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Vermilion

von

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Der Gefangene

Der Gefangene
 

Ich träumte von Dunkelheit und ich hörte eine Stimme. „Hilfe...“ Sie war ganz leise. Eher ein Wimmern.

„Wer bist du?“, rief ich. Ein überraschtes Schluchzen. „Hilfe...“ – „Ich kann dir helfen, wenn ich weiß wo du bist! Sag mir wo du bist!“ Das Schluchzen entfernte sich. „Wo bist du?“

Ich wachte auf. „Hilfe...“ Es war leise, doch ich hörte es. Es war kein Traum. Ich richtete mich auf und weckte telepathisch Vermilion.

„Wazist?“, murmelte er verschlafen. „Jemand hat nach Hilfe gerufen! Wir müssen helfen!“ – „Du geträumt...“ Er schlief schon fast wieder. „Ich mache mich auf die Suche nach ihm.“

Ich war mir sicher, dass es ein Junge war.

„Viel spaz!“ Und schon schlief er wieder. Ich war sauer, dass er mich nicht ernst nahm. Ich stand auf und zog mir einen der Kampfanzüge von Tokiro an, da ich nicht lange suchen wollte. Ich schlich aus meinem Zimmer und überlegte.

„Wo bist du?“

Ich konzentrierte mich, so gut ich konnte. „Hilfe...“ Ich hatte seine Spur gefunden und folgte ihr.

Ich ging durch das dunkle Haus und folgte dem Hilferuf hoch konzentriert. Er war weit entfernt. Seine Spur führte mich in eine Sackgasse. Vor mir war eine Wand. Ich schaute mich um. Irgendetwas stimmte nicht. Ich hörte wieder das Wimmern.

Ich fummelte an dem Kerzenständer rum, er war das einzige an dieser Wand und es öffnete sich eine Geheimtür. Zufrieden ging ich in den Geheimgang. Ich ließ eine Lichtkugel vor mir schweben, so wie es mir Tokiro beigebracht hatte und gelangte zu einer Weggabelung.

Ich schloss die Augen und suchte nach seiner Spur. Er rief nicht mehr nach Hilfe aber ich hörte sein Wimmern. Ich ging nach rechts. Genauso machte ich mit den anderen Weggabelungen. Ich befand mich in einem Labyrinth und ich vertraute ganz meinem Instinkt. Schon nach kurzer Zeit landete ich in einer Sackgasse. Zumindest auf den ersten Blick, denn ich entdeckte erneut eine Geheimtür.

Ich fühlte mich wie bei den Dämonen. Mich umgaben schwarze Wände an denen Fackeln hingen, doch etwas war anders. Als ich dem Gang folgte, kam ich an Gitterstäben vorbei. Es war eine Zelle. Es saß niemand darin, aber ich sah Blutspuren auf dem Boden.

Jetzt hörte ich das Wimmern, nicht in meinem Kopf, sondern mit meinen Ohren. Der Junge war hier. Ich hörte Stimmen von Männern.

„Das kleine Monster soll endlich die Schnauze halten! Dieses wimmern nervt!“ Ein anderer antwortete.

„Ich sollte ihn wieder eine Tracht Prügel geben!“ Ich spürte, dass die Männer Mitglieder meiner Familie waren. Sie waren um viele Ecken mit mir verwand und ich wusste irgendwie ihre Namen: Nosar und Kirel. Eine Tür wurde geöffnet und ich versteckte mich hinter einer Wand. Ich hörte einen Schlüssel klirren und wie ein Schloss aufgeschlossen wurde.

„Sei endlich still, du Wurm!“ Kirel schrie den Jungen an. Dann hörte ich einen Tritt und mein Herz schlug schneller. Er trat einen Jungen! Was sollte das? Ich atmete tief ein und überlegte, was ich tun sollte. Ich war die zukünftige Herrscherin dieser Familie, sie mussten auf mich hören... Oder? Ich nahm all meinen Mut zusammen und setzte den stärksten Blick auf, den ich hatte. Ich ging ruhig auf die Tür zu, die Kirel gerade aufgeschlossen hatte.

Es war ein schäbiger, kleiner Raum, ohne Fenster oder Licht. In einer Ecke kauerte eine kleine Gestalt, die umbarmherzig den Füßen Kirels ausgeliefert war.

„Hör sofort damit auf, Kirel!“ Ich war selbst überrascht von der strenge in meiner Stimme. Der Mann drehte sich schockiert um. „Was zum... Was machen Sie denn hier, Prinzessin?“ Prinzessin... Wie das klang.

„Ich will sofort wissen, was hier los ist!“ Nosar kam hinzu. „Was ist denn los? Was zum...?“ Als er mich sah verbeugte er sich. „Was machen Sie denn hier?“ Ich sah ihn völlig gefühllos an.

„Ich möchte aufgeklärt werden. Was ist hier los?“ „Das ist nur ein Kriegsgefangener, Majestät.“ Jetzt sah ich die zusammengekauerte Gestalt deutlicher. Es war ein Junge, etwa in meinem Alter. Seine Haare waren silbergrau und er hatte, wie ein Dämon, spitze Ohren. Er hatte ausdruckslose goldene Augen und war völlig abgemagert. Er machte sich so klein wie möglich und wimmerte leise.

Ich konnte es nicht ertragen. Sein ganzer Körper war übersät mit Wunden. Mir kamen fast die Tränen, doch ich schluckte sie runter.

Ich musste jetzt stark sein. „Dieser Junge ist nicht älter als ich, wie könnt ihr ihm nur so etwas antun?“ Ich schrie sie förmlich an. „Er ist nur ein Monster...“ – „Ein Lebewesen!“ Ich war so wütend, wie nie zuvor. Die beiden Männer fühlten sich beleidigt. Ein Kind schrie sie an.

Ich funkelte die beiden an und ging zu den Jungen. Dieser versuchte verzweifelt, sich noch kleiner zu machen. Er zitterte am ganzen Leib.

„Was habt ihr ihm nur angetan!“ Nosar schnaubte verächtlich. Ich war so wütend, dass sich in meiner Hand, wie von selbst ein Feuerball bildete. Es war nur ein Kleiner, doch ich schleuderte ihn Nosar an die Brust. Dieser fiel zurück auf den Boden. Im nächsten Augenblick sprang Kirel vor und griff mich an.

Ich brauchte mich nicht zu schützen, denn im selben Augenblick sprang Kunan aus dem Nichts hervor und schlug Nosar nieder. Kirel rappelte sich auf und griff Kunan an, dieser schlug ihn so schnell KO, dass meine Augen gar nicht hinterher kamen.

„Danke.“, nuschelte ich. Kunan verbeugte sich nur und verschwand in den Hintergrund. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen. Ich wollte seine Schulter berühren und hockte mich vor ihn, doch er zuckte zusammen und wimmerte laut.

„Keine Angst, ich tue dir nichts!“ Ich strich leicht über seine zerkratzte Haut. Er war völlig verängstigt. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Wie konnte man nur einen Kind so viel Leid zufügen? Der Junge sah mich ängstlich an, hörte aber auf zu wimmern. „Hilfe...“ Er sandte mir die Worte telepathisch. „Ja, Hilfe!“, antwortete ich ihm. Er beruhigte sich etwas und ich reichte ihm meine Hand.

Er schaute sie entgeistert an. „Gorran kzing, sgir?” Ich verstand kein Wort. „Ich verstehe dich nicht... Komm mit mir.“ Ich sprach ruhig und freundlich. Zitternd nahm er meine Hand. „Gut so. Komm schon.“ Er stand sehr langsam auf und zitterte am ganzen Leib. Er trug nur so etwas, wie einen schwarzen Lendenschurz.

„Kunan, kann ich deinen Umhang haben?“ Ohne zu zögern zog er ihn aus und reichte ihn mir. Ich legte ihm den Umhang um. „Jetzt wird alles wieder gut.“ Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und beruhigte mich. „Weißt du, wie wir zurück kommen, Kunan?“ Kunan nickte und ging voran. Ich folgte ihm langsam, denn der Junge schwankte stark. Seine Beine waren voller Schnitte und blaue Flecke. Er war größer als ich, deshalb konnte ich ihn auch nicht tragen. „Kunan, kannst du ihn tragen? So kommen wir nicht voran.“ Kunan nickte und beugte sich nach vorn. Ich half dem Jungen auf seinen Rücken. Er stäubte sich, meine Hand los zu lassen, also hielt ich sie fest. So gingen wir die dunklen Gänge zurück.

Wir machten uns auf den Weg in mein Zimmer, doch ich entschied mich eine Tür weiter zu gehen.

„Vermilion!“ Er schlief immer noch tief und fest. Ich ging auf ihn zu, wobei ich Kunan und den Jungen mit mir zog. „Wach endlich auf!“

Er öffnete die Augen. „Ist schon Morgen?“ Er realisierte, dass noch andere Personen im Raum waren und richtete sich ruckartig auf. Ich schaltete das Licht an und der Junge auf Kunans Rücken fing an zu wimmern. Er war Licht anscheinend nicht gewöhnt. Vermilions Augen weiteten sich.

„Wer oder waz ist denn daz?“ Er musterte den seltsamen Jungen genau. Er hatte eine schneeweiße Haut, doch man sah fast nur blaue oder grüne Flecken, sowie ziemlich viele Schnittwunden und Schmutz. Er fluchte leise etwas auf Dämonisch.

„Lass ihn bitte runter Kunan.“ Wortlos setzte er den Jungen ab. Dieser flitzte so schnell wie er konnte unter Vermilions Bett.

„Würdest du uns bitte allein lassen?“ Kunan verbeugte sich, wie immer, wortlos und verließ auf leisen Sohlen den Raum.

Vermilion beugte sich unter sein Bett und flüsterte dem Jungen etwas auf Dämonisch zu. Dieser antwortete kleinlaut.

„Er haben angst.“, erklärte er mir. „Ich weiß! Ich habe ihn in einem Verließ hier im Haus gefunden! Kannst du das glauben? Meine eigene Familie haben ein wehrloses Kind misshandelt!“

Ich lief wütend im Zimmer auf und ab. Der Junge sagte etwas auf Dämonisch und Vermilion ermahnte mich. „Du machen ihn angst, Eve! Nicht so laut!“ Ich entschuldigte mich.

Tausend Dinge schwirrten mir im Kopf herum. Ich musste mit meinen Eltern reden, unbedingt. „Ich muss zu meinen Eltern.“, sagte ich laut. Vermilion schaute mich ruhig an. „Es seien sehr spät. Du können morgen mit ihnen reden.“

Er hatte recht aber ich war so wütend.

„Vielleicht wir erst mal Jungen heilen.“, sagte Vermilion so ruhig, wie zuvor. Ich blieb stehen und starrte ihn an. Daran hatte ich gar nicht gedacht, der arme Junge.

Ich setzte mich neben Vermilion und schaute unter sein Bett. Der Junge kauerte sich ängstlich zusammen.

„Hey,“, sagte ich ruhig, „du brauchst keine angst haben. Na komm.“ Ich reichte ihm meine Hand. Er sah sie nachdenklich an. „Hilfe.“, sandte ich ihm telepathisch und er schaute mich überrascht an. Zögernd nahm er meine Hand und kam unter dem Bett hervor.

„Kannst du ihn heilen, Vermilion?“ Er nickte. „Ich seien nicht sehr gut, aber er haben keine große Wunden..“ Vermilion nahm die zitternde Hand des Jungen und schloss die Augen.

Aus seiner Hand strahlte ein rotes Licht. Auch der Junge schloss seine Augen und ich staunte nicht schlecht, als nach und nach eine Wunde nach der anderen verschwand. Der seltsame Junge sah ziemlich gut aus, doch er war noch immer sehr abgemagert. Vermilion öffnete keuchend seine Augen. „Alles in Ordnung, mein Kleiner?“ Er nickte schwach. „Ich muss nur ausruhen.“ Er begab sich wackelig in sein Bett und schmiss sich erschöpft auf seine Matratze.

„Ruh dich ruhig aus, ich kümmere mich um den Rest.“, sagte ich zu Vermilion und richtete meine Aufmerksamkeit auf den Jungen, der mich mit einer Mischung aus Angst und Neugier musterte.

Ich lief ins Bad nebenan, ließ die Badewanne voll laufen und suchte Handtücher zusammen. Ich brauchte nur noch Kleidung, doch wie sollte ich sie beschaffen? Auch wenn er recht abgemagert war, war der Junge größer als ich und vielleicht sogar ein bisschen älter.

Ich ging durch die Geheimtür in mein Zimmer und durchwühlte meinen Schrank. Ich konnte ihn schlecht ein Kleid geben und der Rest war Maßgeschneidert... doch dann kam mir eine Idee. Tokiro hatte mir Anzüge in verschiedenen Größen gegeben und den größten holte ich aus meiner Tasche. Er war weiß mit hellblauen Einzelheiten und dunkelblauen Nähten. Es war ein sehr hübscher Anzug und würde ihn sicher stehen, doch zuerst musste der Junge baden.

Ich ging zurück in Vermilions Zimmer, wo der Junge an der gleichen Stelle saß und mich neugierig beobachtete. Die Wanne war fast voll und ich stellte das Wasser ab. Jetzt war alles vorbereitet, aber wie sollte ich ihn baden? Einen älteren Jungen!

Bei Vermilion hatte ich keine Probleme, er war so etwas wie ein kleine Bruder für mich, aber bei diesem Jungen war es etwas anderes. Vermilion war noch zu erschöpft, ihn konnte ich nicht fragen.

Blieb nur noch einer, aber würde er es machen? Zweifellos, wenn ich es ihm befahl. Ich wusste nie, ob Kunan etwas nicht gefiel, er hatte immer den gleichen Gesichtsausdruck und sagte nie einen Ton. Ich wollte ihm nichts befehlen, was er nicht machen wollte...

Ich hatte sowieso keine Wahl.

Leise öffnete ich Vermilions Zimmertür und flüsterte Kunans Namen. Er tauchte aus dem Schatten auf und verbeugte sich. Ich bat ihn herein und schloss hinter ihm die Tür. Ich wurde rot und schaute beschämt zu Boden. „D... Der Junge muss Baden, ich..“ Ich war total nervös, also atmete ich tief ein und riss mich zusammen. „Ich kann ihn nicht baden, dass gehört sich nicht. Kannst du mir helfen?“

Es sah fast so aus, als hätte sein Mundwinkel sich für eine Millisekunde gezuckt. Aber nur fast. Er verbeugte sich und ging auf den Jungen zu, dieser duckte sich ängstlich. Er hatte offensichtlich Angst vor Männern. Kunan blieb stehen und schaute mich an. Ich ging zu dem Jungen und tätschelte seinen Kopf.

„Alles in Ordnung. Er tut dir nichts, siehst du?“ Ich nahm Kunans Hand und die des Jungen. Langsam führte ich sie zueinander, bis Kunan schließlich seine Hand hielt. Ohne mit einer Wimper zu zucken führte er den Jungen ins Bad und schloss die Tür hinter sich. „Vielen Dank!“, rief ich ihm hinterher.

Es war so ruhig, dass ich mir schon ein wenig sorgen machte. Wieso brauchten die so lange? Ich setzte mich zu Vermilion aufs Bett, dieser schlief schon wieder fest.

Was war der Junge eigentlich? Er sprach dämonisch, aber war garantiert kein Dämon. War er vielleicht so etwas wie ein Mischling? Diese Lösung kam mir immer wahrscheinlicher vor. Goldene Augen, silberne Haare, spitze Ohren, schneeweiße Haut. Wie passte das zusammen? Ich wusste nur, das er etwas magisches hatte und er ziemlich gut aussah.

Endlich hörte ich die Türklinke und Kunan kam mit dem Jungen aus dem Bad. Wie verändert er aussah! Er wirkte nicht mehr wie der ängstliche, abgemagerte Junge, den ich aus dem Verließ gerettet hatte, sondern wie ein ziemlich hübscher Jungendlicher, der ein weißes Licht ausstrahlte.

Seine Haare waren Schulterlang und sahen so aus, als hätte man sie mit einem Schwert geschnitten. Sie waren sehr hell und wirkten im Licht wie dünne Silberfäden. Seine schneeweiße Haut war makellos und er sah in dem weißen Kampfanzug fast wie ein Heiliger aus.

Der Junge klammerte sich an Kunans Arm und schaute mich nervös an. Seine Augen stachen aus seiner weißen Erscheinung heraus, wie goldene Sterne. Ich konnte den Blick gar nicht mehr von ihm lassen.

Kunan ging auf mich zu und verbeugte sich, der Junge klammerte sich noch immer an Kunan. Ich konnte meinen Blick endlich von dem Jungen abwenden und lächelte Kunan dankbar an. „Vielen Dank, Kunan.“ Kunan nahm die Hände des Jungen von seinem Arm und gab sie mir. Er drehte sich um und verließ geräuschlos das Zimmer. Meine Zuneigung zu diesem Mann wuchs stetig.

Der Junge zitterte nicht mehr, er hatte wohl endlich begriffen, dass ich ihm nichts tun würde. Er sah sich neugierig in Vermilions Zimmer um und schaute dann zu mir.

Ich lächelte so freundlich ich konnte. „Eve!“, sagte ich und zeigte auf mich. Dann sah ich ihn fragend an. Er schaute mich nachdenklich an und schüttelte seinen Kopf. Ich seufzte enttäuscht. „Wie soll ich dich dann nennen? Ich kann dich ja schlecht Junge nennen.“ Der Junge lies meine Hand los und schaute mich unsicher an, als würde er gleich umfallen. Ich ließ ihn gewähren und setzte mich wieder zu Vermilion aufs Bett. Ich strich meinem schlafenden Freund durch sein Wuschelhaar.

Der Junge schaute mich mit einem Blick an, den ich nicht richtig deuten konnte. Neugier? Verwunderung? Ich wusste es nicht recht, aber ich spürte wie mich die Müdigkeit übermannte. Ich war todmüde, denn ich hatte diese Nacht kaum geschlafen. Den folgenden Tag wollte ich meine Familie zur Rede stellen, dazu musste ich ausgeruht sein. Ich schaute den Jungen an und deutete erst auf ihn dann auf Vermilions Bett.

„Schlafen!“, sagte ich zu ihm. Er reagierte nicht. Ich gähnte und stand auf. „Ich gehe jetzt schlafen, morgen werde ich alles klären.“ Ich klopfte auf das Bett und zeigte dann auf ihn. Er schien zu verstehen und nickte. Ich ging auf die Geheimtür zu und schaute noch einmal zu meinem schlafenden Freund und den weißen Jungen, der sich jetzt vorsichtig auf das Bett zu bewegte. Ich schaltete das Licht aus und wünschte beiden eine gute Nacht. Ich war so müde! Als ich in meinem Bett lag, schlief ich fast augenblicklich ein.
 

Es war noch dunkel als ich merkte, wie meine Beine immer schwerer wurden. Ich erschrak nicht und irgendwie wusste ich, dass es der Junge war. Ich spürte etwas scharfes an meiner Kehle. Er wollte mich umbringen und es überraschte mich nicht, ich verstand selbst nicht, warum.

Hatte ich es unbewusst in seinen Augen gesehen, die klüger wirkten, als er sich gab?

Irgendwie hatte ich geahnt, dass es soweit kommen würde. Ich öffnete die Augen und sah direkt in das mondbeschienene Gesicht des Jungen. Er weinte. Stumme Tränen rannen an seinen Wangen hinunter.

„Was nun?“, fragte ich leise. Er sah in meine Augen. Ich sah, wie ein innerer Kampf in ihm loderte. Irgendetwas hielt ihn zurück, mich umzubringen.

„Wenn du auch nur einen Muskel bewegst, wird dich Kunan umbringen. Das weißt du!“ Ich flüsterte noch immer.

„Das ist es wert, oder?“, zischte er wütend.

Ich reagierte nicht. Es war also wirklich alles nur gespielt gewesen. Er hatte so unschuldig getan, damit ich ihm vertraute und man ihn unterschätzte. Er konnte mich verstehen und sprach fast ohne Akzent.

„Ich töte die Nachfolgerin dieser Barbaren und sterbe dann. Das Opfer ist es Wert!“ Seine Tränen tropften auf mein Gesicht. „Und was hätten dein Leben dann für einen Sinn gehabt? Du bist noch jung und ab jetzt bist du frei, ich kann dich zu deiner Familie bringen...“

Der Druck auf meine Kehle wurde stärker und ich hörte es neben mir rascheln.

„Meine Familie?“, zischte er noch wütender. „Meine Familie? Ich habe keine Familie! Ich werde niemals frei sein, so was wie ich wird immer der Abschaum sein, hier und auch bei denen!“ Er deutete mit den Kopf auf Vermilions Zimmer.

Ich umfasste sein Handgelenk und zog seine Hand mit sanfter Gewalt von meiner Kehle. Er wehrte sich nur halbherzig. Ich schloss meine Augen und verband meinen Geist mit seinem. Ich fühlte seine Wut, seine Angst und seine unglaubliche Einsamkeit. Doch da war noch mehr. Ich fühlte, dass er ein Mitglied meiner Familie war!

Ja, ich war mir absolut sicher. Sein Name... „Kibo.“ Er starrte mich entsetzt an. “Deine dämonische Mutter hat dich “Hoffnung” getauft. Und dein Vater war Toya, ein Cousin meiner Mutter.“

Kibo sprang aufgewühlt von meinem Bett. „Das reicht!“, schrie er mich an. Ich richtete mich auf. „Du bist mit mir verwandt.“ Er funkelte mich an. „Mein so genannter Vater hat meine Mutter missbraucht, ganz sicher!“ Ich setzte mich auf meine Bettkante. Mir tat der Kopf weh, vom vielen Konzentrieren.

„Nein.“, antwortete ich ruhig. „Er war ein guter Mann, bevor er starb. Er...“ Das, was ich spürte, beunruhigte mich. „Er wurde von seinem Bruder getötet.“, sagte ich geschockt.

„LÜGNERIN!“, schrie mich Kibo an. „Wenn er sie nicht misshandelt hat, wieso ist sie dann immer noch...“ Er stockte.

„Immer noch was?“, fragte ich.

„W- Wieso ist sie dann immer noch da? Wieso ist ihr Geist nicht im Jenseits?“

Ich hockte mich vor ihn. Er sah also den Geist seiner Mutter. Wahrscheinlich war er deshalb nach all den Jahren Gefangenschaft nicht verrückt geworden.

„Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, aber ich bin erst seit kurzem hier. Dämonen haben mich bei meiner Geburt von meiner Mutter getrennt und ich wuchs bei den Menschen auf.“ – „Wieso erzählst du mir das? Glaubst du, mich interessiert das?“

Ich lächelte. „Worauf ich hinauf wollte, ist, dass meine Mutter einen Zauber gesprochen hat, der allen Schmerz von mir nahm und mich beschützte. Im Gegenzug übernahm sie meinen Schmerz und fiel in einen tiefen Schlaf.“

Er schaute mich verwundert an. Ich beugte mich zu ihm herüber und flüsterte. „Mütter machen alles für ihre Kinder, egal was mit ihnen selbst geschieht. Sie will dich beschützen, Kibo. Selbst wenn sie ihre Seele dafür opfern muss.“ Tränen stiegen in seine Augen und rannen stumm seine Wangen entlang. Er umschlang seine Beine und weinte in seine Beine hinein.

Aus dem Nichts tauchte eine durchsichtige junge Frau neben ihm auf.

„Geh weg!“, schluchzte er. Er konnte sie wohl spüren. Sie beugte sich zu ihm hinunter und berührte sanft seine Schulter.

„Geh endlich, ich brauche dich nicht mehr!“ Niemand rührte sich.

Es war ein seltsamer Anblick, diesen weiß leuchtenden Jungen dort im Mondlicht weinen zu sehen, getröstet vom Geist einer Dämonenfrau.

„Ich werde ihn beschützen!“, flüsterte ich kaum hörbar. Der Geist der Frau drehte sich zu mir. „Er steht unter meinem Schutz, wenn sie es zulassen.“

Obwohl die Frau durchsichtig war, konnte ich alle Facetten ihres Gesichtes sehen. Auch Kibo schaute auf.

„Wenn ich ihn beschütze, zusammen mit meiner Familie, können Sie dann endlich gehen?“ Sie sah traurig zu ihrem Sohn und dann zu mir.

„Mein Kind ist alles, was zählt. Kannst du es? Kannst du ihn beschützen, wie es eine Mutter kann?“

Konnte ich es? Ich war noch jünger als er, doch ich hatte durch meinen Rang viel Macht. Doch wie viel genau, konnte ich noch nicht mal erahnen.

„Vielleicht schaffe ich es nicht alleine, aber ich habe viele Freunde.“ Ich schaute in die Richtung, in der ich Kunan vermutete. Er kam einen Schritt aus dem Schatten hervor und verbeugte sich.

Ich sah sein Spiegelbild in den Augen der Dämonenfrau und sah so etwas, wie vertrauen und doch auch angst.

„Du hast es gehört, Mama! Du kannst endlich gehen, du siehst es doch, ich bin sicher.“ Er schleuderte den kleinen Dolch, mit den er mich bedroht hatte, weg.

Der Geist der Frau verschwamm für einen kurzen Augenblick, wurde dann aber sofort wieder klar.

„Eines Tages wird mein Geist ruhe finden, doch noch kann ich nicht gehen.“

Auf Kibos Gesicht trat entsetzen. „Du sollst nicht wegen mir so Leiden, Mama! Du willst doch gehen, das weiß ich!“ Kibos Mutter schaute voller Sehnsucht zum Vollmond.

„Ich möchte zu ihm...“ An Kibos Gesicht erkannte ich, dass er nicht wusste, was sie meinte.

„Also haben sie sich geliebt?“, fragte ich leise. Sie nickte. „Er war so ganz anders, als alle anderen. Er war mein Seelenpartner...“ Ich spürte, dass sie die Wahrheit sagte.

Toya war ein guter Mann und er war gut mit meiner Mutter befreundet gewesen. Ob sie wohl wusste, dass er tot war?

Kibos Mutter erhob sich und schaute zu Kunan. Dieser hatte sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt. Die Augen der beiden trafen sich und ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich kannten.

Nach einigen Sekunden nickte Kunan und die Dämonenfrau lächelte.

„Ich werde gehen, doch wenn du mich brauchst, komme ich zurück, mein Sohn.“ Sie beugte sich zu ihrem erstaunten Sohn hinunter und gab ihn einen Kuss auf die Stirn. Dieser nickte nur und der Geist seiner Mutter erleuchtete hell.

Sie flog direkt auf Kunan zu, der sich nicht bewegte. Das Licht flog durch ihn hindurch und verschwand dann.
 

Es war totenstill in meinem dunklen Zimmer. Nach einigen Minuten erklang Kibos brüchige Stimme. „Sie ist weg, oder?“ – „Du hast es gehört.“, antwortete ich. „Sie wird gehen, doch wenn du sie brauchst, kommt sie zurück.“ Er stand auf. „Dann sollte ich dafür sorgen, dass ich sie nie wieder brauche. Oder, wie du ja selbst behauptet hast, solltest DU dafür sorgen.“, sein Tonfall war so zynisch, was mich schon ein bisschen wütend machte.

„Du glaubst wohl, ich kann das nicht!“ Sein Grinsen sagte mehr als tausend Worte.

„Was willst du eigentlich? Ich kenne dich kaum aber hab die Verantwortung für dich übernommen. Du müsstest mir Dankbar sein, dass ich dich gerettet habe!“ Kibo senkte seinen Blick. „Du hast mich vor deiner eigenen Familie gerettet, ist dir das klar?“

Wir schwiegen beide unangenehm berührt.

„Nicht jeder in dieser Familie ist so. Es gibt auch durchaus verständnisvolle Menschen, wie meine Eltern, zum Beispiel.“ Meine Stimme war nicht ganz so überzeugend, wie ich gehofft hatte.

Kibo schaute mich verächtlich an. „Was glaubst du, wem ich all diese Zeit in eurem Kerker verdanke. Tu nicht so, als wüssten sie nichts davon!“ Ich starrte ihn wütend an. Er kannte meine Eltern doch überhaupt nicht, also was erlaubte sich dieser arrogante Kerl? Ich musste unwillkürlich an Anno denken, die beiden wären ein perfektes Team.

Ich stand auf und schaltete mein Licht an. Meine Augen hatten sich so an die zwielichtige Dunkelheit gewöhnt, dass ich sie erst einmal zusammenkneifen musste. Zu meinem erstaunen hatte Kunan es geschafft an mir vorbei aus dem Zimmer zu schleichen, sodass ich mit Kibo alleine war.

„Und was jetzt?“, raunte er.

„Jetzt werde ich dir beweisen, dass meine Eltern nichts von dir wussten!“, giftete ich zurück. Ich ging zu meinem Schrank und holte die erst beste Kleidung hervor, die ich fand. Wortlos ging ich zu der Geheimtür und zog mich in Vermilions Zimmer um. Dieser schlief immer noch seelenruhig.

Fertig angezogen ging ich zu Kibo zurück und zeigte zur Tür. „Dann lass uns losgehen, ich kann jetzt eh nicht mehr schlafen..“ Kibo zögerte. In seinen Gesicht spiegelten sich misstrauen aber auch angst wieder. „Was ist?“ Kibo schaute auf den Fußboden. „Sie werden mich wieder einsperren...“ Ich seufzte.

„Dieses Haus“, ich machte eine ausholende Geste, „ist ein Haus der Magier. Die Herrscher dieser Art leben hier und doch schläft nebenan in aller Seelenruhe ein Dämon. Du hast nichts zu befürchten, solange ich da bin.“

Er schaute mich nicht ganz überzeugt an, doch folgte mir ohne ein weiteres Wort. Wir gingen auf den dunklen Flur hinaus und neben uns ging eine Tür auf. Eine verschlafene braunhaarige junge Frau schaute hinaus. „Was ist los, Evelyn? Ich hab Stimmen gehört...“ Sie schaute zu Kibo und ihre Augen weiteten sich. „Was zum...!“ Kibo drückte sich an die gegenüberliegende Flurwand und versuchte so unauffällig wie möglich zu wirken. Er hatte wohl nur vor mir eine große Klappe.

„Schon gut.“, beruhigte ich Shirai. „Er gehört zu mir. Ich muss unbedingt zu Mama und Papa...“ „Sie sind glaube ich drüben.“, sagte Shirai ernst und ließ Kibo keine Sekunde aus den Augen.

„Drüben? Wo soll das sein?“ Ich hatte schon des Öfteren gehört, dass meine Eltern „drüben“ waren aber hatte mir nicht viel dabei gedacht, doch ich musste sie unbedingt sprechen.

„In der magischen Welt, in Kigen.“ Ich hörte zum ersten Mal von einer magischen Welt und wurde hellhörig.

„Kigen? Wie komme ich dahin? Ich muss sie unbedingt sprechen, ich muss etwas wissen...“ – „Kann das nicht bis morgen warten? Sie wollten morgen früh zurück kommen.“ Sie hatte endlich den Blick von Kibo abgewandt und schaute nun zu mir hinunter. Ich schüttelte den Kopf. Shirai seufzte. „Dann warte kurz auf mich.“ Sie schloss die Tür hinter sich.
 

„Ich wandte mich an Kibo, der noch immer ängstlich an der Flurwand klebte. „Kennst du diese magische Welt?“ Er sah mich erstaunt an. „Natürlich! Was glaubst du, wo ich herkomme?“ Ich wurde immer neugieriger. „Und wie ist sie so? Gibt es da auch irgendwelche Kreaturen? Oder andere magische Wesen?“ Kibo stutzte. „Du willst mir doch nicht weis machen, du warst noch nie in Kigen! Dann hättest du ja noch nicht mal einen Namen...“ – „Sie hat ihren richtigen Namen auch noch nicht.“, mischte sich Shirai ein. Sie hatte lautlos die Tür geöffnet und stand nun umgezogen vor uns. Kibo erstarrte augenblicklich wieder zur Salzsäule.

Die ganze Zeit hatte Shirai nicht gelächelt und schaute auch jetzt noch sehr ernst. „Folgt mir.“ Sie ging schnellen Schrittes voran und ich zog Kibo hinter mir her. Er sträubte sich, wie eine Katze, die gebadet werden musste. „Das ist keine gute Idee, die sperren mich wieder ein, ich sag’s dir...“, zischte er unentwegt. Ich scherte mich nicht darum. Er reagierte vollkommen übertrieben.

Wir gingen durch etliche Flure und als ich schon dachte wir würden nie ankommen, machte Shirai vor einen großen Tor halt.

Es war ein gigantisches Tor mit Verzierungen am Rahmen und seltsamen Zeichen , die überall auf den Torflügeln glitzerten , als wären sie aus Wasser. Das ich dieses Tor noch nie zu Gesicht bekommen hatte wunderte mich sehr.

Shirai murmelte Worte in einer seltsamen Sprache und ihre Hand leuchtete hellblau. Sie berührte ein Schriftzeichen und das Tor knarrte.

Ich erwartete voller Ungeduld, dass sich das Tor majestätisch zur Seite schwang und eine fantastische Magierwelt entblößte, aber nichts der gleichen geschah. Im rechten Torflügel erschien eine kleine, normale Holztür.

„Halte meine Hand fest!“, forderte mich Shirai auf. Ich nickte und umklammerte ihre Hand. Mit der anderen nahm ich Kibos Ärmel. Kibo schaute mich entgeisterte an, wehrte sich jedoch nicht.

Shirai griff nach der Türklinke und schaute mich noch einmal ernst an. „Mutter und Vater wollten nicht, dass du in diese Welt gehst, solange es nicht nötig ist. Dort sind wir Magier angreifbar und dort herrscht auch Krieg.“ Sie schwieg einen Moment. „aber ich glaube es ist wichtig, dass du begreifst, in was für einer Welt wir leben und was das da ist.“ Sie deutete auf Kibo, dieser wiederum schaute sie nicht an. Ich war vollkommen verwirrt. Wie konnte jemand so nettes, wie Shirai, ein Kind als „das da“ bezeichnen?

Ich hatte jedoch keine Zeit mehr zu Fragen, denn im nächsten Augenblick zog sie mich durch die Tür. Zuerst merkte ich nichts. Es war vollkommen dunkel, doch im nächsten Augenblick hatte ich das Gefühl, als würde ich in ein schwarzes Loch im Boden fallen. Mein Magen spielte verrückt, doch als ich dachte, dass ich mich gleich übergeben würde, war es auch schon vorbei und ich stand auf festem Stein.

„Alles in Ordnung?“ Shirai musterte mich von der Seite. Mir war noch etwas schwindlig aber es ging. „Ja, kein Problem.“ Ich schaute zu Kibo, dieser zuckte nicht mal mit der Wimper.

Wir standen in einer großen, von Fackeln beleuchteten Höhle, die mich ziemlich an die der Dämonen erinnerte. Shirai steuerte zielsicher auf einen der vielen Gänge zu und keine zwanzig Schritte später standen wir im Freien.

Es erinnerte mich immer mehr an meine Zeit bei den Dämonen, denn wir kamen aus einem Berg und vor uns war ein Wald. Shirai drehte sich schnell um und ließ den Eingang verschwinden. Vorher kam allerdings noch Kunan aus dem Loch geflitzt und verschwand wie ein Schatten zwischen den Bäumen.

Diese Gegend ist nicht besonders sicher, aber so kommen wir schneller in Manjaru an. Das ist eine Magierstadt!“, fügte sie hinzu, als sie mein fragendes Gesicht sah.

Shirais Schritte wurden immer schneller und sie sah sich immer wieder um. Ich bewunderte erstaunt den Wald. Die Bäume waren so hoch und dick, wie ich es noch nie gesehen hatte. Außerdem waren sie schneeweiß mit silberfarbenen Blättern. Der Boden und das Moos schimmerten in verschieden Blautönen. So hatte ich mir eine Magierwelt vorgestellt!

Doch plötzlich mischte sich auch ein dunkelroter Rinnsal in das dunkelblaue Moos. Als ich aufsah, bemerkte ich zwei reglose Körper, die einige Schritte vor uns auf dem Boden lagen. Shirai erschrak und riss mich und somit auch Kibo mit sich hinter einen Baum.

„Das waren die Wächter dieses Eingangs, sie waren sehr stark!“, flüsterte mir Shirai entsetzt zu. „Nur jemand sehr Mächtiges könnte sie so zugerichtet haben!“ Mein Herzschlag wurde immer lauter. Jetzt machte sogar ich mir sorgen. Ich hielt die Luft an und lauschte in die Stille. Es war nur Vogelgezwitscher und das Rascheln der Bäume zu hören. Die Vögel klangen viel höher und heller, als ich sie kannte.

Ich wollte gerade etwas zu Shirai sagen, als ich hinter uns etwas rascheln hörte. Ich drehte mich abrupt um und sah gerade noch die Umrisse eines schwarz gekleideten Mannes hinter einen Busch verschwinden. Ein paar Meter neben ihm sah ich noch eine zweite Gestalt.

Ich spürte mehr, als das ich es sah, dass wir umzingelt waren. Auch Shirai hatte es bemerkt und presste mich an sich.

Mein Herz schlug immer schneller. Wir waren die perfekte Zielscheibe für die Männer, die auf dem Hügel neben uns auf uns hinab zielten. Doch hätten wir aus der Deckung des Baumes verlassen, wäre es das gleiche gewesen.

„Was machen wir jetzt, Shirai?“, flüsterte ich und zog ängstlich Kibo ein wenig hinter mich. Shirai schaute ernst zu mir hinunter. Sie hatte den entschlossenen Blick eines Kriegers, der mich ein wenig erschreckte. „Mach dir keine Sorgen, dir passiert schon nichts!“ Irgendetwas an diesem Satz beunruhigte mich. Was hatte sie vor? Shirai nickte kaum merklich dem Baum, der uns gegenüber stand, zu und beugte sich dann zu mir hinunter. „Wenn ich dir ein Zeichen gebe läufst du so schnell du kannst den Weg entlang und drehst dich nicht um! Nicht einen Augenblick, hast du verstanden?“ Tränen schossen mir in die Augen. „Aber...“ Shirai funkelte mich wütend an und ich verstummte. „Verstanden...“

Es dauerte keine zwei Sekunden und ein grüner Lichtblitz schoss vom gegenüberliegenden Baum auf die Männer über uns zu. „Los!“, schrie Shirai und schubste mich auf den Weg. Ich rannte so schnell wie nur möglich los und zog Kibo mit mir.

Wir passierten die beiden Leichen und ich blieb geschockt stehen. Die beiden Männer waren Magier und sie hatten überall Brandwunden und Löcher, dem einen fehlte sogar ein Arm. „Was ist los, wir müssen weiter!“, zischte Kibo gehetzt. Mein Magen drehte sich um und ich war kurz davor mich zu übergeben. „Komm schon!“ Kibo zerrte an meinem Arm, doch ich rührte mich nicht.

„Ich will nicht, dass sie genauso enden!“, sagte ich leise und nun liefen mir Tränen über die Wangen. Ich hörte hinter mir Kampfgeschrei und Explosionen.

„Wenn du jetzt nicht weiterläufst, war ihr Opfer doch völlig umsonst!“ Kibo zog mich ein Stück mit sich. In meinem Inneren tobte ein Kampf. Das, was Kibo sagte stimmte, aber es musste doch noch eine andere Möglichkeit geben!

Ohne lange zu überlegen verließ ich den Weg und lief in den Wald. Kibo folgte mir fluchend. „Was hast du vor?“

In mir keimte langsam ein Plan, der, wenn er gelang, das Leben von Shirai und Kunan retten konnte.

Ich lief so schnell, wie es ging den Hügel hinauf und zurück zum Kampfgeschehen. Dicht gefolgt von Kibo. Ich nutzte den Busch, den die beiden Männer noch wenigen Minuten als Deckung genutzt hatten, nun ebenfalls als Deckung und sah zum Kampfgeschehen hinunter. Neben mir lag ein toter Mann, dessen Gesicht völlig entstellt und verbrannt war. Der grüne Blitz hatte ihn mitten im Gesicht getroffen.

Shirai und Kunan standen Rücken an Rücken einer Schar Dämonen gegenüber und wurden unentwegt angegriffen. Rote Lichtkugeln schleuderten gegen ihre blauen und grünen Schutzschilde. Gleichzeitig feuerten sie Lichtblitze auf ihre Gegner. Aus den Gebüschen um sie herum wurden ebenfalls rote Lichtkugeln auf sie gefeuert. Es mussten an die dreißig Gegner sein! Ich schlich durch das Gebüsch und näherte mich zwei Dämonen, die aus der Deckung eines dunkelblauen Busches unentwegt rote Lichtblitze auf Shirai und Kunan abfeuerten. Kibo trat leise hinter mich und flüsterte mir panisch ins Ohr. „Was soll das? Sie erwischen und noch! Lass uns gehen!“ Shirai sackte ein wenig zusammen. Sie war am Ende ihrer Kräfte.

„Kannst du Angriffszauber?“, fragte ich Kibo leise. „Keine sehr starken.“, erwiderte er verwirrt.

„Und Schutzzauber?“ Er nickte. „Der einzige Zauber, den ich gut kann.“ Sicher war es auch der einzige, der ihm all die Jahre in Gefangenschaft genutzt hatte. „Dann Schütze uns jetzt!“, zischte ich ihm zu und er schaute mich verwirrt an. Dann begriff er endlich und seine Augen weiteten sich. „Das kannst du nicht...“ Weiter kam er nicht ich feuerte zwei hellblaue Lichtkugeln auf die beiden Dämonen. Ich steckte all meine Wut in sie hinein und sie verfehlten ihre Wirkung nicht. Die beiden Männer sanken leblos zu Boden.

Plötzlich schoss eine Salve dunkelroter Lichtkugeln auf mich zu. Sie prallten wirkungslos an einem weißen Schutzschild ab. Ich schlich weiter durch das Unterholz. Ich war schon jetzt völlig erschöpft, doch ich ignorierte es. Erneut traf ich auf einen Dämonen. Dieser bekam nicht einmal mit, was ihn da von der Seite traf und sackte sofort in sich zusammen. In diesem Augenblick war ich Tokiro unglaublich dankbar für seinen Unterricht! Von rechts kamen zwei große Lichtblitze auf mich zu, doch Kibo hatte nicht übertrieben mit seinem Können. Das Schild hielt auch dem Stand.

Viele der Dämonen hatte jetzt unsere Anwesenheit bemerkt und teilten sich auf. Die eine Gruppe kämpfte weiter mit Shirai und Kunan, die andere Hälfte kam auf Kibo und mich zu.

Ich atmete tief ein und konzentrierte mich. Vor mir erschienen sechs blaue Lichtkugeln. Ich spürte die Bewegung der Dämonen und schickte jede Lichtkugel zu einen anderen Dämonen. Alle sechs trafen und keiner der sechs Dämonen überlebte. Acht weitere Dämonen griffen mich an. Kibos Schild musste einiges aushalten und er schnaufte vor Anstrengung. Ein besonders großer Lichtblitz durchbrach den Schild und streifte meinen Oberarm. Warmes Blut floss aus einer tiefen Wunde. „Tut mir Leid...“, keuchte Kibo. „Egal!“, zischte ich durch zusammengebissenen Zähnen. Ich nahm all meine Energiereserven und erschuf fünf Lichtkugeln. Es gab einen lauten Knall, der von Kunan verursacht wurde, und ich nutzte diese Ablenkung, um mich fünf Gegner zu entledigen.

Die letzten Drei kamen mit gezogenen Schwertern auf uns zu und wir mussten notgedrungen unsere Deckung verlassen. Einer der Dämonen holte uns schnell ein und sein Schwert raste auf meinen Kopf zu. Es prallte einige Zentimeter vor meinem Hals an einem weißen Schild ab. „Danke!“, zischte ich außer Atem. Kibos goldenen Augen blitzten Kampfeslustig. Ich schaffte es nur noch eine Lichtkugel zu erschaffen schleuderte sie dem Dämonenmann entgegen. Er wehrte die Kugel mit seinem Schwert ab und sprang auf mich zu. Kibo stieß mich zur Seite und aus seinem Arm schoss eine kleine weiße Flamme direkt durch das Herz des heranspringenden Dämonen.

Die letzten beiden Dämonen umkreisten uns lauernd und in ihren Augen blitzte Mordlust. Sie griffen gleichzeitig an. Weder Kibo noch ich hatten noch Kraft. Ich schloss meine Augen und in diesem Augenblick fand ich einen Raum in meinem Geist, den ich nicht kannte. Ich öffnete ihn und eine Schier unglaubliche Menge an magischer Kraft durchströmte mich. Ich fühlte diese Kraft durch jede Ader fließen. Es war, als würde ich im lauwarmen Wasser liegen und die Zeit stehen bleiben würde. Ich nahm meine Umgebungen wie durch einen hellen Schleier wahr. Die beiden Dämonen waren noch immer in der Luft und Kibo hielt sich schützend die Arme vor sein Gesicht. Ich ging auf Kibo zu. Die Szene änderte sich nicht.

Ich wusste irgendwie, was ich zu tun hatte. Im Geist ertastete ich die Aura von Shirai, Kunan und Kibo. Ich durfte ihnen nicht Schaden, sie mussten verschont bleiben!

Ich atmete tief ein und breitete die Arme aus. Explosionsartig wich der Magiestrom aus meinem Körper und tötete jeden einzelnen Dämonen, auch die, die bei Shirai und Kunan waren.
 

Ich spürte noch dumpf, dass ich auf dem Boden aufschlug. Ich fühlte mich unglaublich leer und müde. Ich wollte nur noch schlafen! Kibo schüttelte mich und rief irgendetwas, aber ich hörte nichts. Schemenhaft nahm ich wahr, dass auch Shirai und Kunan auf mich zu rannten. Ich war so müde... Meine Augenlider wurden immer schwerer und mein Körper fühlte sich plötzlich bleischwer an. Ich konnte nicht mal mehr einen Finger bewegen.

Jemand schlug mir leicht ins Gesicht. Warum ließ Shirai mich nicht einfach schlafen? Ich wollte ihr sagen, dass sie mich schlafen lassen sollte, aber es kam nur ein Stöhnen aus meinem Mund. Sie hörte nicht auf mich zu rütteln und ich konnte nicht schlafen. „Bleib bei mir!“, hörte ich ihre Stimme aus der Ferne. Ich bin doch hier, dachte ich verwirrt.

Ich öffnete halb meine Augen, meine Lider waren so unglaublich schwer. Ich konnte Shirais verweintes Gesicht nur schwer erkennen. Dann hörte ich Stimmen, doch es war mir egal. Lasst mich doch einfach schlafen, dann geht es mir wieder gut!

Ich war schon dabei meine Augen zu schließen, als ich meine Mutter erkannte. Sie hatte sich zu mir hinabgebeugt und meinen Kopf zu sich gedreht. Ihre klaren Augen drangen tief in meinen Kopf ein. „Du darfst jetzt nicht schlafen, mein Schatz!“, hörte ich ihre klare Stimme in meinem Geist. „Ich bin aber so unglaublich müde! Nur ein Bisschen...“, antwortete ich erschöpft. Ich schloss meine Augen und spürte schwach, wie meine Mutter mich in den Arm nahm. „Irgendwann wirst schlafen, aber nicht jetzt, nicht heute!“ Etwas Warmes durchströmte meinen Körper und mein Verstand wurde wacher. Ich begriff langsam, warum ich nicht schlafen durfte... „Werde ich sterben, Mama?“ Ich sah ihre klaren Augen in meinem Geist und sie schüttelte lächelnd ihren Köpf. „Nicht heute, nicht jetzt!“

Als ich diesmal meine Augen öffnete sah ich alles wieder klarer. Shirai weinte und verbarg ihr Gesicht an der Brust meines Vaters, der wie versteinert auf mich hinab sah. Eine größere Gruppe von Magiern hatte sich auf der Lichtung versammelt und einer der Männer hatte Kibo den Arm auf den Rücken verdreht. Dieser war so erschöpft, dass ihm der Schweiß von der Stirn lief.

Meine Mutter hielt mich noch immer fest umklammert in ihrem Arm.

Ich hob schwach meine Hand und zeigte zitternd auf Kibo. „Lasst... ihn... in Ruhe! ... Gehört... zu mir!“, brachte ich schwach hervor. Der Magier ließ ihn abrupt los und Kibo fiel erschöpft zu Boden. Shirai löste sich von Vaters Brust und stürzte sich glücklich auf mich und meine Mutter. Endlich ließ auch meine Mutter mich los und ich fühlte mich ein wenig kräftiger. Sie sah erschöpft und bleich aus. Shirai stützte sie, als sie sich wieder aufrichtete und mein Vater trug mich auf seinen Armen. Freudentränen glitzerten in seinen Augen. Ich lächelte matt. Mein Blick suchte Kunan, der, wie immer schweigend, hinter meinem Vater stand. „Kümmere dich um Kibo, ja?“, meine Stimme war brüchig. Kunan verbeugte sich und ich sah, während ich weg getragen wurde, dass er sich zu Kibo hinunter beugte und den erschöpften Jungen in seine Arme nahm und hinter mir her trug.

Wir liefen eine lange Strecke und jedes Mal, wenn der Schlaf drohte mich zu übermannen, kam wie auf ein Stichwort meine Mutter und gab mir neue Kraft.

Nach einer Stunde, die mir wie Tage vorkam, erreichten wir die Stadt. Ich bekam nicht viel mit und nahm nur am Rande die vielen verschiedenen Stimmen wahr. Irgendwann wurde es ruhiger und der schweigsame Zug der Magier war in einer großen hellen Halle angekommen.

Ich hörte wie sich Schritte langsam entfernten und schnelle Schritte auf uns zukamen. „Eure Majestät!“, hörte ich die Stimmen von Dienern. Mein Vater folgte einer Dienerin in eines der vorbereiteten Krankenzimmern. Ich hörte, wie man sich ebenfalls um Shirai, Mama und Kunan kümmerte und war beruhigt. Wir hatten es tatsächlich geschafft, wir hatten alle überlebt!

„Das war so unglaublich dumm von dir!“, sagte mein Vater leise und legte mich sanft auf das weiche Bett. „Du hättest umkommen können und dann hätte ich dich schon wieder verloren!“ Stumme Tränen rannen an seinen Wangen hinunter. Er strich mir zärtlich den Pony aus dem Gesicht und drückte mir ein Kuss auf die Stirn. „Mach so etwas bitte nie wieder, hast du verstanden?“ Ich war zu schwach um zu antworten und nickte bloß.

„Eure Majestät!“, räusperte sich eine junge Magierin hinter meinem Vater und zupfte nervös an einem Verband. „Ich muss mich jetzt um ihre Wunden kümmern!“ Mein Vater schaute erst auf meinen blutenden Arm und dann auf seine blutverschmierte Kleidung. Er wurde etwas blasser, nickte und verließ das Zimmer. Die Magierin entledigte mich geschickt meiner Kleidung und kümmerte sich mit flinken Händen um meine Wunden. „Die ist sehr tief, die muss ich nähen, Prinzessin!“, sagte sie als sie meine Wunde am Oberarm reinigte. Ich nickte erschöpft.

Sie seufzte entzückt. „Wie tapfer ihr doch seid!“ Sie holte Nadeln und Faden hervor und murmelte einige Zauberformeln vor sich her. Der Schmerz in meinem Arm verschwand und ich spürte nicht einen Stich. Als sie fertig war verband sie genauso geschickt wie schnell meinen Arm. Die anderen, kleineren Wunden heilte sie mit Magie. Zum Schluss wusch sie mich und zog mir neue saubere Kleidung an. Ich fühlte mich erfrischter, doch wieder drohte mich ein bleischwerer Schlaf zu übermannen. Die junge, blonde Magierin beugte sich besorgt über mich und nahm meine Hand in ihre. Sie flüsterte etwas und warme Kraft durchströmte mich. Sie war bei weitem nicht so mächtig wie bei meiner Mutter und so versiegte schon nach kurzer Zeit der Kraftstrom und die Magierin sank erschöpft zurück, ohne dass ich mich wirklich besser fühlte.

„Ich hole Eure Mutter!“, sagte sie nervös und verschwand schwankend aus dem Zimmer.

Eine Welle Müdigkeit durchdrang mich. Ich schloss die Augen und konzentrierte meinen Geist auf mein innerstes. Es war vollkommen leer. Wo ich sonst immer das blaue Licht meiner Magie sah, war schwarze Leere. Aber da war noch etwas anderes. Eine Kammer, wie die, die ich öffnete, als ich all die Feinde getötet hatte. Aber es gab nicht nur eine. Je mehr ich mich konzentrierte, desto mehr Kammern entdeckte ich. Sie waren aller voller Magie. Waren das meine Kraftreserven? Ich beschloss, eine zu öffnen und so die Leere in meinem Inneren zu füllen. Es funktionierte. Die Magie durchströmte meinen Körper und ich fühlte sie in jeder Pore.

Die Müdigkeit verschwand schlagartig und ich fühlte mich völlig erfrischt.

Ich öffnete die Augen und richtete mich auf. Außer einem dumpfen Stechen im Oberarm, war ich wieder völlig wieder hergestellt. Diese Magiekammern in meinem Innern waren wirklich nützlich.

Ich stand auf und schlüpfte in die bereitgestellten weißen Hausschuhe. Überhaupt war in diesem Raum alles weiß oder aus Kristall, was alles etwas edler aussehen ließ. Ich öffnete die ebenfalls weiße Tür und fand mich in einem marmorierten Flur wieder. Die runde Decke befand sich etliche Meter über mir und wurden von riesigen Marmorsäulen gehalten. Auch hier war alles weiß. Ich ging in die Richtung aus der ich die Aura meiner Familie wahrnahm.

Sie befanden sich alle in einer riesigen, weißen Halle mit etlichen Säulen und zwei wunderschönen Thronen aus Kristall am anderen Ende.

Shirai und mein Vater unterhielten sich aufgebracht und nervös mit Großvater Aldebaran. Es ging wohl um meinen kritischen Zustand. „Du musst die Priester holen, sie stirbt sonst.“, sagte Shirai aufgebracht. Ich lief so leise, wie möglich auf die drei zu. Keiner bemerkte mich, stellte ich amüsiert fest. „Dilia kann sie nicht ewig am Leben halten. Es zerrt jetzt schon an ihren Kräften, sie wird immer schwächer!“, mischte sich auch mein Vater ein. „Sie können aber nicht vor morgen hier sein, versteht das doch.“ Großvater klang so besorgt wie noch nie. „Und was jetzt? Sollen wir sie abwechselnd am Leben halten, bis die Priester kommen?“, fragte Shirai nervös. „Aber dann wären wir angreifbar.“, stellte mein Vater fest. „Dann lasst es doch einfach.“, mischte ich mich ein. Ich stand jetzt genau hinter ihnen. Sie drehten sich erschrocken um. „Evelyn!“, rief Shirai überrascht und entsetzt fügte sie hinzu, „Bist du ein Geist?“ Ich lächelte. Geister waren doch nicht so materiell. Mein Vater war leichenblass und nur mein Großvater schaute mich ernst an. Gerade als er etwas sagen wollte, stürmte meine Mutter herein und rief ganz aufgeregt. „Schatz, sie ist weg! Ich wollte gerade nach ihr sehen, die Heilerin sagte, dass es ihr schlechter geht und...“ Sie verstummte und schaute mich entsetzt an. Im ersten Augenblick dachte sie wohl auch, ich wäre ein Geist. Doch im nächsten fiel sie mir erleichtert um den Hals. „Es geht dir wieder besser, wie schön!“ Sie drückte mich so fest, als hätte sie angst, ich würde mich wirklich gleich auflösen.

„Mir geht es gut, Mama, aber ich krieg gleich keine Luft mehr!“, sagte ich gelassen. Sie ließ mich los und wischte sich eine Freudenträne aus ihrem strahlenden Gesicht. „Wie ist das nur möglich?“ Shirai trat näher an mich heran und berührte unsicher meinen Kopf. Plötzlich zog sie mich an sich heran und umarmte mich schluchzend. „Du kleiner Idiot.“, schniefte sie. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst fliehen und was machst du?“ Sie schluchzte laut. „Aber Shirai, ich wollte nicht, dass du stirbst!“, sagte ich entschuldigend. „Und Kunan auch nicht!“ Mein Vater blieb sprachlos und umarmte mich als nächster, nachdem mich Shirai endlich frei gelassen hatte. Langsam ging es mir auf die Nerven.

Großvater schien der einzige zu sein, der sich nicht freute. Er musterte mich misstrauisch. Wie aus dem Nichts tauchte hinter ihm Anno auf und musterte mich so feindselig wie immer.

„Es war weit und breit kein lebendiger Gegner mehr zu finden.“, sagte er leise. Großvater nickte. „Im welchen Umkreis?“, fragte er. „4 Kilometer!“, antwortete Anno und ich wurde leicht nervös. Hatte ich das etwa getan? Mein Vater ließ mich auch endlich los und wandte sich ebenfalls an Anno und Großvater. „Gab es irgendwelche Verluste auf unserer Seite?“, fragte Großvater und ich musste schlucken. Ich hatte nicht erwartet, dass ich so großen Schaden angerichtet hatte und mich nur darauf konzentriert, Shirai, Kunan und Kibo zu schützen.

Anno schüttelte seinen Kopf. „Es waren nur Familienmitglieder in der Nähe. Sie haben keinen Kratzer abbekommen und alle berichteten von einer riesigen, magischen Schockwelle, die jeden Dämonen getötet hatte.“

Es herrschte einige Sekunden lang unangenehme Stille. Dann wandte sich Großvater an mich. „Das, was du getan hast, kann kein Magier überleben. Du hast die Kammer deiner Kraftreserven vollkommen geleert, das bedeutet für jeden Magier den sofortigen Tod!“, erklärte er mir ernst. Ich schaute meine Mutter an. „Dann hast du mich gerettet, oder Mama?“ Meine Mutter schaute mich ernst an. „Ich habe dir genug Kraftreserven gegeben, damit du den Weg hierher überlebst. Ich hätte sie jetzt alle paar Stunden wieder auffüllen müssen, damit du überlebst...“, sagte sie nachdenklich. Ich erinnerte mich an die Kammer mit den Kraftreserven, von denen Großvater gesprochen hatte und fragte ihn danach. „Die Magie, die du angewendet hast, ist so etwas wie ein Kamikazeangriff. Ein Magier tötet sich und alle Feinde im Umkreis, indem er die Reservekammer anzapft und seine ganze Magie auf einmal entlädt. Dadurch behält er aber keine Magie mehr in seinem Körper und stirbt.“, erklärte mir stattdessen Anno im hochmütigen Tonfall. Meine Mutter strich mir gedankenverloren über den Kopf.

„Hat jeder Magier nur eine Reservekammer?“, fragte ich zaghaft. Ich konnte nicht glauben, dass sie so erstaunt waren. Großvater nickte. „Eigentlich schon. In seltenen Fällen haben einige zwei Kammern. Unsere Hohepriester, die mächtigsten aller Magier, haben sogar drei.“, erklärte er mir. Ich konnte schlichtweg einfach nicht glauben, was ich da hörte. Was waren denn all die Kammern, die ich in meinem Inneren gesehen hatte? Es waren so viele, dass ich sie nicht einmal zählen konnte!

„Vielleicht hat sie ja zwei Kammern!“, warf Shirai begeistert ein. „Ich meine, es wäre ja möglich, schließlich hatte ihre Urgroßmutter ja auch...“ – „Das sind doch nur Vermutungen!“, unterbrach sie Anno. „Ich finde wir sollten sie richtigen untersuchen und testen, dann können wir uns sicher sein!“ Darauf hatte ich nun wirklich keine Lust, besonders nicht, wenn ich von diesen miesen Schnösel untersucht werden sollte. „Warum hast du überhaupt gefragt, ob man nur eine Kammer hat?“, fragte Großvater ernst. „Hast denn eine zweite geöffnet?“ Alle starrten mich gespannt an. Das Blut schoss mir ins Gesicht. „Das ist doch unmöglich, Großvater!“, mischte sich Shirai erneut ein. „Sie hat noch gar keine Erfahrung mit Magie und ...“ – „Ich glaube schon.“, antwortete ich verspätet auf Großvaters Frage und unterbrach Shirai.

Er nickte. „Etwas anderes konnte ich mir auch nicht vorstellen. Du schaffst Zauber, die selbst die erfahrensten Magier unter uns nicht meistern. Ich glaube das Blut unserer Ahnen ist in dir besonders stark. Mit der richtigen Ausbildung, wirst du sicher eine mächtige Königin.“ Großvaters Worte hatten mich beeindruckt. Allerdings lief ich von so viel Lob wieder rot an.

„Ich werde mein Bestes geben, damit sie diese Ausbildung erhält!“, unterbrach Anno meine Gedanken. Was sollte ich von dem schon lernen können? Wie man fies grinst?

Großvater nickte und wand seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. „Hast du noch mehr solcher Kammern gesehen oder gespürt?“ Shirai lachte. „Ja klar, Großvater! Als ob das möglich wäre.“ Ich überlegte kurz, ob ich die Wahrheit sagen sollte, beließ es aber bei einem Kopfschütteln. Ich wollte nicht Gefahr laufen, dass mich dieser Anno am Ende doch noch untersucht.

Großvater nickte erneut und setzte sich auf einen der vielen Stühle die an den Seitenwänden aufgestellt worden waren.

Ich zupfte meinem Vater am Ärmel, dieser schien mit seinen Gedanken ganz weit weg zu sein. „Papa, eigentlich bin ich ja aus einem bestimmten Grund hier! Es geht um Kibo...“ – „Ach ja!“, unterbrach mich Shirai erschrocken. „Deswegen sind wir hier. Evelyn hatte plötzlich einen Mischling bei sich! Ihr habt diese Kreatur im Wald ja auch gesehen.“ „Hey, wie redest du denn von ihm? Gut, er ist nicht gerade eine Sympathiebombe, aber eigentlich ist er doch ganz in Ordnung...“, sagte ich vorwurfsvoll. „Erst einen Dämon und jetzt einen Mischling. Ganz schön dreist.“, grinste Anno. Mein Vater schaute betreten zu Boden. „Schatz, das ist schwer zu erklären, besonders Kinder verstehen es meistens nicht, aber diese Kreaturen, diese Mischlinge... sie sind...“ Ich schaute sie fragend an. „Eben Mischlinge!“, vollendete Anno ihren Satz. „Sie sind weder Magier noch Dämonen. Sie sind das Produkt eines Hochverrats. Magier und Dämonen sind seit Anbeginn der Zeit verfeindet, sie dürfen sich nicht zusammen tun.“ Anno redete so, als wäre all der Schwachsinn, den er verzapfte ganz natürlich, doch an den Gesichtern meiner Familie sah ich, dass sie genauso dachten.

„Er ist Toyas Sohn!“, sagte ich wütend. Meine Mutter schnappte überrascht nach Luft. „Toya?“ Ich nickte. „Toya war ein guter Mann, das spüre ich und er hat sich eine Dämonenfrau verliebt. Liebe kann man eben nicht lenken.“, versuchte ich zu erklären.

„Gefühle kann man unterdrücken und in diesem Fall wäre das unbedingt nötig gewesen!“, entgegnete Anno. Ich funkelte ihn böse an.

„Was ist mit Toya geschehen, Liebling?“, fragte meine Mutter meinen Vater. Dieser schaute traurig auf den Boden. Er wurde getötet. Das ist schon lange her. Er hatte versucht sich unserem Urteil zu widersetzen...“, erklärte er ruhig. Auch meine Mutter schaute traurig zu Boden. „Er ist immer ein heißblütiger Mann gewesen und stur war er auch.“, sagte meine Mutter mit einem traurigen Lächeln. „Woher weißt du das alles, mein Schatz?“ – „Ihr müsst Kibo nur mal anschauen, dann spürt ihr es auch!“, erklärte ich aufgeregt. „Stellt euch vor, er war seit er ein ganz kleines Kind war, in einem Kerker in unserem Haus gefangen!“, fügte ich entrüstet hinzu. Meine Mutter schaute fragend auf. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte sie meinen Vater. Dieser verhielt sich schon die ganze Zeit so merkwürdig ruhig.

Er seufzte und setzte sich auf die weißen Marmorstufen, die zu den Thronen führten. „Es ist schon so lange her. Es geschah zu der Zeit als wir dich wieder gefunden haben. In diesem schlafenden Zustand und ohne unser Kind. Ich war am Ende.“, erklärte er gequält. Meine Mutter setzte sich zu ihm und berührte sanft seine Schulter. Vater versteckte sein Gesicht in seinen Händen. „Ich habe die Dämonenfrau eigenhändig umgebracht! Ich... Ich war so wütend! Und als ich dann auch noch diesen Mischling sah... Ich konnte nicht anders. Ich dachte nur daran, wie du gelitten hattest, Dilia und wie unser Kind nicht einmal die Chance zum Leben bekommen hatte. Und dieser Mischling wagte es zu existieren. Ich ließ ihn einsperren und befahl, ihn nie wieder frei zu lassen!“ Mein Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Meine Mutter tätschelte sanft seine Schulter. „Ist schon gut, jetzt ist doch alles wieder gut!“

„Nichts ist gut!“, schrie ich wütend. „Du hast einem Kleinkind die Mutter genommen und es dann zu lebenslanger Gefangenschaft verurteilt! Ich dachte du wärst anders... du wärst gut, aber...“ Ich drehte mich wütend um und lief so schnell ich konnte aus der Halle. Es war einfach ungeheuerlich! So Menschenunwürdig! Wie konnte mein eigener Vater so etwas tun?

Ich lief blindlings in eine Richtung. Ich spürte ganz schwach Kibos Aura und rannte auf ihn zu.

Ich erreichte schnell das Zimmer, indem er sich befand. Er hatte gerade zusammen mit Kunan gegessen und kauerte nervös auf der weißen Couch.

Kunan zuckte nicht einmal mit der Wimper als ich völlig atemlos die Tür aufriss und mit verheulten Gesicht eintrat. Kibo erschrak und war mit einem Satz auf den Beinen. „Was ist los? Ist was schlimmes passiert?“ Als ich ihn sah brach es endgültig aus mir heraus. Ich schmiss mich auf die Couch und weinte hemmungslos in eines der Kissen. Kunan trank in aller Seelenruhe seinen Tee aus während Kibo nicht wusste, was er tun sollte und ratlos erst zu mir und dann zu Kunan schaute.

„He, wieso heulst du denn so?“, fragte Kibo mich schließlich barsch. „Wegen dir, du Idiot!“, schniefte ich wütend. „Was soll das denn auf einmal?“ Kibo war völlig verwirrt, dann erschrak er. „Bin ich etwa zum Tode verurteilt worden?“, fragte er mit brüchiger Stimme.

Ich hatte mich ein wenig beruhigt und schaute zu ihm auf. „Nein, ich hab doch gesagt, dir passiert nichts...“ Kibo schnaufte. „Und der Kampf, in den du mich verwickelt hast, war nicht gefährlich?“ Ich antwortete ihm nicht. „Warst du nicht so gut wie Tod?“, fragte er mich leise. Ich nickte und griff dankbar nach dem Taschentuch, das mir Kunan reichte. „So gut wie, aber ich hab es überlebt. Hab nur ne Schramme.“ Ich deutete auf meinen verbundenen Arm.

„Magier sind stärker, als ich dachte.“, sagte Kibo mit echter Verehrung.

Es klopfte an der Tür und Kibo zuckte unweigerlich zusammen. Es war meine Mutter. Kibo sprang mit einem Sprung hinter die Couch. Er hatte wohl wirklich nur eine große Klappe, wenn er mit mir alleine war, dieser Feigling.

„Ist alles in Ordnung, mein Schatz?“, fragte sie mich besorgt. Ich nickte nur.

Meine Mutter setzte sich neben mich auf die Couch und nahm meine Hand. „Deiner Vater ist wirklich kein schlechter Mensch, Schatz. Er war nur sehr verzweifelt und sehr einsam.“ Ich schnaubte wütend. „Und das ist ein Grund eine Frau zu töten und ein Kind einzusperren?“, fragte ich schnippisch. Meine Mutter seufzte. „Normalerweise werden Mischlinge kurz nach, oder noch vor der Geburt getötet.“, sagte sie ruhig. Ich schaute sie schockiert an. „Ist das wahr? Aber wieso?“ Ich war wieder den Tränen nahe. „Mischlinge gehören zu keiner Seite. Sie werden weder von uns, noch von den Dämonen akzeptiert. Es wäre ein schreckliches Leben, dass sie führen würden, als Ausgestoßene.“ Hinter dem Sofa regte sich leise etwas. „Wir töten diese Kinder und die Dämonen nutzen sie als Sklaven. Sie sind für sie nicht viel mehr wert als Hunde, dieses Leben wollen wir diesen Kreaturen ersparen.“ „Sie haben gar keine Chance ein Leben zu führen? Sie sterben entweder oder werden versklavt, nur weil als etwas geboren werden, was wir nicht mögen? Sie haben es sich doch gar nicht ausgesucht, oder? Niemand hat sie gefragt, man wird als das geboren, was man ist. Und das allein reicht als Grund, so etwas zu tun?“ Eine stumme Träne suchte sich den Weg an meiner Wange entlang. In mir breitete sich eine eisige Kälte aus, als wäre jegliches Gefühl von mir gewichen.

„Was du sagst, nun, einige von uns denken genauso, aber in den Köpfen von Generationen hat sich all das festgesetzt, was wir heute für richtig halten. Es war schon immer so, dass Mischlinge getötet wurden, was hat sich geändert?“ Ich schwieg kurz. „Ich bin jetzt da.“ Meine Mutter schaute mich erstaunt an.

„Ich wurde nicht so erzogen, Dämonen zu hassen und mir hat niemand eingetrichtert das Mischlinge getötet werden und das es nun mal so ist. Ich wurde so erzogen, keine Vorurteile zu haben, den Schwachen zu helfen. So bin ich nun mal und das wird sich nicht ändern.“ Meine Mutter schaute mich traurig an. „Hasst du mich jetzt?“, fragte ich leise und schaute zu ihr hinauf. Sie lächelte. „Aber nein. Gerade weil du bist, wie du bist, liebe ich dich.“ Sie zog mich an sich heran. „Dass wir unterschiedlich denken, ist völlig in Ordnung. Doch du darfst nicht denken, dass wir alles woran wir glauben in Frage stellen, weil du denkst, dass es richtig ist. Alte Menschen tun sich schwer Veränderungen zu akzeptieren.“ – „Aber du bist gar nicht alt!“, entgegnete ich. Meine Mutter lachte wieder. „Oh doch, viel zu alt!“ Ich schaute sie verwirrt an. „Denkst du auch, dass Mischlinge kein Recht zu Leben haben?“ Sie schaute mich ernst an und schüttelte dann ihren Kopf. „Du hast mich ziemlich verwirrt und ich denke plötzlich über Dinge nach, die ich vorher einfach wortlos akzeptiert habe.“

Sie schwieg einige Sekunden. „Ich denke, wir haben nicht das Recht darüber zu bestimmen, wer leben darf und wer nicht.“, sagte sich schließlich. Ich lächelte sie dankbar an.

„Wird Kibo in diese Familie aufgenommen?“, fragte ich hoffnungsvoll. Meine Mutter schaute mich traurig an und schüttelte leicht den Kopf. „Ich glaube nicht, dass das geht. Das habe ich nicht zu bestimmen.“, sagte sie entschuldigend.

Ich schaute sie entsetzt an. „Und was wird jetzt aus ihm?“ Meine Mutter löste sich von mir und stand auf. „Fürs erste werde ich dafür sorgen, dass seine Existenz zumindest akzeptiert wird. Das sollte erst einmal genügen. Mehr kann ich wirklich nicht tun.“ Ich schaute sie betreten an. „Trotzdem Danke.“, sagte ich leise.

„Kibo!“, sagte meine Mutter plötzlich und ich musste ihn nicht sehen, um zu wissen, dass er zusammen zuckte. „Tritt hervor, ich möchte dich sehen!“

Ganz langsam erhob er sich. Er schaute meine Mutter nicht an und kam hinter dem Sofa hervor. Meine Mutter ging auf ihn zu und zog sein Gesicht zu sich heran, so dass er ihr in die Augen schauen musste. So verharrten sie eine Zeit lang und meine Mutter musterte ihn ganz genau. Dann ließ sie endlich ab von ihn und Kibo schaute verlegen auf seine Füße.

„Du hattest Recht, Liebling. Toya war ein wirklich guter Mann mit einer aufrechten Art zu lieben!“ Dann wandte sie sich an Kibo und strich durch sein langes Haar. Kibo schaute erschrocken und entsetzt zu ihr hinauf.

„Dein Vater war ein guter Freund von mir. Er hat dich sehr geliebt, denn seine Liebe fließt durch deine Adern, das fühle ich.“ Sie lächelte ihn liebevoll an und verließ dann den Raum. Zurück ließ sie einen völlig verwirrten Mischling, der noch lange auf die Tür starrte.



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