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Dunkelläufer

von

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Unterstadt

Scharf blies der kalte Wind des Nachts durch die leicht geöffnete Eingangstüre des völlig im Dunkel gelegenen und verlassen wirkenden Reihenhauses. Erste Tropfen, die die Straße und das heruntergekommene Gebäude benetzten, kündigten eine verregnete Nacht an. Die schmutzigen Scheiben der Flügeltür spiegelten blass den wolkenverhangenen Mond wider, der voll stoischer Ruhe des quälend langsamen Verfalls stiller Zeuge wurde, und erinnerten wehmütig an bessere Tage. Das hallende Platschen von tropfendem Wasser, das durch aufgeweichte Fußböden und schimmelnde Wände in den dahinter liegenden dunklen Gang troff, erstickte jedoch jede Hoffnung auf deren Rückkehr schon im Keim.

Schwarze Wolken zogen am Himmel auf, und versteckten die Quelle silbernen Lichts alsbald und scheinbar unwiederbringlich hinter ihren Leibern.

Die Schatten schoben sich unter seltsam anmutenden Verrenkungen über die einsturzgefährdete Außenmauer.

Regentropfen rannen in deren Rissen und Furchen hinab, und sammelten sich auf dem schmutzigen Asphalt des Gehweges in kleinen Rinnsälen.

Das langsam stärker werdende Unwetter prasselte auf das alte Gebäude ein, und es schien als müsse nicht mehr allzu viel geschehn bis das marode Gemäuer den langen Jahre währenden Kampf um seinen Weiterbestand verlor.

Im ersten Stock klapperte ein Fensterladen über einem rostigen Fensterbrett, und hinter dem leicht geöffneten noch intakten Fenster war ein schwaches Leuchten zu erkennen.

Auf dem nur noch an einer Niete hängenden Brett versuchte sich eine Kakerlake verzweifelt in Sicherheit zu bringen, dem Regen auszuweichen, und den fatalen Fehler die Mauer hochzuklettern durch einen beherzten Sprung durch das gekippte Fenster wieder auszubügeln.

Leider versagte das Schicksal der armen Kreatur diesen Erfolg, und sie stürzte - von einem Tropfen verhängnissvoll getroffen - mit einem lautlosen Schrei über die Kante des Fensterbretts in die dunkle Tiefe.

Das leise Flüstern - nicht viel mehr als ein Gedanken - hinter der Scheibe entriss der gefallenen Kakerlake die geneigte Aufmerksamkeit des Unwetters, und schlich sich geheimnisvoll und langsam weiter in den Mittelpunkt.
 

Hinter der Scheibe war das Unwetter sehr viel dumpfer und weniger beanspruchend zu hören, und verbreitete einen Ansatz von Gemütlichkeit.

Nahm man allerdings das Inventar in diese Berechnung auf, so musste man unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass kein bekanntes oder unbekanntes Unwetter des Universums eine ausreichende Kompetenz aufzuweisen imstande war, um das Wort Gemütlichkeit angesichts dieses Raumes auch nur zu buchstabieren.

Die Einrichtung war volkommen zerstört, und der Geruch von Moder und Schimmel ließ darauf schließen, dass seit deren Blütezeit schon eine geraume Weile vergangen war.

Tapetenfetzen hingen schlaff von den Wänden, und einige schimmelnde aufeinander gestapelte Matratzen lagen in einer Ecke des mit vor sich hin moderndem beigefarbenem Teppich ausgelegten Zimmers. Einige Trümmer, die nach längerer Betrachtung einigermaßen als eine ehemalige Couchgarnitur zu erkennen waren, lagen den Matratzen gegenüber. Den Bereich gegenüber des Fensters füllte ein Haufen Elektronikschrott, der einen alten Fernseher, ein paar recht interessant anmutende, jedoch völlig veraltete Spielkonsolen, und noch ein wenig nicht zu identifizierendes Kabelgewirr erkennen ließ, das durchaus ein Soundsystem hätte sein können, jedoch konnte man das nicht mehr mit Sicherheit sagen. Die einsetzenden Blitze des draußen tobenden Gewitters tauchten das wohlwollend als Inventar zu bezeichnende Gerümpel für einen Augenaufschlag in gleißendes Licht, um es danach für Sekunden aus der visuellen Wahrnehmung verschwinden zu lassen.

Die Finsternis in der Ecke unter dem Fenster, deren Schwärze nur von einem leichten Glimmen durchschnitten wurde, kümmerte dies recht wenig.
 

Ein leises Wimmern war zu vernehmen. Dies alleine hätte auch durchaus dem Wind zugeschrieben werden können, wäre nicht zeitgleich eine Hand aus der Dunkelheit gekrochen, um sich an der Wange des dazugehörenden Kopfes zu kratzen, der wiederrum an einem unter dem Fenster liegenden Körper festgewachsen war.
 

Ein eigenwilliges Geräusch war zu hören, als die zittrige Hand über die unrasierte Wange schabte, und rötliche Striemen auf der Haut hinterließ. Der Kopf, dessen Wange soeben einem bösartigen Juckreiz anheim gefallen war, lag schwer auf einem Ausläufer des Couch-Schrotts, und starrte dumpf in die Dunkelheit vor sich. Der offensichtlich noch komplette Leib, der sich in der Ecke liegend mühsam am Leben zu erhalten versuchte, lag wie gelähmt ausgestreckt auf dem Boden, und wirkte im Gleißen der Blitze eher wie ein ebenfalls zerstörter und nicht mehr gebrauchter Einrichtungsgegenstand. Ein glucksender Laut entsprang der Kehle des Kopfes, der sich wie ein waidwundes Tier drehte und auf der Stirn zu liegen kam. Nicht in dieser Welt war das Bewusstsein des Kopfes, nicht verfügbar die willentliche und wissentliche Fähigkeit seine Gliedmaßen koordiniert zu bewegen. Dies war im Moment nur ein Haufen Fleisch, nicht viel mehr.

Einige Sekunden der Stille folgten, kein Blitzen des Unwetters, kein Piepsen einer Maus, kein Schaben einer Ratte in den Wänden.... Stille.

Das Glimmen, dass das humanoide Wesen in der Dunkelheit verriet, wechselte seine Farbe von einem flackernden Blau auf helles Rot, und ein gequältes Piepsen - einem sterbenden Vogel vergleichbar - war zu hören.
 

Als wäre dies ein phantasievoller Startschuss gewesen, sprang das Wesen aus der Ecke, und tobte kläglich schreiend durchs Zimmer. Seine dünnen Arme schlugen um sich, rissen Stofffetzen aus der ehemaligen Couch und schleuderten Überreste von Unterhaltungselektronik gegen die Wände.

Im fahlen Schein der nun, als wäre dies die Initiation des Armageddon, draußen gen Boden zuckenden Blitze war dies ein gespenstisch anmutendes Szenario. Es hatte den Anschein, als wären die Züge der im Licht als Mensch zu erkennenden Gestalt in panischer Agonie verzerrt, und nur noch eine Fratze, die bessere Zeiten Lügen strafte.

Nach einigen Minuten brach das Elend mit einem Aufschrei in der Mitte des Zimmers zusammen, und nur noch ein wimmerndes Schluchzen war von dem eben noch wie ein Berserker durch den Raum Tobenden zu hören.

Krämpfe schüttelten den ausgemergelten Körper, und in seinem großteils von Schweiß, Rotz und verkrustetem Blut verklebten Gesicht stand Wahnsinn und Angst. Er formte Worte mit seinen Lippen, jedoch war fast nichts zu hören, und das Wenige das ihm möglich war in verständliche Formen zu pressen wurde von dem mittlerweile zu einem Sturm herangewachsenen Gewitter verschluckt. Mühsam versuchte der Gefallene sich aufzurappeln, doch seine Gliedmaßen versagten ihm unter heftigem Zittern den Dienst, und er fiel unsanft und heftig stoßweise atmend zurück auf den verdreckten beigen Teppichboden. Er sprach immer noch, und er sprach sehr schnell, doch kein artikulierter Laut kam nun mehr über seine Lippen, und nur die rasselnde pfeifende Atmung war leise zu hören. Es wirkte, als erlebte er einen Wachalbtraum, welcher ihn immer weiter in eine finstere und abartige Karikatur einer heilen Welt hinabzuziehen versuchte.

Einige Minuten vergingen, hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken lag die menschliche Masse da, und wimmerte unhörbar Litaneien vor sich hin. Wie von einer fremden Zunge geführt, als folgte er einem überirdischen Drehbuch, unverständlich für andere.

Nach quälend langsam vergehenden Minuten erschlafften seine Glieder plötzlich, und sein Atem normalisierte sich etwas. Ruhig und wie festgefroren lag er da, doch seine Augen waren schreckensweit an die schmutzige Decke gerichtet, die - ihres Anstrichs müde - ein wenig Dispersionsstaub auf ihn regnen ließ.

Sein Mund öffnete sich quälend langsam, und ebenso langsam flüsterte er einige schwer zu verstehenden Worte. Das Sprechen bereitete ihm offenbar solche Mühe, dass man mitansehen konnte, wie sein Körper sich bei jedem Wort verkrampfte und danach wieder kraftlos erschlaffte.
 

„Leer... nein... muss... oh nein... mehr...“
 

presste er zwischen seinen verkrusteten Lippen hervor, bevor er in eine gnädige Ohnmacht abglitt, die ihm zumindest für die nächsten Stunden die Schmerzen und Krämpfe ersparen würde.

Doch bedeutete dies nur einen Aufschub für ihn, eine Gnadenfrist, die ihm die Möglichkeit gab, noch einmal etwas Kraft zu schöpfen für seine beginnende Prüfung. Wieder und wieder wiederholte sie sich; Dem Sissyphus gleich schleppte er seine Bürde durch die Welt, nur um auf dem Gipfel der Zufriedenheit zu sehen, dass sein weiterer Weg nur dazu bestimmt war, ihn in Schmerzen und Leid zu hüllen.

Seine Hoffnung war schon lange verflogen, seine Träume nur noch ein Schatten in dem kranken Geist, den seine Welt in ihm konstruierte.

Seine Versuche dies aufzuhalten spielten dem System nur in die Hände, und so dauerte es nicht lange bis er sich auf einem Weg wiederfand, den zu verlassen er nicht mehr in der Lage war.

Hier war er nun. Und er wollte mehr. Mehr.... viel mehr davon.
 

Die Welt hatte sich in den letzten Jahrzehnten deutlich weiter in eine Richtung bewegt, die nicht viel Platz ließ für Individualität, Kreativität, und solch triviale Gefühlsregungen wir Liebe, oder Trauer.

Viele der früher so wichtigen Werte, die den Menschen während ihrer Jugend vermittelt wurden, wurden ersetzt, durch richtigen Umgang mit Leistungsdruck, uneingeschränkten Gehorsam, kurz, durch Eigenschaften die einzelne Leistungserbringer wertvoller für die Gemeinschaft machten.
 

Als Leistungserbringer genoss man in diesen Tagen einige Rechte, die die persönliche Lebensqualität enorm steigerten, seien es Privilegien wie der Einkauf in Supermärkten, die günstigere ärztliche Behandlung, das eingeschränkte Recht auf Einspruch, oder die Wahrung der Privatsphäre.

Eigentlich war es zwar so, dass leistungsschwachen, oder Menschen ohne Eden Karte - die die Bürgerrechte repräsentierte, und nur an Berufstätige, die eben so genannten Leistungserbringer ausgegeben wurde - diese Rechte einfach vorenthalten wurden, aber die politischen Werbekampagnen sagten etwas anderes, und eigentlich hatte man auch keine Zeit, sich über so etwas Gedanken zu machen.
 

Wirtschaftlich ging es immer weiter bergauf, wobei jedoch niemand sagen konnte in welche Höhen dies weitergehn sollte, bis der unweigerliche, von allen totgeschwiegene und scheinbar wegrationalisierte Absturz kam.

Nachdem man anfing, die Zweit- und Dritt Beschäftigungen von Politikern zu verbieten, und dafür diversen Aufsichtsratsvorsitzenden eine Zweitbeschäftigung als Politiker anzubot, erlebte die wirtschaftliche Lage einen Aufschwung, wie er noch nie da gewesen war. Dass dies zu Lasten der einzelnen Bürger, der Entlohnung, und der Versorgung der Leistungserbringer ging, wurde in Argumenten des Zusammenhalts, des „gemeinsamen Blicks in die Zukunft“, und sonstigen derartigen, für diesen Fall zurechtgelegten Floskeln ertränkt.
 

Natürlich passten sich auch die Träume verkaufenden Dealer und Drogenbarone den veränderten Begebeheiten an, und wurden in dieser Zeit der verzweifelten Seelen für manch einen zum Retter,

doch für die meißten zum Mörder. Recht gut gekleidet jedoch, mit blütenweißer Weste.

Neue Technologien ermöglichten es, immer fantasievollere und schwerer zu entdeckende Formen, und Applikationsmöglichkeiten der diversen Drogen hervorzubringen. Seien es Naniten, die die Rezeptoren an den Synapsen des Gehirns modifizierten, oder die wieder aufgelebte - freilich verbesserte - Methode der Elektroschocks. Auch die klassischen Formen als Pulver, verbacken, oder

in Flüssigkeit gelöst waren noch recht populär, jedoch waren die Süchtigen mit eher weniger finanziellen Mitteln, die diese alten Formen benutzten, meist schnell gefunden. Das geringste womit ein solch bemitleidenswerter Junkie rechnen musste, war ein Zwangsentzug, Überwachung der Privaträume, und einen Eintrag im seine Unic-ID, eine Art Lebenslauf und Führungszeugnis.
 

Kurz und gut hatte sich diese Welt in der Richtung weiterentwickelt, die ihr in den letzten Jahrhunderten gegeben wurde. Einige Kritiker dieser Theorie führten zwar oft das Argument der Spekulation, und das des Fehlens überprüfbarer Fakten in ihren Reden, jedoch war eigentlich offensichtlich dass Macht zu Korruption, Geld zu Ignoranz, und Kompetenz zu Arroganz führte.

Der Grundstein dazu wurde schon lange gelegt, und in dieser Zeit, als die Früchte dieses Tuns immer mehr reiften, sich ausbreiteten, und den Planeten zu verschlingen drohten, wurde jeder Freund, jeder Anflug von Vertrauen, und jede Berührung - sofern nicht unwillentlich, oder in anderen als positiven Sinnen geschehen – zu einem kostbaren und schutzbedürftigen Umstand.

Diese Zeit war es, in der die Depression einen Punkt erreicht hatte, an dem sie nicht mehr ansteigen konnte, an dem sie den Zenit jedes irgend möglichen Superlatives erreicht, und jede Skala gesprengt hatte. Und doch zu nichts führte.

Denn die Psyche der Menschen war ein sonderbares Gewirr aus Emotionen und Gedanken. Leistungsfähiger als jeder Computer, und jede künstliche Intelligenz, jedoch mit so subtilen, so geringen Mitteln manipulierbar.

Die Schwierigkeit in dieser Zeit, und in langer Zeit davor, noch bevor es Zusammenschlüsse von Staaten gab, noch vor Handelsembargos, und kartellrechtlichen Verhandlungen. Noch vor Überlegungen wirtschaftlicher Natur, vor dem Raumflug, dem Fernsehen, noch vor der Entdeckung Amerikas, und vor der Erfindung des Rades ist, und war, zu verstehen, das der Mensch nie dazu gedacht war, ein Herdentier zu sein....



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