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Geister der Weihnacht

Weihnachten 2009
von

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Spiegelscherben | Der Geist der vergangenen Weihnacht

Spiegelscherbe | Der Geist der Vergangenen Weihnacht
 

„Weißt du“, langsam stehst du auf, machst ein paar Schritte, nachdem du dich gestreckt hast. Ich kann nicht anders – meine Augen kleben förmlich an dir. Irgendwie.

Es ist eine Pause entstanden, denn ich habe nichts auf deinen begonnenen Gedankengang geantwortet – normalerweise beginnst du Gespräche immer so, dass du einen Satz beginnst und den Rest der Welt damit beauftragst, ihn nach deinen Vorstellungen fertigzustellen. Du blickst mich an, aus diesen hellen, undurchdringlichen Augen, und ich frage mich, was du wohl gerade denken magst. Ich frage mich das schon seit dem Zeitpunkt, an dem ich zum ersten Mal diese Kristalle, diese Spiegelscherben der Schneekönigin geblickt habe.

Es ist so schräg. So seltsam.

Ich mag es nicht, angesehen zu werden. Es macht mich unglaublich nervös. Und gleichzeitig starre ich dich die ganze Zeit an, kann meine Augen nicht von dir Lassen. Du bist wie das Licht, um das die Motte schwirrt – unerheblich zu sagen, dass ich das Insekt bin – und schließlich verendet, wenn sie ihm zu nahe kommt. Ob ich auch so enden werde? Verendet in deinem Glanz?

Ich seufze ungehört, blickte zum Fenster hinaus, verloren, vertieft in meinen seltsamen Gedanken. Es schneit; ich liebe Schnee. Ich mag es, wie er unter den Sohlen der dicken Stiefel knirscht, die mir zu groß sind, weil es hier nur gebrauchte und abgetragene Sachen gibt, und mich deshalb immer zum Ziel der Schneeballschlachten der anderen Kinder machen, wenn ich mich überhaupt in den Hof traue. Die anderen Kinder sind so anders als ich – du auch.

Alle sind so kalt und verbittert, selbst im Spiel. Oft gibt es schlimme Prügeleien – ich will dabei nicht mitmachen. Ich will niemanden verletzen. Das Fenster ist vergittert, wie ich jetzt bemerke. Wie dumm von mir, das zu vergessen. Wir sind hier alle irgendwie eingesperrt.. ich hätte Lust, einfach Flügel auszubreiten, die ich nicht habe, und wegzufliegen. Wie meine Mutter.

„Was ist heute mit dir los?“, dringt auf einmal deine Stimme zu mir herüber.

Ich schüttele den Kopf, wie ein Schlafwandler, der aufwacht, und blicke wieder zu dir. Du siehst mich eindringlich an, gerade so als könntest du mich durchschauen, und ich schüttele ein weiteres Mal den Kopf. Mit leiser Stimme erwidere ich „Nichts“, ehe ich wieder aus dem vergitterten Fenster blicke.

„Nichts..“, wiederholst du nachdenklich. Ich mag es, dir zuzuhören. Du redest nie viel, aber wenn du etwas zu sagen hast, dann sagst du es so, dass dir wirklich jeder zuhört. Das macht dich zum Streitschlichter im großen Schlafsaal. Vielleicht hat dein hohes Ansehen beim Direktor auch etwas damit zu tun, wer weiß.
 

Vielleicht hat meine Mama auch gedacht, nichts ist los, als sie gegangen ist. Sie hat einfach ihren Koffer genommen und ist gegangen – ohne mich mitzunehmen. Ich habe hierbleiben müssen, in der Kälte, die mein Vater ins Haus ließ, weil er die Heizungsrechnung nicht bezahlen konnte. Ich habe doch auch nichts gedacht, als ich einfach freudestrahlend die große Pranke ergriffen habe, die mein Schicksal darstellt. Ich habe meinem Vater noch nicht einmal auf Wiedersehen gesagt.

Deine Augen ruhen schon wieder auf mir, und ich frage mich wieder, ob die Schneekönigin nicht doch vielleicht einen Splitter des Spiegels in deinem Auge vergessen hat. Du schielst ein bisschen, aber das macht dich nur noch perfekter.

Du legst den Kopf schief, lächelst eines deiner seltenen Lächeln, weil gerade niemand da ist. Der Schlafsaal ist wie ausgestorben, und ich wickle mich enger in die Decke, die zwar auf der Haut kratzt, aber dafür wirklich warm hält. Dafür ist der Schlafsaal eiskalt.

„Du bist heute so abwesend“, du sprichst, und es hallt in dem Saal seltsam wider. Beinahe so, als würdest du zweimal sprechen, doch nur einmal die Lippen bewegen. Deine Augen sind noch immer wie Spiegelscherben. „Worüber denkst du nach?“

Ich blicke dich offen an, doch ich weiß, dass du genauso wenig in mir lesen kannst wie ich in dir. Du hast es mir doch irgendwann einmal gesagt, als wir nebeneinander im Schnee hockten.

„Ich..“ Es macht keine Mühe zu sprechen, aber die richtigen Worte zu finden.. Ich bin nicht wie meine Mutter, die die schönsten Geschichten erzählen konnte, von Helden bis hin zu kleinen Jungen namens Yuriy oder Wanja. Ich habe ihr immer zugehört als wäre es die letzte Geschichte, die ich in meinem Leben hören würde. Irgendwann ist die dann ja auch gekommen. Die letzte Geschichte. „Kennst du die Geschichte von der Schneekönigin?“
 

Du blickst mich so überrascht an und schüttelst perplex den Kopf. War dir nicht klar, dass ich in meinem Kopf all die schönen Geschichten habe, die mir erzählt wurden? Auch die weniger schönen. Und die allerletzte. Die mit der Spiegelscherbe, an die ich immer erinnert werde, wenn ich in deine Augen blicke. Weil du auch eine dieser Scherben im Auge hast, weil du wegen der so tust als könne dir nichts etwas anhaben..

Ich versuche mich an die Stimme meiner Mutter zu erinnern, die immer genau den richtigen Ton getroffen hat. „Irgendwo an der Küste, weit, weit weg von hier fließt der Fluss Newa. Dort, wo sie und das Meer sich treffen, liegt die Stadt St. Petersburg, und irgendwo dort, mitten in der Stadt, waren zwei Häuser über einen Dachgarten verbunden. Da lebten auch zwei Kinder..“

Und so erzähle ich dir die Geschichte, irgendwie erzähle ich sie auch mir selbst, bloß, dass ich in mir drinnen die Stimme von Mama höre, die mit jedem Mal schwächer wird. Aber ich kann einfach überhaupt keine Geschichte mehr erzählen. Dann würde ihre Stimme ja vollkommen verschwinden, und das will ich nicht. Heute ist sie ein flüstern, diese Geschichte in mir drinnen, und ich muss tief hineinhorchen, um sie zwischen all den Geräuschen hören zu können.
 

„Die Schneekönigin nimmt den jungen Pjotr mit sich, weil er die letzten Scherben von ihrem Spiegel trägt. Eine ist in seinem Auge, die andere in seinem Herzen. Er darf in ihrem Schlitten aus Eis sitzen, der gezogen wird von weißen Hengsten, eingehüllt in den weichen Pelzmantel der Königin, der genauso weiß ist wie ihre Haut. Dampf steigt aus den Nüstern der schönen Pferde auf, während sie über Wolken fliegen, und nach langer, langer Zeit..-“, ich verstumme abrupt, denn ich tauche weiter an die Oberfläche. Um mich herum ist ein seltsames Geräusch entstanden, ich sehe viele Kinder rund um uns beide. Sie hören mir zu, haben sich zu zweit und zu dritt auf ein Bett gesetzt und sich eng aneinandergeschmiegt, um nicht zu frieren. Ich wünschte, du würdest dich zu mir setzen statt auf deinem Bett, denn auch mich friert, obwohl es keiner bemerkt. Ich friere mit dem kleinen Jungen, der im kalten Schlitten gen Norden fährt, obwohl er in einen warmen Wintermantel gehüllt ist.

Die Jungen rund um mich zeigen sich empört über mein so plötzliches Ende und bedrängen mich, doch weiter zu erzählen.

„Bitte! Wie geht es weiter?“ – „Ja, was passiert mit Pjotr?“ – „Kommt er denn zu Anja zurück?“

Sie wollen alle wissen, wie es weiter geht, und sie starren mich an, doch seltsamerweise macht es mir jetzt nichts mehr aus. Ich weiß nur, dass dein Blick anders ist als der von allen anderen. Dass du nicht nur einen Teil des Bildes siehst – irgendwie.

Ich weiß nicht, wie du das machst. Aber du kannst nicht nur mich sehen oder die Geschichte. Du siehst auch meine Erinnerungen, obwohl du sie gar nicht richtig siehst. Das ist seltsam.

Ich lausche wieder in mich hinein, erzähle weiter. Wie ging es weiter?

„Während Pjotr im eisigen Schloss der Schneekönigin ihren Spiegel zusammensetzt, hat sich Anja auf die Suche nach ihm gemacht. Sie begegnet seltsamen Leuten, und muss sich zu Fuß durch die eisige Steppe schlagen..“
 

Ich versinke wieder in der Geschichte, studiere die Gesichter der alten Frau, die das kleine Mädchen für kurze Zeit bei sich aufnimmt, das der Räubertochter, die Anja das Rentier geschenkt hat, und die lustige Schnauze des Rentiers, das sie bis zum eisigen Schloss trägt. Ich betrachte ihre Gesichter und ihre Gesten, wie sie Anja helfen, und versuche, die trotzige Güte der einsamen Räubertochter zu beschreiben, genauso wie diese seltsame Hingabe der alten Frau im Frühlingsgarten.

Ich kann nichts sehen, denn ich bin irgendwo im Schloss der Träume, das meine Mutter für mich erbaut hat. Ich bin ihr dankbar dafür, sonst könnte ich jetzt nicht dort hin wann immer ich will. Und gleichzeitig kann ich all die anderen, die sich um mich scharen und mir zuhören, fühlen. Seltsam..

Ich tauche erst auf, als die Geschichte sich dem Ende zuneigt.

„Als Anja erkennen muss, dass sie Pjotr nicht helfen kann, ohne dass sein Herz zu schlagen aufhört, umarmt sie ihn. Auch wenn seine Haut eiskalt und seine Lippen blau sind, auch wenn er sich ihr gegenüber herrisch und kalt verhält. Anja weint um ihren lieben Freund, und eine Träne – eine einzelne Träne – tropft auf seine Brust, genau über seinem Herzen. Die Scherbe kann all der Wärme nicht mehr standhalten und schmilzt, schließlich war sie nur aus Eis, genauso wie die im Auge, weil Pjotr ebenfalls die Tränen kommen. Es tut ihm so leid, wie er Anja behandelt hat…“
 

Später – es ist schon Nacht und von überallher sind leise Atemgeräusche zu vernehmen – bemerke ich deinen Blick. Deine Augen funkeln im Mond und ich sehe wieder die Spiegelscherbe darin aufblitzen. Um uns herum träumt alles von Schneeköniginnen und kleinen Kindern, die sich am Ende in den Armen halten.

Der Ausdruck deiner Augen verändert sich nicht, doch ich höre dein Flüstern, das über die schmale Kluft zwischen unseren Betten fliegt. „Yura.. War sie das?“, fragst du.

Ich blicke dich überrascht an. Woher weißt du, dass-? „Ja“, bejahe ich schlicht, kann meinen Blick nicht von deinem lassen. Es ist verhext. Du bist verhext.

Die Schneekönigin. Es ist die letzte Geschichte, die meine Mutter mir erzählt hat. Auch sie hat dich nicht so sehr gerührt, dass die Spiegelscherben in deinen Augen geschmolzen wären..
 

~Owari~
 

Wer kennt Die Schneekönigin"? Ich bin mir mit der Handlung des Märchens nicht mehr so sicher – ist schon eine Weile her, dass ich das zuletzt gesehen/gelesen habe.. *zerknirscht grins*

Nun denn, ich hoffe, es hat sich doch der eine oder andere Leser gefunden..?

*knuddel*

FW



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  chaoticgirl
2010-12-07T18:50:58+00:00 07.12.2010 19:50
Eine süße Geschichte, die er da erzählt.
Und all die Kinder, die ihm plötzlich zuhören und sich aneinander kuscheln. Das Bild war wirklich klar und deutlich vor meinen Augen und mir hat das sehr gefallen, obwohl sie alle vor meinem inneren Auge in einem kahlen, kalten Raum saßen.
Eine wunderschöne Weihnachtsgeschichte!
Dein

chaoticgirl
Von:  Jeschi
2009-12-10T16:37:20+00:00 10.12.2009 17:37
^-^

Diesmal kein all zu langer Kommi von mir, weil ich gleich los muss!
Aber ich finde die Story wieder mal total klasse! ^-^
Der Afnang war am Besten und ich muss lady_j recht geben. Das klingt alles so melancholisch und doch so warm.
Das ist wirklich klasse, wie dir das gelungen ist! *,*

Das Ende war wirklich etwas verwirrend, aber nach mehrmaligem durchlesen, hab ich es glaube ich verstanden! ^^"

Im Übrigen fand ich toll, wie du diese Spiegelscherbe durch die ganze Geschichte gezogen hast! *,*

Ich freue mich auf die nächsten Kapitel! ^-^

lg
Von:  WeißeWölfinLarka
2009-12-10T07:37:02+00:00 10.12.2009 08:37
Im Groben kennt jeder die Geschichte, denke ich, und so wie du das angelegt hast, ist es sehr gut. Du musst nicht die ganze Schneekönigin-Saga erzählen, weil es ja um deine eigene geht. Du hast die einzelnen Versatzstücke des Märchens gut eingebaut. Mehr braucht es nicht.
Ich war ehrlich gesagt, sehr irritiert, dass der Ich-Erzähler doch Yurij ist und nicht Kai. Ist doch richtig, oder?
Leider habe ich das Ende nicht ganz verstanden. Na ja, vielleicht bin ich auch noch müde, werde mir mal Gedanken dazu machen. Du schreibst unglaublich gefühlsgeladen, passend zur Weihnachtszeit, aber mit einem belegten Unterton irgendwie.
Eine tolle Mischung aus Schreibstil, Gefühl, Wärme und Wortwahl. Ich freue mich schon auf die nächsten Kapitel.
Von:  lady_j
2009-12-07T15:05:12+00:00 07.12.2009 16:05
*_*
oh wie schön, eine so tolle weihnachtsgeschichte nimmt hier ihren anfang, und ich liebe die art, wie sie geschrieben ist -so melancholisch und doch irgendwie..voller wärme^^
ich liebe die weihnachtsgeschichte von dickens! ich bin mit ihr großgeworden, sozusagen, und ich mag es halt, wie er schreibt. ein genialer schriftsteller...

die schneekönigin kenn ich auch, allerdings auch nur so grob. da sind wir wohl auf dem gleichen stand. es gibt aber auch mehrere varianten, die geschichte zu erzählen. in den versionen, in denen ich sie kenne, heißt der junge auch kai und nicht pjotr. oder hast du das absichtlich geändert? ich fand den zufall ja immer recht amüsant xD
ich glaub, ich hab die sache mal gewikipediat (wasn neologismus xDD), vielleicht findest du ja so was raus? im zweifelsfall hilft auch eine gut sortierte bibliothek oder omas märchensammlung^^b


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