher ein Wort der Begrüßung verloren zu haben.

„Kotonami-san! Guten Morgen!“, sagte Matsuda sofort mit einer kleinen Verbeugung, als Hiō vor Kanae stoppte.

Nachdem Kanae sie ebenfalls begrüßt hatte, sagte die Blonde erleichtert: „Hiō-kun wollte mir nichts verraten, er hat nur gesagt, dass er nicht mit mir zum Schrein gehen möchte, was aber nicht anders möglich war, da seine Eltern anderweitig beschäftigt sind. Ich bin froh, dass er tatsächlich nicht unvernünftigerweise versucht hat, mich zu belügen.“

Als er das hörte, errötete Hiō ein wenig, was Kanaes scharfem Blick natürlich nicht entging. Dennoch sagte sie nur: „Wir waren hier verabredet und wollten gemeinsam zum Schrein gehen, daher denke ich, dass Sie Hiō-kun ruhig aus den Augen lassen können.“

„Ja“, sagte Matsuda, verbeugte sich und ließ die beiden nach einer kurzen Verabredung, wann er zurück zu sein hatte, allein.

„Danke“, murmelte Hiō, der sonst immer so überaus selbstbewusst durch die Welt schritt, verlegen.

„Kein Problem“, sagte Kanae, die diese Seite an ihm besonders süß fand, da sie scheinbar die einzige war, der er sie zeigte. „Für dich ist es sicher nicht so angenehm, dass am Neujahrstag deine Eltern arbeiten müssen und du dann auch noch unter ständiger Beobachtung stehst.“

Hiō zuckte mit den Schultern. Bei diesem Thema wurde er immer ganz besonders schweigsam.

Bei diesem Gedanken zuckte Kanae leicht zusammen. Erst jetzt dämmerte ihr langsam, wie gut sie Hiō in den letzten Wochen eigentlich schon kennengelernt hatte.

„Warum stehst du hier so rum?“, fragte Hiō in der ihm eigenen forschen Art. „Magst du keinen Schnee?“

Kanae sah auf den Jungen herab, der dort in einer beneidenswert dicken Jacke und gemütlich wirkenden Straßenschuhen stand. Sie hasste Schnee, aber wenn sie ihm den Grund dafür nannte, würde er sie sowieso nur auslachen. Daher sagte sie – immerhin nicht wirklich gelogen: „Ich bin hier mit meiner Familie verabredet und wollte meinen Kimono nicht allzu nass werden lassen, während ich warte.“

Hiō schnaubte. „Warum müssen Mädchen eigentlich ständig so auf ihr Aussehen fixiert sein? Meine Mutter geht bei dem geringsten Anzeichen von Regen oder Schnee nicht ohne Schirm aus dem Haus, weil sie Angst hat, ihre Haare könnten sich durch die Feuchtigkeit wieder locken.“ Er verdrehte die Augen. „Dabei sind Locken doch genauso hübsch!“

Kanae spürte, wie sie rot wurde, als sie sich mit den Fingern durch den Pony fuhr.

Er schien es nicht zu bemerken – zum Glück! – da er sich jetzt über den ersten Teil ihrer Aussage Gedanken zu machen schien. „Ach, deine Familie? Die ganze?“

Kanae seufzte nickend und war ziemlich froh, dass er das als genauso nervig empfand wie sie und ihr nicht weismachen wollte, dass es immer eine tolle Sache war, wenn man mit seiner Familie feiern konnte. Das war nämlich das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.

„Machen wir uns einfach aus dem Staub bevor sie kommen!“ Er grinste. „Und falls sie uns doch sehen sollten, rennen wir einfach weg.“

Angesichts dieses Vorschlags konnte Kanae sich das Lachen nicht mehr verkneifen. Außer ihm und ihrer besten Freundin Kyōko gab es kaum jemanden, der sie so einfach zum Lachen bringen konnte. Zwar zweifelte sie einen Moment lang daran, ob es nicht unhöflich ihrer Familie gegenüber war, einfach so zu verschwinden, doch als sie in Hiōs strahlendes Gesicht sah, waren all ihre Sorgen wie weggeblasen. Von diesem Jungen ging eine Magie aus, derer sie sich nicht entziehen konnte – und das, obwohl er sechs Jahre jünger war als sie!

„Holen wir uns Glücksbringer fürs neue Jahr?“, fragte Hiō sogleich und nahm ihre Hand in seine, um sie in Richtung des Schreins zu ziehen. Merkwürdigerweise musste sie sich gerade jetzt daran erinnern, dass er sein Betreuerin im Gegensatz dazu am Handgelenk hinter sich hergezogen hatte...

„Ich komm ja schon“, sagte sie lachend und versuchte, nicht zu stolpern, als er mit ihr im Schlepptau die rutschigen Treppenstufen hinauf und zwischen all den Menschen hindurch rannte.
 

Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie bei der langen Schlange, die sich dort gebildet hatte, endlich am Stand mit den Glücksbringern angekommen waren. Hiō sah sofort einen, der Erfolg im Beruf versprach und war sich sicher, dass er für sie beide der richtige wäre – dann bat er Kanae, doch zwei davon zu kaufen. Ein wenig schmunzelnd sagte sie, nachdem sie bezahlt hatte: „Das darfst du dir aber bei deinem nächsten Date nicht erlauben.“

Er errötete und zog sie schnell weiter, ohne ihr in die Augen zu schauen. So langsam musste Kanae zugeben, dass Kyōko mit der Vermutung, die sie ganz zu Beginn über Hiō gehabt hatte, wohl gar nicht mal so falsch gelegen hatte: Vielleicht hatte er tatsächlich eine kleine Schwäche für sie.

„Hock dich mal eben hin“, sagte Hiō, als sie an einem etwas weniger belebten Ort des Tempelgeländes angekommen waren.

„Warum?“, fragte Kanae verwundert, tat aber, was er sagte.

Hiō antwortete nicht, sondern forderte sie auf: „Und jetzt schließ die Augen.“

Kanae konnte nicht verhindern, dass ihr Herz begann, ein wenig stärker zu schlagen, als sie ihm gehorchte. Was konnte er mit ihr vorhaben? Doch nicht etwa das, was die Männer in allen Filmen taten, wenn sie Frauen ihre Augen schließen ließen...? Kanaes Lippen begannen zu kribbeln.

Sei nicht dumm, Kanae, mahnte sie sich selbst. Er weiß, dass er so etwas nicht einfach machen kann.

Natürlich hatte sie recht: Statt einer Berührung in ihrem Gesicht spürte sie, wie Hiō sich an ihren Haaren zu schaffen machte. Scheinbar versuchte er, ihre Spange zu öffnen, was ihm allerdings nicht so schnell gelang wie er es wohl beabsichtigt hatte. Ein leiser Fluch verließ seine Lippen, doch schon einen kurzen Moment später lösten sich die Haare und fielen Kanae über die Schultern.

„Was soll das?“, fragte sie leicht verwirrt und öffnete die Augen. Ein wenig zögerlich, und ohne ihr dabei direkt in die Augen zu sehen, hob er ihre Strähnen auf beiden Seiten ein wenig an, ließ sie durch seine Finger gleiten und legte sie über ihre Ohren.

„Warum versteckst du sie?“, fragte er. Erst als er einen genügenden Abstand zu ihr gewahrt und seine – offenbar ein wenig zitternden – Hände hinter seinem Rücken versteckt hatte, wagte er es wieder, ihr in die Augen zu sehen. Sogar ein kleines, unwillkürliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er meinte: „Warst du deshalb vorhin so schlecht gelaunt? Wegen des Schnees?“

„Als Schauspielerin muss ich eben auf mein Aussehen achten“, rechtfertigte Kanae sich und stand auf, um ihm ihre Überlegenheit zu demonstrieren.

Er ließ sich dadurch jedoch nicht im Geringsten beeindrucken, sein Grinsen verbreiterte sich sogar noch. „Habe ich da etwa einen wunden Punkte getroffen?“

„Hey, das verstehst du nicht!“, lachte Kanae und schlug ihm spielerisch auf den Kopf.

„Glaubst du, ich sehe nicht, ob eine Frau schön ist oder nicht? Ich bin seit neun Jahren im Showbusiness!“

Kanae öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder, als seine Worte zu ihr durchgedrungen waren. Auch er schien einen Moment zu brauchen, um zu begreifen, was er da gesagt hatte. Er errötete und sah schnell zur Seite.

Verlegen fuhr Kanae sich durch die Haare, die sich tatsächlich, wie befürchtet, ein wenig gelockt hatten. Der Schnee hatte inzwischen fast aufgehört zu fallen, dennoch hingen noch ein paar einzelne Flocken in ihren dunklen Haaren.

„Meintest... meintest du gerade das, was du gesagt hast?“, fragte sie leise.

Hiō schien all seinen Mut zusammennehmen zu müssen, um wieder zu ihr aufzusehen. „Ja. Ich mag Locken, und bei dir sehen sie besonders hübsch aus.“

Mit einem leichten Kopfschütteln sah Kanae auf den Jungen hinab, dessen forscher Blick sie förmlich zu durchbohren schien. Sie erwischte sich selbst dabei, wie sie sich wünschte, er wäre doch wenigstens zwei oder drei Jahre älter.

Zum Glück hörte sie in dem Moment ein helles Kreischen hinter sich, das sie sofort als das Geräusch ihrer kleinen Geschwister erkannte, das diese jedes Mal von sich gaben, wenn sie sie erblickten.

„Lauf!“, rief Kanae nur und riss sich kurzerhand die Sandalen von den Füßen, um schneller rennen zu können. Jetzt war sie es, die nach Hiōs Hand griff und ihn, noch ein wenig verwirrt von ihrem Gespräch, hinter sich her zog.

„Schneller! Sonst holen sie uns ein!“

Ein absolut mädchenhaftes Kichern, das sie so von sich selbst noch nie gehört hatte, verließ ihre Kehle. War das Prickeln, das die Berührung von Hiōs Hand in ihr verursachte, der Grund für diese Gefühle, oder war es einfach das Kitzeln des eiskalten Schnees an ihren Füßen? Sie wusste es nicht und es war ihr ehrlich gesagt auch egal, sie wollte nur, dass es nicht so schnell wieder verging.

Und vielleicht würde der Schnee auch wieder zu fallen beginnen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  P-Chi
2010-01-02T17:50:30+00:00 02.01.2010 18:50
*_________*
Waah!!! Ich liebe die beiden!!!! <3 <3 <3
Eine tolle Geschichte! x33
Super geschrieben und voll romantisch! Die geben (trotz ihres Altersunterschiedes) ein gutes Paar ab!
Und das Kanae auch so ... Mädchengedanken hat ist auch süß! >3<
Normalerweise ist sie ja total sarkastisch und egoistisch, ne? xDD Schön, mal eine andere Seite von ihr zu sehen. :3
Vielen Dank für die Story.^^

glg Angels


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