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40 Tage, 40 Nächte

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Erfrischungen

Eigentlich war der Tag nicht warm genug und der Himmel mittlerweile zu wolkenverhangen, aber Killian hatte das Verdeck des Cabrios trotzdem heruntergefahren. Er konnte nicht anders. Wenn Lauras Haare so im Wind flatterten, wie wilde, ungebändigte Schlangen um ihren Kopf und ihre gesamte Gestalt wirbelten, und sie aussah, wie eine Göttin im Sturm, dann fühlte er seinen eigenen Herzschlag und seine eigene Lebendigkeit so stark, dass er den Eindruck von Unsterblichkeit hatte.

Zuerst hatte sie sich noch ein Tuch um den Kopf geschlungen, aber schon bald hatte sie diesen vergeblichen Versuch, ihre braune Mähne in Zaum zu halten, aufgegeben. Jetzt lag das Tuch auf ihrem Schoß und ihre Finger spielten unablässig damit, zupften an der Naht, deren Fäden sich schon an einigen Stellen gelöst hatten, ihre Augen waren in die Ferne gerichtet. Vielleicht auch auf die endlosen Felder, auf denen das Getreide sacht hin und her wogte oder die vereinzelten Bäume, an denen sie in Abständen immer wieder vorbeifuhren. Energisch zwang Killian sich, seine Augen wieder auf die Straße zu richten; selbst wenn hier kaum Verkehr herrschte, bei der Geschwindigkeit, die er draufhatte, konnte selbst eine vorbeikommende Kröte gefährlich werden.

Seit Stunden waren sie nun schon unterwegs, waren durch für ihn namenlose Städte gekommen, in denen die Menschen nur Statisten waren, so leer und nichtssagend, wie fast alles um ihn herum. Eine große Brücke hatte sie über den Fluss gebracht, der im Licht der Mittagssonne gefunkelt hatte wie tausend Edelsteine, aber nicht halb so sehr wie Lauras Augen, als sie ihn lächelnd auf die malerischen Fischerbote aufmerksam gemacht hatte. Sie war ja so eine Romantikerin, war sie schon immer gewesen. Das liebte er an ihr. Das und noch hundert andere Dinge.

„Du fährst zu schnell.“, wehte ihre sanfte Stimme zusammen mit einem Windstoß zu ihm herüber. „Du weißt, dass mir das Angst macht.“

Der Befehl des Oberfeldwebels hätte ihn nicht schneller und nachdrücklicher dazu bringen können, das Tempo zu verlangsamen, bis er es auf die erlaubten 80 Stundenkilometer gedrosselt hatte. Auch wenn er es liebte, wie ein silberner Pfeil über den Asphalt zu schießen, so schnell, dass er der Zeit und der Welt selbst davonfuhr, immer in der Hoffnung, eines Tages wirklich zu fliegen, ihr Angst zu machen war das letzte, was er wollte.

„Danke.“, lächelte sie und legte kurze ihre warme Hand auf seinen nackten Unterarm.

„Für dich doch immer, Prinzessin.“, antwortete er, wie üblich unbekümmert im Tonfall; er hatte schließlich Jahre gehabt, ihn einzustudieren, zu perfektionieren. „Wirf doch mal einen Blick in den Korb, müsste eigentlich noch eine Flasche Wasser oder so da sein.“

Sie nickte und drehte sich auf ihrem Sitz halb herum, der Sicherheitsgurte behinderte sie dabei, sorgte aber gleichzeitig dafür, dass ihr leichtes Sommerkleid noch enger an ihren Körper und die perfekten Rundungen gepresst wurde. Killian schluckte schwer und der Wangen schlingerte minimal in der Spur, bis er ihn genauso schnell wieder unter Kontrolle hatte, aber diese leichte Unachtsamkeit hatte Laura einen kleinen Schrei entlockt.

„Warum versuchst du, mich zu ärgern?“, wollte sie wissen und sah ihn mit großen Augen an.

„Hab ich nicht, ich bin nur einem Ast ausgewichen!“, verteidigte er sich sofort. „Sei nicht immer so ein Angsthase, hab ich schon jemals einen Unfall gehabt?“

Laura zog auf ihre einmalige und atemberaubende Weise ihre Augenbrauen zusammen, wie sie es immer tat, wenn sie ihm nicht so recht glaubte, aber dann lächelte sie wieder und auch ohne Sonne war der Tag strahlend.

„Wir sind bald da, ich bin gespannt, was sich alles verändert hat, seit wir das letzte Mal bei Großmutter waren. Das ist jetzt schon so lange her.“, meinte sie vergnügt.

„Na, wahrscheinlich hat sich gar nichts verändert, nicht, wenn sie es verhindern kann. Du kennst sie doch.“

Seine Schwester verdrehte bei diesen Worten die Augen und ein paar Sekunden später lachten sie beide. Ja, sie kannten ihre Großmutter. Steif wie ein Brett, gingen die Jahre an ihr vorüber und ließen sie selbst, von den sich vermehrenden Falten in ihrem Gesicht abgesehen, verharren in einem Zustand, der einem Standbild gleichkam. Sie sahen ihre Großmutter nicht oft, manchmal seltener als einmal im Jahr. Sie hatte es ihrer Tochter nie verziehen, dass sie einen Mann geheiratet hatte, der ein Emporkömmling war, ein Neureicher, ohne nennenswerten Stammbaum, ohne Titel, ohne Vergangenheit. Umso verwunderter waren Killian und Laura gewesen, als sie die Einladung erhalten hatten, ihren letzten freien Sommer, ehe das Studium und danach wahrscheinlich die Arbeit und die Ehe ihren Alltag bestimmen würden, bei ihr zu verbringen. Aber noch überraschter waren sie gewesen, als ihre Mutter sie dazu gedrängt hatte, diese Einladung anzunehmen.

„Sie ist eine alte Frau, ganz alleine auf dem großen Gut, vielleicht will sie versuchen, an euch etwas von dem wieder gut zumachen, was sie bei eurem Vater und mir verdorben hat.“, hatte ihre stille, unauffällige Mama ihnen gesagt.

Deswegen fuhren sie nun auf der Landstraße einem Sommer entgegen, der so gar nicht das war, was sie ursprünglich geplant hatten. Laura, mit ihrem Abiturzeugnis in der Hand, auf dem die Tinte noch nicht ganz trocken war, Killian frisch von seinem Bundeswehrdienst. Sie hatten eigentlich gedacht, sie würden die Welt unsicher machen, zu zweit auf Abenteuer gehen, so wie sie schon immer alles zu zweit getan hatten, ihr ganzes Leben lang. Stattdessen sahen sie nun Wochen entgegen, die sie auf dem herrschaftlichen Anwesen verbringen würden, welches sich schon seit Generationen in Familienbesitz befand, und auf dem der Staub der Jahrhunderte eine so dicke Schicht hinterlassen hatte, dass kein noch so ausgiebiges Putzen den Geruch nach Alter und Vergangenheit jemals würde entfernen können. Sechs Wochen, die mit so viel Spaß hätten gefüllt sein können und sich nun vor ihnen ausbreiteten, wie die endlose Wüste Gobi.

Doch so sehr sich Killian auch darauf gefreut hatte, wieder einmal nach New York zu fliegen, einen Abstecher in den Süden der USA zu unternehmen, weiter nach Peru, durch den ganzen Kontinent bis hinunter nach Feuerland, die Aussicht, seine Schwester nur für sich zu haben, ohne sie mit jemand anderem als ihrer schweigsamen und ungeselligen Großmutter zu teilen, hatte ihn kaum dagegen protestieren lassen, als auch ihr Vater seine Meinung geäußert hatte, sie sollten versuchen, sich mit der alten Frau zu versöhnen. Wenn sie erstmal tot sei, würde es zu spät dazu sein.

„Schau mal, da sind Rehe!“, rief Laura begeistert. „Wie niedlich.“

„Wenn ich mich jetzt zu den potentiellen Sonntagsbraten umdrehe, dann heulst du gleich wieder, weil ich nicht auf die Straße gucke.“, stellte Killian nur ungerührt fest und drehte seinen Kopf keinen Millimeter. „Ich weiß, wie die Viecher aussehen.“

Seufzend lehnte seine Schwester sich im Sitz zurück und strich sich die flatternden Strähnen aus dem Gesicht. Selbst bei so kleinen Gesten besaß sie eine Anmut, die ihn immer aufs Neue staunen ließ. Er verfluchte sein klopfendes Herz und seinen schwachen Geist.

„Da hinten musst du ab.“, murmelte Laura mit halb geschlossenen Augen. „Was bin ich froh, wenn ich endlich aus meinen Sachen rauskomme und eine ordentliche Dusche nehmen kann. Ich hoffe nur, Großmutter lässt uns.“

„Warum sollte sie uns eine Dusche verbieten?“, fragte Killian mit trockenen Lippen; vor seinem Auge machten sich Bilder breit, wie Laura nackt und so, wie Gott sie geschaffen hatte, von dem warmen Wasserstrahl umspielt wurde. „Meinst du sie will, dass wir stinken?“

„Nein, aber vielleicht wünscht sie sofort unsere Gesellschaft.“

„Hm.“, brummte er und lenkte den Wagen in die Seitenstraße, die nach wenigen hundert Metern vor der Mauer aus alten, moosüberwachsenen Steinen endete, in die ein Tor eingelassen war, das so gar nicht zu dem Rest der Umgebung passen wollte.

Es war groß, aus blitzendem Stahl und die Videokameras, die den Eingangsbereich überwachten, blickten wie kalte Augen ohne Regung auf jeden, der sich dem Anwesen näherte. Dabei war es doch so einfach, sich eine morsche Stelle in der Mauer zu suchen und von da auf das Grundstück zu gelangen, wenn man es wirklich wollte. Killian alleine hätte aus dem Stehgreif mindestens fünf solcher Stellen gewusst, obwohl er nie besonders viel Zeit hier verbracht hatte. Er stoppte den Wagen vor dem Tor und beugte sich zu der Klingel in dem weißen Kasten, der auch gleichzeitig die Gegensprechanlage war. Doch niemand fragte ihn nach seinem Namen oder seinem Anliegen, schon wenige Sekunden, nachdem er auf den Knopf gedrückt hatte, vernahm er ein leises Summen und das große Tor schwang beinahe geräuschlos auf und machte ihren Weg frei.

Ab hier war die Straße mit sauberem Kies bestreut, ordentlich geharkt und stets von Unkraut freigehalten. Wahrscheinlich würde aus einer versteckten Hütte ein Gärtner springen, sowie sie außer Sichtweite waren, und die Spuren, die die Reifen hinterlassen hatten, augenblicklich beseitigen, bis der Kies wieder so jungfräulich und rein war, wie vor ihrer Ankunft. Er war versucht, in den Rückspiegel zu blicken, um seine Vermutung zu bestätigen, aber eigentlich interessierte es ihn nicht wirklich. Sie nährten sich nun dem großen Haus, viel größer noch als das ihrer Eltern. Ein roter Backsteinbau, zwei Stockwerke hoch, mit malerischem Efeu, der die Wände überwucherte, dort, wo man es ihm gestattete. Die Säulen vor dem Eingangsbereich wirkten, als wenn sie direkt aus der Kulisse von ‚Vom Winde verweht‘ entwendet worden waren und Killian fand, dass sie so gar nicht zu dem restlichen Haus passten. Sie sahen aus wie ein nachträglicher Einfall und vermutlich waren sie auch genau das gewesen. Das Haus war nicht in einem Rutsch hochgezogen worden, jede Generation hatte ihren Teil dazu beigetragen. Den Wintergarten auf der Rückseite, das flache Nebengebäude, in dem ein Schwimmbad untergebracht war, das kleine Türmchen an der Südseite, in dem Laura und er als Kinder Dornröschen oder Aschenputtel gespielt hatten.

Vor dem Haus wartete bereits das Empfangskomitee. Ihre Großmutter, in einem schwarzen Kostüm, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war; sie trug ausschließlich Schwarz, seit ihr Mann vor nunmehr über 25 Jahren an einem Krebsleiden verstorben war. Ihre Haare hatte sie zu einem strengen Dutt frisiert, kein Schmuck störte ihr Erscheinungsbild, keine noch so kleine Verzierung an ihrer Kleidung. Neben ihr hatte sich der Butler eingefunden, genauso steif und auf unangenehme Art würdevoll wie seine Arbeitgeberin. Schon als Kind hatte dieser Mann Killian Angst eingejagt; er schien immer genau gewusst zu haben, wenn Laura und er das taten, was ihre Großmutter als Unfug treiben bezeichnete und er hatte sich stets wie aus dem Nichts materialisiert und sie zurechtgewiesen. Auch als er Jahre später begriffen hatte, dass hinter diesem plötzlichen Auftauchen keine Zauberei steckte, sondern schlicht die Gänge, die hinter den Wänden vieler Räume für die Dienstboten angelegt worden waren, hatte sich sein Unbehagen in Gegenwart dieses lebenden Fossils nie ganz gelegt.

Er warf Laura einen kurzen Blick zu und konnte sein eigenes Unwohlsein in ihrem Gesicht gespiegelt sehen, dann stellte er den Motor ab, überreichte den Zündschlüssel einem der herbeigeeilten Bediensteten, von denen es im Hause ihrer Großmutter einen schier unerschöpflichen Vorrat zu geben schien, und öffnete dann die Fahrertür, während seine Schwester es ihm spiegelverkehrt gleich tat. Gemeinsam gingen sie auf die alte Frau zu, deren Gesicht keine Regung zeigt, weder Freude über ihr Auftauchen noch Ablehnung. Sie war wie eine Statue.

„Kinder, ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Reise.“, wurden sie nüchtern begrüßt; keine Umarmung, oh nein, so etwas hatte es nie gegeben.

„Ja, vielen Dank. Und danke auch, dass wir herkommen durften.“, antwortete Laura, die schon immer diejenige von ihnen gewesen war, die sich besser auf die gesellschaftlichen Umgangsformen verstand.

Killian versuchte es mit einem schiefen Lächeln, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen. Sie waren noch nie ohne Begleitung ihrer Mutter hier gewesen, ganz alleine mit dieser Frau, die sie im Grunde gar nicht kannten. Hinter ihm wurde bereits ihr Gepäck aus dem Auto geladen und wahrscheinlich direkt in die für sie vorbereiteten Zimmer gebracht.

„Das Abendessen wird bald serviert. Macht euch frisch, dann kommt in den Salon.“, kam die knappe Anweisung, ehe ihre Großmutter sich umdrehte und ins Haus glitt.

Die Geschwister warfen sich einen vielsagenden Blick zu und folgten dann dem Butler, der ihnen den Weg wies. Das konnten ja heitere Wochen werden. Kilian legte einen Arm um Lauras Schultern, und genoss das Gefühl ihrer zerbrechlich wirkenden Knochen unter seinen Fingern, die seidige Glätte des Stoffs und diese harmlose Nähe, die niemandem schadete. Manchmal befürchtete er, einfach den Verstand zu verlieren und wollte am liebsten vor ihr fliehen, an einen Ort gehen, wo sie nicht existierte und wo er frei sein würde von diesem Verlangen, welches ohne Unterlass an ihm zehrte. Doch er wusste selbst, dass er das nie tun würde, weiter von ihrer Seite weichen, als es sein müsste. Noch früh genug wäre diese Zeit vorbei und sie würden sich endgültig trennen müssen. Bis dahin wollte er wenigstens so viel von ihr haben können, wie es möglich war, egal, welchen Preis er dafür zahlen musste, wenn er nachts alleine in seinem Bett lag und von Alpträumen geplagt wurde, die man nur im wachen Zustand haben konnte.

„Komm, Bruderherz.“, flüsterte seine Schwester ihm verschwörerisch zu und ihr Arm glitt vertraut um seine Hüfte. „Wenn wir zum Abendessen zu spät kommen, erleben wir vielleicht, wie der Drachen Feuer spuckt.“

„Noch können wir fliehen. Einfach schnell zurück ins Auto, zum nächsten Flughafen und ab über den großen Teich, wie wir es geplant hatten.“, flüsterte er ebenso leise zurück, aber Laura schüttelte nur bedauernd den Kopf.

Nein, sie hatten keine Chance, sie waren dazu verdammt, hier zu sein, für Wochen, die vielleicht endlos sein würden. Schon bei jedem ihrer vorhergegangenen Besuche hatte Killian gedacht, dass die Zeit auf diesem Anwesen ihren eigenen Regeln folgte und sich nicht darum kümmerte, was die Wissenschaft ihr vorgab. Hier konnte eine Stunde so lang sein wie ein ganzes Jahr und ein Tag war wie die Ewigkeit.

Noch immer Arm in Arm stiegen sie die breite Treppe hinauf und Killian betrachtete im Vorbeigehen die Porträts, die fein säuberlich an den Wänden aufgereiht waren. Er wusste, dass es sich dabei um ihre Vorfahren handelte, bis zurück zu Karl VII, der ihrer Familie dieses Anwesen und den Titel verliehen hatte. Jedes der Gesichter sah in seinen Augen gleich aus, egal ob männlich oder weiblich, es war immer seine Großmutter, die mit dunklen Augen zu ihm zurückblickte. Er hatte schon oft gedacht, dass diese Ahnengalerie eine lohnenswerte Aufgabe für Forscher der Vererbungslehre sein müsste; wie sich die dominanten Gene über die Jahrhunderte erhalten hatten. Andererseits konnte man auch davon ausgehen, dass die Porträts nicht ganz der Wahrheit entsprachen. Das zeigte ganz deutlich das von ihrer Mutter, welches als letztes in der Reihe hing; sie sah auf dem Bild nicht annähernd so aus, wie im wirklichen Leben.

„Großmutter hat ja schon angedeutet, dass wir auch in diese Reihe gehören. Meinst du, sie hat diesmal einen Maler bestellt?“, fragte Laura neugierig.

„Warum sollte sie? Dazu reichen doch heute Fotos, die man irgendwo hinschickt. Da muss keiner mehr stundenlang still sitzen, auch wenn du das problemlos könntest, man muss dir ja einfach nur ein Buch in die Hand drücken, dann verfällst du automatisch in eine Winterstarre.“, neckte Killian sie und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

Seine Lippen fühlten sich so richtig an auf ihrer Haut, als wenn es genauso sein sollte und nicht anders und als wenn es ein schrecklicher Irrtum sein müsste, dass sie Bruder und Schwester waren. Schon oft hatte er sich dem Traum hingegeben, dass sie es nicht waren, dass man einen von ihnen im Krankenhaus vertauscht hatte und sich dieser Irrtum irgendwann aufklären würde. Dann bräuchten sie ihre Gefühle nicht mehr voreinander verstecken und so tun, als wenn Geschwister wirklich alles wäre, was sie füreinander waren. Doch er wusste, dass diese Hoffnung sich nie erfüllen würde; sie sahen sich zu ähnlich dafür. Ständig hörte er das, von so vielen Menschen, dass es unmöglich nicht stimmen konnte.

Der Butler öffnete die Tür zu einer der Unterkünfte für Gäste. Ein großer Salon, mit üppigen Blumen verschwenderisch dekoriert, die ihren Duft im ganzen Raum verbreiteten. Ihre Großmutter liebte ihre Blumen, ihren Garten, in dem sie mehr Zeit verbrachte, als irgendwo sonst und gerade um diese Jahreszeit gab es keinen Mangel an den verschiedensten Gewächsen. Laura bemerkte dies mit einem entzückten Lächeln und steckte ihre Nase auch gleich in das nächstgelegene Bouquet, doch Kilian konnte dem ganzen nicht so viel abgewinnen, Blumen waren nichts, was ihn in Begeisterungsstürme hätte versetzen können.

Von dem Salon gingen drei Türen ab. Links und rechts je ein Schlafzimmer, in der Mitte das Bad, welches sie sich teilen würden. Sie kannten diese Räume bereits. Schon wenn sie mit ihrer Mutter hergekommen waren, hatten sie immer hier gewohnt und Kilian bemerkte, dass sich bis auf die frischen Blumen wirklich rein gar nichts verändert hatte.

„Ihr Gepäck wurde bereits in Ihren Zimmern bereitgestellt.“, teilte der Butler ihnen mit knarrender Ehrerbietigkeit mit, machte eine steife Verbeugung und verließ den Raum.

Erleichtert ließ Killian sich auf die Chaiselongue fallen, die ein traumhaftes Panorama über den Garten bot, mit seinen Jahrhunderte alten Weiden, dem üppigen grün des Rasens und dem malerischen Teich mit dem weißen Pavillon. Doch für all das hatte er keinen Blick, seine Augen ruhten unverwandt auf seiner Schwester, die sich ihre langen Haare über die Schulter geworfen hatte und nachdenklich ihre Füße betrachtete. Ihre zierlichen, kleinen Füße, die in reizenden Riemensandalen steckten und die er gelegentlich massieren durfte, wenn sie bei gesellschaftlichen Veranstaltungen über Stunden gezwungen gewesen war, sie in diese hochhackigen Folterinstrumente zu stecken und darüber jammerte, dass ihre Ballen brannten wie Feuer.

„Willst du zuerst ins Bad, oder soll ich?“, fragte sie ihn leise.

„Lass lieber mich, du brauchst doch immer Stunden. Ich spring kurz unter die Dusche und dann kann ich schon mal unsere Sachen auspacken, während du dich fürs Essen schick machst, damit du nicht mehr wie eine Vogelscheuche aussiehst.“, grinste Killian ihr frech entgegen.

Laura schnaubte und zog einen absolut bezaubernden Schmollmund, die Hände hatte sie herausfordernd in die Hüften gestemmt.

„Eine Vogelscheuche, ja?“, flötete sie und straffte ihre Gestalt. „Da ist Bastian aber ganz anderer Meinung. Und meine Sachen kann ich auch sehr gut alleine auspacken!“

Die Erwähnung dieses Namens war für Killian wie ein Schlag ins Gesicht. Bastian, dieser großkotzige Idiot, der seit Wochen um seine Schwester herum scharwenzelte, sie mit Komplimenten und albernen Geschenken überhäufte und dessen Absichten für jeden mehr als deutlich waren. Warum nur konnte seine Schwester das nicht auch sehen, dass dieser Typ nichts taugte, dass er es nur auf das eine abgesehen hatte? Laura war schüchtern, schon immer gewesen, und nicht so leichtfertig wie die meisten anderen Mädchen aus ihrem Umfeld. Es hatte schon mehr als einen Verehrer in ihrem Leben gegeben, aber irgendwann hatte es sich unter den jungen Männern geradezu zu einem Sport entwickelt, die ewige Jungfrau knacken zu wollen. Die Vorstellung, dass irgendeiner dieser ungehobelten, selbstsüchtigen und absolut ungeeigneten jungen Männer es schaffen könnte, seine naive, süße und unschuldige Schwester um den Finger zu wickeln und sie hinterher stolz als Trophäe herumzuzeigen, machte Killian rasend vor Wut. Abrupt erhob er sich aus den weichen Polstern und ging zu ihr herüber.

„Dieser Spinner ist aber nicht hier.“, schnappte er und bereute seinen barschen Tonfall sogleich, als Laura ein wenig zusammenzuckte und den Blick senkte. „Und du weißt ganz genau, dass du immer umwerfend aussiehst, Prinzessin.“, fuhr er sanft fort und küsste ihre Stirn.

Er legte seine Arme um ihre Schultern und lehnte seinen Kopf gegen ihren, sein Herz schlug in einem wilden Rhythmus, als er fühlte, wie sich ihre Arme um seine Taille schlangen und sie sich dicht an ihn schmiegte. Für einen endlosen Moment blieben sie so stehen, zusammen, und er hatte das Gefühl, dass nichts sie je würde trennen können, auch nicht das Erwachsenwerden, das sich wie ein dunkler Schatten über sie zu legen schien. Sie gehörten einfach zusammen und kein Bastian oder Oliver würde daran jemals etwas ändern können. Doch dann löste Laura sich aus der Umarmung und lächelte zu ihm auf.

„Dann geh schon, aber beeil dich, ich kann es kaum noch erwarten, mich endlich gründlich zu waschen.“

„Dein Wunsch ist mir Befehl, Teuerste.“, erwiderte Killian und verschwand im Bad.
 

Laura setzte sich auf einen der zahlreichen Sessel, streifte ihre Sandalen ab und zog ihre Beine dicht an ihren Körper. Jetzt waren sie also hier, bei ihrer Großmutter, nur sie beide. Das Rauschen des Wassers klang gedämpft aus dem Bad zu ihr herüber und sie schüttelte unbewusst den Kopf. Killian und sie, das unschlagbare Duo, wie Pech und Schwefel. Aber ganz so war es nicht mehr, schon seit einiger Zeit nicht mehr. Immer öfter bemerkte sie diesen sonderbaren Blick bei ihrem Bruder, den sie nicht recht zu deuten vermochte und der ihr gleichzeitig heiße und kalte Schauer über den Rücken laufen ließ. Er wirkte dann gar nicht mehr wie ihr Spielgefährte aus Kindertagen, mit dem sie all ihre Geheimnisse teilen konnte und dem sie ihr Leben blind anvertraut hätte, sondern wie ein Raubtier, gefährlich und unberechenbar. Das einzige, was ihr in solchen Situationen blieb, war verunsichert den Blick zu senken und zu warten, dass wieder ihr Bruder vor ihr stehen würde, den sie so gut kannte und so sehr liebte, wie ein Mensch einen anderen nur lieben konnte.

Seufzend kuschelte sie sich tiefer in den Sessel und schloss die Augen. Gleich würden sie herunter gehen in den Salon und in der eisigen Gesellschaft dieser furchtbaren Frau ein exquisites aber dennoch geschmackloses Dinner zu sich nehmen. Es war ihr unbegreiflich, wie ihre Mutter es ertragen hatte, hier ihre ganze Kindheit zu verbringen, in diesen Mauern, die trotz ihres Prunks und ihrer Annehmlichkeiten wie ein Gefängnis wirkten. Allein die kühle Begrüßung hatte deutlich gemacht, dass ihre Großmutter sie nach wie vor als Kinder eines ungeeigneten Mannes betrachtete und weniger als ihr Fleisch und Blut. Aber dennoch, die alte Frau tat ihr auch leid. Sie war nun schon seit so vielen Jahren allein, nur umgeben von Bediensteten, die fast genauso schnell wechselten, wie die Jahreszeiten. Sie erinnerte sich noch, wie ihre Großmutter vor einigen Jahren darüber geschimpft hatte, wie schwer es heutzutage sei, gutes Personal zu finden; sie würden viel erwarten und wenig dafür leisten, hatte sie pikiert gesagt. Laura dachte, dass man es ihnen nicht verübeln konnte. Wer wollte schon den ganzen Tag hier verbringen und nie auch nur ein freundliches Wort hören, stattdessen aber reichlich Kritik und abfällige Bemerkungen.

Doch sie hatte nur kurz Zeit, diesen Gedanken nachzuhängen, denn kaum zehn Minuten, nachdem er im Bad verschwunden war, kam ihr Bruder auch schon wieder heraus. Ein nasses Handtuch über den Schultern, auf das von seinen Haaren Wasser tropfte, barfuß und nur mit einer Unterhose bekleidet. Deutlich konnte sie den großen blauen Fleck sehen, den er sich vor einer Woche eingefangen hatte. Er hatte ihr nicht gesagt, woher er ihn hatte und sie hatte ihn nicht gefragt, sie hatte es schließlich auch so gewusst. Auch wenn sie in einer Großstadt lebten, die Kreise, in denen sie sich bewegten, waren klein und sie hatte schon von der Schlägerei gehört, ehe er in der Nacht nach Hause gekommen war. Ihretwegen hatte er sich geschlagen, wie schon sooft. Er beschützte sie, oder glaubte zumindest, dass er es tat und sie brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass es dazu bereits zu spät war. Er sah in ihr immer noch das kleine, unschuldige Mädchen, das sie mal gewesen war und nichts, was sie tat oder sagte, würde daran vermutlich je etwas ändern.

Lächelnd erhob sie sich von ihrer Sitzgelegenheit und huschte schnell an ihm vorbei ins Bad. Sie wollte den Staub der Reise endlich von sich abwaschen. Killian liebte es, mit offenem Verdeck zu fahren, bei fast jedem Wind und Wetter, aber wenn man mehrere Stunden so unterwegs gewesen war, dann hatte sie das Gefühl, mit einer dicken Schicht aus totem Getier und den verschiedensten, geologischen Proben bedeckt zu sein. Das heiße Wasser war belebend und besserte auch ihre Laune erheblich. Sie würden hier eine schöne Zeit verleben, ehe im Herbst ihr Studium begann, und wenn sie es nur aus Trotz taten, um ihrer Großmutter eins auszuwischen. Sie wickelte sich in eines der großen, flauschigen Badetücher und schloss die Augen, während sie ihre Haare mit dem altmodischen Föhn, der ein Überbleibsel aus der Vorkriegszeit zu sein schien, notdürftig trocknete. Um ihre Mähne vollkommen zu bändigen, hätte sie mit diesem Teil Stunden benötigt, insofern würde sie sich ihre Haare einfach hochstecken und der Natur überlassen, sich mit dem Rest Feuchtigkeit zu beschäftigen. Schließlich waren sie heute Abend unter sich, da war es nicht nötig, dass sie ein ordentliches Bild abgab.

Als sie in ihr Zimmer kam, war ihr Gepäck bereits ausgeräumt und sie seufzte ergeben. Manchmal hatte sie den Eindruck, Killian würde ihr selbst die winzigsten Kleinigkeiten nicht zutrauen und sie behandeln, wie ein kleines Baby. Nie im Leben wäre sie selbst auf den Gedanken gekommen, seine Koffer auszuräumen, aber er tat solche Dinge immer für sie. Sie wusste, dass er es gut meinte und dachte, er würde ihr damit einen Gefallen tun, aber immer öfter wünschte sie, er würde aufhören, in ihr eine zerbrechliche Puppe zu sehen. Als sie noch Kinder gewesen waren, hatte sie es genossen, dass ihr großer Bruder ihr immer zur Seite gestanden hatte, aber allmählich wurde es für sie beide Zeit, sich mehr voneinander zu lösen.

Sie öffnete den Schrank, in dem ihre Kleider ordentlich auf Bügel gehängt worden waren, und entschied sich für ein schlichtes, weißes Baumwollkleid, mit hochgeschlossenem Ausschnitt und langen Ärmeln. Sie wusste, dass so etwas ihrer Großmutter wohl am besten gefallen würde, selbst wenn es nicht schwarz war. Passende Schuhe waren schnell zur Hand und fertig angekleidet ging sie zurück in das Wohnzimmer. Ihr Bruder hatte sich auf die Chaiselongue gelümmelt, eine Zeitschrift über Sportwagen in der Hand, von denen er mehrere Tonnen in seinem Koffer hierher transportiert hatte. Er sah aus, wie eine Mischung aus vornehmen Gentleman und unverbesserlichem Lausbub. Stoffhose, weißes Hemd und eine Weste, dazu jedoch Turnschuhe und Haare, die er nach dem Waschen nicht in Form gebracht hatte, so dass sie ihm in unordentlichen Strähnen wirr vom Kopf standen. Lachend nährte Laura sich ihm und schnippte ihm gegen die Stirn, um ihn von seiner spannenden Lektüre loszureißen.

„Na komm schon, Großmutter wartet sicher bereits auf uns und wir wissen doch beide, wie sehr sie es schätzt, wenn man sie warten lässt.“, forderte sie ihn resolut auf.

„Meinst du, wenn ich die alte Zicke so richtig zu schleime, dann lässt sie mich vielleicht mal den Royce fahren? Der steht doch seit Jahrzehnten nur unnütz in der Garage rum?“, erkundigte Killian und sein hoffnungsvoller Blick ließ Laura noch mehr lachen.

„Nein, denke ich nicht, aber ich würde trotzdem gerne sehen, wie du ordentlich rumschleimst.“, erwiderte sie wahrheitsgemäß.

Der Rolls Royce stammte aus den 50igern und soweit sie wusste, war er seit dem Tod ihres Großvaters nicht mehr bewegt worden. Wahrscheinlich würde er nicht einmal mehr anspringen, aber die verliebten Blicke, die ihr Bruder dem Wagen jedes Mal zuwarf, wenn sie hier waren, konnten niemandem entgangen sein. Diese Vorliebe für alles, was mit Fortbewegung auf zwei oder vier Rädern zu tun hatte, musste er von ihrem Vater haben. Die einzigen Streits, die sie jemals zwischen ihren Eltern erlebt hatte, hatten sich ausnahmslos um die Anschaffung neuer Autos gedreht. Immer, wenn ihr Vater ein gutes Geschäft abgeschlossen hatte, schien der sich einen neuen Wagen anschaffen zu müssen, wohingegen ihre Mutter der Meinung war, dass vier Fahrzeuge für eine Familie mehr als ausreichend seien. Besonders, wenn man drei davon so gut wie nie benutzte.

Killian bot ihr galant ihren Arm an und Laura hakte sich bei ihm unter, um sich von ihm durch die verwinkelten Gänge bis zur großen Treppe führen zu lassen, die das Zentrum des gesamten Hauses bildete. Schon oft hatte sie überlegt, wie schön es hier doch eigentlich war, wenn nur nicht die gedrückte Stimmung schwer über allem lasten würde. Eines Tages würden vielleicht sie oder ihr Bruder hier leben und wenn das der Fall war, dann würden sie hier einiges ändern. Die schweren, dunklen Vorhänge müssten von den Fenstern verschwinden, die alten, dunklen und schon fleckigen Tapeten durch neue, freundlichere Ersetzt werden. Und auch wenn die Möbel Antiquitäten waren, die von einer Generation zur nächsten gereicht worden waren, die meisten von ihnen entsprachen überhaupt nicht ihrem Geschmack. Wenn ihre Großmutter das zeitliche segnen würde, würde der ganze Besitz an ihre Mutter gehen, als einziges Kind der Familie, aber Laura wusste, dass keine zehn Pferde ihre Mutter dazu bringen würden, hier zu leben. Auch wenn sie eher ein stiller Mensch war, genau wie ihre Tochter, so liebte sie doch das Leben in einer Großstadt mit all den vielen Möglichkeiten, die sich dort boten. Von den schlechten Erinnerungen an ihre eigene Kindheit in diesen Wänden wahrscheinlich ganz zu schweigen.

Unten an der breiten Treppe erwartete sie bereits der Butler, sein Gesicht eine Maske der Servilität, doch was sich dahinter verbarg, konnte sie unmöglich sagen. Dieser Mann und ihre Großmutter waren sich sonderbar ähnlich, als wenn die Dame des Hauses und ihr wichtigster Diener sich im Laufe der Jahre beinahe symbiotisch aneinander angepasst hatten und nun wie ein Lebewesen agierten, welches nur in zwei getrennten Körpern lebte. Mehr als einmal war Laura schon der Gedanke durch den Kopf gegangen, dass der Butler vielleicht deutlich mehr Dienste leistete, als es ein Mann in seiner Position eigentlich tun sollte. Doch wenn sie versuchte, sich diese beiden Menschen in leidenschaftlicher Umarmung verschlungen vorzustellen, zeigte ihr Gehirn ihr nur ein Flimmern. Nicht, dass sie besonders viel Wert darauf gelegt hätte, hier ins Detail zu gehen. Einmal hatte sie ihrer Mutter von ihrem diesbezüglichen Verdacht erzählt, doch die hatte nur den Mund zu einem dünnen Strich gepresst und den Kopf geschüttelt. Ein Verhalten, welches bei Laura nur noch mehr Grund zu der Annahme gegeben hatte, dass sie richtig lag.

„Wenn Sie mir bitte in den Salon folgen würden, das Essen wird unverzüglich serviert.“, schnarrte der alte Mann und verbeugte sich tief. „Das gnädige Fräulein erwartet sie bereits.“

Mit knappen, effektiven Bewegungen drehte er sich um und eilte ihnen voraus, öffnete die breite Tür und verharrte in halb vorgebeugter Haltung, bis die beiden Geschwister an ihm vorbei in den Salon getreten waren. Ihre Großmutter hatte bereits an dem großen Tisch Platz genommen und Laura dachte, wie verloren und unglücklich sie doch aussah. Sie hatte Bilder gesehen von ihrer Großmutter als junger Frau, ihre Augen hatten gestrahlt, fest auf ihren frisch angetrauten Mann gerichtet, ihre Haare hatten selbst auf den alten schwarz-weiß Fotos einen seidigen Schimmer gehabt und stets hatte ein kleines Lächeln um ihre Mundwinkel gespielt. Viele Bilder hatte sie gesehen, von dieser Frau in verschwenderischen Roben bei der Oper, in verspielten Sommerkleidern bei einem Picknick im Park, in einem Reiterdress hoch zu Ross, mit einem winzigen, neugeborenen Baby in ihren Armen, einem kleinen Mädchen an der Hand. Eine Reise in der Zeit, doch je näher diese Reise der Gegenwart kam, desto seltener hatte ihre Großmutter auf den Bildern gelächelt, das Strahlen war aus ihren Augen verschwunden und der Glanz aus ihren Haaren.

„Kinder, nehmt Platz, dann werde ich dem Mädchen sagen, dass es aufragen kann.“, sagte nun diese Frau, die wie eine getrocknete Blume wirkte; schon lange jeder Feuchtigkeit und Lebendigkeit beraubt, vertrocknet und tot und gerade dadurch irgendwie alterslos.

Laura setzte sich links neben ihre Großmutter, Killian nahm rechts von ihr Platz und die alte Frau läutete mit einer kleinen Glocke. Gleich darauf schoss eine junge Frau durch die Tür für Bedienstete und machte einen höflichen Knicks.

„Wir wünschen, jetzt mit der Vorspeise zu beginnen.“, sagte ihre Großmutter und schaffte es selbst bei diesen wenigen Worten, von oben herab und verachtend zu klingen.

Beinahe entschuldigend sah Laura dem Dienstmädchen hinterher, doch dieses hatte keine Miene verzogen sondern ging nur eilig wieder nach draußen, nur um kurz darauf mit dem Servierwagen wieder herein zu kommen. Das eigentliche Servieren würde selbstverständlich der Butler übernehmen, der sich auch sofort daran machte, die französische Pastete appetitlich auf den Tellern anzurichten und ohne das geringste Geräusch zu machen, vor sie auf die Platzteller zu stellen.

„Das sieht köstlich aus.“, versuchte Laura, die unangenehme Stille zu durchbrechen.

„Ich wusste nicht, wann ihr hier eintreffen würdet, deswegen gibt es heute Speisen, die leicht warm zu halten sind.“, entgegnete ihre Großmutter und Laura meinte, einen stillen Vorwurf aus ihrer Stimme zu vernehmen.

„Was mich angeht, ich könnte jetzt ein halbes Schwein auf Toast verdrücken.“, sagte ihr Bruder und warf der alten Frau ein geradezu unverschämtes Grinsen zu, das nur mit verkniffenen Lippen erwidert wurde.

Laura trat ihrem Bruder unter dem Tisch unauffällig gegen das Bein, musste sich aber trotzdem ein Lachen verkneifen. Eigentlich wusste er durchaus, wie man sich bei Tisch gesittet verhielt, aber es war eben seine Art, mit der Spannung umzugehen und ihn hier zu haben, machte die ganze Situation erträglicher. Auch wenn sich ihr Verhältnis im Laufe der Jahre geändert hatte, ihr Bruder war noch immer der Mensch, dem sie sich näher fühlte, als irgendjemandem sonst.

Das restliche Mahl verlief zu einem Großteil schweigend, und Laura merkte kaum, was sie sich in den Mund schob. Sie hoffte inständig, dass sie nicht die ganzen sechs Wochen dieses Ritual Abend für Abend so erleben mussten, aber schon ihre früheren Besuche hier hatten gezeigt, dass ihre Großmutter auf das gemeinsame Abendessen viel Wert legte. Solange sie mit ihrer Mutter hier gewesen waren, war es ja noch einigermaßen erträglich gewesen, denn sie waren fast vollständig durch das Raster der beiden Frauen gefallen, die einen erbitterten Krieg miteinander ausgefochten hatten. Doch nun, wo die Geschwister ohne diesen menschlichen Schutzschild waren, gab es nichts, was die Aufmerksamkeit ihrer Großmutter von ihnen hätte ablenken können.

Die alte Frau schob als Zeichen, dass das Essen beendet war, ihren Desserteller, von dem sie kaum einen Bissen angerührt hatte, von sich und nach einem weiteren, energischen Klingeln mit der Glocke, erschien das Mädchen und machte sich daran, das benutzte Geschirr abzuräumen.

„Walter, wir gehen jetzt auf die Terrasse und nehmen dort eine Erfrischung zu uns. Bitte bringen Sie die Getränkte dorthin.“, forderte ihre Großmutter den Butler auf und verließ auch schon mit zielstrebigen Schritten den Salon.

Laura warf ihrem Bruder einen erschöpften Blick zu und war außerordentlich dankbar, dass er ihr einen Arm um ihre Taille legte, der sie stützte und ihr ein Gefühl von Geborgenheit gab. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und gemeinsam folgten sie der alten Frau durch einen weiteren Korridor, vollgestopft mit Erinnerungsstücken von Menschen, die bereits lange nicht mehr auf dieser Welt weilten. Auf einem kleinen Tischchen waren Fotos aufgereiht, in reichlich verzierten Rahmen aus Silber. Eines davon zeigte eine junge Frau in einem Kleid aus den 20iger Jahren, die sich lässig an einen Wagen lehnte, im Hintergrund das Haus, in dem sie sich gerade befanden. Als Kind hatte Laura sich dieses Bild oft angesehen und sich sonderbar berührt davon gefühlt. Sie wusste, dass es sich bei der Frau um ihre Urgroßmutter handelte, die Mutter ihrer Großmutter, als sie gerade ihr erstes Automobil erworben hatte. Sie war die erste Frau aus der Familie gewesen, die einen Führerschein gemacht und sich dadurch ein Stück Unabhängigkeit erobert hatte, welches in der damaligen Zeit noch nicht selbstverständlich gewesen war. Aber was genau sie an gerade diesem Bild stets so fasziniert hatte, konnte Laura selbst nicht sagen. Vielleicht war es der Ausdruck in den Augen der Frau, als würde sie sagen ‚Hier stehe ich, mit meinen beiden Füßen fest auf dem Boden, und keiner wird mir das nehmen können‘. Oder vielleicht war es die Ähnlichkeit, die sie meinte, in ihren eigenen Zügen zu entdecken, auch wenn sie selbst nicht einmal annähernd diese Entschlusskraft aufbringen konnte, wie sie sie bei ihrer Urgroßmutter erahnen konnte.

Auf der Terrasse, die von einer hohen Steinmauer umschlossen war und so eine Art Oase in dem weitläufigen Außenbereich des Anwesens bildete, empfing sie eine warme Briese, erfüllt von dem Geruch von Blumen und feuchter Erde. Dieser Geruch war köstlich und Laura atmete ihn tief und gierig ein. Sommer war mit Abstand ihre liebste Jahreszeit, überall wuchs neues Leben, die Vögel sangen unablässig ihre schönen und auch weniger schönen Lieder, und dann dieser Duft nach Leben, der über allem lag.

Ihre Großmutter hatte sich bereits auf einem der zierlichen, weißen Stühle niedergelassen, ihre Knöchel sittsam überschlagen und für einen Moment meinte Laura, etwas von der fröhlichen, jungen Frau, die sie auf den alten Bildern gesehen hatte, in ihrem Gesicht wieder zu finden. Die alte Frau hatte ihr Gesicht zu einem der üppig blühenden Rosensträucher gewandt und auch wenn kein Lächeln auf ihren Lippen zu sehen war, so wirkten sie doch deutlich entspannter, als noch vor wenigen Augenblicken im Salon.

„Setzt euch zu mir, die Getränke werden gleich gebracht.“, wurden die Geschwister aufgefordert. „Ich hoffe, ihr mögt Eistee noch genauso gerne wie früher?“

Der Eistee, das war etwas, an das Laura sich sehr lebhaft erinnern konnte. Schwarzer Tee, mit einem kräftigen Schuss Zitrone und nur einem Hauch von Zucker, serviert in eisgekühlten Gläsern, die ganz beschlagen waren und an denen langsam feuchte Tropfen herunter liefen. Nirgendwo sonst bekam man solchen Eistee wie hier.

„Ja, sogar sehr gerne, Großmutter.“, antwortete Laura mit einem leichten Lächeln und ließ sich auf den Stuhl neben der alten Frau nieder. „Das ist so wunderbar erfrischend.“

„Ja, das ist es. Ich sitze gerne hier auf der Terrasse und lasse den Abend ausklingen.“, folgte die überraschend freundliche Entgegnung.

Laura bemerkte, dass ihr Bruder unruhig mit den Füßen scharrte und warf ihm einen bittenden Blick zu. Es war immerhin ihre Großmutter, auch wenn sie in vielen Dingen eine Fremde war, und sie beide waren sich doch einige gewesen, dass sie wenigstens versuchen würden, die Barriere zu überwinden, die sie von dem letzten lebenden Verwandten mütterlicherseits trennte. Killian hörte auch sofort auf, und lehnte sich gegen die winzige Lehne des metallenen Stuhls, die hinter seinem Rücken vollständig verschwand. Überhaupt schienen diese Sitzgelegenheiten mehr dazu gedacht, die Gestaltung der Terrasse, mit ihren wohl arrangierten Blumenkübeln, Pflanzsäulen und sorgfältig angelegten Blumenbeeten, zu unterstützen, als sie tatsächlich zum Sitzen zu benutzen. Obwohl sie gerade erst wenige Minuten auf einem der Stühle saß, begann schon jetzt ihr Hintern einzuschlafen. Dankbar blickte Laura auf, als der Butler mit dem Wagen durch die Tür trat. Drei Gläser waren dort aufgestellt, halb mit Eiswürfeln gefüllt, und ein großer Krug, schon ganz beschlagen, der verlockend in den Strahlen der schrägstehenden Sonne funkelte. Unbewusst befeuchtete Laura ihre Lippen in Erwartung dieser Köstlichkeit und nahm dankbar das Glas entgegen, welches ihr nur Sekunden später entgegen gehalten wurde.

„Danke sehr, Walter.“, sagte sie artig, aber das Lächeln, welches sie dem Butler schenkte, blieb unerwidert.

„Besten Dank.“, murmelte auch ihr Bruder und noch ehe der Butler sie wieder allein gelassen hatte, um in den Schatten darauf zu warten, dass seine Herrin ihn erneut benötigen würde, hatte er schon das halbe Glas gelehrt.

„Zum Wohl.“, sagte ihre Großmutter und hatte dabei die Augen vorwurfsvoll auf ihren Enkel gerichtet, dem dies jedoch gar nicht aufzufallen schien.

Ein kleines Rotkehlchen hatte sich einige Meter von ihnen entfernt auf der Vogeltränke niedergelassen und begann, ein ausgiebiges Bad zu nehmen. Es tauchte seinen Körper immer wieder in das Wasser und schüttelte sich, dass die Tropfen nach allen Seiten stieben. Dabei zwitscherte es leise aber zufrieden vor sich hin. Die Anwesenheit der Menschen schien es nicht im Mindesten zu bemerken, oder vielleicht scherte es sich auch einfach nur nicht darum. Laura beobachtete das possierliche Treiben und nippte dabei immer wieder an ihrem Eistee. Sie würde im Herbst mit dem Studium der Tiermedizin beginnen und gerade, wenn sie solche Beobachtungen machen konnte, wusste sie, dass sie damit die richtige Entscheidung getroffen hatte. Tiere waren ihr schon immer näher gewesen, als andere Menschen. Sie waren nicht halb so verwirrend und niemals falsch oder hinterhältig. Tiere verhielten sich immer so, wie ihre Natur es ihnen vorgab.

Für einen Moment kam ihr alles geradezu idyllisch vor. Das Haus, der wundervolle Garten, der kleine Vogel, der sich ungerührt mit seinem Vergnügen beschäftigte, ihr Bruder, der sie mit einem versonnenen und vertrauten Lächeln betrachtete und selbst die Gesellschaft ihrer Großmutter. Laura nahm sich fest vor, diese Frau in den nächsten Wochen besser kennen zu lernen und wenn es möglich war, sogar in ihr Herz zu schließen.

„‘Tschuldigung.“, drang plötzlich eine Stimme von der Tür zu ihnen herüber, die nicht dem Butler gehörte, und verscheuchte das badende Rotkehlchen.

Erschrocken fuhr Laura herum und sah sich mit einem jungen Mann konfrontiert, den sie ganz sicher noch nie vorher gesehen hatte.

Er war groß, seine Haut war sonnengebräunt und mit Sommersprossen bedeckt. Seine blonden Haare schimmerten fast weiß in dem schwindenden Licht und seine Hände hatte er tief in den Taschen einer einfachen und mit Schmutz bedeckten Arbeitshose vergraben. Ein schiefes Lächeln lag auf seinem Gesicht und er wirkte derart unverkrampft und ungezwungen, dass sie automatisch daraus schloss, dass er noch nicht lange für ihre Großmutter arbeiten konnte. Wenn es denn das war, was er tat. Ohne sich dessen selbst bewusst zu sein, erwiderte sie sein unbefangenes Lächeln und spürte ein leises Kribbeln in ihrem Hals.

„Ja?“, antwortete ihre Großmutter und die ganze Entspannung, die sie in der letzten viertel Stunde zur Schau getragen hatte, war wie durch Zauberhand wieder verschwunden; ihr Gesicht hatte wieder jenen verkniffenen Ausdruck angenommen, den sie kaum jemals ablegte.

„Ich hab die neuen Steine auf dem Weg verlegt, die müssen sich jetzt erstmal setzen, solange darf keiner drauf treten.“, teilte ihr der junge Mann gelassen mit. „Für heute mach ich Schluss, morgen fang ich mit der Randbefestigung an.“

„Sehr schön.“, schnappte ihre Großmutter und Laura hätte fast beschämt den Blick gesenkt, aber dem jungen Mann schien die ruppige Art gar nichts auszumachen; er lächelte nur noch breiter, tippte sich kurz an die Stirn und verschwand dann genauso schnell, wie er gekommen war, wieder im Inneren des Hauses.

„Wer war das denn?“, erkundigte Killian sich und Laura hörte die Verwunderung in seiner Stimme deutlich.

„Oh, das ist der neue Bursche, den ich für die Hausmeisterdienste eingestellt habe.“, antwortete ihre Großmutter säuerlich. „Sein Vater hat diese Arbeit vor ihm erledigt, ansonsten hätte ich mich nie dazu breit erklärt, es mit ihm zu versuchen, aber Karl hatte einen Bandscheibenvorfall und musste seine Dienste bei mir überraschend beenden. Da hat man endlich jemanden gefunden, der seine Arbeit versteht und keine Scherereien macht, und dann geht ihm der Rücken kaputt.“

Die letzten Worte waren geradezu empört gewesen, als wenn es ein persönliches Komplott gegen sie wäre, dass ihr Angestellter einen kaputten Rücken hatte. Laura verbiss sich die Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, über Mitgefühl und Verständnis. Das wäre sowieso auf taube Ohren gestoßen.

„Macht sein Sohn seine Arbeit denn auch anständig?“, erkundigte sie sich stattdessen mit sanfter Stimme und hatte noch immer das Bild des jungen Mannes vor Augen.

„Das schon, aber er lässt es doch deutlich an Benehmen mangeln und aus der Hütte, die er jetzt auf dem Gelände bewohnt, kommt ständig diese furchtbare Musik, die die jungen Leute heutzutage hören.“

„Ihr habt doch früher bestimmt auch andere Musik gehört, als eure Eltern.“, schaltete Killian sich nun in das Gespräch ein, mit einem für ihn verdächtig freundlichen Lächeln, welches Laura in Alarmbereitschaft versetzte.

„Ich hätte nie etwas getan, was meinen Eltern missfallen hätte.“, schnappte ihre Großmutter und in ihre Augen war ein gefährliches Glitzern getreten.

„Nun, du bist aber auch nicht seine Mutter, oder?“, antwortete ihr Bruder lapidar. „Solange er seine Arbeit gut macht, hast du doch keinen Grund, zu meckern.“

Abrupt stellte ihre Großmutter ihr Glas mit Eistee auf den wackeligen Tisch und erhob sich mit einer knappen Bewegung. Ihre ganze Körperhaltung war wieder so steif, als wenn sie einen Besen verschluckt hätte und ihr Gesicht ließ keine Regung mehr erkennen. Unglücklich drehte Laura ihr Glas in ihren Händen und verstand nicht, warum ihr Bruder nicht einfach seinen Mund hätte halten können. Immer war er darauf aus, zu provozieren, fast wie ein halbwüchsiges Gorillamännchen, das sich beständig auf die Brust trommeln musste, um sich seinen Platz im Rudel zu erobern.

„Bitte entschuldigt mich, ich bin heute schon seit Sonnenaufgang auf den Beinen. Genießt eure Erfrischung, wir sehen uns morgen.“, sagte die alte Frau tonlos und entfernte sich rasch von ihnen.

„Musste das denn sein?“, fragte Laura Killian.

„Was hab ich denn gemacht?“, verteidigte der sich und setzte seine Unschuldsmiene auf.

„Versuch doch wenigstens, ein kleines Bisschen freundlich zu ihr zu sein.“, bat Laura leise. „Du weißt doch, dass sie sonderbar ist. Wer weiß, wie komisch wir werden, wenn wir einmal alt sind.“

Ihr Bruder erhob sich, setzte sich auf den Stuhl neben sie und gab ihr einen zarten Kuss auf die Wange. Seine Augen bohrten sich geradezu unter ihre Haut und sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Er hatte schon wieder diesen Ausdruck im Gesicht, der ihr Angst machte, sie zum Beben brachte und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ein aufgeregtes Pochen machte sich in ihrem Brustkorb breit, als seine Hand über ihre Schulter streichelte und sein warmer Atem die Härchen auf ihrer Haut zum Vibrieren brachte. Sie sollte so etwas nicht fühlen, nicht wenn es ihr Bruder war, der sie berührte, und trotzdem konnte sie es nicht ändern.

„Ich geb mir Mühe, versprochen.“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Für dich würde ich doch alles tun.“

„Ich weiß.“, murmelte sie mit belegter Stimme und nahm schnell einen Schluck aus ihrem Glas, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen, doch das verhaltene Klirren der Eiswürfel hallte in ihren Ohren laut nach.

Sie fühlte sich wie eine Gefangene, nicht nur in diesem Haus, sondern in ihrem ganzen Leben, und hatte nicht zum ersten Mal den Eindruck, dass nichts so war, wie es sein sollte. Als wenn die ganze Welt um sie herum Kopfstehen würde und sich an den Rändern auflöste. Sehnsüchtig dachte sie an die Zeit zurück, als ihre schlimmsten Sorgen sich darum gedreht hatten, dass Sonja Hilbig wieder einmal die hübscheren Sandalen für ihre Puppe gehabt hatte und ob es zum Nachtisch wohl Ingwereis geben würde.

„Ich mach noch einen kleinen Spaziergang über das Gelände, kommst du mit?“, fragte ihr Bruder und der intensive Augenblick war vorbei.

„Nein, geh du nur, ich bleibe hier noch ein Weilchen sitzen und wenn ich Glück habe, kommt das Rotkehlchen wieder.“, lehnte sie lächelnd ab.

„Du und deine Viecher.“, lachte Killian, umarmte sie noch einmal kurz und ließ sie dann allein mit ihren immer wirrer werdenden Gedanken.
 

Mit einem nicht geringen Gefühl der Erleichterung bog Dickie von dem ordentlichen Kiesweg auf den kleinen Trampelpfad ein, der ihn zu seiner Hütte führen würde. Im Grunde genommen war es keine Hütte, sondern ein richtiges Haus, mit zwei Zimmern, Küche, Bad, aber er hatte es sich in den paar Wochen, seit er hier eingezogen war, dennoch angewöhnt, die Unterkunft als Hütte zu bezeichnen. Oder als das Hexenhäuschen, wenn er was getrunken hatte und in besonders guter Stimmung war.

Er hatte den Job quasi von seinem Vater geerbt, und er war eigentlich nicht schlecht, füllte die Kasse. Nur die Alte, die in dem großen Kasten das sagen hatte, ging ihm mit jedem Tag mehr gegen den Strich. Ständig diese gerümpfte Nase, der herablassende Tonfall. Überhaupt benahm sie sich wie jemand, der mit dem richtigen Leben nichts zu tun hatte. Andererseits war es nur Arbeit, er würde das hier nicht ewig machen, nur solange, bis er mit seiner Musik genug Geld verdiente, um davon leben zu können und das musste jetzt wirklich jeden Tag soweit sein, wenn es nach ihm gegangen wäre. Nur noch ein, zwei mehr regelmäßige Engagements, auf die er sich halbwegs verlassen konnte, und er würde dem gutbürgerlichen Leben ein für allemal den Rücken zukehren.

Er dachte kurz an die beiden jungen Leute, die heute bei der alten Zicke gewesen waren. Das mussten dann wohl die vielgerühmten Enkel sein, wegen denen sie schon seit Wochen wie so ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend geflattert war. Grinsend holte Dickie sich diese Bilder wieder etwas genauer vor die Augen, das hatte wirklich was gehabt. Er war nun schon fast ein halbes Jahr hier und machte alles, was eben so anfiel, und in den ersten Monaten hatte er wirklich gedacht, die Alte wäre einfach nur eine vertrocknete Schnepfe, aber als dann die Nachricht gekommen war, dass ihre Enkel den Sommer bei ihr verbringen wollten, war sie schier aus dem Häuschen gewesen. Auf eine ganz und gar unfreundliche Art und Weise, aber immerhin. Sie hatte ihre ganzen Angestellten von morgens bis abends durch die Gegend gescheucht, damit auch ja alles abgestaubt, gewienert, poliert, arrangiert und organisiert wurde. Selbst ihn hatte sie nicht verschont. Er hatte Glühbirnen auswechseln müssen in Räumen, in die sowieso niemand ging, mehrere Stufen einer alten Treppe ausgebessert, die auf einen der Dachböden führte und er hatte vier ganze Tage damit zugebracht, unter glühender Sonne den Kies zu erneuern, den sein Vater gerade erst letztes Jahr gemacht hatte. Was für ein ausgemachter Blödsinn. Jeder vernünftige Mensch wusste doch schließlich, dass man sowas nur alle paar Jahre teilweise machen musste. Und jetzt waren die verwöhnten Bälger also da. Man hatte es ihnen so richtig angesehen, dass die noch nie in ihrem Leben mit ihren eigenen Händen etwas hatten tun müssen. Dass ein Mädchen zart gebaut war, mochte ja noch angehen, aber selbst der Junge hatte ausgesehen, als wenn er in einen Hungerstreik getreten war. Vielleicht war es in den besseren Kreisen ja auch nur Mode, dass selbst Männer wie so unterernährte Models aussahen und ihr ganzes Leben in Kindergrößen passten. Naja, ihm sollte es recht sein. Jetzt, wo die beiden da waren, würden sie die Alte vielleicht beschäftigen und sie würde ihn in Ruhe seine Arbeit machen lassen.

Er öffnete die Tür und der Geruch nach Spaghetti stieg ihm in die Nase und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Drüben im großen Haus hatte es heute wieder irgendwelche Schweinerein gegeben, die er nicht mal aussprechen konnte, und Kerstin, das Dienstmädchen, hatte mit ihm zusammen über die alberne Bagage gelacht, die selbst mitten in der Woche Filet sonstwas zu sich nehmen musste. Da lobte er sich doch einen anständigen Teller Bolognese, das konnte er schreiben, sprechen und vor allem auch kochen. Gelegentlich hatte er schon mal von den Resten probiert, welche die Alte übrig gelassen hatte, aber das war einfach nicht sein Ding.

Er zog sich die dreckigen Stiefel von den Füßen und stellte sie direkt neben die Duschwanne. Bevor er morgen mit seiner Arbeit weitermachen würde, würde er sie einmal kurz abbrausen, das sollte reichen. Sie zu putzen kam ihm absolut überflüssig vor, wo er doch gleich wieder damit durch den Matsch waten würde.

Vergnügt pfiff er vor sich hin während die Nudeln in der Mikrowelle brutzelten und der appetitliche Duft sich immer intensiver um seine Nase schlängelte. Endlich kam das erwartete Pling und er holte die heiße Schüssel heraus, nicht ohne sich vorher die Ärmel über die Hände zu ziehen, als Ersatz für Topflappen, die er nicht besaß. Er machte es sich an dem alten und schäbigen Küchentisch bequem und begann, sein Essen in atemberaubendem Tempo in sich rein zu schaufeln. Ein Blick auf die Uhr hatte ihm gesagt, dass er sich langsam beeilen musste, wenn er nicht zu spät in Tonis Kneipe auftauchen wollte. Und immerhin hatte er heute Abend mal wieder Gelegenheit, ein Solo zu geben, das wollte er natürlich unter keinen Umständen verpassen.

Die leere Schüssel stellte er in die Spüle, zu dem anderen schmutzigen Geschirr, um das er sich wirklich bald mal kümmern sollte, ehe noch irgendwelches Ungeziefer sich darüber hermachte, dann entledigte er sich seiner Kleidung und verschwand unter der Dusche. Es tat gut, den ganzen Dreck von sich zu waschen und sich danach wieder wie ein halbwegs anständiger Mensch zu fühlen. Dann nur noch ein paar vernünftige Klamotten, die Haare mit einem Klecks Gel in Form gebracht und den Koffer mit seinem Saxophon unter seinem Bett hervorgeholt, dann war er auch schon zum Aufbruch bereit. Seine Maschine hatte er unter dem Vorsprung untergebracht, der früher wahrscheinlich mal dazu gedient hatte, das Brennholz zu stapeln, aber da der elektrische Strom und Gas selbst in dieser Gegend Einzug gehalten hatten, wurde er für nichts bestimmtes mehr gebraucht. War zwar nicht ganz die Garage, die er sich für seinen Hobel eigentlich gewünscht hätte, nachdem er soviel Arbeit darein gesteckt hatte, aber er hatte schon überlegt, ob er nicht wenigstens ein paar Bretter als provisorische Wand anbringen sollte, damit sein Baby bei Regen geschützt war. Würde er machen, sowie er etwas mehr Zeit dazu hatte.

Er schnallte das Sax auf den Gepäckträger und zurrte es gewissenhaft fest, überprüfte mehrmals, ob es auch wirklich nicht verrutschen konnte, selbst wenn er einem Schlagloch mal nicht rechtzeitig ausweichen konnte und befand schließlich, dass alles bestens war. Er konnte es sich ums Verrecken nicht leisten, sich ein neues Instrument anzuschaffen, so knausrig wie der alte Drachen war. Er schloss den Reißverschluss seiner Lederjacke und setzte dann den Helm auf, zog die Handschuhe über und nahm auf dem Bock Platz. Als er die Zündung betätigte und das tiefe Grollen erklang und das altbekannte Vibrieren sich in seine Glieder breit machte, erschien ein seliges Lächeln auf seinen Lippen. Das hier war eindeutig ‚The real thing‘, wie es in diesem alten Werbeslogan so schön hieß. Es gab nur zwei Sachen, die mehr Spaß brachten, als auf einer heißen Maschine durch die Gegend zu brausen. Eines davon hatte er hinter sich auf dem Gepäckträger und das andere würde er hoffentlich nach seinem Auftritt bekommen.

Er ließ den Motor noch einmal aufheulen und brauste dann auch schon in halsbrecherischem Tempo den kleinen Waldweg entlang. Die ersten Wochen war er immer nur vorsichtig gefahren, weil er keinen Sturz riskieren wollte, aber mittlerweile kannte er den Weg in- und auswendig und wusste genau, welche Linie er fahren musste. Er hielt erst wieder am Tor an, sein Baby tuckerte im Leerlauf, während er sich mühsam aus seinem Handschuh schälte und diese komische Schließkarte aus seiner Innentasche fummelte, die er an dieses elektronische Auge hielt, ehe das Tor sich für ihn öffnete. Gleich an seinem ersten Tag hatte die Alte ihm eine lange Rede gehalten, dass er sich gefälligst nicht verlieren sollte. Die Sicherheitsanlage sei sehr teuer und er würde für sämtliche Kosten, die so eine Schlamperei verursachen würde, aufkommen müssen. Es hätte gar keiner Warnung seines Vaters bedurft, damit er seinen Mund hielt und seiner neuen Arbeitgeberin sagte, dass die Sicherheitsanlage zwar teuer und bestimmt auch ganz nett sei, aber auch total für den Arsch. Es sei denn, man hätte es mit besonders höflichen Dieben zu tun, die brav durch das Haupttor kommen würden und nicht drei Meter links davon über die halbwegs eingestürzte Mauer kletterten. Das war etwas, was er sich für diesen Sommer ganz dringend vorgenommen hatte, die Schadhaften Stellen auszubessern und vielleicht ein bisschen Stacheldraht zur Dekoration drauf.

Nachdem er sowohl die Karte als auch seine Hand wieder sorgsam eingepackt hatte, fuhr auf die Landstraße hinaus und schlug die Richtung seiner Heimatstadt ein. Es war ja echt super, endlich eine eigene Bude zu haben und mit 25 nicht mehr in seinem Kinderzimmer zu hocken, aber dass das Ding dann gleich mitten im Nirgendwo lag und er fast 45 Minuten brauchte, um wieder einigermaßen unter Menschen zu sein, machte das Ganze doch erheblich reizloser. Was nicht zuletzt daran gelegen hatte, dass die Alte gleich von Anfang an klargestellt hatte, dass jeder Besucher, der über Nacht bleiben wollte, vorher bei ihr angekündigt werden musste und sie unter keinen Umständen irgendwelchem lasterhaften Verhalten Vorschub leisten würde. Nachdem Dickie ihre Aussage ein paar Sekunden analysiert hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass sie damit wohl meinte, rumficken in der Hütte sei absolut verboten.

Die nächtliche Landschaft brauste an ihm vorbei, aber da es einfach nur so dunkel war, wie im Arsch eines Kohlefahrers, lohnte es sich einfach nicht, nach links und rechts zu blicken. Außerdem kannte er die Gegend hier ja, er war immerhin hier aufgewachsen. Also richtete er seine Augen geradeaus und ging in Gedanken nochmal den Auftritt heute Abend durch. Er spielte schon seit ein paar Jahren in der Kneipe, ein Jazzschuppen nach amerikanischem Vorbild, aber erst seit einem Jahr wirklich regelmäßig. Zuerst war er immer der Ersatzmann gewesen, wenn bei der Band mal jemand ausgefallen war. Eigentlich war er ja Saxophonist, aber konnte auch ganz passabel Klavier und Bass spielen. Aber seit Flip ausgestiegen war, kam er doch öfter zum Zug. Er gehörte zwar immer noch nicht zum festen Ensemble und wurde nur eingesetzt, wenn die Jungs im ‚Mockingbird‘ auftraten, aber das konnte sich ja ändern, wenn er nur bewies, dass er was auf dem Kasten hatte und bei der Stange blieb.

Allmählich wurden die Straßen belebter und er musste sich mehr auf den Verkehr konzentrieren, als in Gedanken die Stückfolge durchzuspielen und sich in Stimmung zu bringen. Er fuhr an der Bäckerei vorbei, in der seine Mutter bis zu ihrer Entlassung geschuftet hatte, über zwanzig Jahre lang, aber dann hatten die ja diese Einsparungen zur Wirtschaftlichkeit gemacht und aus die Maus. Sie fand einfach keinen neuen Job mehr. Wer wollte schon eine fast 50 Jährige ohne Schulabschluss und Ausbildung einstellen? Nicht, wenn man für das gleiche Geld einen jungen Akademiker bekommen konnte, der die Arbeit wahrscheinlich auch noch besser machte. Und jetzt saß auch noch sein Vater zuhause, mit kaputtem Rücken und die Ärzte hatten gesagt, er würde nie wieder scher heben können. Damit war man als Hausmeister praktisch nutzlos. Die Arge wollte ihm jetzt eine Umschulung zum Bürokaufmann aufdrücken, als wenn sein Vater da bessere Chancen hätte! Nein, waren keine so guten Zeiten im Moment. Deswegen war er auch so froh, dass er endlich eine Arbeit hatte und schaffte es jeden Tag, sich da so gut wie möglich zusammenzureißen, um es nicht zu verbocken. Davor war er fast ein Jahr arbeitslos gewesen, mit seinem miesen Hauptschulabschluss und einer originellen Ausbildung als KFZ-Mechaniker. Das hatte er sowieso nur gemacht, um seine Eltern ruhig zu stellen.

Mit schon nicht mehr ganz so guter Laune bog Dickie in die kleine Seitenstraße ein, in der sich der Hintereingang zum ‚Mockingbird‘ befand und stellte seinen Hobel auf den üblichen Platz neben den Müllcontainern. Er achtete darauf, auf dem rutschigen Kopfsteinpflaster, das mit Dreck, Flüssigkeiten, die er nicht näher definieren konnte und entkommenen Resten aus den Containern übersät war. Ein paar Mal hatte er sich hier schon lang gelegt und hinterher gestunken wie ein Schwein, aber egal wie viele Leute sich auch bei Toni beschwerten, die Gäste kamen eben vorne rein und da kümmerte es den Wirt nicht, wenn der Hintereingang wie Sau aussah.

Er drückte die Tür auf und sogleich kam ihm der vertraute Geruch von Alkohol, Zigarettenqualm und Fastfood entgegen. Hier gab es ganz klassisch nur Burger oder Sachen, die in die Friteuse passten; Sparerips, Zwiebelringe, Pommes. Er schälte sich aus seiner Jacke und verfrachtete sie an einen der Haken, die direkt neben der Tür angebracht waren, seinen Helm würde er wie üblich hinter der Bühne ablegen, da gab es eine kleine Kommode mit allerlei Werkzeug. Wenn er das Teil irgendwo auf den Boden legte, würde noch jemand drauf treten.

„Hey, du bist spät, wir sind schon in 15 Minuten dran.“, wurde er freundlich von Gustav begrüßt, dem ältesten Mitglied des Ensembles und damit sowas wie der Chef der Musikertruppe.

„Aber jetzt bin ich doch hier, oder?“, grinste Dickie ihn breit an und begann auch sofort, sein Sax zusammenzubauen. „Ist viel los heute?“

„Die Kneipe ist zum Bersten voll, feiert jemand wohl seinen Geburtstag hier.“

Diese Neuigkeit war wirklich super. Wenn die Leute gut drauf waren und sich ordentlich was hinter die Binde kippten, dann schmissen sie sogar gelegentlich mal was in das Glas, das in einer Ecke auf der Bühne stand und den Tipp für die Mucker sammelte. Meistens blieb es allerdings ziemlich leer. Aber auch wenn da nicht viel zusammenkam, es brachte immer mehr Spaß, vor vollem Haus zu spielen als vor ein paar gelangweilten Pennern, die nur ihren Verstand wegsaufen wollten.

„Bestens.“, tat Dickie sein Urteil kund und entlockte seinem Instrument ein paar vergnügte Töne.

Und bestens war es auch. Die Stimmung war am brodeln, etliche Paare tummelten sich auf der winzigen Tanzfläche und Sina, die Sängerin ihrer kleinen Truppe, geizte mal wieder nicht mit ihren üppig vorhandenen Reizen. Die Frau hatte mehr Holz vor der Hütte, als von Rechts wegen erlaubt sein sollte, aber wenn man auch ansonsten keine Gazelle war, dann stimmte wenigstens der Gesamteindruck. Sein Solo kam gut an, der Beifall versetzte ihn geradezu in eine Hochstimmung und der Abend hätte wirklich perfekt sein können, wenn er unter den Gästen auch endlich das Gesicht hätte entdecken können, nach dem er schon die ganze Zeit Ausschau hielt. Als die Uhr auf Mitternacht zuging und noch immer keine Spur von dem Objekt seiner Begierde in Sicht war, wurde er allmählich ungeduldig. Wo war der Mistkerl nur? Sie hatten sich schließlich fest für heute hier verabredet.

Nach ihrem Auftritt reinigte er sein Sax gründlich, verstaute es sich in seinem Koffer und gesellte sich dann zu den anderen, die es sich an der Bar gemütlich gemacht hatten. Der Raum hatte sich schon merklich geleert, aber es war immer noch genug Betrieb, um Toni ein Lächeln auf das Gesicht zu zaubern. Sein ganz spezielles Die-Kasse-Klingelt-Lächeln. Seit er sich über das Rauchverbot hinweggesetzt hatte, war der Laden wieder deutlich voller geworden und zumindest bis jetzt hatte sich noch niemand beschwert. Dickie angelte sich eine Handvoll Nüsse aus einer der Schalen und kaute mechanisch darauf herum. Er hatte sein Handy gecheckt, auch da keine Nachricht. Er musste sich wohl damit abfinden, dass Luis ihn mal wieder versetzt hatte. War ja beileibe nicht das erste Mal, dass dem werten Herrn was dazwischen gekommen wäre und er es nicht mal für nötig befunden hatte, kurz Bescheid zu sagen.

„Kleiner, mach nicht so ein grimmiges Gesicht.“, säuselte Sina ihm schon reichlich angetrunken ins Ohr. „Kapier es doch endlich, der Typ spielt nur mit dir.“

„Ich hab dich nicht nach deiner Meinung gefragt.“, blaffte Dickie und ärgerte sich darüber, dass er offensichtlich so schnell zu durchschauen war.

Doch selbst auf diese unfreundliche Erwiderung erntete er nur ein albernes Kichern, bei dem sich ihm die Nackenhaare sträubten. Sina konnte echt in Ordnung sein, aber wenn sie gesoffen hatte, war sie kaum zu ertragen. Besonders, wenn man selbst nüchtern bleiben musste, weil man ja nicht zu Fuß hier war. Das war etwas, was ganz entschieden besser gewesen war, als er noch bei seinen Eltern in der Wohnung gehaust hatte, da waren es nur zehn Minuten Fußweg von hier gewesen. Aber jetzt konnte er nicht mal mehr nach dem Auftritt in gemütlicher Runde mit den anderen ein paar Gläschen kippen sondern war dazu verdammt, an seinem Wasser rumzunuckeln. Da seine Laune sich immer mehr einem Tiefpunkt näherte, verzog er sich so schnell es ging.

Die Kühle Nachtluft, die schon nach Gewitter roch, metallisch und irgendwie wild, war ihm mehr als willkommen. Er verstaute sein Instrument, verpackte sich selbst und startete dann durch. Eigentlich hatte er vorgehabt, direkt ins Hexenhäuschen zu fahren, damit er morgen einigermaßen frisch und ausgeruht wäre, aber statt an der Kreuzung weiter geradeaus zu fahren, lenkte seine Maschine ganz von selbst nach rechts und steuerte zielstrebig genau auf die Straße zu, in der sein Freund seine Bude hatte. Falls er denn sein Freund war. Ein Umstand, bei dem er sich immer unsicherer wurde. Wenn sie sich wenigstens mal zoffen würden, aber das gab es mit Luis nicht, der blieb immer nur ruhig und freundlich und so glatt, dass man immer wieder an ihm abrutschte. Er wusste, dass es keine gute Idee war, jetzt bei ihm aufzutauchen, mitten in der Nacht, aber er konnte es einfach nicht lassen, er wollte wissen, warum Luis ihn heute Abend schon wieder hatte stehen lassen. Er würde sich die ganze Nacht nur hin und her wälzen und sich den Kopf zerbrechen, wenn er das nicht wusste. Da sein Freund in einem ruhigen Wohngebiet lebte, stellte Dickie seine Maschine schon am Anfang der Straße aus und schob den Rest des Weges lieber; er war nicht scharf drauf, die Nachbarn zu wecken.

Nachdem er den Bock auf dem Parkplatz abgestellt hatte, ging er auf den Hauseingang zu, einen immer stärker werdenden Wind im Gesicht und auch die ersten, vereinzelten Tropfen trafen seine Haut. Er war schon fast an der Haustür, hatte seine Hand schon nach der Klingel ausgestreckt, als er die leisen Geräusche hörte, die aus dem offenen Fenster im Erdgeschoss zu ihm herausdrangen. Das war Luis Wohnung hinter diesem Fenster und die Geräusche…

Ihm war, als wenn ihn jemand am Genick packen und fest zudrücken würde. Stöhnen, verhaltenes Keuchen, eindeutiges ‚ja, ja, das ist so geil‘, bekam er zu hören. Bestens. Ganz große Klasse. Sein Freund war da drinnen also gerade dabei, mit irgendeinem anderen Kerl eine Nummer zu schieben. Natürlich wusste er davon, immerhin hatte Luis kein Geheimnis daraus gemacht, dass er nichts von einer monogamen Beziehung hielt, aber trotzdem. Sie waren verabredet gewesen, sie hatten sich seit fast einer Woche nicht mehr gesehen und er hatte sich so verdammt auf ihn gefreut. Schwach schlug er seine Faust gegen die Hauswand und lehnte dann seinen Kopf gegen die kühlen Steine.

Schwere Tropfen schlugen auf dem Boden auf und ein gewaltiger Blitz erhellte den ganzen Himmel, nur kurz darauf gefolgt von einem krachenden Donner. Mit hängenden Schultern mache Dickie sich auf den Rückweg zu seinem Bike. Das war wirklich das letzte Mal gewesen, dass er sich so verarschen ließ, der Wichser konnte ihm gestohlen bleiben und sich seinetwegen durch die halbe Stadt vögeln, wenn es ihm so gut gefiel. Noch ehe er bei seiner Maschine angekommen war, klebten ihm seine Kleider am Leib und der Regen spülte alles fort, außer seinen Gedanken.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Kralle
2009-03-25T16:10:29+00:00 25.03.2009 17:10
das scheint mal wieder interessant zu werden^^

mfg

Kralle
Von:  celi-Sun
2009-03-08T23:34:38+00:00 09.03.2009 00:34
Das lässt sich schon so verdammt gut an...
und es wird bei dir nie etwas, was man schon zigfach gelesen hat. Es ist immer etwas besonderes...und hier spüre ich es ganz deutlich...also setzt ich das mal vorsorglich in meine Favoriten, hoffe das du schnell weiterschreibst, Wolf und schlange nicht ganz vergisst...
und danke dir für immer neuen spannenden Lesestoff.
lg.
celi
Von:  Xai
2009-03-08T14:36:19+00:00 08.03.2009 15:36
ok, jetzt kommt mein standart-kommentar:
toooooll :)
interessanter anfang.. XD da machst du was tolles draus, ich bin mir sicher ^^
aber um mehr zu sagen brauch ich dann doch ncoh ein zweites kapitel ^^
also schreib schnell weiter :P


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