Zum Inhalt der Seite

Kitsch

Kurzgeschichtenarchiv zu Bela B.
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Delirium

Rodrigo hasst es. Es ist nicht einfach nur Abneigung oder ein wenig Ekel. Es ist richtiger Hass. Und noch mehr hasst Rodrigo es, dass er dem absolut hilflos gegenüber steht.
 

Sie sind mit die Letzten auf der Party. Wie so oft seit einiger Zeit. Der Barkeeper muss sie im wahrsten Sinne des Wortes herausfegen. Eigentlich weiß Rodrigo schon zu diesem Zeitpunkt, worauf es wieder hinausläuft. Allein, er will es nicht sehen. Stellt sich blind.
 

Im Dunkeln braucht man keine Angst vor den Monstern zu haben. Schließlich sieht man sie nicht.
 

Bela schlägt vor, dass sie sich eine neue Örtlichkeit suchen. Die Nacht sei noch jung und überhaupt, es wäre doch viel zu schade, jetzt schon nach Hause zu gehen. Er schwankt dabei bedrohlich. Rodrigo nickt nur. Hinter den Häuserreihen lugen die ersten Sonnenstrahlen hervor. Irgendwo zwitschern ein paar Vögel.
 

Der Drummer weiß noch nicht, dass er verloren ist. Rodrigo wird es ihm nicht sagen.
 

Zwischen abrissreifen Altbauten und einem Schrottplatz entdecken sie etwas, das einem Club ähnlich ist und auch noch offen hat. Ein Loch, in dem die Ratten zur Ruhe kommen. Egal wie.
 

Die Klientel gleicht sich auf eine erschreckend groteske Weise. Allesamt arme Kreaturen, vielleicht gebeutelt vom Leben, doch auf alle Fälle schon davon gezeichnet. Rodrigo zieht Bela weg von der Bar in eine dunkle Nische.

Auch eine Art der Schadensbegrenzung.
 

Glück fließt in goldenen Strömen. Jack, Johnny… die Namen sind einerlei. Rodrigo hält sich an Wasser. Die Ahnung schwebt über ihn wie das Schwert von Damokles. Als Bela sich aufs Klo verabschiedet, saust es auf ihn herunter. Direkt durch ihn hindurch. Manches Blut ist unsichtbar.
 

Der Drummer lässt sich Zeit. Zu viel Zeit. Rodrigos Füße folgen wie von selbst der unsichtbaren Spur des Älteren. Als er die versiffte Tür zur Toilette öffnet, hält der Ekel ihn für einen kurzen Moment in seinem lähmenden Griff. Nicht an alles kann man sich gewöhnen.
 

Rodrigo kennt solche Orte. Auch schon vor Bela. Obwohl sie ihm durch den Drummer wesentlich vertrauter geworden sind. Mit angehaltenem Atem sucht er eine Kabine nach der anderen ab. Ignoriert den Gedanken an die millionen Bakterien und Krankheitserreger, die allein in der Luft schweben müssen. In dem vorletzten Verschlag wird er endlich fündig.
 

Bela liegt mehr auf der Toilette, als dass er sitzt. Die Augen halb geschlossen, das Lächeln verklärt. Rodrigos eigene Miene ist starr.
 

Im Prinzip stört es ihn eigentlich nicht. Immerhin ist es Belas Leben, er ist alt genug und schließlich ist Rodrigo nicht seine Mutter. Wenn er sich nach einer durchzechten Nacht auch noch unbedingt zudröhnen muss, wird Rodrigo ihm bestimmt keine Moralpredigt halten. Dazu ist er auch gar nicht berechtigt.
 

Das, was Rodrigo wirklich ärgert, ist Belas Art, wenn er denn etwas genommen hat. Während Rodrigo nämlich selbst bei Einnahme diverser Stoffe stets noch ruhiger als ohnehin wird und fröhlich phantasierend vor sich hin starrt, wird Bela… komplett anders.
 

Und das auf eine Art und Weise, die nur Rodrigo schmerzt.
 

„Roddi, Roddi… du bist das, nicht wahr, Roddi? Und ich dachte… ich dachte, mein Versteck ist gut. Aber du verrätst mich nicht, oder, Roddi? Schließlich sind wir… sind wir Freunde. Das sind wir doch oder, Roddi? Du wirst ihm doch nicht verraten, wo ich bin, oder Roddi?! Das Suchen ist doch der halbe Spaß!“
 

Wie ein Zuschauer, unbeteiligt und emotionslos, steht Rodrigo neben seinem Bandkollegen, wird Zeuge eines Absturzes, der nicht auf dieser Toilette angefangen hat und auch sicherlich nicht am nächsten Morgen enden wird. Doch dieses Wissen behält er für sich allein.
 

Genau wie seine Kenntnis um „ihn“. Jene Person, die Bela im nüchternen Zustand nicht eines Wortes, vielleicht sogar Gedankens würdigt. Deren Existent er beinah leugnet. Zumindest in seinem Leben.
 

Jedoch Kinder und Betrunkene sagen stets die Wahrheit. In diesem Fall wäre Rodrigo eine Lüge lieber.
 

„Roddi, komm… komm her. Wenn wir uns beide verstecken… dann… dann… muss er länger suchen. Und wenn er uns dann findet… dann erschrecken wir ihn einfach. Ja wir erschrecken ihn. Das wird lustig.“
 

Das Kichern des Drummers ist so unschuldig jungenhaft, dass es fast schon ans Lächerliche grenzt. Rodrigo bleibt stumm. Sagt nichts zu Belas Eskapade, denkt nichts zu dem Stich in seinem eigenen Herzen. Es ist noch nie Rodrigo gewesen, von dem Bela gefunden werden wollte.
 

Eifersucht kann glühend und zerstörerisch sein, ganze Welten ins Chaos stürzen. Manchmal ist sie aber auch nur kalt. Und dann wird Bewegung unmöglich.
 

Aus diesem Grund reagiert Rodrigo auch nicht auf die Hand, die ihm einladend entgegengestreckt wird, das immer wiederkehrende „Komm“, das über Belas Lippen wie Regentropfen perlt. Rodrigo reagiert nicht. Ein Fehler. Doch das bemerkt er erst, als es zu spät ist.
 

„Spielverderber.“ Ersticktes Flüstern. Mehr nicht. Es reicht, um Rodrigos Magen in einem einzigen Krampf zusammenzuziehen, seinen Hals bis zur Atemlosigkeit zu verschnüren. Belas Blick wendet sich nach unten, zum schmutzigen Fußboden, die aufgerollte Klopapierrolle dort breit angrinsend.
 

Rodrigo hat verloren. Die wenige Aufmerksamkeit, die Bela ihm geschenkt hat, verspielt. Ihm bleiben nur zwei Möglichkeiten. Entweder überlässt er den Älteren seinem Schicksal, hoffend, in der nächsten Tageszeitung nicht irgendetwas über eine berühmte Drogenleiche lesen zu müssen. Oder er schleift Bela hier heraus zu seiner Wohnung, einen hysterischen Anfall und eine Menge blaue Flecke riskierend, aber in der Gewissheit, dass wenigstens jemand da ist. So im Notfall.
 

Die Entscheidung ist eigentlich schon gefällt, bevor Rodrigo wirklich darüber nachdenkt.
 

Sich über die trockenen Lippen leckend, sucht er lediglich nach einer Antwort auf die Frage, WIE er das beinah Unmögliche bewerkstelligt. Wird Bela doch nie mit einem 'Spielverderber' mitgehen, sein Versteck verlassen, bevor er standesgemäß enttarnt und gefunden wurde. Natürlich nicht von Rodrigo, sondern von…
 

Während die Gedanken in seinem Kopf rasen, sich beinah überschlagen, hält Rodrigo seinen Blick starr auf dem Älteren. Befindet sich dieser doch in einem Zustand, in dem man wohl keinen Menschen alleine lassen dürfte. Oder unbeobachtet. Manisch- depressive, gefühlskranke Drummer am allerwenigsten.
 

Von weiter weg erklingen die typischen Bar- Geräusche. Irgendetwas klirrt. Vielleicht ein Glas. Vielleicht eine weitere zerbrochene Existenz. Rodrigos Blick wird blind. Er hat Bela in seinem Fokus, und auch wieder nicht. Will einfach nur weg, aus dieser Situation, aus dieser Woche, aus dem Jahr. Berlin. Depp Jones. Und gleichzeitig nirgendwo anders sein.
 

Nur langsam, fast unbemerkt, schleicht sich eine Melodie an Rodrigos Ohren. Leise. Und sanft. So sanft, dass es in Rodrigos Geist schneidet, tiefe Wunden hinterlässt, ihn ausblutet. Es ist Bela, der singt. Und auch wieder nicht. Denn Bela würde NIE ein Lied von IHM singen. Schon gar nicht eins, in dem das Wort ’Liebe’ essenziell zu sein scheint.
 

Dann wieder ein Kichern. Pures Salz in offenen Wunden.
 

„Er hat sich nie getraut, Liebeslieder zu schreiben. Keine Richtigen. Doch seine Texte… so schöne Texte. Er hatte ein ganzes Buch damit voll. Wir haben von keinem daraus ein Lied gemacht… aber wenn… wenn er mich findet… Dann schlage ich es ihm vor… dann darf er so viele Lieder schreiben, wie er will. Alle Lieder. Wenn er mich findet… wenn er…“
 

Rodrigo würde Bela am liebsten den Mund zu halten. Wahlweise anschreien. Dass es niemanden gibt, der ihn finden wird. Dass niemand ihn sucht. Es egal wäre, ob er hier, auf dem Klo irgendeiner dreckigen kleinen Bar, verreckt oder nicht.
 

Er tut es nicht. Natürlich nicht. Stattdessen folgt Rodrigo einem Impuls. Einer Idee, geboren aus der Not, von der sich nicht sicher ist, ob sie alles schlimmer statt besser machen wird. Allein, es ist alles, was Rodrigo bleibt. Ist er doch selbst dem Abgrund nah. Und das ganz ohne ’Stimmungsmacher’. Bela B. sei Dank.
 

„Ich… wir… wir können uns bei mir verstecken… und wenn er uns dort findet… dann… ich habe doch meine Gitarre dort. Dann können wir… ihr… gleich ein paar Lieder schreiben.“
 

Ein strahlendes Lächeln. Es blendet Rodrigo.
 

*
 

Rodrigo steht an der Spüle in seiner Küche. Von draußen scheint die Sonne herein, malt orange Streifen auf weißen Fliesen.
 

Er hat es geschafft, Bela aus der Bar in seine Wohnung zu bekommen. Irgendwie. Wie er den Weg mit dem fast schon halb ohnmächtigen Drummer in seinem Arm gemeistert hat, die Treppen bist hoch ins dritte Stockwerk, das weiß Rodrigo nämlich nicht.
 

Er hat auch keine Kraft mehr, darüber nachzudenken. Denn hatte Rodrigo geglaubt, das Schlimmste überstanden zu haben, so belehrt in die Realität eines Besseren. So wie immer.
 

„Jan?“
 

Es ist nicht der erste Ruf. Für Rodrigo sind es Sehnsuchtsschreie nach einem Monster. Und trotzdem. Was bleibt ihm anderes, als ins Wohnzimmer zu gehen, für Bela dazu sein? Als Einziger von angeblich so vielen. Ihn auf ein ’Irgendwann’ zu vertrösten, das es nie geben wird.
 

„Jan?“
 

Bela erkennt Rodrigo nicht. Selbst als er nur noch einen Meter vor ihm steht. Sieht nur, was er sehen will. Fast ist Rodrigo selbst für den Schmerz zu müde. Für die Wut. Fast.
 

„Jan?“
 

Rodrigo weiß nicht, wann er begonnen hat, den Namen zu verabscheuen. Er bemerkt nicht einmal mehr, wie sich in ihm alles zusammenzieht. Nicht wirklich.
 

Was bleibt, ist der Impuls, dem Druck nachzugeben, dafür zu sorgen, dass der Name nicht noch einmal genannt wird. Egal, mit welchen Mitteln.
 

„Jan, komm mal her!“ Rodrigo schließt die Augen. Vielleicht tut es weniger weh, wenn es ganz schnell geht. Wie ein Pflaster.
 

„Jan!“
 

Rodrigo antwortet, bevor er weiter darüber nachdenken kann. „Ja?“ Er beißt sich auf die Unterlippe. Es tut weh. Jedoch weniger schleichend, beinahe ist es auszuhalten.
 

Wenn er nicht wüsste, was später auf ihn wartet, wenn alles vorbei ist.
 

Der glückliche Blick, der ihm geschenkt wird, ist heilender Balsam. Balsam und pures Salz in offenen Wunden zugleich.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Science
2010-06-02T15:58:34+00:00 02.06.2010 17:58
Es ist so bitter, und es ist so schön. Und ich würde mich so über mehr davon freuen.
*Schwenkt den Zaunpfahl unkontrolliert herum*
Nein, herrlich. Es sind Sätze wie... aber es sind so viele Sätze, die mich begeistern. Du kennst sie wahrscheinlich schon alle. Sätze, die einen im Kontext schaudern lassen und die herausgerissen nicht halb so viel sagen. Deshalb hier immer mehrere aufeinanderfolgende Sätze, nur Beispiele:

> Als er die versiffte Tür zur Toilette öffnet, hält der Ekel ihn für einen kurzen Moment in seinem lähmenden Griff. Nicht an alles kann man sich gewöhnen.
> Rodrigo kennt solche Orte. Auch schon vor Bela.

> Wie ein Zuschauer, unbeteiligt und emotionslos, steht Rodrigo neben seinem Bandkollegen, wird Zeuge eines Absturzes, der nicht auf dieser Toilette angefangen hat und auch sicherlich nicht am nächsten Morgen enden wird. Doch dieses Wissen behält er für sich allein.

> Rodrigo bleibt stumm. Sagt nichts zu Belas Eskapade, denkt nichts zu dem Stich in seinem eigenen Herzen. Es ist noch nie Rodrigo gewesen, von dem Bela gefunden werden wollte.

> Eifersucht kann glühend und zerstörerisch sein, ganze Welten ins Chaos stürzen. Manchmal ist sie aber auch nur kalt. Und dann wird Bewegung unmöglich.

> Von weiter weg erklingen die typischen Bar- Geräusche. Irgendetwas klirrt. Vielleicht ein Glas. Vielleicht eine weitere zerbrochene Existenz. Rodrigos Blick wird blind. Er hat Bela in seinem Fokus, und auch wieder nicht. Will einfach nur weg, aus dieser Situation, aus dieser Woche, aus dem Jahr. Berlin. Depp Jones. Und gleichzeitig nirgendwo anders sein.

> „Jan?“
> Es ist nicht der erste Ruf. Für Rodrigo sind es Sehnsuchtsschreie nach einem Monster. Und trotzdem. Was bleibt ihm anderes, als ins Wohnzimmer zu gehen, für Bela da zu sein? Als Einziger von angeblich so vielen.

> Fast ist Rodrigo selbst für den Schmerz zu müde. Für die Wut. Fast.

Wie gesagt, die ganze Geschichte könnte hier stehen. Diese Formulierungen, so ungewöhnlich sie sind, treffen das Gefühl ganz genau. Ich liebe Deinen Schreibstil. Schonmal gesagt? Es ist nie genug: Ich liebe Deinen Schreibstil. Und ich will immer noch mehr davon.
Liebe nach Opferhausen, dieses Loch von einer Stadt, und zwar so viel davon, bis es ganz gefüllt ist.
Von:  Toozmar
2009-08-03T20:15:18+00:00 03.08.2009 22:15
hattest du mir die mal geschickt? die kam mir beim lesen so bekannt vor...
also auf jeden Fall toll und ich muss sharingan-moerder recht geben, Bela ist einfach der passende Typ für solche Sachen.
Aber Rods Rolle gefällt mir auch richtig. Ein "Böser" Rod irgendwie...

Von:  YouKnowNothing
2009-07-31T15:14:35+00:00 31.07.2009 17:14
*seufz*
Bela ist der perfekte Typ für dramatisch-romantisch schrecklich-schöne Geschichten, das ist wohl war...
Und du setzt das natürlich alles noch schön perfekt um.
Mensch... da leidet mein armes Herzchen noch mal schön mit... Wobei ich noch nicht genau weiß, ob ich mit Bela auch mitleide XD
vielleicht ein bisschen...

großartig mal wieder!!

LG S-M


Zurück