Erinnerungen
„Was hast du da, Reita?“
Reita wandte sich um und erkannte Ruki, der hinter ihm stand und ihm neugierig über die Schulter sah. Damit der Kleine besser sehen konnte, reichte Reita ihm das Foto. Er hatte es rein zufällig gefunden, gestern, beim Aufräumen. Und seither ließ es ihn nicht mehr los. Es schien beinahe so, als hätte es ihm in seinen Bann gezogen.
„Das ist ein Foto von unserem ersten Shoot. Wakaremichi. Mein Gott, ich sehe ja total hässlich aus. So würde ich heute nie wieder auf die Straße oder auf ein Konzert gehen. Kuck mich doch mal an. Mit Anzug und Krawatte. Nie wieder ziehe ich so etwas an!“
Reita lächelte leicht. Ja. Auch das waren seine ersten Gedanken gewesen. Damals und nie wieder. Die Klamotten, die sie bei diesem ersten Shoot getragen hatten, hatte jeder von ihnen mitnehmen dürfen. Reita hatte sie verbrannt. Was die anderen mit ihren Klamotten getan hatten wusste er nicht. Schon komisch, wie sich mit der Zeit alles verändert hatte.
„Oh mein Gott!“, entfuhr es Ruki und er ließ sich neben Reita auf das Sofa plumpsen. „Reita, du hast ja wirklich eine Nase. Die hab ich ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Kuck doch. Man kann deine Nase sehr gut erkennen. Was glaubst du, zahlen die Fans für das Foto von deiner Nase?“
„Ach, halt den Rand.“ Reita grinste jedoch. Bei Wakaremichi hatte er noch kein Nasenband getragen. Ruki hielt das Foto knapp vor seine Augen und schien nur noch Reitas Nase zu betrachten.
„Sieh dir mal Uruha an. Könnte der sich sehen, würde er das Foto, wahrscheinlich zerreißen. Der würde so doch nie wieder auf die Bühne gehen. Du weißt doch, wie sehr er inzwischen auf sein Äußeres achtet.“
Ja, das wusste er tatsächlich. Bevor sie bei einem Live die Bühne betraten war es Uruha, der noch mindestens tausend Mal in den Spiegel sah. Letztendlich fand er nie irgendetwas, das ihm an sich störte. Doch es war eben Uruha. Schon interessant, wie er sich entwickelt hatte. Reita hatte Uruha schon gekannt, noch bevor sie TheGazettE gegründet hatte und der Gitarrist war immer ein wenig schüchtern und zurückhaltend gewesen. Doch inzwischen hatte er ziemlich viel Selbstsicherheit gewonnen.
Vor allem, da er Aoi als seinen kleinen Bruder betrachtete – was natürlich in allen Punkten unmöglich schien. Würde ein Außenstehender die beiden nur einen Tag lang beobachten, könnte er denken, sie wären ein Paar. Dabei waren sie einfach wie Brüder.
Apropos.
„Und? Was sagst du zu Aoi?“
„Der sieht irgendwie älter aus als jetzt. Dabei tut er gar nicht so alt, wie er eigentlich ist, verstehst du?“
Reita nickte nur. Ruki hatte vollkommen Recht und Reita konnte es gar nicht besser ausdrücken. Jedoch war einzig und allein Uruha daran schuld. Eben weil er Aoi als kleinen Bruder ansah, zog er den Rythmusgitarristen immer wieder in die unterschiedlichsten Dinge mit hinein. Sie waren oft…nein, meistens sogar kindischer als Ruki.
„Wir haben uns alle ziemlich verändert.“, begann Reita. „Du bist erwachsener geworden, Ruki.“
„Und du ein Macho.“
„Hey.“ Reita verpasste Ruki eine leichte Kopfnuss und beide begannen zu lachen. Doch Reita wusste, dass noch einer ausstand. Er nahm das Foto wieder an sich und deutete auf das letzte Mitglied von TheGazettE.
„Sag’ was.“, bat er seinen Freund.
„Was willst du denn hören?“
„Die Wahrheit.“
„Yune.“ Ruki zögerte kurz, bevor er weiter sprach. „Er hat sich auch verändert. Sehr sogar. Ich weiß gar nicht, was ich zu ihm sagen soll. Es wäre falsch zu sagen, dass es schlecht ist, dass er die Band verlassen hat, da so immerhin Kai zu uns kam und Kai hat uns weit gebracht, findest du nicht? Andererseits wäre es genauso falsch zu sagen, dass es gut ist, dass Yune uns verlassen hat. Er hat eine Lücke hinterlassen, die nicht einmal Kai füllen kann. Es ist wie es ist. Willst du sonst noch etwas hören?“
„Ist Yune so glücklich, wie wir es sind?“
„Das musst du ihn fragen.“
Reita seufzte schwer. Plötzlich klopfte es an der Tür. Das waren wohl kaum Aoi und Uruha. Die beiden würden einfach die Tür aufreißen und hereinkommen. Und auch Kai würde niemals klopfen. Langsam wurde die Tür geöffnet und herein kam.
„Yun-yun. Wir haben gerade über dich gesprochen.“
„So ein Zufall.“
Reita lächelte. Yune schloss die Tür wieder hinter sich und kam auf die beiden zu. Sachte ließ er sich neben Reita auf das Sofa sinken.
„Wo sind die anderen?“, fragte er neugierig.
„Zu spät.“, erklärte Ruki schnell. „Von den beiden Idioten sind wir das ja schon gewöhnt, aber von Kai? Wahrscheinlich hat er gestern mit Aoi und Uruha wieder einen über den Durst gesoffen und hört den Wecker einfach nicht. Bist du wieder hier um uns zuzuhören?“
Yune nickte. Reita war froh darüber, dass Yune sie noch ziemlich oft besuchen kam und ihnen beim Proben zusah. Die Freundschaft, die zwischen Yune und den andere Membern von TheGazettE herrschte, war nicht abgebrochen, nachdem dieser die Band verlassen hatte.
„Schön, dass du uns wieder zuhören kommst, Yun-yun.“, begann Ruki.
„Ich bin doch euer größter Fan. Und wenn man als größter Fan die Möglichkeit hat seiner Lieblingsband beim Proben zuzusehen, dann lässt man das doch selten aus, oder? Außerdem war ich schon viel zu lange nicht mehr hier. Ich wollte sehen, wie ihr euch so macht und wie es euch so geht. Was hast du da, Reita?“
Yune deutete auf das Foto, das verkehrt herum auf Reitas Schoß lag. Der Bassist hob es hoch und reichte es dem ehemaligen Drummer.
„Fotos vom ersten Shoot.“, erklärte er nur.
„Kami-sama, sehe ich beschissen aus.“
Wo er Recht hatte…
Reita musterte Yune genau. Er hatte sich äußerlich weit mehr geändert. Zwar hatte er noch immer blonde Haare, doch waren sie viel kürzer und passten ihm irgendwie sogar besser, als die etwas längeren Haare. Yune wirkte insgesamt auch weitaus reifer und erwachsener, als früher.
„Yune? Bist du eigentlich glücklich?“, fragte Reita etwas leise. „Oder bereust du es die Band verlassen zu haben.“
Yune sah vom Foto auf und wandte sich an Reita.
„Nein. Ich bereue nichts. Mein Leben jetzt gefällt mir sehr gut. Dieser ganze Trubel ist nichts für mich. Ich kann es nicht leiden, wenn ich Fotos von mir überall im Internet finden kann…Die Wenigen, die im Umlauf sind, würde ich am Liebsten verbannen. Außerdem fühlte ich mich auf der Bühne nicht wirklich wohl. Es bereitet mit noch immer Unbehagen, wenn ich von vielen Menschen angegafft werde. Aber ihr fünf seid richtige Rampensäue. Ihr seid für die Bühne gemacht. Und Kai hat sich doch gut eingefügt, oder?“
Reita und Ruki nickten gleichzeitig.
Der Vorschlag, Kai in die Band aufzunehmen, war von Yune selbst gekommen. Er hatte Kai nur in höchsten Tönen gelobt und hatte dabei Aois vollkommene Unterstützung gehabt. Zusammen hatten sie es letztendlich geschafft auch Uruha davon zu überzeugen Kai in die Band aufzunehmen und diese Entscheidung hatte bis heute niemand bereut. Es war gut, so, wie es war.
Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und herein stürmten Uruha und Aoi. Doch kaum hatten die beiden Yune entdeckten, schrieen sie überglücklich nach dem ehemaligen Drummer und umarmten ihn sofort. Reita beobachtete die drei lachend. Er konnte gar nicht mehr sagen, wer von Uruha und Aoi den anderen zu einem solch kindischen Idioten gemacht hatte, doch egal wer es war, es war gut, wie sie sich entwickelt haben.
„Bitte, seid etwas leiser. Ich habe Kopfschmerzen.“
Reita hatte Kai nicht bemerkt. Doch jetzt trottete der Drummer mit einer Hand am Kopf langsam zum Sofa, ließ sich jedoch am Boden davor sinken und legte sich sofort auf den Rücken.
„Ich will ins Bett, verdammt.“, jammerte er nur.
„Du bist Leader.“, erklärte Ruki breit grinsend. „Verschieb die Probe einfach.“
„Kommt nicht in Frage. Dann füllen mich die beiden jeden Abend ab, wenn ich am Morgen danach jedes Mal die Probe absage. Da müssen wir durch.“
„Du siehst aber wirklich nicht gut aus, Kai.“
„Oh, Yune. Dich hab ich gar nicht gesehen. Schön, dass du hier bist. Willst du nicht anstatt mir spielen?“
„Oh nein.“, warf Uruha sofort ein. „Kommt gar nicht in Frage. Kai soll leiden. Er wird so lange leiden, bis er endlich eine Probe absagt.“
„Idiot.“ Kai setzte sich auf und funkelte Uruha wütend an, der genauso wütend zurückfunkelte. Reita hatte eine böse Vorahnung. Wenn Uruha sich mit Kai anlegte hatte das immer irgendwelche Folgen. Für jeden von ihnen. Kai setzte ganz plötzlich ein siegessicheres Grinsen auf und stand auf.
„Gut, dann proben wir heute eben länger.“
„WAS?“
Uruha sprang auf, während Kai gemächlich zu seinem Drumset schlenderte.
„Kai, das kannst du nicht machen. Das darfst du nicht machen. Bitte. Komm schon Kai-chan. Ich hab dich doch lieb…“
Auch Ruki erhob sich seufzend und schritt zu seinem Mikro und Aoi hängte sich bereits seine Gitarre um. Reita wollte gerade aufstehen, als Yune ihm das Foto zurückgab. Reita nahm es dankend wieder an sich.
„Vermisst du sie? Die guten alten Zeiten?“, fragte Yune.
„Ein bisschen.“, gestand Reita. „Aber letztendlich bin ich ziemlich glücklich im hier und jetzt, egal was früher war.“
„Ich auch.“
„Okay. Wir beginnen mit Wakaremichi, für Yune!“
„Kai, ich will nicht länger proben.“
„Klappe und spiel.“
owari~
