Zum Inhalt der Seite

One Mankind

es gibt nur eine Menschheit
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Eine neue Geschichte

Ein Großraumbüro, es wurde durch das helle, sanfte Licht des neuen Tages erfüllt. Wandte man seine Augen dem Fenster zu, so bot sich ein wunderbarer Ausblick. Praktisch direkt vor einem breitete sich ein kleiner Fichtenwald aus, die einzelnen Bäume standen dicht an dicht und legten den Boden unter sich in Schatten, diese lichtverschluckende Wand wurde nur an wenigen Stellen durch Lichtungen unterbrochen, welche wie Farbkleckse über die Landschaft verteilt waren. In all dieses helle und dunkle Grün war ein kleiner klarblauer See eingebettet, ein Blickfang, ganz eindeutig. Er lud einen zum schwimmen ein. Sauberes Wasser, kühle Nässe, das könnte man erleben, wenn man sich diesem Teil der Natur hingeben würde, doch war in dieser Hinsicht nichts zu erkennen. Niemand schien den See nutzen zu wollen, oder nutzen zu können. Der Himmel, der diesem Panorama seinen Rahmen gab, war azurblau gestrichen und verfügte über Unendlichkeit, wie sie einem wirklich nur durch den Himmel offenbart werden konnte. Nur selten durchzogen ihn wenige Wolken in zarten weißen Streifen. Es war ein perfekter Tag. Einfach angenehm. Ein Tag, an dem man einfach nur gute Laune haben konnte, ein Tag, den man genießen musste, ein Tag, der einen regelrecht dazu einlud, an ihm Teil zu haben. Doch nichtsdestotrotz wurde dieser Tag durch jenen Mann, dem das Büro gehörte, nur beobachtet.

Er stand an seiner großen Fensterfront, an seiner perfekt geputzten Fensterfront, und starrte hinaus. Kein Fleckchen trübte die Aussicht, aber dennoch schien er dabei nichts zu fühlen. Er sah es einfach nur, er nahm es nur wahr, aber er fühlte dabei nichts. Seine Augen waren leer. Er, ein Mann im mittleren Alter, nicht wirklich groß, aber auch nicht klein, mit Haaren, die nur noch seine Schläfen und seinen Hinterkopf bedeckten, da sie sich aus den höheren Gefilden schon zurück gezogen hatten, beobachtete einfach nur die Schönheit der Natur mit leeren starrenden Augen, ohne dabei etwas zu empfinden.

Er wirkte sehr müde, seine Augen waren durch Augenringe unterlegt, sie zogen sich wie Furchen durch seine fahle Haut. Abgekämpft. So ließ er sich beschreiben. Sein Rücken war gebeugt durch all das, was er täglich buckeln musste, was er ertragen musste, was ihn müde machte, was ihn erschöpfte, was seinen Blick leer werden ließ. Am Körper trug er nur eine Jeans, ein T-Shirt, einen offenen Kittel und abgetragene Latschen. Kein wirklich respekteinflößendes Bild. Er erschien einem einfach wie ein gebrochener Mann, der am Ende seiner Kräfte war.

Ganz leise war etwas zu vernehmen, ein Geräusch, natürlich kannte er das Geräusch, schliesslich kannte er sein Büro, so hörte sich nur die Tür an, und auch nur dann, wenn man versuchte, sie möglichst leise zu öffnen. Daraus konnte er klare Schlüsse ziehen. Wer da auch immer kam, wollte nicht mit ihm reden und er kannte nur eine Person die ohne zu klopfen herein kommen würde, um nicht mit ihm zu sprechen und das war seine Sekretärin. Er atmete tief durch, drehte sich langsam um, seine Augen füllten sich nur leicht, er musste zeigen, dass er geistig anwesend war. Doch noch immer war es eher ein verstörendes Bild, nicht sonderlich beruhigend. Sie sagte nichts, legte einfach auf seinem Schreibtisch 10 Akten ab, fein säuberlich neben einander, so dass alle gut zu erkennen waren. An jeder Akte heftete ein kleines Passfoto in dessen unteren Rand eine Nummer eingestanzt war. Er ließ seinen Blick darüber gleiten, strich mit seinen feinen Fingern darüber, spürte die Nummern, sah die Bilder, las die Bezeichnungen. Es erinnerte ihn an so vieles. Er fühlte sich, als würde er gute Freunde wieder sehen, als würde er seine Familie treffen. Er hatte mit all diesen Personen gearbeitet und irgendwie waren sie alle an sein Herz gewachsen. Eine kleine Großfamilie mit ihm als liebender Vater. Er schmunzelte leicht und schaute auf. Er warf der jungen Frau, seiner Sekretärin, Blicke zu, fragende Blicke.

„Und?“

Seine Blicke, seine Frage, beides war klar durch Ungeduld geprägt. Er war an diesem Tag nur länger geblieben, weil ihn jemand darum gebeten hatte. Weil Probleme aufgetreten waren. Probleme die nur er lösen konnte. Jedenfalls wurde das gesagt. Und deswegen hatte er seine Freizeit geopfert, natürlich tat er es gern, schliesslich ging es um seine Kinder, aber seine Zeit musste nun wirklich nicht unnötig durch Gestammel oder durch Hinhalten verschwendet werden. Er wollte die wichtigen Informationen hören. Er wollte wissen was nun passiert war. Was war so wichtig, dass er warten sollte? Was war so wichtig, dass nur er mit dem Problem umgehen konnte? Er verstand es noch nicht und er wollte endlich die Antworten und er wusste genau, dass sie ihm die Antworten geben könnte. Sie war immer die Verbindung, welche die Nachrichten an ihn übermittelte. Und es musste etwas wichtiges sein, also sollte sie endlich reden.

„Entschuldigung Sir, die Akten die vor Ihnen liegen, gehören zu den 10 Objekten der Versuchsreihe 364. Sie alle zeigen Auffälligkeiten in der Ausgestaltung ihres genetischen Materials. Und bei einem Objekt sind diese Abnormalitäten endlich aktiv geworden. Es sind Kräfte erwacht. Leider ist es uns bisher nicht möglich gewesen, genauere Informationen über die Ausgestaltung dieser zu erlangen.“

„Weil?“

Er war noch immer ungeduldig. Er hatte noch nicht wirklich etwas Neues erfahren. Das einzige was neu für ihn war, war der Fakt, dass nun endlich die ersten Fähigkeiten in einem der Objekte erwacht waren. Seine Arbeit trug Früchte. Er war stolz. Er konnte sich fast schon denken, warum er bleiben sollte. Mit Sicherheit sollten die Kräfte untersucht werden, oder er sollte heraus finden welche Kräfte erwacht sein könnten. Er sollte forschen. Und er wollte es jetzt sogar. Seine alte Neugier war wieder erwacht. Doch gerade das bestärkte seine Ungeduld nur umso mehr, ohne alle Informationen war eine vollständige Arbeit nicht möglich. Er wollte all das wissen, was sie zu sagen hatte.

„Wir haben das Objekt verloren.“

„Wie können sie es verlieren? Ständige Überwachung durch Zivilermittler, Abhörgeräte, GPS.“

„Die Signale sind einfach verschwunden und unsere Zivilen waren für einen kurzen Moment unaufmerksam, dann war es verschwunden, fast im selben Augenblick sind auch alle Signale einfach ausgefallen.“

„Seit wann ist das so?“

„Vor 3 Tagen ist das Objekt verloren gegangen.“

„Warum erfahre ich erst jetzt davon?“

Der kleine gebrochene Mann hatte aufgeschrieen, er war wütend geworden. Aus der Ungeduld war Rage geworden und in dieser hatte er eine Kraft gefunden, welche ihm half, diesem Gefühl auch Ausdruck zu verleihen. Seine rechte Hand hatte mit aller Kraft auf den Tisch geschlagen, während die Linke alle Akten zu Boden geworfen hatte. Dann krallte er sich in der Tischplatte fest und atmete schwer. Er kochte regelrecht, die junge Frau war zurück gewichen, so kannte sie ihren sonst fast schon apathischen Chef nicht, er war keiner der Typen, die dazu neigten, Wutausbrüche zu bekommen. Die ganze Situation musste ihn schon sehr aufbringen. Es schien für ihn mehr auf dem Spiel zu stehen als nur Objekte. Für ihn ging es um Gefühle. Und für ihn ging es um Kompetenzen. Wie konnte man es wagen, ihn bei der Größe dieser Sache einfach zu übergehen? Wie konnte man ihn in Unkenntnis lassen? Er war der Denker! Er war der Anführer. Er hatte die Aufsicht. Er war der Chef! Man musste ihn informieren und zwar sofort, wenn etwas passierte, nicht erst 3 Tage danach.

„Weil ich es veranlasst habe. Wir werden Objekt 364-01 finden... und dann wird alles gut.“

Jemand neues hatte die Szene betreten und der Besitzer des Büros beruhigte sich. Er antwortete auch nicht, er musste erkennen, dass die Zeit für Widerspruch vergangen war. Langsam lösten sich seine Hände, langsam hob er die Akten wieder auf, er platzierte sie alle erneut auf seinem Tisch und sah den Neuen an. Dieser lächelte sicher, er wusste wer er war und was er durfte. Der kleine Mann, der Besitzer des Büros, ließ sich in seinen Stuhl fallen, legte sich die Finger an die Schläfen und wurde allein gelassen. Es gab viel zu tun.
 

Professor Raphael Zero strich sich über seinen Nasenrücken, er war müde, sehr müde. Der Tag war einfach zu lang gewesen. Es gab zu viel Arbeit, zu viele Akten die bearbeitet werden mussten, zu viele Formulare die man ausfüllen musste, zu viele Texte die man schreiben musste, es war einfach viel zu viel. Eigentlich ein absolutes Wunder, dass er unter der gesamten Last noch nicht zusammen gebrochen war. Doch jedes Mal, wenn er kurz vor einem solchen Moment stand, erinnerte er sich daran, warum er das alles auf sich nahm. Junge Menschen denen eine glückliche Zukunft versagt werden sollte. Junge Menschen die Träume und Hoffnungen hatten, aber durch das Leben schon schwer gezeichnet waren. Keiner von ihnen war so stark, wie sie es vorgaben, sie alle brauchten einen Ort zum heimkehren. Und diesen einen Ort konnte Raphael ihnen geben und das ließ ihn durchhalten. Nur dieser Gedanke. In einem Auge funkelte Freude, während er mit dem anderen leicht weinte. Denn wo er den Kindern ihre Hoffnung gab, war sie woanders genommen worden. Die Welt war bei weitem nicht so, wie sie sein sollte. Raphael seufzte, stand langsam auf, er brauchte eine Pause, seine Schritte lenkten ihn zu einem der 2 Fenster seines Büros. Sie zeigten nach Norden hinaus. Man sah das Tor, man sah die Straße, man sah den Horizont. Raphael liebte diesen Ausblick, in diesen Momenten fühlte er sich frei. Besonders zu dieser Zeit. Während der Tag langsam dem Ende zu ging, der Mond schon wie ein Schatten am Himmel hing und die Sonne ihre letzten Strahlen zur Erde sandte, es waren Momente absoluter Ruhe, absoluten Friedens.

Langsam öffnete er ein Fenster und sog tief die frische Abendluft ein, ließ das Fenster offen stehen und wandte sich wieder dem großen Eichenholztisch zu, der mit Akten vollgestapelt war. Leider war keine davon schon bearbeitet. Wie hatte er seinen Tag nur verbracht? Um 6 war er aufgestanden. Halbe Stunde Frühstück mit Duschen und dann an die Arbeit. Irgendwann gegen Mittag eine halbe Stunde Michael begrüßt, wieder gegessen, dann bis zu diesem Augenblick durchgezogen. Verwaltung war eben ein Aufgabenbereich, in dem man sehr viel Verantwortung trug und diese Verantwortung war immer damit verbunden, dass man viele Aufgaben zu verkraften hatte, welche immer Berge an Akten zur Folge hatten, die man mit jedem Tag aufs neue bekämpfen durfte. Es war ein endloser Lauf ohne Ziel, aber es musste gemacht werden und leider erklärten sich erstaunlich wenig Leute, die die entsprechenden Qualifikationen hätten, bereit, an dieser besonderen Schule zu arbeiten, somit blieb also alles in den Händen Raphaels liegen. Vielleicht auch nicht schlecht, so wusste er wenigstens was erledigt war und was nicht.

Dennoch hätte er des Öfteren auch gerne Hilfe, schliesslich konnte man vieles sagen, aber das man Spass während der Büroarbeit fand, das wäre auf jeden Fall eine Lüge. Viel lieber würde Raphael diesen recht staubigen Raum verlassen, Zeit mit seinen Schülern verbringen, ihre Entwicklung beobachten, ihnen Weisheiten mit auf den Weg geben, doch statt dessen konnte er ihr Leben nur auf den schwarz-weißen Monitoren betrachten die relativ dicht vor seinem Schreibtisch standen. Zehn an der Zahl. Kein guter Ersatz. Man konnte nur Bilder sehen, alles war soweit entfernt, so gedämpft, man konnte nicht teilhaben, es wurde unreal. Es fehlte der wahre Kontakt. Doch wäre Raphael wirklich dankbar, wenn das, neben der Büroarbeit, sein einziges Problem wäre.

Sein Blick fiel hinab auf 3 Zeitungsartikel. Carl, sein bester Freund, seine rechte Hand, sein größter Helfer, Lehrer für Mathematik und Physik und Trainer der Schüler, hatte sie ausgeschnitten. Ohne diese Hilfe, wären diese Nachrichten, einfach an Raphael vorbei geglitten. Er hatte nicht die Zeit um täglich Zeitung zu lesen. Er wäre überhaupt froh, wenn er für irgend etwas Zeit hätte. Und wenn er mal einen freien Augenblick fand, dann bildete er sich weiter, las wissenschaftliche Artikel, neue Erkenntnisse der Gen- und Zellforschung, das war weit besser als sich mit den reißerischen Lügen der sonstigen Presse auseinander zu setzen. Doch gerade in diesen Bereich fielen die 3 Artikel ganz besonders. Ausschnitte der Boulevardpresse.

‚Trucker berichtet von Katzenlady’ ‚Steinmann brach Biker den Kiefer’ ‚Feuer – Terroranschläge durch Mutanten’ Natürlich war es ein Fakt, dass die meisten Menschen gerade die Zeitungen, die solche Überschriften druckten, nicht allzu ernst nahmen, aber dennoch war Vorsicht geboten. Insbesondere ein Feuer in der Größenordnung wie es beschrieben wurde, erzeugt großes Aufsehen. Ein Aufsehen, dass sogar dafür sorgt, dass die entsprechenden Fälle auf den Seiten ernst zu nehmender Zeitungen erscheinen und auf diese Art und Weise zu einem Thema für nach der Macht greifende Politiker werden. Sie nutzen solche Vorfälle, um ihre eigene politische Karriere zu stützen, und ignorieren dabei vollkommen, wem sie damit schaden. An dem momentanen Punkt der Entwicklung, an einem Punkt, an dem die Entrechtung der Mutanten auf Messers Schneide steht, waren solche Schlagzeilen einfach nicht zu gebrauchen. Der Verlauf der Gespräche während des Kongresses hatte zu keinem Ergebnis geführt, dass man als wünschenswert bezeichnen würde, keine Einigung, kein Raumgewinn. Sie brauchten unbedingt positive Presse um eine Basis für positive Entscheidungen zu erzeugen. Doch gerade diese war rar. Zudem, Raphael musste an Michael denken, gab es einige Mutanten, die ein gewisses Konfliktpotential in ihrem Innern hatte und so die Situation nicht unbedingt entschärften. Ein eher negativer Umstand, der Artikel erzeugte, welche davon berichteten, wie grausam und zerstörungswütig jene sein konnten, die mehr Kräfte besaßen als der Durchschnittsbürger. Und selbst wenn man davon absah, wurden nur allzu oft große Heldentaten verfälscht. Die Berichterstattung über solche Fälle geriet in falsche Hände und eine gutmütige Tat wurde zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Macht der Worte und der Bilder durfte nicht unterschätzt werden. Sie war ein Organ, welches einen zerstören konnte, oder sie brachte einen den ganzen Weg in den Himmel hinauf. Nur leider befand sich Raphael mit all denen die er schützen wollte, gerade auf der Schattenseite, auf dem Ast, der gerade abgesägt wurde. Eigentlich müsste man diese Welt, die durch Medien kontrolliert wurde, hassen. Eigentlich müsste man die Menschen hassen, die sich jeden Tag dadurch manipulieren ließen. Eigentlich müsste man es tun, aber Hass war noch nie der richtige Weg gewesen, also konnte es auch nicht die Lösung sein.

Raphael geriet jedes Mal in Rage, wenn er über diese Ungerechtigkeiten nachdachte, er atmete tief durch und beruhigte sich wieder. Langsam nahm er nun die 3 Artikel, welche noch immer vor ihm lagen, in seine Hand und stand auf. Er ging bedächtig auf eine Pinnwand zu, welche links neben dem linken Fenster hing, sie war voll mit verschiedensten Ausschnitten. Es mussten Hunderte sein. Einige erschienen sehr alt, man erkannte es daran, dass das Zeitungspapier schon halb zerfiel. Doch der größte Teil war noch recht frisch, wohl jüngst aus neuster Presse. Wenn gleich so etwas immer relativ anzusehen war. Langsam nahm er nun 3 kleine Nadeln und hängte die neuen Artikel zu den anderen, während er seinen Blick über diese schweifen ließ und sich dadurch fast in den Finger stach. ‚Schulüberflutung – Leck im dritten Stock?’ ‚13-jähriger turnt alle an die Wand’ ‚Erster Vogelmann gesichtet?’ Auf diese Weise und auf ähnliche ging es schier unendlich weiter. An jedem einzelnen Wort hing für Raphael eine Geschichte und ein Schicksal. Die Geschichte eines Menschen, der sein Schicksal darin fand, durch die Gesellschaft als Freak gesehen zu werden. Selbst wenn sie im ersten Moment bewundert wurden, waren sie im nächsten verhasst. Und immer waren Neid und Eifersucht die Ursache, die schlimmsten Gefühle die der Mensch zu bieten hatte.

‚16-jähriger gewinnt im Lotto – die Zahlen hat er gesehen’ So war Raphaels eigene Geschichte betitelt. Er strich mit seinen Fingern ganz leicht über das vergilbte Papier und lächelte, während er sich an diese Zeit erinnerte. Die Aufregung die entstanden war, er war damals noch so naiv gewesen. Er hatte sich gefreut, hatte in kurzer Zeit Tausende Freunde, vorher war er allein gewesen. Es gab plötzlich so viele Familien, die ihn bei sich haben wollten, dabei war zuvor keine einzige da gewesen. Sie alle waren nur Parasiten. Aber in seiner Jugend, in seiner Naivität, hatte er es nicht erkannt. Wahrscheinlich hatte er es einfach nicht erkennen wollen. Aber umso erwachsener er geworden war, umso mehr Stärke hatte er gefunden und er hatte sie alle von sich gestoßen. War in die Welt hinaus gegangen und hatte neu angefangen. Zero.

Er hatte alles andere verdrängt, sich ein neues Leben erschaffen, war ein neuer Mensch geworden, mit einem neuen Namen. Er hatte alles andere hinter sich gelassen und sich eines geschworen, er wollte seine Fähigkeiten nie wieder für den puren Eigennutz einsetzen. Doch dieses eine Mal war es nötig gewesen, er konnte den Generationen die nun folgen würden eine Möglichkeit bieten, ihre Leben zu leben. So wie jeder Mensch es verdient hatte. Während er in diesen Gedanken, diesen Erinnerungen schwelgte, wurde er das erste Mal seit langer Zeit überrascht. Während die Tür schwunghaft aufgestoßen wurde, kam Michael herein, eigentlich hatte es Raphael vorher gewusst, er brauchte es gar nicht zu sehen, denn so oft, hatte er noch nie mit einem neuen Schüler reden müssen.

„Na Professor, haben sie mich gar nicht erwartet? Sie wirken so überrascht.“

„Ich war beschäftigt Michael und auch, wenn du es vielleicht nicht glauben kannst, aber du bist nicht das Zentrum meiner Galaxie. Ich habe mehr zu tun, als auf dich zu warten. Und um deine Frage zu beantworten: Doch, ich habe dich erwartet. Ich gestehe ein, dass ich es nicht gesehen habe, aber ich wusste es. Weißt du, ich musste seit der Gründung dieses Hauses, mit keinem neuen Schüler so oft reden, wie mit dir. Man könnte sagen, dass es eine einfache stochastische Aufgabe war. Wer würde wohl ohne zu klopfen herein stürmen? Die Chancen standen 90 zu 1, dass du es sein würdest. Damit hatte ich wohl recht, ich hätte wetten sollen.“

„Irgendwie verletzt mich das, dieser Sarkasmus, dieser versteckte Angriff gegen meine Persönlichkeit. Man könnte fast meinen, sie wären mir feindlich gesinnt. Außerdem wirken sie nicht sonderlich beschäftigt, ich meine, wer Zeit für ein paar vergilbte Papierfetzen hat, der kann diese Zeit doch lieber mit mir verbringen.“

„Ich bin nur ein alter Mann, der für ein paar Sekunden in seinen Erinnerungen schwelgen wollte, ohne dabei von einem zahnlosen Hund angebellt zu werden. Außerdem ist es nach wie vor mein Problem, wie ich meine Zeit verbringen möchte. Ich glaube kaum, dass ich dir eine Rechenschaft ablegen muss.“

Raphael lachte leicht, während er einen letzten Blick auf seinen Artikel warf. Schöne und hässliche Erinnerungen waren damit verbunden, aber nun wurde es Zeit, sich neue zu schaffen. Er drehte sich um und musterte den etwas rüpelhaften jungen Mann, der in sein Büro gestürmt war. Raphael wusste genau, dass mehr hinter dieser Fassade steckte, mit diesem Verhalten wollte der junge Mann sich verstecken, etwas verbergen, was niemand sehen sollte. Raphael meinte fast es sehen zu können, er sah in diesem Jungen einfach mehr, da war etwas, was ihn verwirrte, was ihn fragen ließ. Da war einfach etwas. Hinter den wachen Augen, steckte mehr, als man auf den ersten Blick erahnen konnte. Doch während Raphaels Blick fragend wurde, störte sich Michael daran gar nicht. Er steuerte direkt auf die beste Sitzgelegenheit zu, der Bürostuhl des Professors. Da es auch keine Einwände gab, ließ er sich einfach darauf nieder, grinste genüsslich und ließ seine rechte Hand zu seiner Jacke gleiten. Erst das war zuviel für das geduldige Gemüt Raphaels.

„In meinem Büro wird nicht geraucht. Es ist ungesund und ich hasse den Geruch.

„Hey, sie haben mich beleidigt. Es wäre nur fair, mich jetzt eine rauchen zu lassen. Also, entweder darf ich es jetzt, oder ich werde ihnen zeigen, wie zahnlos ich wirklich bin. Ich bin mir sicher, dass sie nach der entsprechenden Demonstration ihre Einschätzung noch mal überdenken werden. Ich kann teils recht ungehalten reagieren.“

An dieser Stelle hatte Michael wahrscheinlich noch untertrieben. Es war eine Tatsache, dass er einem Biker, der ihm mitten im Nirgendwo begegnet war, den Kiefer zerschmettert hatte. Wahrscheinlich noch eines seiner geringeren Vergehen. Raphael war sich sicher, dass Michael zu wesentlich mehr in der Lage war. Und wenn er ehrlich war, dann legte er keinen großen Wert darauf, allzu schnell am eigenen Leib heraus zu finden, was das so war. Trotzdem musste er einen festen Kontrapunkt bilden, Michael kannte keine Grenzen und hier müsste er sie lernen. Komme was wolle.

„Ich weiß. Aber ich gehe das Risiko bewusst ein. In meinem Büro wird nicht geraucht und deswegen wird deine Schachtel schön in der Jackentasche stecken bleiben.“

Raphael legte einen festen Blick auf, dabei wurden seine Augen nicht kalt, aber sie waren fest auf Michael fixiert und sie machten klar, dass Raphael in seinen Ansichten nicht weichen würde. Es war ein Ausdruck von Willensstärke und von Kraft. Ein Ausdruck der Überlegenheit, die einem nur Alter und Erfahrung geben konnten. Raphael wusste genau, dass Michael eigentlich nichts tun wollte, dass er eigentlich niemanden verletzen wollte, eigentlich, Michael müsste es nur noch selbst wissen und ein Sieg in diesem Duell der Blicke würde schon mal einen Anfang darstellen. Und der Anfang wurde gemacht, denn das Duell dauerte nicht lange, zuerst hielt Michael den Blick, er schien sich sogar zu langweilen, seine Hand verharrte dabei an seiner Brusttasche. Doch dann zog er sich zurück, er senkte die Augen und ließ gleichermaßen seine Hand ihre Position verlassen. Er erkannte, dass es nutzlos war, sich hier weiter aufzulehnen.

„Ist okay... ich habe so oder so nur noch eine übrig, die will ich genießen und hier wäre sie verschwendet. Ich sollte mir auch langsam neue besorgen.“

„Ganz wie du meinst, dich zwingt schliesslich niemand hier zu bleiben, aber es zwingt dich auch keiner, ständig mein Büro aufzusuchen und dennoch landest du immer wieder hier. Wie oft inzwischen?“

„Nur 3 mal... na gut, jetzt ist es das vierte Mal.“

„Und warum haben dich deine Schritte diesmal hierher geführt?“

„Langeweile. Also, mehr oder weniger freiwillig. Wissen sie, hier lässt sich einfach keine Action finden. Die Mädels sind verklemmt, und die Kerle misstrauisch, nur weil man raucht und eine Lederjacke trägt. Sie sollten ihren Freaks mehr Toleranz beibringen.“

„Ich fühle mich ja ganz geschmeichelt, um deine Langeweile zu bekämpfen suchst du mich auf. Dabei kann ich es überhaupt nicht verstehen. Warum sollten es meine Schüler vermeiden, sich mit einer Frohnatur wie dir zu umgeben? Du erhellst einem doch jeden Morgen. Sicherlich hat es absolut nichts damit zu tun, dass du sie offen als verklemmt, oder als Freaks bezeichnest. Soweit ich mich richtig erinnere, waren das doch die Gründe dafür, dass du die ersten beiden Male kommen durftest. Natürlich kann ich mich dabei irren, aber ich glaube nicht. Allerdings würde ich dich gerne darauf hinweisen, dass ich zeitlich recht eingespannt bin. Daher empfehle ich dir, deine Langweile damit zu beenden, etwas zu tun... irgend etwas... was genau, kann ich dir leider nicht sagen, ich kenne die Muße der Langeweile nicht.“

„Wieder dieser Sarkasmus, so werden sie niemals eine Frau finden Professor. Außerdem... ich muss mich da wirklich beschweren... sie werden doch wohl ein paar Minuten für ihren besten Schüler finden. Eine solche Begabung, wie die meinige, werden sie ja wohl kaum ein zweites Mal haben.“

„Begabt? Vielleicht. Schüler? Wenn es so weiter geht, wie bisher, dann nicht mehr lange. Die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Aufenthalts, verkürzt sich mit jedem Moment, den du weiter deine bisherige Haltung aufrecht erhältst.“

„Sie können es sich gar nicht leisten, mich zu verlieren. Wer mich erst mal gefunden hat, der will mich nicht mehr loswerden. Und ich muss an dieser Stelle mal sagen, dass sie ganz schön verletzend sein können. Ihre Worte... die treffen einen ganz tief hier drin.“

Michael drückte seine beiden Hände auf die Stelle seiner Brust, unter der sein Herz schlug, es war allerdings offensichtlich, dass er wieder einmal nur spielte. Wie so oft. Die Gestik zeigte es ganz klar, und das ironische Lächeln unterstrich diesen Eindruck nur noch zusätzlich. Nach dem er seine schauspielerische Leistung abgeschlossen hatte, lehnte er sich zurück und legte seine Füße ganz entspannt auf dem Tisch ab, direkt zwischen die 2 Aktenberge. Sein Fuß wippte sanft, während er seinen Blick nun direkt, zwischen den Stapeln hindurch, auf die Monitore richten konnte. Raphael wandte sich den Bildschirmen ebenso zu, es trat wieder ein Moment der Stille ein, bei dem er ganz genau wusste, wer zuerst ein Wort verlieren würde. Sie traten wieder einmal in einen Wettstreit bei dem jeder dem anderen beweisen wollte, dass er keinen Drang besaß, mit dem jeweils anderen zu kommunizieren. Beide hatten viel gesagt, eigentlich viel zu viel, deswegen konnten sie diese Stille kurz genießen. Sie konnte es beide genießen einen Gegenpart zu haben, der ihnen Kontra bot, an dem sie sich selbst austesten konnten. Aber ebenso wussten sie, dass noch mehr Worte folgen mussten und deswegen lief es unweigerlich auf eines hinaus. Einer von beiden würde reden, einer würde verlieren und Raphael wusste, dass er Michael in dieser Hinsicht absolut überlegen war.

„Von hier überwachen sie also alles. Haben sie auch Kameras für die Mädchenduschen? Ist nur eine Frage, rein aus Interesse, wer weiß schon, was da so alles passieren kann. Und ganz unter uns, sie sind ja nicht mehr der Jüngst, und auch sie sind nur ein Mann, so ganz ohne Frauen geht es dann ja doch nicht... oder Professor?“

Michael grinste leicht anzüglich, während der Professor regelrecht zusammen fuhr. Sein Blick fixierte einen der Monitore. Rechte obere Ecke, dieser zeigte ein Bild der Außenanlagen. Direkt neben einem der Seiteneingänge. Er schien etwas zu sehen. Natürlich konnte Michael nicht das selbe wahrnehmen, aber er versuchte es. Er stand sogar auf und stellte sich neben Raphael, er nahm den selben Blickwinkel ein, und versuchte das zu sehen, was er niemals sehen würde, jedenfalls nicht, bevor die entsprechende Zeitperiode abgeschlossen wäre. Doch der Moment, den er dafür abwarten müsste, der war ihm nicht vergönnt. Raphael fuhr urplötzlich herum und lief in Richtung der Tür. Noch in seiner Bewegung nahm er sich nur die Zeit für eine kurze Bemerkung. Der Rest folgte erst, als er und Michael schon durch die Gänge des Schulgebäudes jagten.

„Michael, wir haben 12 Minuten, also beweg dich.“

„Worum geht es? Hey... Professor, warten sie gefälligst. WORUM GEHT ES?“

„Eine Herausforderung. Das magst du doch. Diese Schule kann dir nun doch Entertainment bieten.“

„Wie groß?“

„Ein Kampf gegen ein wildes Tier.“

„Ich trete also gegen Mutter Natur an, ich habe sie schon immer gerne von Angesicht zu Angesicht herausgefordert. Und gute alte Gewohnheiten soll man ja nicht aufgeben.“

Zusammen bahnten sie sich ihren Weg und Michael war sich sicher, dass sie es auch nur zusammen schaffen würden. Alleine wäre er aufgeschmissen gewesen. Alle Gänge sahen gleich aus, überall waren immer wieder Türen, Fenster, Treppen, Gänge, und es wiederholte sich. Welcher Mensch sollte sich in diesem Labyrinth zurecht finden, ohne verwirrt 3mal den falschen Weg einzuschlagen. Aber zum Glück hatte er einen Führer, der das dichte Dickicht entwirrte und ihm einen Pfad wies, so dass sie schlussendlich eine Tür mit zwei Flügeln durchstoßen konnten und hinaus an die frische Luft kamen. Der späte Abend war herein gebrochen, es wurde langsam immer dunkler, das schränkte die Sicht ein, dennoch lächelte Michael selbstsicher und zog nun aus seiner Tasche die letzte Zigarette, die er hatte. Mit einer kurzen Handbewegung wurde sie entzündet, der Moment hatte etwas friedliches, dann stieg der altbekannte weiße Rauch als feine weiße Fahne in den Himmel auf. Leise knackte Michael mit seinem Hals und schaute zum Professor hinüber. Noch 8 Minuten.

„Geht es jetzt etwas genauer? Ein wildes Tier, man könnte so etwas als eine recht allgemeingehaltene Definition bezeichnen.“

„Eine Wildkatze.“

„Und dafür renne ich extra hier raus?“

„Eine besondere Wildkatze.“

Michael ersparte sich jede weitere Reaktion darauf. Es war nicht mehr angebracht und es hätte auch keinen Sinn. Seine einzige Reaktion könnte sein, dass er es als langweilig empfinden würde, das wäre allerdings gelogen und selbst wenn er es durchziehen würde, und es sogar schaffen würde sich abzukehren, so würde er allein aus Neugier wieder zurück kommen. Zudem wäre jedes seiner Worte auf einer Wand des Schweigens getroffen, den der Professor hätte sie mit Sicherheit keiner weiteren Antwort gewürdigt. Er wusste wann es wichtig war zu schweigen. Und sie hatten gerade einen Moment erreicht, an dem jedes Wort und jede Handlung einfach nur sinnlos war. Man konnte nur abwarten. Und wenn es eines gab, was Michael wirklich hasste, dann war es das Warten. Ungeduldig zog er an seiner Zigarette und blies den Rauch in die Nacht hinaus, um dann einen Versuch zu starten, auf seine Uhr zu schauen. Zu wenig Licht. Er wollte wissen, wie lange er noch warten müsste.

„Noch 5 Minuten Michael.“

„Ich hasse es zu warten!“

„Du solltest es langsam lernen, du solltest erkennen, dass Warten sehr befreiend und entspannend sein kann. Es ist ein Moment, in dem einen nur das Verlangen und nicht der Gegenstand selbst beherrscht.“

„Ich verstehe nicht, was sie damit meinen, aber wahrscheinlich, will ich es auch gar nicht verstehen, was aber viel wichtiger ist, dass das wahrscheinlich damit zusammen hängt, dass die fortschreitende Verkalkung Worte verfälschen kann. Während sie nun also darauf warten, dass der natürliche Zeitverlauf weiter seinen Tribut an sie fordert, werde ich mich von dieser traurigen Szenerie abwenden und mir ein Abenteuer suchen, bei dem ich weder warten noch mir ihre Vorträge anhören muss.“

Michael hasste es wirklich sehr zu warten, insbesondere wenn er dabei auch noch Belehrungen lauschen durfte. Einer der Gründe, warum die Schule für ihn zu einem roten Tuch geworden ist.

„Ich habe so langsam das Gefühl, dass du der Weisheit des Alters zu wenig Hochachtung zukommen lässt. Während du deinen jugendlichen Übermut zu viel Bedeutung beimisst. Du überschätzt dich Michael.“

„Das sehen sie falsch. Ich überschätze allerhöchstens sie, Professor. Meine Knochen beginnen schliesslich noch nicht zu knacken. Ein Umstand, den ich gerne noch auskosten würde.“

„Noch 1 Minute.“

„Das ist mir doch Scheiß egal. Ich verzieh´ mich jetzt. Mal sehen, wie sie alleine mit der kleinen Wildkatze klar kommen.“

„Warte noch, ich habe mich ein wenig versehen.“

Michael war gerade dabei am Professor vorbei zu gehen, er verfolgte fest die Absicht, diese Wiese zu verlassen. All seiner Neugier zum Trotz wollte er einfach gehen. Er wollte diese ganze Schule hinter sich lassen, irgendwie einen Weg in irgendeine Stadt finden, sich Zigaretten besorgen und dann seiner Freiheit frönen. Aber irgendwie verwarf er diesen Plan wieder. Er konnte nicht gehen. Nicht jetzt. Woher wusste der Professor nur immer, was er sagen musste? Woher hatte er diese Sicherheit? Das konnten nicht nur seine Augen sein, da musste mehr sein. Viel mehr. Doch leider wusste Michael nicht, was es war. Er atmete aus und drehte sich wieder um, um seinen Blick wieder über das freie Feld schweifen zu lassen. Irgend etwas bewegte sich dort im Schatten der Nacht.

„Sie war 56 Sekunden zu früh.“

„Sie haben sich einfach nur geirrt, Professor.“

„Ich sehe immer nur das Wahrscheinlichste, irgendetwas muss ihren Weg verändert haben.“

„Ausreden eines Mannes, dessen Alter seinen Tribut fordert. Aber warten sie... ihren... ?“

„Ja... ihren Weg, hast du in der Schule nichts gelernt? ‚Katze’ bezeichnet noch immer weibliche Exemplare der entsprechenden Gattung.“

„Das ändert einiges...“

„Du solltest aufpassen. Sei achtsam und konzentrier dich.“

„Sie verfällt meinem Charme. Da gibt es gar keine andere Möglichkeit. Bleiben sie ganz ruhig Professor. Ich weiß was ich tue.“

„Gerade das befürchte ich ja.“
 

“Risin' up, back on the street”

Ein neues Lied, ein neuer Abschnitt der Reise. Die Radioeinstellung an ihrem Musicplayer machte sich bezahlt. Immer wieder neue Musik und praktischer Weise war die Auswahl an Sendern so groß, dass sie immer etwas für sich fand. Irgendwo lief immer einer dieser alten und bekannten Rockklassiker, welche sie einfach über alles liebte. Musik war einfach perfekt, wenn man einfach mal abschalten wollte, einfach mal vergessen wollte, im Moment gab es wirklich genug Dinge, die es verdient hatten, einfach verdrängt zu werden. Sam musste langsam erkennen, dass es sinnlos war sich an der Hoffnung fest zu klammern, dass ein Großteil der Menschheit tolerant sein würde. Jeder einzelne Mensch hatte Angst vor dem, was er nicht kannte. Eigentlich hatte jeder von ihnen nur ein Ziel, sie wollten sich verstecken und sie wollten das, was sie nicht verstanden, so gut es ging aus ihrem Leben heraus halten. Der junge Vater, den sie ein paar Stunden zuvor getroffen hatte, er wäre wahrscheinlich das perfekte Beispiel. Sam war sich sicher, dass seine Bekannten und Freunde nicht ein Wort von ihr hören würden. So war es immer, so waren Menschen, verdrängen und vergessen, das war auch wesentlich einfacher, als es wirklich zu verarbeiten.

“Did my time, took my chances”

Sam wollte sich durch diese Gedanken nicht mehr belasten lassen, sie wollte frei sein, sich uneingeschränkt bewegen, während sich die Menschheit Grenzen setzte. Wie ein Vogel in der Luft, wie ein Fisch im Wasser, wie ein Tiger im Wald. Es hatte keinen Sinn diese Menschen bekehren zu wollen, die meisten waren schon in ihren Ängsten und Sorgen verloren. Sie würden niemals ihren sicheren Käfig verlassen, niemals das spüren was sich Risiko nannte, sie würden ein Leben lang ein Gefängnis bewohnen. Sam hatte es inzwischen aufgegeben, an diesem Umstand etwas ändern zu wollen, statt dessen hatte sie sich dazu entschieden, dass es wichtiger war, ihr eigenes Leben in vollen Zügen zu genießen. Sie würde weiterhin dort, wo es ging, Leben retten und beschützen, aber auch das würde an einer Tatsache nichts ändern. Sie hatte ihr Vertrauen in die Menschheit verloren.

“Went the distance, now I'm back on my feet”

Es ging einfach nicht mehr, es war zuviel geschehen, zu viele Schmerzen, zu viel Leid. Sam schloss kurz ihre Augen und ließ ein lautes Fauchen heraus. Es war ihr Brüllen des Unmuts und ein Zeichen, dass sie ihr Herz ein wenig befreien konnte. Es tat gut, es half ein wenig, nicht wirklich viel oder ausreichend, aber es war ein Anfang. Und es sorgte dafür, dass sie sich wieder ein wenig besser auf ihre Umgebung konzentrieren konnte. So langsam kam sie in eine hüglige Landschaft. Und sie war noch immer vollkommen trittsicher, wenn gleich mit jedem Schritt Schmerzen aus ihrem Rücken heraus, durch den gesamten Körper schossen. Sie konnte es ertragen, sie war ein Tiger, sie war stark, durch so etwas, würde sie nicht in die Knie gehen. Natürlich war es nicht sonderlich angenehm, doch einerseits dämpften ihre Muskeln die Schmerzen ein wenig, und andererseits konnte sie während ihrer vollständigen Verwandlung ihre Sinne beeinflussen. Sie konnte also ihren Tastsinn so weit betäuben, dass sie die Schmerzen nicht mehr so wahrnahm, wie sie dies ohne ihre Fähigkeit tun würde. Sehr praktisch.

“Just a man and his will to survive”

Doch wo ihr Tastsinn gerade Urlaub machte, wurden die anderen Sinne nur umso schärfer. Ihre Augen bewegten sich schnell und nahmen in Sekundenbruchteilen ihre Umgebung genau war, wobei auch noch analysiert wurde, wo Sam hintreten konnte und wo nicht. Dieser Prozess lief fast schon von alleine ab, sie musste darüber nicht mehr nachdenken, purer Instinkt. Einer der Vorteile, wenn man das Tier in sich gut kannte. Derweil übernahmen ihre Ohren die Position der Wache, sie waren stets auf der Suche nach Geräuschen, die auf etwas hinweisen könnten, was unter Umständen gefährlich sein könnte. Natürlicher Selbstschutz. Und ihre Nase, als letzte im Bunde der Drei, sucht ununterbrochen nach fremden Gerüchen. Neben den Geräuschen, wäre ein neuer Geruch ein weiteres deutliches Zeichen für jemanden oder etwas, was nicht in diesem Wald sein sollte. Und so etwas konnte gefährlich werden. Sam passte auf, sie war gut trainiert, sie würde überleben, so wie sie es schon immer getan hatte. Und kein Mensch würde daran etwas ändern, niemals, unter keinen Umständen. Stück für Stück stieg sie höher hinauf. Immer weiter in das langsam aufkommende Gebirge hinein. Kleine Wege, kleine Pässe, sie fand sie und nutzte sie, so dass sie nach und nach eine etwas tiefer gelegene Bergspitze erreichte. Von ihrer neuen Position bekam sie einen wunderbaren Ausblick über die Täler und Berge. Sie sah die diversen Pfade, die einsamen, vereinzelten Bäume und teilweise sogar Tiere, die hier oben heimisch waren. Sie lächelte leicht, während ein warmer Wind ihre Nase umwehte und die Sonne sich langsam immer weiter dem Horizont zuneigte.

“So many times, it happens too fast”

Sam roch etwas. Scheinbar war die Wärme des Windes nicht seine einzige Besonderheit. Sanft von den Wellen des Windes getragen, stieg ein Duft in ihre Nase, und er gehörte eindeutig nicht zur reinen Natur. Sam roch Menschen, gebratenes Fleisch und Putzmittel. 3 klare Anzeichen für die sogenannte Zivilisation. Daraus folgte, dass sich irgendwo in relativer Nähe ein Gebäude befinden musste, dass Menschen gehörte, und in dem gekocht werden konnte. Auf jeden Fall war es einen Blick wert. Wer Fleisch braten konnte, der warf auch etwas weg und nicht allzu selten, waren diese Abfälle noch recht frisch und essbar, oder man klaute direkt aus der Küche, irgendwie musste man sich ja durch bringen. Aber natürlich klaute Sam nicht wirklich, sie borgte es sich nur. Oder noch besser, es war wie ein Schmerzensgeld, welches sie nun wirklich mehr als verdient hatte. Sam schüttelte sich kurz, dabei fielen einige kleine Scherben aus ihrem Fell heraus, jedoch blieben die Großen, jene die in ihrem Rücken steckten, beharrlich an Ort und Stelle. Danach noch einmal kurz strecken und dann jagte sie den Berg hinab. Sie hatte die Witterung des Fleisches aufgenommen, damit war es ein leichtes Spiel, sie musste nur noch ihrer Nase folgen und das war nun wirklich eine einfache Übung.

“You change your passion for glory”

Berg und Tal, immer im Wechsel, nicht besonders abwechslungsreich. Man konnte behaupten, dass diese Landschaft eher weniger zu bieten hatte, dennoch sollte es einen Grund geben, der Sam dazu brachte, kurz stehen zu bleiben und zu verharren. Eigentlich war ihr Hunger immer ein guter Motor. Er brachte sie voran. Zudem brauchte sie die Kraft, um den Schmerzen weiter widerstehen zu können. Aber der Anblick, welcher absolut unerwartet kam, stoppte sie. Ein kurzer Moment des Starrens. Sam hatte mit Dingen gerechnet, die eher in die Richtung eines Hauses tendiert hätten, wenn auch eher Hütten wahrscheinlich gewesen wären, aber ein derart riesiger Komplex war durchaus überraschend. Natürlich wurde er hauptsächlich durch den Vergleich zu der eigentlich Erwartung riesig, aber er besaß dennoch eine beachtliche Größe, welche in dieser Einöde eher unwahrscheinlich erschien. Dennoch war das Gebäude da und allein dadurch einen oder auch zwei Blicke wert.

“Don't lose the grip on the dreams of the past”

Eine kleine Untersuchung des Sachverhalts konnte nicht schaden. Allerdings müsste man dafür, erst einmal dem Gebäude näher kommen und dafür musste es weiter gehen, Sam ließ kurz ihren Nacken knacken und sprintete auf allen vieren über den harten Untergrund. Ihre Augen, eigentlich alle ihre Sinne, liefen auf Hochtouren, damit sie sicher ihren Weg finden würde. Es schien fast so, als würde sie mit jedem Moment schneller werden. Es war unglaublich, welche Kräfte sie mobilisieren konnte, wenn sie ein Ziel vor Augen hatte. Es waren Kräfte, welche eigentlich versiegelt im Körper verborgen waren, aber für solche Momente konnten sie hervor brechen und sie zu Großem befähigen. Ein nützlicher Umstand. Geschickt schlängelte Sam sich an größeren Felsen vorbei und nutzte die Kleinen um Sprünge zu wagen und größere Abstände ohne Anstrengung hinter sich zu lassen. Sie schaffte es dabei auch immer wieder, auf den vereinzelten kleinen Flecken grünen Grases zu landen, so dass ihr Aufkommen abgefedert wurde. Ihre Sinne, ihre Instinkte waren gut. Sie war gut. Sam brauchte sich vor keinem Vergleich zu scheuen, sie würde die meisten sogar gewinnen.

“You must fight just to keep them alive”

Wieder ein Sprung und schon überquerte sie leichtfüßig den eigentlich recht hohen Zaun. Sicherlich wäre er für manche eine Herausforderung gewesen, aber wenn man genügend Anlauf, einen Stein als Absprunghilfe und ihre Beine hatte, dann wurden solche Hindernisse zu einer Aufwärmübung. Es war fast so, als würde sie solche Zäune, einfach überlaufen. Elegant landete sie auf der anderen Seite und erblickte im selben Moment zwei Männer. Inzwischen war die Sonne noch weiter versunken. Der Abend war spät, die Nacht recht nah. Die beiden Männer standen relativ nah beieinander. Einer war jung und der andere alt. Sie schienen auf etwas zu warten. Und so wie sie den Blick des Alten interpretieren konnte, war das Warten gerade beendet worden, womit sie wahrscheinlich das Objekt der Erwartung gewesen war. Aber das war Schwachsinn. Woher hätte er es wissen sollen? Sam schüttelte ihren Kopf, ließ ihren Schwanz hin und her schlagen und schritt dann langsam auf den Jungen zu. Er strahlte eine absolute Selbstsicherheit aus, fast schon überheblich, er hielt sogar ihren Blick. Auch während sie ihre Verwandlung zur Hälfte rückgängig machte, wich er nicht einen Zentimeter. Nun stand sie fast direkt vor ihm, hatte noch immer Fell auf Händen, Beinen und Füßen, hatte noch immer Krallen und ihr Gesicht wies noch immer sehr raubtierartige Züge auf, aber es stand eine fast originale Sam vor ihm und schaute in seine Augen, während er zurück starrte.

“It's the eye of the tiger, it's the thrill of the fight”

Sie konnte es in seinen Augen sehen, er dachte nicht daran, ihr vollkommen friedlich gegenüber zu stehen, ihr die Hand zu reichen und ihr vielleicht Essen zu geben, er hatte dieses gewisse Funkeln. Eine Angewohnheit, die Sam von sich selbst kannte. Dieses Funkeln zeigte dem anderen, dass man kämpfen wollte, dass man die eigenen Kräfte gegen die, des Gegners, aufwiegen wollte, dass man sehen wollte, wer der Bessere war. Es war ein kampflustiges Funkeln, dass zeigte, dass diese Person keine Angst hatte und auch keine Angst bekommen würde, was auch immer kommen sollte.

“Risin' up to the challenge of our rival”

Der Alte schien das absolute Gegenteil zu sein. Er hatte Respekt und wollte sich mit Sicherheit zurück halten. Wahrscheinlich würde er nicht einmal eingreifen, wenn es wirklich zu einem Kampf kommen sollte. Fraglich war an dieser Stelle natürlich, wie er überhaupt eingreifen könnte, falls er es sollte. Wozu war er wohl fähig? Eine Frage, welcher Sam gerne nachgehen würde. Er wirkte einfach nicht so, als wenn er normal wäre. Dasselbe galt für den Jungen, er war sich zu sicher, als dass er nur ein Mensch sein konnte. Sam müsste erst einmal austesten was er konnte und dann würde sie eine Strategie entwickeln, so funktionierte es immer am besten. Lerne den Gegner kennen und stelle dich darauf ein. Die oberste Prämisse jedes guten Kämpfers.

“And the last known survivor stalks his pray in the night”

Sie legte ihren Fokus wieder auf den Jungen. Inzwischen hatte er ein Lächeln aufgelegt, war absolut ruhig, fast ein wenig erstaunlich. Wären sie nicht in dieser Situation, so hätte sie ihn fast bewundern können. Ein wenig jedenfalls. Auch wenn sie Raucher verabscheute, zu denen er zweifelsohne gehörte. Die Zigarette hing nach wie vor zwischen seinen Zähnen und er schien auch nicht die Absicht zu haben, sie irgendwie aus seinem Mund zu entfernen. Dabei rauchte er nicht einmal wirklich. Der Glimmstängel war einfach nur da, brannte langsam ab und entsendete eine weiße Rauchfahne in den Himmel. Er war merkwürdig. Sam war fast geneigt zu sagen, dass er besonders war, aber wahrscheinlich wäre das, schon wieder zu viel der Ehre. Sie sah ihn abschätzend an und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.

„And he's watchin' us all with the eye of the tiger”
 

„Na Kitty, willst du nicht langsam mal was sagen?“

Michael verschränkte seine Arme hinter dem Kopf, während sich sein zuvor selbstsicheres Lächeln, langsam in ein breites Grinsen umwandelte, welches einen Hang zum großkotzigen hatte. Doch auch, wenn er nun schon lange nicht mehr den Eindruck machte, dass er sein Gegenüber ernst nehmen würde, so behielt er sie doch die gesamte Zeit über im Blick. Musterte sie genau, schätzte sie ab, versuchte sich darüber klar zu werden, wie gefährlich sie wohl werden könnten. Und er kam eindeutig zu einem Ergebnis. Sie mochte die Betitelung Kitty überhaupt nicht. Während sie nun selbst mit ihrer Wut zu ringen schien, wurde es eine Weile still, so dass Michael die Musik hören konnte. „Eye of the Tiger.“ Das Leben konnte manchmal wirklich ironisch sein. Ausgerechnet dieser Song schallte in diesem Moment aus den Kopfhörern des Tigermädchens, welche lose um ihren Hals hingen. Es passte zwar perfekt, aber es trug nicht dazu bei, die Stimmung zu entschärfen.

„Okay... ähmm... die Musik gefäl...“

Woher hatte er es gewusst? Hatte er es ihr einfach angesehen? Die Zeichen waren da gewesen. Man hatte ihr Zähneknirschen fast schon hören können. Ihre Augen waren in Flammen aufgegangen. Ihre Muskeln waren angespannt gewesen. Er hätte viel früher reagieren können und sollen. Oder der Professor hätte wenigstens etwas sagen können. Spätestens als sie ihre Krallen ausfuhr. Aber in dem Moment war es so oder so schon zu spät gewesen. Sie war blitzschnell gewesen, ließ die Krallen vorschnellen, war direkt vor ihn getreten, hatte ihn angefaucht. Das Fauchen war allerdings kein Klein-Katzen-Fauchen gewesen, es tendierte eher in die Richtung eines Dämonisch-Katzen-Fauchens. Fast schon angsteinflößend. Aber natürlich war das noch lange kein Grund, der Michael dazu bringen würde, sein Verhalten auch nur im geringsten zu ändern. Er war nach wie vor voll davon überzeugt absolut das Richtige zu tun.

„Okay, du brauchst mich gar nicht so anzufauchen. Ich reagiere darauf echt allergisch. Man kann doch über alles reden.“

Das gerade dieser Kommentar wieder mal einen sehr ironisch sarkastischen Unterton hatte, war mit Sicherheit der Entschärfung der Situation nicht zuträglich. Ganz im Gegenteil. Es war eher sicher, dass er alles nur noch schlimmer gemacht hatte. Wohl das große Talent des Erdmutanten Michael Stone. Sollte eine Situation noch nicht aus dem Ruder gelaufen sein, so lässt sich das alles einrichten, wenn man sich nur die entsprechende Mühe gibt. Natürlich war es auch so, dass sie auf seinen Kommentar hin nur noch wütender reagierte und ein weiteres Mal recht eindrucksvoll ein Fauchen hören ließ. Michael ließ sein Grinsen fallen, verzog sein Gesicht recht merkwürdig und krempelte seine Ärmel hoch.

„So, jetzt ist aber Schicht im Schacht. Papa wird böse.“

Doch bevor er wirklich seinen ersten Schritt machen konnte, hatte sie längst reagiert. Sie war schneller als er, aber zum Glück nicht schneller als seine Kräfte. Während sie abgesprungen war, hatte sie einen Fuß gegen seine Brust, oder viel eher gegen eine Steinplatte vor seiner Brust, gesetzt und sich abgestoßen. Ein sehr kräftiger Stoß durch den sie sanft durch die Luft segelte und elegant aufkam, während Michael zurück geworfen wurde und unsanft und unästhetisch neben dem Professor über den Boden rutschte. Allein der schützenden Platte war es zu verdanken, dass keine Knochen gebrochen waren.

„Also, ich wusste es.“

„Dann hätten sie auch was sagen können, Professor. Ich hätte mir vielleicht weh tun können.“

„Etwa schon so alt, dass du gegen ein kleines Kätzchen verlierst?“

„Ha... Ha... wir haben also einen Clown gefrühstückt. Geben sie mir einfach 3 Minuten und halten sie ihre Klappe.“

„Wie der Herr wünscht.“

Michael stemmte sich grummelnd auf, knackte wieder mit seinem Nacken, packte die Steinplatte die noch immer vor seinem Brustkorb klebte, ließ sie zu einer harten Kugel zusammen schrumpfen und warf sie, wobei er sie noch durch seine Kräfte beschleunigte. Allerdings recht ineffektiv. Das Tigermädchen reagierte blitzschnell und wich aus. Er ließ den Stein umdrehen, er würde wie ein Bumerang nun ihren Rücken treffen. Doch sie schien ihn selbst dort zu bemerken und sprang einfach ab, kam kurz hinter ihm wieder herab, streckte ihre Klauen aus, hielt sich fest, wurde durch den Stein selbst beschleunigt und schoss auf Michael zu. Er stemmte beide Hände vor und ließ sie auf eine Erdwand treffen. Ein kurzes Puff.

„Du machst das echt gut, regelst es sehr souverän und sehr erfolgreich.“

„Ich habe eben erst angefangen.“

Die Erdwand verschwand wieder, aber leider war auch das Mädchen weg. Michael machte einige Schritte vor, sah sich um. Wo war sie hin? Sie hatte doch nur Tierkräfte, da konnte man sich nicht in der Luft auflösen. So etwas gab es nicht. Das ging doch gegen jede Logik.
 

Sam fand so langsam Gefallen an diesem kleinen Kräftemessen. Zwar war die eigentliche Ursache für den Kampf jene gewesen, dass er sie gereizt hatte, sie hasste es einfach Kitty genannt zu werden, aber nun, wo der Kampf im Gange war, machte es Spass, ganz besonders ihre tierische Seite genoss es. Eigentlich war es gerade wie bei allen Jungtieren, fast jeder Raubtierspezies. Sie spielen miteinander um elementare Techniken der Jagd zu erlernen. Sie wurden dadurch erwachsen und trainierten ihre Körper. Es ging niemals darum wirklich den anderen zu töten, aber man musste es ernst nehmen, als würde es darum gehen, sonst würde der Sinn verloren gehen. Sam und der Junge verfolgten im Moment einfach nur ein Grundprinzip der Natur. Natürlich brauchte man, für ein gutes Kräftemessen, auch einen Gegner, der einem gewachsen war, was durch den Jungen auch erfüllt wurde. Er schien jemand zu sein, an dem sie sich austoben könnte.

“Face to face, out of the heat”

Natürlich war ungehobelt und frech, vorlaut und großkotzig, auch übermütig und irgendwo arrogant, aber er war ein ernst zu nehmender Gegner und das war das einzige was zählte. Sie grinste leicht und sprang ab, sie hatte sich, nachdem sie auf die Erdwand getroffen war, im Sichtschutz des selben, an das Haus begeben. Über der Tür war ein kleiner Vorsprung, auf dem sie guten Halt fand. Sie gab ihn nun auf, um direkt auf seinen Kopf zusteuern zu können und einen direkten Treffer zu landen. Leider war aber wieder eine Platte aus Stein im Weg, die blitzschnell über ihm erschienen war. Sie sprang erneut ab und landete auf der Erde direkt vor ihm, wo eine Welle, die sich durch das Erdreich fortpflanzte, sie zu Fall brachte.

„Kein schlechter Plan. Erst aufs Vordach und dann auf mich. Nicht übel. Der Plan war praktisch perfekt, aber du hast gesabbert.“

Er hatte eine unglaublich große Klappe. Sams Augen verengten sich noch ein wenig mehr, sie fauchte erneut. So langsam kam auch wieder Wut zu ihrem Kampfverhalten. Ihr Fauchen war ganz eindeutig kampfes- und angriffslustig. Der Junge würde sich vorsehen müssen.

“Hangin' tough, stayin' hungry”

Durch ihren Körper ging ein kräftiger Impuls, Anspannung und Entspannung der Muskeln, ein kleines Kunststück, das sie zurück auf die Füße beförderte. Schnell und effektiv. Eine einfache Übung. Sie brauchte mehr Kraft. Die Verhandlung zum Tiger schritt etwas weiter voran, sie spürte, wie das Potential ihrer Beine anstieg, sie sprang ab. So kraftvoll, dass sich ihre Füße leicht in den Boden bohrten um den nötigen Halt zu finden. Sie segelte leicht durch die Luft, hatte dabei eine recht hohe Geschwindigkeit und steuerte direkt auf ihren Gegner zu. Er sah sie an, schob seine Hände vor. Was würde passieren? Eine Wand? Ein Steinball? Es war nicht berechenbar, seine Kräfte waren zu variabel. Doch es schien nichts zu passieren, nichts das sie aufhielt, ihre Bahn, welche direkt zu ihm führte, wurde nicht unterbrochen.

“They stack the odds 'til we take to the street”

Sie würde ihn erlegen können, es wäre so einfach, sie hatte es schliesslich schon oft in der Wildnis getan. Aber sie hatte dabei noch nie so viel Bewusstsein gehabt.

“For we kill with the skill to survive”

Aber nein, sie würde ihn nicht töten, sie würde ihm nur beweisen, dass sie besser war, dass sie der bessere Kämpfer war und dass er wirklich nur eine große Klappe hatte. Er würde es erkennen müssen und irgendwann würden es alle erkennen müssen, sie war stark, sie würde niemals aufgeben. Sie konnte auch gar nicht aufgeben, es stand dafür zu viel auf dem Spiel. Sie sah, wie er seine Hände sinken ließ, seine Augen waren unsicher, es schien nicht so, als wolle er noch kämpfen. Warum? Sie flog auf ihn zu und landete an seinem Körper, landete in seinen Armen. Es war kein Angriff mehr gewesen. Warum? Sie konnte es nicht mehr, sie hatte es nicht geschafft. Warum? Langsam schloss sie ihre Augen, es wurde schwarz.

“It's the eye of the tiger, it's the thrill of the fight”
 

Michael hätte alles erwartet, nur das nicht. Er hätte erwartet, dass sie kratzt, dass sie ihn schlägt, dass sie ihn beißt, aber er hätte es nicht erwartet, dass sie einfach nur in seinen Armen landen würde. Mitten im Sprung hatte sie plötzlich ihre Energie verloren. Er hatte es gesehen, zum Glück früh genug. Ihr Kampfgeist war verloren gegangen, dieses gewisse etwas, dass was einen Krieger ausmachte. Das Adrenalin schien nicht mehr durch ihren Körper zu schießen. Sie war erschöpft. In dem Moment des Fluges hatte ihn keine wilde Katze mehr angegriffen, da war einfach nur ein geschwächtes Mädchen gewesen und jetzt lag sie in seinen Armen. Er sah ihr ins Gesicht, versuchte es zu verstehen, schaute auf den Boden und sah, wie kleine rote Tropfen sich dort versammelten. Jetzt war es klar, jetzt wusste er auch, was sie verraten hatte. Ihn musste irgendwie ein Tropfen Blut getroffen haben. Michael drehte sie leicht und sah die unzähligen Splitter. Er konnte es kaum glauben. Wie hatte sie damit überhaupt laufen können. Jeder andere wäre längst umgekippt. Ganz davon abgesehen, dass sie gar nicht wussten, wie lange es wohl schon so war. Wie lange lief sie wohl schon mit diesen Dingern herum. Michael sah wie der Professor hinter ihm auftauchte und auf die Wunden herab blickte

„Warum haben sie nichts gesagt?“

„Ich kann die Zeit durchschauen, aber nicht die Menschen. Ich stand an der Tür, alles was ich dann sehen kann, ist die Zukunft, so wie ich sie von der Tür aus erleben würde. Aber in keinem Moment, war sie nah genug, oder langsam genug, als das ich von der Tür aus etwas hätte bemerken können. Es war zu dunkel und sie zu agil. Es war nicht möglich.“

„Ausreden eines alten unfähigen Mannes. Los, wir müssen ihr helfen.“

Michael wartete weitere Antworten gar nicht ab, statt dessen nahm er das bewusstlose Mädchen, deren Verwandlung nun endgültig verebbte, so dass sie wieder wie ein Mensch aussah, wie ein schöner Mensch, aber das war in diesem Moment unerheblich, auf seine Arme und lief los. Er wusste nicht wo er hin müsste, aber er dachte sich, dass er es schon irgendwie finden würde. Krankenzimmer, oder Krankenflügel sollten schliesslich immer so angelegt sein, dass man sie leicht fand. Schliesslich könnte es immer um Leben oder Tod gehen. Jedenfalls war das für Michael nur logisch, so würde er es machen. Dennoch konnte er sich nicht sicher sein, ob er wirklich den Weg alleine finden würde. Aber er konnte sich dessen sicher sein, dass der Professor ihm folgen würde, ihm den Weg weisen würde. Egal was man sagte, der Professor würde seine Haltung bewahren und würde weiter helfen, er war einfach ein guter Mensch. So viel hatte Michael bisher über ihn lernen können. Wenn gleich er es niemals laut aussprechen würde. Und wie voraus gesagt, hatte der Professor, noch bevor Michael die Tür erreicht hatte, schon wieder gleich auf geschlossen, er hatte Michael sogar überholt und die Tür aufgehalten. Danach folgte er und rief die Kommandos zu.

„Rechts... jetzt links...“

Zum Glück war es nicht weit. Michaels Schritte waren lang und schnell, er keuchte leicht, würde aber nicht aufgeben, dennoch brauchte er dringend mehr Ausdauer. Er ran weiter, hörte weiter die Anweisungen und sah schlussendlich die weiße Tür mit ihren 2 Flügeln vor sich. Michael rannte direkt darauf zu und trat sie ein. Die Flügel sprangen auf, er stürmte hindurch, der Professor folgte, auch er war außer Atem, er nahm sich ebenfalls vor, mehr zu trainieren. Sie befanden sich nun in einer Art Warteraum, er war gemütlich eingerichtet, in sanftes gelb gestrichen und er konnte einen beruhigen, jedenfalls wenn man es zu ließ, aber Michael hatte im Moment ganz andere Pläne, als dass er sich beruhigen lassen würde. Er rannte auf die nächste Flügeltür zu, trat sie wieder auf und erreichte endlich die Ärztin des Hauses. Sie reagierte schnell und präzise. Stellte sich auch gar nicht vor, es wäre auch unnötig gewesen. Blitzschnell stand eine Liege auf Rädern bereit, Sam wurde auf dem Bauch darauf gelegt, mit einem Blick sah die Ärztin was zu tun war, es war auch nicht schwer zu erkennen, dann verschwand sie zusammen mit der Liege. Sie verlor auch kein weiteres Wort, nur ein kurzer Befehl hallte durch den weißen sterilen Gang.

„Warten im Wartezimmer.“

Michael und Raphael folgten dieser Anweisung und ließen sich im Wartezimmer auf zweien der gepolsterten Stühle nieder, direkt nebeneinander und warteten. Unerträgliche Wartezeit.

„Bist du plötzlich sozial geworden Michael?“

„Sozial? Sie und ich, wir waren Gegner. Ein ehrlicher Kampf. Und dann muss ich erkennen, dass ich im Vorteil war. Was ist das für ein Sieg?“

„Also, Ehrgefühl?“

„Ach was, hätte ich es vorher gewusst, mein Gott, dann wäre es cool gewesen. Aber sie hat vorher gelogen. Ich hasse das. Ich will gewinnen, weil ich es kann. Und ich will mir nicht vorhalten lassen, dass ich geschummelt hätte. Außerdem brauche ich jetzt einen Rückkampf. Wenn sie abkratzt kann ich mir das in die Haare schmieren.“

„Also, doch nur Egoismus.“

„Natürlich. Die gesamte Welt ist egoistisch. Keiner kümmert sich um den anderen. Jeder ist jedem egal. Das ganz normale Prinzip der modernen Gesellschaft.“

„Deswegen wartest du auch gerade hier darauf, dass sie gesund wird?“

„Gegenfrage: Habe ich etwas besseres zu tun? Sie warten, dass ein Mädchen gesund wird. Ich warte darauf, dass meine Gegnerin versorgt wird, damit ich sie zum Rückkampf fordern kann, um meine Langeweile zu stillen. Sie hätte etwas besseres zu tun, ich nicht.“

„Stell keine Gegenfragen, wenn du sie selbst beantwortest!“

„Stellen sie keine Fragen, wenn sie die Antwort nicht hören wollen!“

Und wieder mal wurde es still zwischen den beiden ungleichen Männern, während auch der Raum schwieg und es für sie so schien, als würde die ganze Schule schweigen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Owl_of_the_Arcane
2009-01-18T10:08:56+00:00 18.01.2009 11:08
du kannst doch nicht an so einer stelle aufhören ! *heul*
erst lässt dus krachen wie irre und dann lässt du uns mit der spannung einfach so inner luft hängen >->
aber ich fand es irgendwie süß. sam setzt zu ihrem letzten sprung an und dann landet sie so einfach in seinen armen *strahl* haste fein gemacht, entwickelt sich da vielleicht mehr als nur reiner Rivalismus ? *neugierig schau*
wie auch immer, lass uns nicht zu lange warten, ja ?
Von: abgemeldet
2008-12-27T19:50:41+00:00 27.12.2008 20:50
das nenne ich doch mal ein Weihnachtsgeschenk. Nicht nur, dass du weiter geschrieben hast, nein du hast so viel geschrieben.
Langsam geraten die Dinge ins Rollen..ich bin schon seeeeeeeeeeeeehr gespannt auf deinen nächsten upload


Zurück