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Das Öffnen der Tür

Ein Band der Freundschaft
von

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Asche wirbelte durch die Luft, formte sie stickig warm und hatte eine drückende Dunkelheit über das kleine Dorf gelegt, denn der noch über den Horizont blinzelnde Sonne gelang es nicht, ihre Strahlen durch die Aschewogen auf die Erde hinabzuschicken; so schien die Welt nur von grellem Orange und Gelb erhellt. Dieses dämonische Licht verzerrte die Schatten zu lauernden Gestalten, verschlang die Gesichter der Menschen auf dem Platz. Die Hölle schien sich in diesem Moment des Stillstandes der Zeit bis in die Welt der lebenden Menschen zu erstrecken und nach ihnen zu rufen; schien ihnen zu schmeicheln und hinterlistig zu flüstern, sie sollten in das Reich des Todes folgen.

Das verheerende Knistern des Feuers und das Knarren der Dachbalken, an denen Flammen leckten, wurde nur von panischen Schreien und hastigen Schritten übertönt. Niemand wusste, was zu tun war, sie rannten durcheinander, in der verzweifelten Hoffnung, auf jemanden zu treffen, dem sie helfen konnten.

Genau in diesem Moment des Grauens, der Panik, der Hilflosigkeit; in genau dieser Sekunde, in der nur Tod in der Luft hing, ertönte ein gellender Aufschrei: „Da ist noch ein Kind!“

Vor der Tür des brennenden Hauses kauerte ein kleiner Junge, schon fast zur Gänze von Flammen umschlossen.

Rasch kämpfte man sich durch die tatenlos stehen gebliebene Menge nach vorn und erreichte ihn noch vor der versengenden Hitze. Wie durch ein Wunder schien er vom Feuer verschont geblieben, war nur mit dunkler Asche bedeckt – doch im Geiste nicht fähig aufzustehen und davonzulaufen.

Ein Mann, ein alter Farmer, sprach hastig auf den Jungen ein, doch kein Verständnis regte sich in den grünen Kinderaugen. Schließlich hob man den Knaben aus den Trümmern und erst, als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte, schien er wieder zum Leben zu erwachen.

Wendig befreite er sich aus dem Griff seines Retters, der sich fest um sein Handgelenk geschlossen hatte, und stürmte erneut auf das brennende Haus zu.

„Mama, Mama!“, brüllte er so laut er es vermochte. Tränen standen in seinen Augen, befreiten sich und liefen haltlos die Wangen hinab.

„Bringt doch endlich das Kind weg!“, rief ein junger Mann durch die Menge, welcher bereits fest in einer Wasser-Transportkette vom Brunnen in der Dorfmitte, hin zum brennenden Haus, eingebunden war.

Einige Sekunden lang schien es, als interessierte sich niemand für den schluchzenden Jungen, doch dann schloss sich eine zierliche, jedoch starke, Frauenhand um seine Schulter und hinderte ihn daran, weiterhin auf die Flammenhölle zu zulaufen.

„Lass mich los, ich will zu Mama!“, brüllte der Knabe die junge Frau an, welche ihn nun mit sanfter Gewalt vor sich her bugsierte. Fort von den Flammen, fort von der Asche, fort von der Angst.
 

Noch fast eine ganze Woche schwelte das alte Gemäuer, bis es endgültig ausgebrannt war; eine Woche, in der es Fynn nicht erlaubt war, das Haus seiner neuen Familie zu verlassen. Oft saß er am Fenster und blickte hinaus, doch von seinem Zimmer aus konnte er das Haus seiner Mutter nicht sehen. Seine Mutter...

Wen auch immer er fragte, niemand wollte ihm sagen, wo sie sich befand. Sie war früh zu Bett gegangen, jenen Abend, und Fynn hatte noch einige Zeit vor der Haustür gesessen und die schillernden Flügel einer Libelle betrachtet, bevor alles um ihn herum grell und unwirklich geworden war. Wäre sein Haar nicht versengt, er hätte nicht mehr sagen können, ob dies alles wirklich geschehen war; ob tatsächlich der Teufel selbst hinaufgestiegen war, um die Welt in eine rasende Hölle zu verwandeln.

Auch heute war ein Tag, an dem Fynn nicht aus dem Haus durfte. Schon seit Stunden starrte er auf die umliegenden Häuser hinaus, versunken in Gedanken, in finstere Gedanken, aus denen es kein Entkommen zu geben schien.

Erst das Zuschlagen der Zimmertür schreckte ihn auf und er wandte sich um. Der Sohn der Familie war hereingekommen und stand nun untätig vor der Tür herum.

Fynn wusste nichts von diesem schwarzhaarigen Jungen, nichts weiter als seinen Namen: Lysander, denn er hatte noch nie auch nur ein Wort mit ihm gewechselt.

Bei diesem Gedanken fragte er sich jäh, ob er eigentlich noch wusste, wie man sprach; hatte er es doch schon lange nicht getan. Sicher war es schon drei Sonnenauf- und -untergänge her, seit er Fanny, das weibliche Oberhaupt des Hauses, das letzte Mal nach seiner Mutter gefragt hatte. Wie üblich hatte sie diese Frage völlig übergangen und Fynn war so wütend und traurig gewesen, dass er sich geschworen hatte, nie wieder mit jemandem zu sprechen.

„Hallo“, sagte Lysander leise und ging, ohne den anderen Jungen anzublicken, an ihm vorbei und setzte sich auf die Matratze, auf der er schon seit knapp einer Woche schlief.

Fynn allerdings beobachtete sein Gegenüber genau, damit ihm keine einzige Bewegung entginge. Noch bis eben hatte er kein Interesse an dem Jungen in seinem Alter gehabt, doch hatte er etwas an sich, das Fynns Aufmerksamkeit erregte. Es war etwas gewesen, das in seiner Stimme mitgeschwungen war, da er sprach, doch Fynn konnte es nicht identifizieren.

Allmählich schien Lysander der andauernden Musterung des Jungen, der nun in seinem Bett schlief, Leid zu sein: „Wieso starrst du mich so an?“

Seine Stimmte war dieses Mal deutlich lauter und fester als zuvor.

Erschrocken zuckte Fynn zusammen und wandte sich erneut dem Fenster zu. Vielleicht hatte er sich geirrt, vielleicht hatte er sich diesen Unterton nur eingebildet, hatte er ihn doch schon so oft gehört und in der letzten Woche vermisst. Es handelte sich um den selben sanften Ton, der stets in der Stimme seiner Mutter zu erlauschen gewesen war, während sie zu Fynn gesprochen hatte. Ein ständiger Begleiter war er gewesen und selbst, wenn seine Mutter ihn ausgeschimpft hatte, hatte er ihm doch immer gezeigt, dass sie ihn liebte.

„Kommt in die Küche, das Essen steht schon auf dem Tisch“, rief eine helle Frauenstimme durch die geschlossene Tür, die eindeutig Fanny zuzuordnen war.

Sofort sprang Lysander auf und eilte zur Tür – erst, da er bemerkte, dass Fynn ihm nicht folgte, wandte er sich um: „Kommst du nicht? Mama hat zum Essen gerufen.“

Fynn antwortete ihm nicht. Sein Blick war wie versteinert aus dem Fenster gerichtet, seine Gedanken in dunklem Nebel gefangen. Zwar hatte er Lysander sehr wohl gehört, doch verspürte er nicht das Bedürfnis, etwas zu sich zu nehmen.

„Fynn?“, fragte der Schwarzhaarige noch einmal und wieder meinte der Angesprochene diesen einen Unterton in seiner Stimme zu hören.

Seinen Namen kannte Lysander vermutlich von den Berichten seiner Mutter, denn Fynn hatte ihr direkt am ersten Morgen, nachdem er in dieses Haus gezogen war, verraten müssen, wie er lautete.

Da nun wieder keine Antwort von ihm erfolgte, sprach Lysander weiter: „Ach, du bist doch blöd!“

Dieser kurze Satz war so voller Energie gewesen, dass Fynn erschauderte.

„Warte...“, begann er jäh, ohne selbst wahrzunehmen, dass er gerade gesprochen hatte, doch Lysander hatte schon die Tür aufgerissen, sie hinter sich geräuschvoll ins Schloss fallen lassen und war verschwunden.

Eine unerträgliche Stille schien sich um Fynn zu legen, begleitet von einer unangenehmen Kälte, welche seine Brust in Besitz zu nehmen schien. Lysanders Worte hatten so eisig geklungen, dass sich sein Herz unwillkürlich zusammenzog. Langsam, sehr langsam, trat er vom Fenster zurück, wandte sich um und starrte auf die geschlossene Tür: der Junge war fort; scheinbar unerreichbar für Fynn – von ihm durch diese Tür getrennt.

Noch einige weitere Sekunden stand er nur da, unentschlossen. Dann jedoch streckte er eine zitternde Hand nach der Türklinke aus, drückte sie hinunter und machte sich auf den Weg in die Küche.
 

In dieser Nacht wurde Fynn, wie fast in jeder, von Alpträumen geplagt; so heftig, dass sein Aufschrei Lysander aus dem Schlaf schrecken ließ. Erschrocken setzte sich dieser auf und blickte sich in der drückenden Dunkelheit nach der Quelle des lauten Geräusches um, bis er ein Stöhnen aus Richtung des Bettes vernahm.

Langsam, fast ängstlich, erhob er sich von seiner Matratze und trat an das Bett heran, auf dem er den Schemen des blonden Jungen erkennen konnte, welcher sich in scheinbar endlosem Kampf mit der Decke hin und her wälzte.

Einige Sekunden stand Lysander einfach nur da, beobachtete das Schauspiel, scheinbar nicht sicher, wie er reagieren sollte. Natürlich war es nicht das erste Mal, dass er die Waise im Schlaf schreien gehört hatte, doch noch nie hatte es so intensiv, so verzweifelt geklungen.

Schließlich rang er sich dazu durch, den immer noch halb Fremden bei der Schulter zu packen und heftig zu schütteln, um ihn aufzuwecken.

„Fynn, wach auf“, wiederholte er dabei ständig, bis der schmächtige Junge im Bett jäh aufhörte, sich gegen den Griff zu sträuben und völlig still, fast ohne ein Geräusch des Atems, dalag.

Erschrocken zog Lysander seine Hand zurück, doch scheinbar hatte es nur einige Sekunden gedauert, bis der Waisenjunge realisiert hatte, wo er sich befand, denn nun begann er heftig zu schluchzen.

In verzweifelter Angst die Tränen verschuldet zu haben, wich Lysander einige Schritte zurück, stolperte über die Matratze am Boden und stürzte. Glücklicherweise war seine Landung weich.

Das Schluchzen des Jungen wurde immer heftiger, er hatte sich inzwischen aufgesetzt und das Gesicht in den Händen vergraben.

Langsam, ganz allmählich, wurde Lysander bewusst, dass es nur der Albtraum sein konnte, welcher Fynn zu Tränen geplagt hatte. Seine dunklen Augen verweilten auf dem zusammengekauerten Jungen, dann erhob er sich erneut. Heftig schien sein Herz zu schlagen, tat seine Unsicherheit kund, doch er schluckte ein Mal krampfhaft und spülte damit alle Zweifel hinab. Beinah stumm wie ein Schatten ließ er sich auf der Bettkante, direkt neben Fynn, nieder, wartete eine Reaktion ab, die jedoch ausblieb. Schließlich drückte er sich an den Rücken des Jungen und legte die Arme um ihn.

„Du brauchst nicht weinen“, sagte er leise.

Tatsächlich verstummte Fynn für einen Moment, fast schien er vergessen zu haben, was ihn gequält hatte, doch dann schluchzte er erneut, heftiger als zuvor; weinte so lange, bis das Herz in seiner Brust, von Wasser befreit, ganz leicht zu sein schien. Dann verstummte er für diese Nacht.

Die Handflächen im Schlaf aneinander gedrückt, teilten sich die beiden Jungen von nun an das weiche Bett. Sie schienen so verschieden, so fremd, und doch hielt sie seit jener Nacht ein tiefes Band zusammen. Noch immer sprachen sie nicht viel, doch sie brauchten die Worte nicht, um den anderen zu verstehen, es war nur Beiwerk für die tiefe Freundschaft, welche sich tief in ihre Herzen gebrannt hatte.
 

„Komm schon Fynn, bis zur Schule ist es doch nicht weit.“

Es war Lysanders Stimme, die, wie immer streng und zugleich freundlich, zu ihm hinüber wehte, während er ihm durch enge Gassen folgte.

Oft hatte er Fanny gefragt, wieso er nicht in die Schule gehen durfte, wie es Lysander jeden Morgen tat, doch sie hatte ihm immer wieder gesagt, er sei noch zu jung für die Schule, aber schon im kommenden Jahr würde er seinen Freund auf dem Schulweg begleiten können.

Nun waren gerade erst einige Wochen vergangen, seit Fynn das erste Mal danach gefragt hatte, doch man hatte beschlossen, für ihn eine Ausnahme zu machen: Es würde für seine Entwicklung förderlich sein.

Fynn wusste nicht, was das bedeuten sollte, doch es war ihm gleich gewesen, er hatte sich sehr gefreut nun endlich auch die Schule kennenlernen zu dürfen. Doch heute war er sich seiner Begeisterung nicht mehr völlig sicher, was ihn dazu trieb, hinter Lysander her zu trödeln, den Augenblick so weit wie möglich hinauszuzögern.

Er hatte Angst. Nie hatte er viel mit den anderen Kindern in seinem Alter zu tun gehabt, hatte lieber draußen auf der Straße gesessen und sich seine eigene Welt geträumt oder Insekten gesammelt – allein. Er wusste nichts über den Umgang mit anderen Kindern.

Bei diesem Gedanken blickte er zu dem schwarzhaarigen Jungen vor sich auf, der ihm ungeduldig entgegenstarrte. Ja, Lysander war anders als die anderen Kinder, die Fynn auf der Straße getroffen hatte: Er mochte sich nicht raufen, hielt auch nichts von Murmelspielen. In dieser Hinsicht war er Fynn so ähnlich, dass es ihn beinah ängstigte. Nie hatte er gedacht, dass es jemanden geben könnte, der so war wie er selbst.

Während sich die Jungen in die Augen blickten, schienen sich die Gesichtszüge Lysanders zu glätten, als könnte er nun verstehen, aus welchem Grund Fynn ihn aufhielt.

„Es ist unhöflich zu spät zu kommen“, sagte er und der sanfte Unterton, der in seiner Stimme mitschwang, erhellte Fynns finsteres Herz. Dann ergriff er die Hand des Blonden und nahm ihn mit sich, führte ihn, zeigte ihm den rechten Weg.
 

In der Schule hatte Fynn noch mit niemandem ein Wort gesprochen, seit er sich vor der Klasse hatte vorstellen müssen, es schien sich auch niemand für ihn zu interessieren. Lysander war zwar auch recht still, doch er wurde stets gebeten, bei jedem Schabernack dabei zu sein, selbst wenn er nur daneben stand und den anderen Kindern zuschaute. Er hatte etwas an sich, das Fynn zu beneiden begann, eine Art, jeden um sich herum glücklich zu machen, ohne seinen eigenen Charakter anpassen oder sich selbst aufzuopfern zu müssen.

Jeden Abend beim Essen fragte Fanny, wie es in der Schule gewesen war, doch nie wusste Fynn eine Antwort darauf. Es machte ihm Spaß, neue Dinge zu lernen und es fiel ihm auch nicht schwer, doch die Anwesenheit der anderen Kinder machte ihn nervös und die geminderte Aufmerksamkeit Lysanders schwermütig.

„Wie ist es denn heute in der Schule gewesen?“

Immer die selbe Frage und immer die selbe Antwort, die Fynn im Kopf herumschwirrte, doch die er nicht in Worte zu fassen vermochte. Und jedes Mal, wenn er schwieg, ruhte ein trauriger Blick Lysanders auf ihm, den er kaum ertragen konnte.

Es waren diese Abende, an denen sich Fynn scheute, zu Lysander unter die Decke zu krabbeln, an denen er lange an der Bettkante saß und darüber nachdachte, auf der Matratze am Boden zu schlafen. Doch noch nie hatte er sich dazu durchringen können, es waren nur noch die Nächte, in denen er seinen Freund für sich allein haben konnte.

In der Schule verschlechterte sich Fynns Situation zusehends, immer wieder kamen Kinder zu ihm, sprachen ihn an, was ihn jedes Mal so überraschte, dass ihm keine rechte Antwort in den Sinn kommen wollte, bis die Jungen mit einer beleidigenden Bemerkung auf den Lippen Kehrt machten und erneut weiter hinten im Klassenzimmer verschwanden.

Sie hielten ihn für „arrogant“ und „weltfremd“, das waren einzelne Worte, welche er aus ihren Unterhaltungen aufschnappen konnte, doch er hatte nicht den Mut, sich zu verteidigen. Es war Lysander, welcher sie in die Schranken wies, wenn sie begannen, Fynn mit Papierkugeln zu bewerfen, um ihn zu einer Reaktion zu zwingen.

Fast körperlich konnte Fynn seinen Zorn spüren, wenn er von seinem Stuhl aufstand und die Stimme erhob: „Hört auf damit, das ist nicht fair!“

In solchen Momenten hob Fynn den Kopf von seinem Pult, um sich nach seinem Freund umzublicken, aufgeschreckt aus seiner eigenen Welt; Momente, in denen er spürte, dass Lysander für ihn da war, immer da sein würde, auch wenn es nicht immer so schien. Doch wie leicht es war, das zu vergessen...
 

Der Abend dämmerte bereits, als sich Lysander von seinen Schulfreunden verabschiedete und gemeinsam mit Fynn den Heimweg antrat. Wie jedes Mal wählten sie eine Abkürzung durch die verschachtelten Gassen und Hinterhöfe der Stadt, in denen kaum eine Straßenlaterne den Weg erhellte.

„Ich hasse die Schule“, sagte Fynn nach einer kurzen Weile und blieb jäh stehen, auf Lysanders Hinterkopf blickend.

„Das ist doch gar nicht wahr“, gab dieser zurück, hielt ebenfalls inne und wandte sich zu seinem Gesprächspartner um.

Dieser hatte ihm bereits mehr als ein Mal erzählt, wie sehr er es liebte, neue Dinge zu erforschen und zu lernen, was Zweifel an seiner Aussage in Lysander aufsteigen ließ.

Einige Sekunden blickten sich die beiden Jungen stumm in die Augen, dann wandte sich Fynn ab, der Hauswand zu, gegen welche er seine geballten Fäuste schlug. Ungezähmte Tränen rannen über seine Wangen, die sich seit Tagen in ihm aufgestaut hatten.

Die fröhliche Verabschiedung zwischen Lysander und seinen Freunden hatte Fynns Schmerz neu entflammt. Er wünschte, er selbst wäre es, der sich frei mit jedem unterhalten konnte, der geschätzt wurde, von dem man sich verabschiedete, in freudiger Hoffnung, ihn bald wiederzusehen.

Inzwischen war Lysander an ihn herangetreten und legte ihm nun die Hände auf die schmalen Schultern: „Du brauchst nicht weinen.“

Dieser Satz beruhigte Fynns Gemüt, ließ sein Herz einen kleinen Hüpfer vollführen. Er hatte ihn nicht vergessen, den Satz, welchen Lysander ihm in jener Nacht zugeflüstert hatte; jener Nacht, in der sie zueinander gefunden hatten, verbunden wurden, Freundschaft schlossen.

„Du musst keine Angst vor den Anderen haben“, fuhr Lysander mit leiser Stimme fort, dann löste er die Hände von den Schultern seines Freundes und blickte zum Himmel hinauf, „Diese Gasse ist voller unsichtbarer Lichter, sie haben auch Angst.“

Verwirrt wandte sich Fynn zu seinem Freund um; er verstand nicht, was er ihm sagen wollte, das erste Mal, seit scheinbar langer Zeit - seit sie das erste Mal miteinander gesprochen hatten.

„Es sind Geister, ich weiß nichts über sie. Niemand sieht sieht sie, so wie dich niemand sieht. Aber ich kann fühlen, dass sie da sind“, erklärte Lysander schließlich, seine Stimme wurde zunehmend leiser, als habe er Angst, Fynn könnte über ihn lachen.

Stattdessen setzte dieser sich, mit dem Rücken zur Mauer, auf den Gehweg nieder und blickte ebenfalls zum Himmel empor: „Warum haben sie Angst?“

Schließlich wandte Lysander den Blick wieder hinab auf das Gesicht seines Freunden, um die Züge, welche noch nicht der Dunkelheit zum Opfer gefallen waren, zu entschlüsseln.

„Sie haben Angst, sich zu zeigen, weil sie fürchten, dass sie niemand mag“, antwortete er schließlich und setzte sich neben Fynn auf den kalten Boden. „Aber wer soll sie mögen, wenn niemand weiß, wer sie sind?“

So saßen sie noch einige Minuten da, Seite an Seite, und blickten zu den erblühenden Sternen empor, jeder in seine Gedanken verstrickt, welche sich dennoch stetig zu kreuzen schienen, bis Lysander sich schließlich erhob und Fynn die Hand entgegenstreckte, um ihm aufzuhelfen.

Verwirrt starrte dieser zunächst nur darauf, ergriff sie dann jedoch, um sich von ihr zurück an den Ort führen zu lassen, welchen er nun sein Zuhause nannte.
 

Lange hatte Fynn in jener Nacht noch wach gelegen. Es war nicht Fannys Standpauke gewesen, welche ihn dazu getrieben hatte, sondern nur die Worte Lysanders, welcher zu dieser Stunde bereits im Schlaf neben ihm gelegen hatte.

„Sie haben auch Angst.“

Immer wieder hatte Fynn seine Augen über die nun schwarze Zimmerdecke wandern lassen, über die Geister nachgedacht; sich gefragt, ob er der erste gewesen war, der erfahren hatte, dass Lysander sie spüren konnte.

Es hatte ihm keine Ruhe gelassen, immer wieder waren seine Gedanken darum gekreist und hatten ihm den Schlaf geraubt, bis er schließlich tief in seinem Herzen einen Entschluss gefasst hatte: Er würde es ihnen vormachen, er würde allen zeigen, wer er war und ihnen beweisen, dass es keinen Grund gab, sich zu fürchten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2007-09-08T21:27:44+00:00 08.09.2007 23:27
Hoi^^

Deine FF gefällt mir richtig gut!
Dein Schreibstil ist flüssig und mitreissend.
Doch muss ich anmerken, dass deine Charaktere und die Umgebungen von der Beschreibung her etwas zu kurz gekommen sind. So fällt es mir immer schwer, mich in die Situation einzufühlen.

Trotzdem richtig schön zu lesen!

Lg
Vindred
Von:  Schreiberliene
2007-08-27T21:17:14+00:00 27.08.2007 23:17
Hallo,
hier mein erster „Comments for Comments“ Kommentar an dich – genieße ihn...^___^

„Asche wirbelte durch die Luft, formte sie stickig und warm. Eine drückende Dunkelheit hatte sich über das kleine Dorf gelegt, denn der noch über den Horizont blinzelnde Sonne gelang es nicht, ihre Strahlen durch die Aschewogen auf die Erde hinabzuschicken; so schien die Welt nur von grellem Orange und Gelb erhellt. Dieses dämonische Licht verzerrte die Schatten zu lauernden Gestalten, verschlang die Gesichter der Menschen auf dem Platz. Die Hölle schien sich in diesem Moment des Stillstandes der Zeit bis in die Welt der lebenden Menschen zu erstrecken und nach ihnen zu rufen; schien ihnen zu schmeicheln und hinterlistig zu flüstern, sie sollten in das Reich des Todes folgen.“

Eigentlich mag ich deinen Anfang; vor allem der hier von mir zitierte letzte Satz klingt gut. Doch beim ersten Teil wirken zwar die Komponenten an sich alle sehr eloquent und literarisch, sobald man sie aber verbindet, wie du es getan hast, klingt es irgendwo schief. Verstehe mich nicht falsch, es gibt schlimmeres, aber es passt nicht perfekt.

„Niemand wusste, was zu tun sei; doch sie rannten durcheinander, in der verzweifelten Hoffnung auf jemanden zu treffen, dem sie helfen konnten.
Doch genau in diesem Moment des Grauens, der Panik, der Hilflosigkeit; in genau dieser Sekunde, in der nur Tod in der Luft hing, ertönte ein gellender Aufschrei: „Da ist noch ein Kind!“ „

Hier nur ein Beispiel für etwas, dass mir negativ an deinem Stil aufgefallen ist:
„Doch“ wird so oft verwendet, dass seine Bedeutung teilweise untergeht. Vielleicht gibt es auch andere Ausdrücke, um das, was du sagen willst, auszudrücken?“ Bei dem sei bin ich mir nicht sicher, ob es dort benutzt werden sollte.

„Vor der Tür des brennenden Hauses kauerte ein kleiner Junge, schon fast zur Gänze von Flammen umschlossen.
Rasch kämpfte man sich durch die tatenlos stehen gebliebene Menge nach vorn und erreichte das Kind noch vor den Flammen. „

Dein Text wirkt recht opulent, auch wegen des stellenweise ungewöhnlichen Satzbaus. Der ist Stilsache, ganz klar, aber hier folgt aus ihm eine unschöne Wortwiederholung – mich ärgert so etwas immer furchtbar.

„Ein Mann, ein alter Farmer, der immer hart für seinen Lohn gearbeitet hatte, „

Das mag jetzt pedantisch klingen, aber diese Beschreibung ist Klischee pur, ohne jegliche Aussagekraft. Entweder du vermittelst diesen Aspekt anders, oder aber du kannst dir den Nebensatz sparen. Das würde besser wirken.

„Fort von den Flammen, fort von der Asche, fort von der Angst.“

Ich muss zugeben, ich bin ein Fan von dieser Art der Wiederholung – in meinen Ohren klingt das sehr schön!

„War sie doch früh zu Bett gegangen, jenen Abend und Fynn hatte noch einige Zeit vor der Haustür gesessen und mit einigen Insekten gespielt, bevor alles um ihn herum grell und unwirklich geworden war. „

Erstens fällt auf, wie sehr du den Insektenpart schon jetzt betonst – ich weiß, es ist schwer, aber vielleicht geht es subtiler? Zudem ist diese Konstruktion grammatikalisch fragwürdig, da keinerlei Sinnzusammenhang zwischen erstem und zweiten Teil besteht, der Aufbau des ersten dies aber nahelegt. Am besten schaust du, ob du nachvollziehen kannst, was ich meine – unter Umständen liegt es aber auch an deinem Stil...

„versenkt „
Ich würde vermutlich versengt schreiben, das kommt dem Wort, glaube ich, näher.

„versunken in Gedanken, in finstere Gedanken, „

Den Teil fand ich klasse, musste sogar kurz lachen.

„Bei diesem Gedanken fragte er sich jäh, ob er eigentlich noch wusste, wie man sprach; hatte er es doch schon lange nicht getan. Sicher waren es schon drei Sonnenauf- und -untergänge her, seit er Fanny, das weibliche Oberhaupt der neuen Familie, das letzte Mal nach seiner Mutter gefragt hatte. Wie üblich hatte sie diese Frage völlig übergangen und Fynn war so wütend und traurig gewesen, dass er sich geschworen hatte, nie wieder mit jemandem zu sprechen. Doch musste er nun feststellen, wie schwierig es ihm fiel, dieses Selbstversprechen einzuhalten. „

Vielleicht verstehe ich es nur falsch, aber in meinen Augen ist es unlogisch:
Er weiß nicht, ob er noch sprechen kann, kann aber das Versprechen, nicht zu reden, nicht einhalten?
Lies mal den ersten und dann den letzten Satz des Abschnittes – eventuell fällt etwas auf.

„Eine unerträgliche Stille schien sich um Fynn zu legen, begleitet von einer unangenehmen Kälte, welche sein Herz in Besitz zu nehmen schien. Lysanders Worte hatten so eisig geklungen, dass sich Fynns Herz unwillkürlich zusammen zog. „

1.Unschöne Wiederholung „Fynn“ und „Herz“
2.Wie zieht sich ein Herz willkürlich zusammen? Du musst bei einigen Wörtern aufpassen, sie scheinen nicht im absolut korrekten Kontext verwendet zu werden.

„„Komm schon Fynn, wir kommen an deinem ersten Tag noch zu spät zur Schule.““

Bekäme ich für jeden Satz in einer Geschichte, der so klingt und als Auftakt eines neuen Abschnittes benutzt wird, einen Euro, wäre ich eine reiche Frau – eigentlich erwarte ich mehr von dir.

„Dieser Satz beruhigte Fynns Gemüt, ließ sein Herz einen kleinen Hüpfer vollführen. Er hatte ihn nicht vergessen, den Satz, welchen Lysander ihm in jener Nacht zugeflüstert hatte; jener Nacht, in der sie zueinander gefunden hatten, verbunden wurden, Freundschaft schlossen. „

Ich finde das Aufgreifen dieses Satzes sehr schön; allerdings erläuterst du mir hier zu viel. Ein einfaches „ Er hatte diesen Satz nicht vergessen“ hätte gereicht – der Leser sollte den Rest noch wissen. So wirkt es irgendwie ungelenk.

„Er würde es ihnen vormachen, er würde allen zeigen, wer er ist und ihnen beweisen, dass es keinen Grund gab, sich zu fürchten. „

Heißt es nicht: Wer er war?

Ansonsten fiel mir noch deine Interpunktion auf – kann es sein, dass ab und zu Kommata fehlen?

Fazit:
Bei deiner Geschichte ist es schwierig, ein klares Fazit zu fällen. Du schreibst recht wortgewandt, hast einen eigenen Stil mit gewissem Wiedererkennungswert, und liegst qualitativ über den Mexxlerischen Durchschitt.
Dennoch würde ich deinen Stil nicht als ausgereift bezeichnen. Er hat seine starken Seiten, klingt aber noch schwerfällig und ein wenig roh; man kann schon erahnen, was daraus werden könnte, aber ausruhen solltest du dich nicht darauf. Schreiben ist ständiges Weiterentwickeln...
Meine Güte, was schreibe ich wieder für weise Worte.

Ich hoffe, ich konnte vermitteln, was ich denke; wenn es noch Unklarheiten oder Diskussionsbedarf gibt, stelle ich mich gerne zur Verfügung.

Alles Gute,
Anna


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