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Sinnlose Versprechen

von

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Bereits als Jason um die erste Hausecke bog war er völlig durchnässt. Zwar hatte er die Kapuze seiner Jacke weit über seinen Kopf gezogen und doch peitschte der Regen haltlos in sein Gesicht und hinterließ kleine Rinnsale auf seiner Haut. In dem Bewusstsein, dass Holly ihm von ihrem Wohnzimmerfenster aus zugesehen hatte, wie er aus dem Haus gerannt war, hatte er sich dennoch nicht nach ihr umgedreht. Sie mochte einfühlsam und fürsorglich gewesen sein, aber sein Herz verlangte nach jemand anderen. Egal, was hinter Lance’ Auftreten auch steckte, er musste ihn sehen. In seine dunkelblauen Augen blicken und ihm mit seinen Händen sinnlich über die Lippen streichen. Es half alles nichts. So dringend er herausfinden wollte, welche Rolle Lance in den ganzen vertrackten, letzten Ereignissen einnahm, so schmerzhaft war das Bedürfnis, ihn unter seinen Fingern spüren zu wollen. Ob seiner Schwäche biss er sich qualvoll auf die Unterlippe. All sein Stolz war wie weggeblasen. Nicht nur, dass er die letzten Stunden trübsinnig vor sich hin gestarrt hatte, nein, nun war er auch noch dabei, sich nach dem Schwarzhaarigen derart zu verzehren, dass er sogar die vermeintliche tragende Rolle Lance’ fast für nichtig empfand. Eigentlich war er nur aus Hollys Wohnung geeilt, um Lance offen auf sein Wissen ansprechen und ihm dabei vor allem ins Gesicht sehen zu können. Doch nun fühlte er nur noch dieses gierige, schamlose Verlangen in sich, Lance zu packen und unter sich winseln zu hören. Irgendwie konnte er nicht anders als nach diesem Kerl zu lechzen.

Als er schon fast vor ihrer Wohnung stand, blieb er abrupt stehen. Noch immer prasselten die Regentropfen auf ihn hernieder, doch sie waren deutlich weniger geworden. In seiner Brust hämmerte sein Herz unaufhaltsam und verlangte eindeutig nach etwas, das er ihm aber nicht geben wollte. Er musste schleunigst zur Vernunft kommen, ehe er Lance gegenübertrat. Nur mühsam konnte er seinen Atem regulieren und presste dabei seine Rechte fest auf seinen Oberkörper, der nur langsam immer weniger pulsierte. Derart aufgewühlt konnte er seinem Freund nicht begegnen, denn ein wenig Selbstbeherrschung wäre schon angebracht, wenn er schließlich die Wahrheit aus ihm herauskitzeln wollte. Für einen Moment dachte er daran, wie dieser ihm die drei kleinen, berühmten Worte zugeraunt hatte, und mit einem Mal konnte Jason seinen Puls wieder überdeutlich in seinen Ohren spüren. Doch nun war es nicht das Verlangen, das ihn begehren ließ, sondern das demütigende Empfinden, das ihn durchdrang. Entsprachen selbst Lance’ Worte reiner Heuchelei? So weit hatte er bisher noch nicht gedacht, doch vielleicht war dieser Gedanke gar nicht mal so weit hergeholt.

Widerstrebend langte er sich an die Stirn und kniff die Augen fest zusammen. Dass er schon so weit ging und Lance’ Liebe in Frage stellte, ließ ihn ungehemmt aufseufzen. Er war nicht mehr Herr seiner Sinne und dieses melancholische Gefühl in seinem Inneren gefiel ihm gar nicht. Überhaupt den Fakt, dass er so empfänglich für diese Schwermütigkeit geworden war, verfluchte er nonverbal. Wo war seine Gefasstheit geblieben, die er sonst eigentlich immer nach außen kehren konnte? In dem dumpfen, orangenen Schein der Laterne in dem sonstigen Dunkel des späten Abends kam er sich völlig ausgeliefert vor. Nicht nur, dass er das Gefühl hatte, dass jeder, der ihn hier so sähe, direkt in ihn hineinschauten konnte, war er total erschüttert ob seines Befindens. Er konnte kaum glauben, dass die Emotionen auf einmal über ihn derart herrschen konnten. Selbst nach der Erniedrigung durch Zundersby, Fulls und Vanrim war er hoch erhobenen Hauptes gegangen und hatte alles mehr oder minder gelassen hinter sich gelassen. Es war unübersehbar, dass sich seine sich selbst aufgedrängte Abgeklärtheit nun rächte, und er den wachgerüttelten Impressionen hoffnungslos unterlegen war.

Als er endlich wahrlich begriff, wie sehr ihn das niederschmetternde Gefühl, von allen angelogen worden zu sein, im Griff hatte, sackte er in die Knie und stützte sich mit beiden Händen an der kalten Mauer des seiner ehemaligen Wohnung gegenüberliegenden Hauses ab. Der Stein fühlte sich nass und unangenehm an, doch er brauchte irgendeinen Halt, um nicht freiweg umzukippen. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, welch Maß an Emotion in ihm hauste. Natürlich hatte er stets die Gier und die Lust nach kleinen Abenteuern gespürt, ebenso das wohlige Beben, wenn er Lance nahe war, aber jedwede Empfindungen haben nur auf zwei Dingen beruht: auf Sex und Liebe, was für ihn, zumindest seit er Lance kannte, zusammengehört hatten. Aber mehr Gefühlsregungen hatte er an sich nie wahrgenommen. Oder sie vielleicht nie zugelassen, zu welchem Entschluss er gerade gekommen war. Selbst das Anliegen, die Welt ein wenig verbessern zu wollen, war nicht direkt seinem Herzen entsprungen, sondern war einfach ein Bedürfnis gewesen, dem er unbedingt hatte nachkommen wollen. Irgendwie hatte alles nur einem nicht tiefgründigen Begehren geglichen, was er gewollt oder gemacht hatte. Bis auf das Zusammensein mit Lance war alles nebensächlich gewesen. Auch die Kandidatur zum Bürgermeister, auf die er so beharrt hatte. Ja, er hatte etwas verändern wollen, und ja, er hatte dieses Vorhaben durchziehen wollen, aber es war nicht verwunderlich, dass er gescheitert war. Er war nicht zu allem bereit gewesen, um sich diesen Posten unter den Nagel zu reißen. Weder zu härteren Maßnahmen wie Bestechung und eigens veranlasste Korruption noch zur Aufgabe seiner Seele. Das hieß nichts weiter, als dass er nicht mit ganzem Herzen dabei gewesen war, das er zwar im Laufe der Zeit gewiss verloren, doch bis dahin benötigt hätte, um so weit zu kommen. Wenn man dabei erachtete, dass er im Gegensatz zu anderen, die von Anfang an zu fragwürdigen Mitteln griffen, eines hatte. Und dieses eine machte ihm gerade zu schaffen. Es hämmerte unentwegt und wollte sich nicht wieder beruhigen. Dabei fühlte sich sein restlicher Körper vollkommen erschlafft an, matt und stellenweise taub.

Mit Recht hatte er sein ganzes Leben möglichst sorgfrei gelebt. Natürlich war der Tod seines Vaters an ihm nicht spurlos vorbei gegangen, aber das war der einzige wahre Tiefpunkt in seinem bisherigen Dasein gewesen. Und nun musste er erkennen, dass alles, was er getan hatte, ihm insgeheim vorgegeben war. Von außen. Durch die unterschwelligen Worte seines Vaters und durch dessen zweites Gesicht. Man wurde meist unterbewusst geprägt so wie er eben durch Kelvin Sartaren. Vielmehr durch Father Dest, der durch seine Taten die Menschen wachrütteln wollte. Anscheinend war das nicht Jasons eigene Idee gewesen, sondern er hatte wirklich nur das fortgeführt, was sein Vater begonnen hatte.

Grobmotorig richtete sich Jason wieder auf und setzte unsicher einen Fuß vor den anderen. Er wollte nicht länger in Lance’ Nähe sein. Selbst der letzte Drang, diesen andächtig spüren zu wollen, war aus ihm gewichen.

Während er durch die Straßen von Asht-Zero wankte, war sein Blick leer nach vorne gerichtet. Er steuerte direkt auf den Park zu, der geradewegs vor ihm lag. Als er den ersten kleinen Pfad in diesem passierte, stieß er hart mit etwas zusammen. Es war ein Mülleimer, der sich hart an seinen Beinen anfühlte.
 

„Du kommst mir gerade recht“, seufzte der Blonde und trat einmal kräftig auf diesen ein.
 

„Was ist denn mit dir los?“, wurde er mit unterkühlter Stimme gefragt.
 

Jason wirbelte schwankend herum und verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen. Obgleich er den Mann, der vor ihm stand, nicht kannte, konnte er ihn partout nicht ausstehen.
 

„Gar nichts“, zischte er.
 

„Ach ja?“, hob der andere eine Braue. „Sag mal“, kam er näher, „bist du nicht…“

Ein breites Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Dunkelhaarigen aus.

„Sind wir nun schon so weit, dass wir das Eigentum der Stadt beschädigen wollen?“, meinte er betont spöttisch.
 

„Meinst du den da?“, deutete Jason auf den Mülleimer und trat noch mal mit aller Kraft zu, so dass er aus seinen Angeln sprang und laut auf den Boden knallte.
 

„Der Arme kann doch nichts für deine Niederlage“, säuselte der Fremde und verzog theatralisch den Mund.
 

„Halt doch die Klappe. Du weißt überhaupt nichts!“, stieß Jason wütend hervor.

Wusste er denn viel mehr? Außer, dass er niemanden hatte, der nicht in diese ganze Geschichte um Father Dest verwickelt war?
 

„Ich weiß zum Beispiel, dass du keine Chance hast, Bürgermeister zu werden.“ Lachend streckte der andere eine Hand aus und klopfte damit Jason auf die Schulter.
 

Mit einer harschen Bewegung stieß der Blonde sie weg und fauchte sein Gegenüber an.

„Lass deine dreckigen Pfoten von mir!“
 

„Oha. Öffentliche Beleidigungen sind strafbar. Aber mit den Gesetzen bist du sicherlich bestens vertraut“, lächelte der Dunkelhaarige.
 

„Gesetze!“, höhnte nun Jason. „Hochgestochenes Geschreibsel, das die Welt nicht braucht“, fügte er verächtlich an.
 

„Wie sollen sonst Strafen vollzogen werden!? Wenn es sie nicht gäbe, würden immer mehr deines Vaters Gleichen hier herumstolzieren und hirnrissige Mahnungen verschicken.“

Es war nicht zu übersehen, wie viel Spaß es dem Fremden bereitete, Jason zu konfrontieren.
 

„Kann diese verdammte Stadt meinen Vater endlich in Ruhe lassen?“, hörte sich der Blonde sagen. „Verflucht, er ist tot und hat sich sicherlich schon dutzende Male im Grab herumgedreht! Verdammt, lasst mich doch alle einfach in Ruhe!“

Jasons Brust hob und senkte sich unkontrolliert. Obgleich er seinen jetzigen Zustand seinem Vater zuschrieb, konnte er es nicht mehr hören, wie ihn andere Menschen immer wieder als Verbrecher bezeichneten. Ja, er war einer! Aber nicht so, wie sie es ihm Glauben machen wollten. Kelvin hatte ihn vermutlich nur benutzt, damit er das beenden würde, was jener angefangen hatte. Es war so schäbig und doch blitzte Jason den Fremden vor sich böse an.

„Mein Vater…“, drang leise über seine Lippen.
 

„Ja?“, grinste ihn der andere mit einer Engelsgeduld an. Diese Arroganz in den dunklen Augen machte Jason richtiggehend irre.
 

„Nichts ‚ja’! Verschwinde!“
 

„Das ist ein freies Land und du hast nicht das Recht, mich zu vertreiben.“

Galant zuckte er mit den Schultern und sah Jason herausfordernd an.

„Kann man wohl nichts machen, was?“
 

Ehe Jason noch völlig durchdrehte, wandte er sich dem Mülleimer zu, der achtlos auf der Wiese lag und verpasste diesem einen weiteren Tritt, so dass er ein paar Meter von ihnen wegrollte. Anschließend strebte er an, ihm zu folgen, doch eine Hand hinderte ihn daran.

„Nimm deine verdammten Pfoten von mir!“, zischte er.

Er stand kurz vorm totalen Nervenzusammenbruch. Wenn er jetzt nicht ginge, konnte er für nichts mehr garantieren. Seine linke Hand zur Faust geballt zuckte schon Unheil verheißend. Seine Eigenschaft, aufbrausend zu sein, verlangte wohl ein weiteres Mal eine Prügelei, in der er in diesem Fall den Kürzeren ziehen würde. Jeremy aus dieser schwachsinnigen Gang hatte ihn damals auch nur zu Boden zwingen können, weil der Verstärkung von seinen dümmlichen Artgenossen gehabt hatte.
 

„Stimmt, ich sollte mir die Finger nicht schmutzig machen“, meinte der Fremde und ließ Jason so abrupt los, dass dieser fast das Gleichgewicht verlor und einen Schritt nach vorne taumelte.

„Ups, da hat wohl einer Schwierigkeiten, aufrecht zu gehen.“

Amüsiert schlug sich der Kerl eine Hand vor den Mund, doch verbarg mit ihr das Grinsen nicht, das auf diesem lag.
 

Es reichte! In Jason kochte es. Und dieser Zorn, der ihn erfüllte, war ihm groteskerweise auch noch lieber als der schleichende Schmerz, der ihn bis eben noch gänzlich eingenommen hatte. Darum festigte er seine Statur und trat direkt vor den Fremden, um ihn ebenso arrogant anzublitzen.

„Ein großes Mundwerk und vermutlich nichts dahinter“, hauchte er ihm entgegen.
 

Der Unbekannte überragte Jason um einen halben Kopf und war wesentlich muskelbepackter. Spielerisch packte er den Blonden am Kragen und hob ihn ein Stück an. Noch zuckten Jasons Fäuste nur, schlugen aber nicht zu. Alsbald sah er sich dicht an dicht vor dem Fremden wieder. Ihre Gesichter waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Jason konnte dunkelgraue Augen erkennen, die nichts als Geringschätzung in sich trugen. Sie waren ebenso hart in ihrem Ausdruck wie der Rest der Konturen, der der andere vorzuweisen hatte.
 

„Dasselbe kann ich wohl von dir behaupten“, raunte der Größere. „In die Politik gehen ohne je etwas von Eloquenz und Raffiniertheit gehört zu haben.“

Das Grinsen auf den schmalen Lippen wurde abermals breiter.

„Wie soll ein billiger Abklatsch auch zu wahrer Größe neigen?“
 

Jason bebte unter dem Griff, mit dem er ungehindert auf die Fußzehen gezerrt wurde.

„Er hat mich zu dem gemacht!“, spie er aus, ohne darüber nachgedacht zu haben.

Als die Worte jedoch in der Ferne widerhallten, riss er seine Augen weit auf. Wie kam er überhaupt darauf, dass dieser Kerl seinen Vater gemeint hatte? Für einen Moment wurde er unsicher, was sich auch darin bemerkbar machte, dass einiges an Spannung aus seinem Körper wich. Das wurde sofort ausgenutzt, um ihn noch näher an das harte Gesicht zu drängen. Und schon spürte er den heißen Atem des Fremden seine Wange streifen.

„Ich…“, setzte er irritiert an, doch dann schüttelte er den Kopf, wobei er mit seiner Nase immer wieder mit der des anderen in Berührung kam.

Das machte ihn so wild, dass er all seine Kraft dazu benutzte, um seine Hände wieder fest zu Fäusten zu ballen und eine auf die Schläfe, eine in die Seite des Mannes vor ihm sausen zu lassen.
 

Überrascht stöhnte der Fremde auf, doch sein Griff um die Kleidung an Jasons Hals lockerte sich kaum.

„Gewaltbereitschaft statt Diplomatie. Wut statt Selbstkontrolle. Das sind wahrlich nicht die Attribute eines Helden“, säuselte der Dunkelhaarige und wehrte Jasons zweiten Versuch, ihn am Kopf zu treffen, mühelos ab.
 

In Jasons Verstand schaltete sich jedwede Vernunft ab. In den folgenden Minuten schlug er immer wieder auf den Kerl ein, obwohl er nur selten einen Treffer erlangen konnte. Sein Atem wurde immer rasselnder und seine Lunge schrie schmerzhaft auf. Die Hand, die sich immer enger an seinen Hals drückte, trieb ihm zusätzlich die Luft aus den Lungen. Völlig von Sinnen trat und schlug er um sich, bis ihm schwarz vor Augen wurde und er kalten Boden unter seinem Rücken spürte.

„Schwäche statt Stärke…“, vernahm er an seinem Ohr. „Damit hast du nichts, was dich auszeichnet.“

Als ihn nur noch unwirkliche Ruhe einhüllte und er glaubte, sich der Schwere, die auf ihm lastete, hingeben zu können, spürte er erneut etwas Heißes an seinem Ohr.

„Du bist erbärmlich.“
 

Die Worte schallten immer wieder in ihm nach, mal laut mal leise. Mal entfernte sich der Hall, mal kam er betäubend wieder…
 


 

Unter dröhnenden Kopfschmerzen schlug Jason seine Augen auf. Nachdem ihn helles Tageslicht blendete, musste er seiner Schätzung nach ein paar Stunden weggetreten gewesen sein. Er kniff seine Augen fest zusammen, um der Grelle der Sonne zu entgehen, die unter harmlosen Wolken hervorlugte. Von dem Gewitter vom Vortag war rein gar nichts mehr zu sehen.

Jason brauchte eine ganze Weile, um sich zu sammeln und sich daran zu erinnern, was vorgefallen war. Mit einer Hand tastete er seinen Hinterkopf ab, von dem der heftige Schmerz ausging. Er fand die Ursache für das Ziehen in seinem Haupt recht schnell, denn die krustige Schicht, die sein Haar bedeckte, war nicht zu verfehlen. Als er auf dem Boden aufgeschlagen war, musste er sich verletzt haben. Und dieser Kerl hatte ihn dennoch liegen lassen. Aber mit einem hatte der Fremde Recht: er war wirklich erbärmlich. Und genau aus diesem Grund war er der Meinung, dass er lange genug Trübsal geblasen und sich selbst bemitleidet hatte. Unter Qualen kämpfte er sich auf seine Füße, stützte sich aber vorsichtshalber auf einer der Stangen ab, die vor seinem Auftauchen einen Mülleimer beherbergt hatten. Mit halb geöffneten Lidern schaute er sich um und war erleichtert, dass sich noch keine Menschenseele in den Park verirrt hatte. Zumindest nicht in die Nähe von ihm. Sie würden ihn sicher nur für einen Penner halten, denn er war gerade dabei zu realisieren, wie durchgefroren er war. Seine Kleidung war zwar nicht mehr triefend nass, aber dennoch sehr feucht und fühlte sich unangenehm auf der Haut an. Ohnehin konnte er seine Beine kaum spüren, die ihn deshalb auch nicht wirklich tragen wollten. Seine Erscheinung musste grauenhaft sein, wenn sie seinem Befinden entsprechen sollte.

Langsam fuhr er über seine Hosentaschen. Es war ein Wunder, dass sein Handy noch in der vorderen steckte. Selbst sein Geldbeutel in der hinteren war ihm nicht entwendet worden. Ein kurzer prüfender Blick in sein Inneres verblüffte ihn noch mehr. Immerhin schien er sich einen geeigneten Ort zum ungewollten Nächtigen ausgesucht zu haben. Er wusste nicht genau, wie er das Bewusstsein verloren und ob er dies überhaupt hatte. Vielleicht war er vor Erschöpfung tatsächlich einfach nur eingeschlafen. Er wusste nur noch, dass er dem Dunkelhaarigen nicht wirklich hatte zusetzen können trotz einiger Schläge, die ihn hart getroffen hatten. Die letzten Worte, die jener ihm zugehaucht hatte, wollten ihn erneut malträtieren, doch er wehrte sich strikt dagegen, indem er sich mit einer Hand ins Gesicht fuhr und sich damit erhoffte, dass sie einfach verschwänden. Und obgleich er nicht damit gerechnet hatte, dass das funktionieren könnte, verdrängte der eigens zugefügte Schmerz vorerst all die Schmach, die er nicht hören wollte.

Lange blieb er an Ort und Stelle stehen, um wieder Gefühl in den Beinen zu bekommen. Dass er sich lediglich durchgefroren fühlte und keine schlimmeren Nachwehen durch die Nässe davongetragen hatte, erstaunte ihn ziemlich, aber er war froh darüber. Nach einigen Minuten setzte er sich aber doch in Bewegung, als sich die ersten Schatten hinter einer Baumreihe bemerkbar machten. Tief durchatmend setzte er einen Fuß vor den anderen und schritt bewusst seiner alten Wohnung entgegen. Das Schlagen der Turmuhr verriet ihm, dass er Lance noch antreffen könnte, und diesen wollte er nun wirklich sehen. Er war bereit, ihn zu packen und solange durchzurütteln, bis der Schwarzhaarige die Informationen preisgab, die ihn interessierten. Vielleicht war er gerade nicht in Bestform, doch er spürte mittlerweile genug vorhandene Energie, um es auf eine Auseinandersetzung anlegen zu können. Er malte sich aus, wie er ihn an die Wand presste und ihn allein schon durch seinen unfreundlichen Blick niederzwang. Unwillkürlich legte sich ein leises Lächeln auf seine Lippen, denn er war sich bewusst, dass er Lance kräftemäßig unterlegen war.

Als er vor seiner Wohnung stand, verharrte er einen Moment, doch im nächsten klopfte er bereits an die Tür. Weder wollte er seinen Schlüssel, den er immer noch besaß, benutzen noch die Klingel, die sich für solche Zwecke eigentlich anbot. Immer wieder ließ er seine Knöchel auf das Holz sausen, bis es unwirsch aufgerissen wurde.
 

„Hi Lance“, meinte Jason unfreundlich und zwängte sich an seinem Freund vorbei, der anscheinend gerade aus dem Bad gekommen war und deshalb noch mit nacktem Oberkörper herumlief.

Der Blonde würdigte den anderen keines Blickes mehr, sondern sah sich stattdessen neugierig um. Ihm fiel nichts auf, das ihm verändert oder fremdartig vorgekommen wäre.
 

„Was willst du hier?“, trat Lance nun hinter ihn. Seine Stimme trug wieder diese Kälte in sich, die Jason bisweilen kannte und auch irgendwie mochte. Es mochte absurd sein, solch eine Nuance in der Stimmlage nicht zu verabscheuen, aber sie kam nun einmal von Lance, weshalb er nichts gegen seine Neigung machen konnte.
 

„Wie ich sehe hast du alles beim Alten belassen“, antwortete Jason nicht auf die Frage. Sein Blick streifte flüchtig die offene Tür zum Schlafzimmer, das durch den Schein der Sonne hell erleuchtet war.
 

Lance ging noch einen Schritt weiter auf seinen Freund zu und hauchte: „Was hast du hier zu suchen?“

Sachte legte er eine Hand auf Jasons Schulter, doch der wirbelte herum und funkelte ihn an.
 

„Du möchtest mir noch immer nicht sagen, woher du das von meinem Vater wusstest, oder?“

Jasons Brust bebte auf und ab und in seinen braunen Augen stand plötzlich das Gefühl von purem Schmerz. Allerdings währte der Ausdruck nicht lange, denn er hatte sich schneller wieder unter Kontrolle als erwartet. Unbarmherzig sah er seinen Freund an, der seinen Blick auf undefinierbare Weise erwiderte.
 

„Was ist mit dir passiert?“

Die Erkundigung beruhte nicht auf Sorge, zumindest klang sie nicht danach. Abschätzig musterte Lance nun den Blonden.

„Bevor du mich hier überfällst, hättest du ruhig duschen können.“
 

„Tja, wenn man auf der Straße übernachtet, sieht man am Morgen eben nicht besser aus“, presste Jason zwischen seinen Lippen hervor. Ungewollt senkte er die Augen und starrte nun auf Lance’ bloße Brust, auf der unverblümt die letzten Wassertropfen vom morgendlichen Baden glänzten. Krampfhaft versuchte er, seinen Blick wieder zu heben.

„Ohne Wohnung lebt es sich eben nicht so gut“, fügte er bissig an.
 

Lance sagte nichts, aber wich auch keinen Zentimeter.
 

„Ich hätte mir ja Ersatz suchen können“, konnte sich Jason nicht verkneifen. „Was hältst du von diesem großen grauäugigen Typen, der mich letzte Nacht so nett angemacht hat?“

Wenn Jason nicht haltlos weiter geredet hätte, hätte sie ein Schweigen befallen, das ihn befangen gemacht hätte.

„Der war noch ein klein wenig größer als du, hatte aber die gleiche überhebliche Art. Wenn ich so darüber nachdenke“, fasste er sich ans Kinn, „dann sah er eigentlich gar nicht schlecht aus. An seinem Benehmen müsste man zwar ein wenig arbeiten, doch im Großen und Ganzen-“
 

Grob wurde er an die nächste Wand gedrückt, ehe er seinen Satz vollenden konnte. Lance’ Augen funkelten und seine Hände gruben sich schmerzhaft in seine Brust, auf die er sie presste.
 

„Was denn? Das macht dich doch nicht etwa eifersüchtig!? Mhh, warum sollte es“, fuhr Jason berechnend fort. „Schließlich hast du mich vor die Tür und damit einen Schlussstrich unter unsere Beziehung gesetzt.“
 

Das Glimmen in den dunkelblauen Iriden wurde von Wort zu Wort stärker und glich bald einem tosenden Meer, das unbändig gegen die Brandung peitschte. Ungestüm drückte Lance seine Lippen auf Jasons Mund und strich mit seiner Zunge die Züge des anderen nach, ehe er sich gleich wieder löste.

Zunächst war Jason irritiert, doch auch wenn er derjenige war, der an die Wand gedrückt wurde, konnte er sein Vorhaben in die Tat umsetzen. Den Aufruhr durch die Berührung in seinem Inneren ignorierte er gekonnt und setzte ein ungezwungenes Lächeln auf.

„Ach, habe ich dich etwa missverstanden?“, kommentierte er den Kuss unverhohlen zynisch. „Oder möchtest du mir damit zeigen, dass du trotz der Trennung nicht bereit bist, mich mit einem anderen zu teilen?“

Lasziv hauchte Jason ihm je einen Kuss auf die Mundwinkel und verströmte seinen Atem absichtlich lange an dessen Wange.

„Was mir da einfällt…“, zog er sich wieder zurück. „Meintest du nicht eben, ich würde hier unter deiner Würde auftauchen?“

Grinsend sah der Blonde an sich hinab. Die Kälte, die seine feuchte Kleidung mit sich brachte, war bisweilen einer Wärme gewichen, die sich stetig in ihm mehrte, je länger er seinem Freund so nahe war. Und doch gab er wahrlich kein adrettes Bild ab, das Lance von ihm gewohnt war.
 

Noch immer konnte er Lance nicht dazu bewegen, etwas zu erwidern. Der Druck auf seiner Brust verringerte sich aber auch nicht. Unentwegt starrten ihn diese dunklen Augen an und Jason hatte Mühe, seinen unerschütterlichen Schein aufrecht zu erhalten. Der Zusammenstoß mit dem Fremden hatte ihm die Lethargie genommen, aber dankbar war er diesem Kerl dennoch nicht. Eine Nacht auf nassem Asphalt entsprach nicht gerade seinen Wünschen. Und auf Wiederholung konnte er bis an sein Lebensende gut und gerne verzichten.

„Keine Antwort ist auch eine Antwort“, lächelte er weiterhin. „Aber sag’ mal,… Bereust du deine Entscheidung?“ Jason klang gleichmütiger als beabsichtigt. Doch ihm gefiel seine raue Stimme, die nicht die Emotionen zum Vorschein brachte, die in ihm erwacht waren.
 

„Was sollte ich schon bereuen?“, kam es heiser zurück. Bedächtig schloss Lance die Augen. Er hatte wohl eher damit gerechnet, dass er ebenso beherrscht klingen würde, aber das tat er nicht.
 

Und das gab Jason das Gefühl, dass er Lance nicht vollkommen gleichgültig war. Wenigstens wollte das sein Herz glauben, doch sein Verstand war in diesem Moment rein von kalter Berechnung geprägt. Verächtlich schnaubte er.

„Dass du mit meinem Vater gemeinsame Sache gemacht hast oder Tyrone in den Hintern gekrochen bist? Ich tendiere ja schon beinahe zu letzterem, so überrascht wie du aussiehst. Tja, ich bin eben nicht auf den Kopf gefallen, Lance. Ein wenig Denkvermögen musst du mir schon zuschreiben.“

Künstlich lachte er auf und drückte seine Lippen kurz auf Lance’.

„Na, was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“
 

Anstatt ihm zu antworten, hob Lance seinen Freund an. Jason befürchtete, erneut rausgeschmissen zu werden, stattdessen wurde er in ihr einst gemeinsames Schlafzimmer geschleift und unsanft aufs Bett geworfen. Nun aus großen Augen sah er den Schwarzhaarigen an.
 

„Warte hier, bis ich zurück bin“, meinte jener nun doch wieder vollkommen kalt und ging an den Kleiderschrank, um sich ein Hemd zu suchen.
 

Jason wollte ihm noch etwas sagen, doch aus seiner Kehle drang kein Wort mehr. Irritiert sah er zu, wie sein Freund seinen Oberkörper mit weißem Stoff bedeckte und sich kurz im Spiegel besah.
 

„Bis dann“, verabschiedete Lance sich nonchalant und verließ den Raum.
 

Erst als der Blonde die Wohnungstür sich schließen hörte, ließ er sich erschöpft nach hinten fallen und sog unvermittelt den Geruch auf, den das Bett unweigerlich verströmte. Plötzlich befand er sich in einem Nebel aus halber Besinnungslosigkeit und freimütigem Verlangen, Lance’ Gewicht auf sich spüren zu wollen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  inulin
2007-08-27T18:06:40+00:00 27.08.2007 20:06
Ich hätte es doch fast wieder vergessen. Ich war der festen Überzeugung es schon gelesen zu haben, bis ich es eben wieder zwischen die Finger bekommen hab.
Nun denn. Dann wollen wa mal mit der Lobeshymne anfangen, ne? *lol*

Das Kapitel war wieder super. Ich find des ja echt süß, dass Lance immer noch so an Jason zu hängen scheint. Wenn das alles, ihre Beziehung geplant gewesen sein soll, dann dürfte sich Lanve ja eigentlich nicht so heißblütig benehmen, oder? Also nehm ich einfach mal dass das nicht alles gelogen war.
Ich frage mich aber, was Lance jetzt vorhat. Er sagte ja dass Jason so lange da bleiben sollte, bis er zurück käme. Was er ihm zeigen will? Ich lass mich überraschen.
Von: abgemeldet
2007-08-24T19:05:29+00:00 24.08.2007 21:05
Wow... super gut geschrieben, sehr spannend. was will man (ich XD) mehr^^
Ich liebe Lance, jetzt nachdem Kap mehr und Jason hat sich auch gemacht.
Endlich ist er mal aufgewacht und Lance etwas aus der Fassung gebracht *.*
Ich bin mal gespannt, was Lance vorhat^^
also ich freu mich auf die nächsten kaps *.*

Lg
Night


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