Das Licht untergehenden Sonne fiel durch das Fenster auf einen Schreibtisch, der mit Stiften und Skizzen übersät war. Diana blinzelte. Müde rieb sie sich die Augen. 8 Stunden Zeichnen machten sich bemerkbar. Da halfen auch die Hausmittel nicht mehr viel. Die Cola hatte inzwischen ihre Kohlensäure verloren und dümpelte vor sich hin, der Kakao war kalt und stand vergessen und frierend in einer Ecke des Schreibtisches, der schwarze Tee war inzwischen so bitter, dass sein Gemecker bereits Dianas Vater geweckt hatte und auch der Süßkram hatte längst keine Lust mehr, süß zu sein, sondern probte den Aufstand.
Zum wiederholten Mal radierte Diana an Keis Gesicht herum und seufzte unzufrieden.
„Das wird einfach nichts.“ murmelte sie in ihren nicht vorhandenen Bart.
„Das kannst du laut sagen.“ ertönte plötzlich eine Stimme.
Diana fuhr herum und schaute sich in ihrem Zimmer um.
Niemand.
„Hier unten, du Blitzmerker.“
Und als Diana in die Richtung schaute, aus der die Stimme kam, erblickte sie den halbfertigen Kei, der sie von der Rohzeichnung vorwurfsvoll betrachtete:
„Schau mich an! Ich bin erst im ersten Jahr auf der Uni und sehe schon aus wie Anfang 30.“
„Übertreib’ doch nicht so.“ wehrte sich Diana. „Du siehst keinen Tag älter aus als 25.“
„...plus mindestens 5 Jahre.“ meldete sich eine spöttische Stimme hinter Kei.
„Ach, halt die Klappe, Taylor.“ meinte dieser und drehte sich um, was Emma, die aus einer Zeichenmappe herauslugte, einen Schauer über den Rücken rieseln ließ.
„Mein Gott, Kei, dreh dich wieder um. Du hast keinen Hinterkopf!“ rief sie aus.
„Das ist doch nicht meine Schuld. Wenn sie“ Kei deutete anklagend auf Diana „immer erst das Gesicht zeichnet und meine Frisur, die übrigens ganz schön unpraktisch ist, zuletzt. Hast du eine Ahnung, wie dieser lange Pony kitzelt.“ schmollte er. „Und sag’ du doch auch mal was.“ wandte er sich an Hiroshi, der schuldbewusst aufblickte. Ein zarte Röte lag auf seinen Wangen.
„Was ist?“ fragte Kei. „Was schaust du so?“
Diana hüstelte diskret: „Du hast noch nichts an...“
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„Waaaaaaas?“ schrie der Braunhaarige auf und schaute sich panisch nach etwas um, mit dem er seine Blöße bedecken konnte.
„Ein wenig Reis gefällig?“ fragte ein schwarzhaariger, junger Mann und reichte Kei ein Päckchen koreanischen Diamond-Reis, das dieser schamhaft vor sich hielt.
Diana konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Kei war einfach zu süß.
Hiroshi war etwas enttäuscht, dass sein Liebster nicht mehr im Adamskostüm über die Seiten hüpfte. Aber immerhin blieb ja noch genug nackte Haut zu sehen.
„Du musst dich doch nicht so zieren. In Band zwei wird man sowieso alles sehen.“ grinste Taylor.
Kei lief knallrot an und Hiroshi ergriff die Gelegenheit beim Schopf und schlang seine Arme um ihn. Einen Moment lang genoss Kei die Umarmung. Doch dann wandte er sich plötzlich wieder an Diana:
„Könntest du mich jetzt endlich mal fertig zeichnen? Ich kann Hiro-chan nicht mal richtig küssen, weil ich nur einen halben Mund habe.“ Er deutete auf die immer noch ausradierte Seite seines Gesichtes.
„Hey, beschwer dich nicht. Ich hab ein Loch im Bauch, weil sie diesen dämlichen Danyael mit meinem Messer hat rumfuchteln lassen.“ meldete sich ein blonder Mann mit einem Kinnbärtchen, über dessen linkes Auge sich eine Narbe zog.
„Du wolltest meinen Armreif stehlen, Robin. Und sei froh, dass ich dich getötet habe, so kann sie dir zumindest nicht irgendwelche abartigen Klamotten an den Leib zeichnen. Schau dir dieses Netzshirt an! Da kann ich mir gleich ein Schild umhängen: „Nimm’ mich!“ Nicht, dass irgendwas passieren würde, da ich nur rumsitzen und abwarten kann, bis die werte Mangaka mal geruht, den Doujinshi weiterzuzeichnen.“
Danyael zerrte an dem zarten Gewebe des Netzhemds, bis es schließlich zerriss.
„Baby!“ erklang daraufhin eine Stimme. „Magst du dich uns anschließen?“ fragte mit einem verführerischen Lächeln ein junger Mann mit einer imposanten brünetten Haartolle, die vielleicht ein paar Dosen Haarspray zuviel gesehen hatte. Er räkelte sich mit einem schwarzlockigen Jüngling, der Danyaels nun nackten Oberkörper mit seinen tiefgrünen Augen interessiert musterte, auf einem riesigen Bett. Danyael zuckte erschreckt zurück.
„Matsushita, rette mich!“ rief er.
„Wie denn?“ tönte es aus einer Schublade, wo Diana Illustrationen aufbewahrte. Ein attraktiver Jüngling, um dessen Stirn ein weißes Band geschlungen war, richtete sich auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung.
„Schaut mich an!“ sagte er beleidigt. „Sie hat mich bis jetzt noch nicht mal im Doujinshi auftauchen lassen. Seit Monaten, ach was sage ich, seit Jahren warte ich darauf, dass ich auch mal ein paar Actionszenen bekomme. Aber nein, ich sitze immer noch in dieser Illustration fest.“
Vorwurfsvoll blickte er Diana an, die die Unterhaltung bis jetzt belustigt verfolgt hatte.
„Du hast gesagt, dass ich dein Lieblingschara bin, aber das war wohl nur leeres Gerede, oder?“ fragte der Priester.
„Nein.“ verteidigte sich die Zeichnerin. „Ich mag dich wirklich am liebsten.“
Ein Aufschrei ließ sie zusammenzucken. Kei hatte empört die Hände in die Hüften gestemmt und der Teil seiner Lippen, der schon gezeichnet war, hatte sich zu einem Schmollmund verzogen.
„Du hast gesagt, ich wäre dein Liebling!“ jammerte er.
Diana blickte zwischen dem Priester und dem Möchtegernpiraten hin und her und wollte gerade zu einer Verteidigungsrede ansetzen, als sich zwei neue Stimmen zu Wort meldeten.
„Nun, zumindest können wir sicher sein, dass wir NICHT ihre Lieblinge waren.“ sagte ein junger, blonder Mann, dessen Haare von einem roten Stirnband zurückgehalten wurden und im Nacken zu einem kurzen Zopf zusammengebunden waren. Sein Gefährte nickte. Kabel schlangen sich um seinen Körper und selbst wenn die Zahlen und Leitungsenden auf seinem Körper nicht gewesen wären, hätten seine roten Augen verraten, dass er kein Mensch war.
„Da hast du vollkommen recht, Yun.“
„Sadistin!“ meinte der Blonde an Diana gewandt und schlang seine Arme um Hayate, auf dessen Brust immer noch die Schusswunde zu sehen war.
PITTY SPEZIAL KICK!
Verdutzt starrte Yun die Eule an, die ihm gerade einen Fuß- bzw. Krallentritt versetzt hatte. Der Abdruck ihres Eulenfußes zeichnete sich auf seiner Stirn ab.
„Hey, wofür war das denn?“ fragte er empört, als er sich von der Überraschung erholt hatte.
„Weil es eure Schuld ist, dass sie Mirror nicht weiterzeichnet.“ meinte Pitty trotzig und pickte an einem Kamachi herum, dass panisch zappelte.
„Ach, halt still.“ wurde es von Pitty angefahren. „Ich bin viel niedlicher als du dreieckiger Klops.“
Jetzt griff Diana doch ein. „Lass Kamachi in Ruhe. Ich zeichne Mirror ja weiter. Nur im Moment schaffe ich es eben einfach nicht. Versteht das doch.“ Mit kawaii-Blick schaute die Zeichnerin ihre Doujinshi-Figuren an.
„Keiner hier ist dir böse.“ sagte Emma beschwichtigend und strich ihre roten Locken zurück.
„Du hast gut reden. Du hast deinen Nouvelle, wegen diesem Namen würde ich mich übrigens mal an die Behörde für psychische Misshandlung von Manga-Charakteren wenden, und ihr lebt glücklich und zufrieden bis an euer seliges Ende, wie es schon die Gebrüder Grimm geschrieben haben. Wohingegen keiner weiß, was aus Kei und mir am Ende werden wird, so sadistisch wie sie veranlagt ist...“ antwortete Hiroshi und ließ betrübt den Kopf hängen.
„Oh Captain, habt Ihr Sorgen? Kann ich Euch helfen?“ fragte Kei besorgt.
„... und er hält mich für’n Piraten.“ fügte er hinzu.
Einen Moment lang war es still, aber dann sprang ein SD-Hiroshi auf und rief mit glänzenden Augen aus: „Ich hab’s. Komm, Kei!“ und ergriff die Hand des Brünetten. „Wir verschwinden einfach von hier. Dann kann sie uns auch nicht trennen.“
Kei schaute Hiroshi an, lächelte und nickte zustimmend.
„Nicht wegrennen.“ rief Diana. „Das könnt ihr mir doch nicht antun. Es kommt doch noch soviel Schönes! Bitte, lasst mich nicht allein!“ jammerte Diana.
Aber Kei und Hiroshi begannen zu verblassen.
Diana schluchzte. Die anderen Figuren versuchten sie zu trösten.
„Diana, nicht weinen. Es ist alles in Ordnung.“ flüsterten sie. „Mach dir keine Sorgen.“
Ihre Stimmen vermischten sich zu einer einzigen:
„Wach auf, Diana.“
Die Zeichnerin schreckte auf und blickte in das besorgte Gesicht ihrer Mutter.
„Geht es dir gut?“ fragte diese.
„Ja... ja, ich denke schon.“ meinte Diana unsicher und blickte sich um. Die Skizzen lagen auf dem Schreibtisch und von der Rohzeichnung schaute sie immer noch der halbfertige Kei an.
„Es war nur ein Traum.“ seufzte sie erleichtert.
Als ihre Mutter das Zimmer verlassen hatte, griff sie wieder zum Bleistift und begann, Keis Gesicht zu vollenden. Dabei fiel ihr Blick auf ein Kamachi, das sie auf ein anderes Skizzenblatt gezeichnet hatte. An seiner linken Seite war ein halbrundes Loch zu sehen, dessen Ränder angeknabbert aussahen...
