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Sinnlose Versprechen

von

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Während Jason den Artikel weiter las, erfuhr er so einiges. Father Dest trat erstmals vor etwa fünf Jahren in Erscheinung, nicht als leibhaftige Person, sondern lediglich als Namen. Besser gesagt als Pseudonym. Bisher hatte keiner die wahre Identität des Verbrechers, wie er in der Zeitung betitelt wurde, gekannt. Und man fragte sich, wie Tyrone von Zundersby sie in Erfahrung bringen konnte, man lobte ihn aber trotz der Ungewissheit in den höchsten Tönen. Durch ihn war der Bevölkerung die Furcht genommen worden, die nie ganz verschwunden war, selbst nach vielen Monaten keiner erneuten Mahnung mehr. Father Dests Mahnungen waren in ganz Asht-Zero bekannt, obwohl sich jeder davor hütete, sie in den Mund zu nehmen, geschweige denn sie nicht ernst zu nehmen. Laut einiger Opfer ging Father Dest alias Kelvin Sartaren immer so sorgfältig vor, dass man nie wusste, wann er zuschlug. Jeden Moment musste man darauf gefasst sein, dass die Mahnung Realität wurde. Keine Mahnung gab es bisher zweimal, alle unterschieden sich in Art und Ausführung. Damit war gewährleistet, dass der Täter durch keinerlei besondere Merkmale aufgespürt werden konnte.
 

„Holly?“, sah Jason zwischendurch auf. In seinem Kopf schwirrte es und der stechende Schmerz wollte sich partout nicht verabschieden.
 

Bis dato hatte sie sich von ihm abgewandt, doch nun drehte sie ihr Haupt um hundertachtzig Grad, um ihm in die braunen Augen sehen zu können.
 

„Warum hast du mir nie von diesen Mahnungen erzählt? Schließlich hatten wir trotz meines Aufenthalts in Unwer genug Kontakt.“
 

„Du vergisst, dass Father Dest schon vorher zugeschlagen hat. Vor fünf Jahren kannten wir uns noch gar nicht.“
 

Der Blondschopf war so durcheinander, dass er die genaue Jahreszahl gar nicht richtig registriert hatte.

„Ich war zwar nicht oft hier in den Jahren meiner Ausbildung, aber das hätte ich doch wenigstens ansatzweise mitbekommen müssen.“
 

„Nur in den ersten vier oder fünf Wochen gab es kaum andere Schlagzeilen. Anschließend verebbten die Artikel, weil man glaubte, für zu viel Aufruhr damit zu sorgen. Father Dests Mahnungen waren so unregelmäßig, wiesen einfach kein bestimmtes Muster auf, dass man beschlossen hatte, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Und das ging auf die Bevölkerung über. Keiner wagte es, auch nur ein Wort über die Vorfälle zu verlieren, auch aus Angst, man könnte selbst der nächste sein. Denn nach dem ersten Anschlag – es hatte damals einen in die Jahre gekommenen Mann getroffen – suchte sich Father Dest denjenigen als sein nächstes Opfer, der den Mund zu voll nahm und sich lautstark immer wieder für seine Hinrichtung aussprach, sobald man ihn zu fassen bekam. Und dass du keinen Wind davon bekommen hast, ist daher nicht verwunderlich.“
 

„Anschlag?“, wiederholte Jason unbehaglich.
 

„Dem Mann ist nichts passiert. Er war der erste und nicht der einzige, der mit dem Schrecken davon kam. Hätte er ein schwaches Herz gehabt, würde er vermutlich nicht mehr unter uns verweilen“, wurde Holly immer leiser. Nervös spielte sie mit dem Stoff ihrer Bluse. Sie redete nicht gern darüber.
 

Mit wirren Gedanken widmete sich Jason wieder den kleinen Lettern, die ihn verächtlich zu höhnen schienen. Die Worte verschwommen ab und an zu einem schwarzen Meer und er hatte die größte Mühe, sie durch kräftiges Augenzwinkern zu erhaschen.

Father Dests Mahnungen waren nichts weiter als Briefe. Ohne Absender, ohne Fingerabdrücke, ohne sonstige Hinweise, die Rückschlüsse auf seine Identität ermöglicht hätten. In ihnen kündigte er an, wie er zuschlagen würde. Doch ohne jedweden Hinweis auf das genaue Datum. Sobald jedoch einer einen solchen Brief erhalten hatte, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann sich das Unausweichliche ereignen würde. Father Dest hatte jede Mahnung wahr gemacht. Das Einschalten der Polizei war zwecklos gewesen. Auch wenn sie persönlichen Schutz gewährt hatte oder Häuser, Straßen und Autos hat überwachen lassen, hatte sie das angekündigte Verbrechen nicht vereiteln können. Wenn es nötig war, dann wurde die Mahnung auch erst Monate später realisiert. Dann, wenn man schon fest damit gerechnet hatte, dass es bloß eine Finte gewesen war. Aber die Erkenntnis, dass es keine Enten gab, kam zu spät. Denn als man diese Gegebenheit herausfand, hörten die Mahnungen abrupt auf. Seit gut zwei Jahren hatte niemand mehr einen Brief erhalten, der ankündigte, dass Father Dest ihn als nächstes Opfer auserkoren hätte.
 

„Ich traue Tyrone von Zundersby nicht über den Weg“, warf Jason ein, als er genug über Father Dest gelesen hatte. Der Artikel erstreckte sich über die ganze Seite, doch er war einfach nicht gewillt, ihn gänzlich zu lesen. Ohnehin vermutete er, dass zum Ende hin nur noch Parallelen zu seinem verstorbenen Vater gezogen würden.
 

„Aber er genießt das bedingungslose Vertrauen von Asht-Zero. Er hat den Menschen die Unbestimmtheit genommen, die sie jahrelang gequält hatte. Keiner ließ es sich mehr anmerken, dass er von Furcht durchtränkt war, aber dennoch hauste in allen ein- und dasselbe Gefühl. Sie erwarteten insgeheim den großen Schlag. Die letzte Mahnung und damit das Ende…“
 

„Von was?“
 

„Der Stadt? Ihres Lebens?“ Sie zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Father Dest war zwar nicht harmlos, aber kein Mensch ist durch seine Hand ums Leben gekommen. Aber du weißt doch, wie das so ist. Es wird alles aufgebauscht und die Menschen lassen sich dadurch beeinflussen.“
 

„Du bist Journalistin“, entgegnete er mit hochgezogenen Brauen.
 

„Und? Deshalb muss ich noch lange nicht wie alle anderen sein. Ich schreibe nach meinem Dafürhalten und vor allem faktenbezogen!“
 

„Und wie überzeugen wir die Bevölkerung nun vom Gegenteil? Dass mein Vater nicht der mutmaßliche Verbrecher ist, zu dem ihn alle machen wollen, und ich mit all dem nichts zu schaffen habe? Dass ich noch nicht einmal wusste, um wen es sich bei diesem Father Dest überhaupt handelte!“
 

„Dir wird keiner glauben.“
 

Jason lächelte schwach. „Tolle Aussichten.“
 

„Es tut mir leid, aber momentan weiß ich auch nicht, was wir tun könnten. Selbst wenn Eddy morgen einen Artikel von mir veröffentlichen würde, in der ich die Wahrheit verkünde, würde das nichts bewirken. Sobald mein Name darunter steht, werden sie es nicht einmal lesen. Aber selbst jeder andere Name würde sie nicht erreichen. Sie wollen glauben, dass du verwerfliche Absichten hast und dein Vater der gesuchte Verbrecher ist, um sich selbst das Leben einfach zu machen.“
 

„Soll ich mich hier verschanzen und Däumchen drehen, während die ganze Stadt mich verurteilt und meine Familie verleumdet?“

Da sich Holly räusperte und den Blick senkte, gesellte sich zu der Verzweiflung in Jasons Gesicht Misstrauen.

„Was möchtest du mir damit andeuten?“, fragte er etwas bissig.
 

„Das behalte ich lieber für mich“, erwiderte sie kurz angebunden.
 

„Das kannst du mir nicht antun! Ich weiß so schon nicht, wo mir der Kopf steht. Die ganze Stadt lehnt sich gegen mich auf und ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich das Blatt wieder wenden kann. Was wolltest du mir gerade mitteilen? “, wiederholte er scharf, aber zugleich vollkommen resigniert. Er ließ sich zurückfallen und drückte sich ein Kissen ins Gesicht. Zwar konnte er auf diese Weise auch nicht der Realität entfliehen, aber irgendwie musste er erst mal wieder zu Verstand kommen. Unkontrolliert pustete er in das Kissen und versuchte seinen Herzschlag zu beruhigen, der sich enorm beschleunigt hatte. Nach wenigen Minuten schon legte er das Polster wieder beiseite und studierte die Brünette, die ihn nun unverwandt anblickte. Ihre grau-grünen Augen drückten Bekümmertheit aus.
 

„Bisher hatte ich selbst“, setzte sie an, „keine rechte Vermutung, wer Father Dest wirklich war, doch im Gegensatz zur Polizei erkenne ich ein vages Schema seiner sogenannten Mahnungen. Doch erst seitdem er mit deinem Vater in Verbindung gebracht wird.“
 

Ihre Aussage schwebte über Jason wie ein Damoklesschwert. Wollte Holly gerade allen Ernstes behaupten, sein Vater sei doch dieser Kerl gewesen, der Mahnungen verschickte und Attentate verübte, ob sie nun eher harmloser – ein Adjektiv, das auch sehr willkürlich auslegbar war - Natur waren oder nicht?

„Du spinnst doch!“, setzte er mit einem Anflug von Wut entgegen. „Er war eine ehrliche Haut und stand nicht auf Hinterlistigkeiten.“
 

„Vielleicht sah er seine Eingriffe in das Leben anderer ja ganz anders.“

Sie erhob sich und lief zu einem der beiden Fenster. Ein Blick gen Straße genügte, um wieder einen Schritt zurückzutreten.
 

Das gab dem Blondschopf den Anlass, ebenfalls aufzustehen und hinauszusehen. Wohlweislich hielt er sich im Schatten der Gardinen verdeckt, aber ihm drehte sich der Magen um. Ihm bot sich auf der Straße förmlich ein Auflauf. Die Reporter hatten anscheinend noch nicht aufgegeben und glaubten wohl immer noch zurecht, dass er sich in seiner Wohnung aufhielt. Seufzend wandte er sich vom Geschehen ab.

„Schaulustige Idioten.“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Hauch.
 

„Du kannst von Glück reden, dass du nicht im Erdgeschoss wohnst.“
 

„Aber raus kann ich dennoch nicht“, brummte er.
 

„Momentan nicht, nein.“
 

„Du bist mir vielleicht eine Stütze. Und nach deinem Dafürhalten ist mein Vater wirklich Father Dest?“
 

Unschlüssig blickte sie ihn an. „Mit Gewissheit kann ich das nicht sagen, aber ich könnte es auch nicht sofort abstreiten.“
 

„Warum?“, entfuhr es ihm aufgewühlt. „Es gibt doch gar keinen Grund, so etwas zu mutmaßen.“
 

„Bist du dir da sicher?“
 

„Das kann ich nicht glauben.“
 

„Jason“, begann sie ruhig. „Vielleicht führst du tatsächlich das fort, was er begonnen hat.“
 

„Was redest du da eigentlich?“
 

„Ich sagte ja, es wäre besser, es für mich zu behalten.“

Sie lief zurück zum Sofa und schnappte sich ihre Tasche.
 

„Lässt du mich jetzt einfach hier stehen?“
 

„Es geht nicht anders. Ich habe vermutlich schon zu viel gesagt.“
 

„Holly!“
 

Aber es half nichts. Die Brünette eilte aus dem Wohnzimmer und alsbald aus dem Haus. Benommen stand Jason da und war Teil eines wirren Komplotts, den er gewiss nicht anzuzetteln beabsichtigt hatte.
 

Er hatte doch nichts weiter gewollt, als die Welt ein wenig zu verbessern. Im Gegenzug hatten sich die Antipathien auf ihn projiziert. War das der Preis, den er zu zahlen hatte, um etwas in dieser Stadt zu bewegen? Indem er den berühmten Stein lostrat, wurde er geächtet und beschuldigt?

Das war doch die Sache nicht wert. Oder doch?

Die Reporter unten auf der Straße schienen sich nach dieser seiner Geschichte zu zerreißen. Umsonst hielten sie nicht so streng Wache und versuchten Holly aufzuhalten und etwas aus ihr herauszuquetschen. Jason beobachtete, wie ein Mann mit einem Fotoapparat in der Hand Holly am Arm festhielt und sie sichtlich bedrängte. Ein wahres Blitzlichtgewitter rieselte auf die Brünette nieder. Nur an ihrer ablehnenden Körperhaltung konnte er erkennen, dass sie nicht gewillt war, ihren sensationsgierigen Kollegen in die Tasche zu spielen. Dass sie ihre Informationsvorteile gegen ihn ausspielen würde, glaubte er nicht. Schließlich hatte er sie bereits einmal vor den Kopf gestoßen und zu Unrecht beschuldigt, ein zweites Mal würde er das in so naher Folge nicht tun. Aber man konnte sich bekanntermaßen ja nie wirklich sicher sein. War Lance nicht das perfekte Beispiel? Der Blondschopf wunderte sich im Nachhinein darüber, wie er seinen Freund nur so ungeschoren hatte gehen lassen können. Mehr als ein paar wütende Worte hatte er ihm nicht an den Kopf geworfen. Nicht einmal hatte er ihm zu verstehen gegeben, dass er von ihm nichts mehr wissen wollte. Aber hatte er nicht dennoch die zärtlichen Berührungen genossen? Waren sie ihm denn überhaupt zuwider gewesen?

Endlich konnte sich Holly aus der wild agierenden Menge befreien. Eiligen Schrittes entfernte sie sich immer weiter, ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen. Da ging sie dahin und ließ ihn mit vielen unbeantworteten Fragen zurück. Wie hatte sie nur andeuten können, dass sein Vater unter dem Pseudonym Father Dest all diese Mahnungen verschickt und auch verübt hatte? Und obendrein behaupten, dass er – Jason Sartaren, Bürgermeisterkandidat – da anknüpfen wolle, wo jener aufgehört hatte?

Das war wie ein schlechter Traum. Nur mit dem elendigen Bewusstsein, dass alles Realität war. Seine rehbraunen Augen auf die Straße geheftet stand er da und fühlte sich von allen verlassen und verraten. Die Stadt war erpicht darauf zu sehen, wie er kläglich unterging, Lance hatte von Anfang an gegen ihn agiert und diesen Mistkerl Tyrone von Zundersby auf ihn gehetzt und Holly glaubte, sein Vater wäre wirklich ein Verbrecher gewesen. Dabei war Kelvin tot und hatte nicht im Geringsten die Möglichkeit, diesen Irrtum aufzuklären, sich zu rechtfertigen und seine zweifellose Unschuld zu beweisen. Und Jason hatte bis vor ein paar Stunden nichts über Father Dest gewusst. Wie konnte er da für seinen Vater außer durch seine Liebe zu ihm Partei ergreifen? Er hatte keinerlei Anhaltspunkte, keine Mittel, keine einschlägigen Beweise, die ihn entlasten könnten. Und ihm war unmissverständlich klar gemacht worden, dass er auf sich allein gestellt war. Er gegen den Rest der Welt.

Es war gerade mal Mittag und Jason schmiss sich entmutigt auf das Sofa. Er konnte den Anblick der heuchlerischen Reporter nicht mehr ertragen. Sie waren ohnehin nur auf Skandale aus, die es insbesondere nicht einmal gab. Klar, sein Vater war mehrerer Verbrechen bezichtigt worden, schlimmer noch, man war plötzlich davon überzeugt, dass er die Stadt in Angst und Schrecken versetzt hatte, das war natürlich gefundenes Fressen für die Medien. Und dass sie den Falschen im Visier hatten, störte sie vorerst nicht. Hauptsache, sie hatten die Schlagzeile und warben sich damit Käufer, standen im Mittelpunkt des Interesses und waren damit in aller Munde. Das hieß höhere Quoten, schwarze Zahlen und eine Menge Einfluss. Manchmal gleicht das Leben einem Teufelskreis. Sobald sich einer eine Blöße gibt – oder sie ihm gewaltsam verabreicht wird -, profitiert der nächste davon, bis sich dieser wiederum in irgendwas verstrickt und einem anderen in die Hände spielt. Die Menschheit lebt von Verraten und Verratenwerden. Das ist so natürlich wie essen und trinken zu müssen, um zu überleben. Ohne Vergehen, Intrigen, Verschwörungen und Anschläge würde den Menschen wohl etwas fehlen. Sie nähren sich von den Untugenden anderer, nur um sich ihnen letztenendes selbst als Fraß darzubieten. Ein Kreislauf ohne Anfang und Ende. So unermüdlich wie das stetige Kreisen der Erde um die eigene Achse.

Wenngleich Jason nicht nach unsinnigem Geflimmer war, hielt er die Fernbedienung in der Hand und starrte auf den Bildschirm. Ihm wäre es um Längen lieber gewesen, nach draußen zu gehen und sich beim Joggen zu verausgaben, doch er hatte keine Lust, sich mit einem Haufen Reportern herumzuschlagen. Wenn er jetzt einem ein blaues Auge verpassen würde, würde er erst Recht nicht mehr aus den Negativschlagzeilen kommen. Und das würde unweigerlich passieren, wenn er jetzt da runter ginge. Dazu brauchte er nicht einmal näher in sich zu horchen. So niedergeschmettert er war, so kampflustig war er. Ein falscher Satz oder ein hinterhältiges Grinsen und er würde durchdrehen. Dann könnte er seine politische Laufbahn vergessen. Aber das konnte er ohnehin bereits. Tyrone von Zundersby respektive Lance hatten ihm die kleine Chance, der er innegehabt hatte, auf brutale Art und Weise genommen.

Nichtsdestotrotz wollte Jason nicht wahrhaben, dass nun alles vorbei sein sollte. Seine Kandidatur, seine einstigen Wünsche und seine Beziehung. Das war einfach zu heftig, zu erschütternd. Wenn er jetzt anfing zu denken, dass es das war, alles vorbei, bevor es richtig begonnen hatte, dann würde er zerbrechen. Und genau aus diesem Grund wallten Aggressionen in ihm. Sobald er diese nicht mehr haben würde, wäre er am Ende. Aber er hatte sie und er würde sie nutzen. Er musste sie geschickt einsetzen, um nicht kläglich an seinem Leben zu scheitern. Nur stand er nun vor der Aufgabe: Wie konnte er seine Wut, seinen Zorn, seinen Lebensdrang gebrauchen, um schließlich als Triumphator aus der Schlammschlacht hervorzugehen?

Eine wichtige Frage. Keine Antwort. Er würde vielleicht nie eine haben, aber er musste sich der Situation stellen. Verloren hatte er schon, doch noch konnte er einen über ihn entscheidenden Sieg erringen. Einen, der alles verändern würde. Der alles Bisherige in den Schatten stellen würde. Einen, der von schierer Notwendigkeit geprägt war.
 


 

Noch immer lag Jason auf der Couch und döste vor sich hin, als wildes Stimmengewirr die Ruhe durchbrach. Den Fernseher hatte der Blonde schon vor einer kleinen Ewigkeit wieder abgestellt, da er ohnehin nichts von dem, was ihm erzählt worden war, mitbekommen hatte. Aus dem Lärm, der seine Ohren malträtierte, konnte er Lance’ heraushören und mit einem Mal zog sich sein Herz Stück für Stück zusammen. Solange er unbeteiligt herumgelegen hatte, hatte er das Thema Lance vermieden, mehr oder minder verdrängt, doch nun war die Schmach, die ihm zugefügt worden war, wieder präsent und traf ihn vollkommen unvorbereitet. Sein Puls beschleunigte sich und er musste sich zusammenreißen, um nicht aufzuspringen und Lance ohne Kommentar zu Boden zu zwingen. Handgreiflich wollte er nicht werden, weshalb er bemüht ruhig liegen blieb. Die Haustür wurde zugeschlagen und mehr als gedämpfte Rufe drangen nicht mehr ins Wohnzimmer. Laute Schritte näherten sich und anschließend wurde die Tür, die Jason bis eben noch von seinem Freund getrennt hatte, aufgerissen. Lance trat mit einem gefährlichen Glimmen in den Augen auf den Blondschopf zu, der dessen ungeachtet einen Arm über sein Gesicht legte und seinen Körper entspannte. Es kostete ihn zwar alle erdenkliche Mühe, doch er zog es mit Bravour durch, denn an dem verächtlichen Schnauben seitens Lance’ bestätigte sich seine Taktik. Jason hatte aber nicht damit gerechnet, dass er grob an den Schultern gepackt und hoch gezogen würde, weshalb er überrascht die Augen aufriss. Noch ehe er wieder zu Verstand kommen konnte, fühlte er eine vertraute Zunge in seinem Mund. Pochend schlug sein Herz gegen seine Brust und ein Schauer nach dem anderen jagte seinen Rücken hinab. Dieses Verlangen, das von Lance ausging, war einfach nur unermesslich. Gerne hätte er es geteilt, doch die Laute der Reporter waren noch nicht wieder verebbt und führten ihm das vor Augen, was er für einen Moment vergessen hatte. Ebenso unwirsch wie er eben hochgezerrt worden war drückte er seinen Freund von sich weg, doch nur so weit, dass ihre geröteten Lippen wieder genug Abstand voneinander hatten, dass er sprechen konnte.

„Konntest du dir wohl da draußen keine Befriedigung holen, mh?“, ächzte er. „Ging dein Schlag wohl nach hinten los?“

Auf Jasons Mundwinkel legte sich kein Grinsen, obgleich er gerne eines hervorgerufen hätte. Er wollte Lance einmal genauso überheblich entgegentreten wie es dieser in letzter Zeit immer tat.

Abrupt ließ Lance ihn los und ging zum linken der zwei Fenster. Jason hatte nicht erwartet, dass er sich mit einem Mal so einsam fühlen würde und hasste sich im selben Moment dafür. Irgendetwas in ihm war schlichtweg süchtig nach diesem Kerl, das ihm jedwede Selbstbeherrschung rauben konnte, wenn es wollte. Unbehaglich ruhte er neben dem Sofa und starrte auf seinen Freund, der mit dem Rücken zu ihm stand. Er wollte etwas sagen, doch als er seinen Mund öffnete, kamen keine Worte aus ihm hervor. Also blieb ihm nichts anderes übrig als unbeholfen in der Gegend herumzustehen und auf Lance’ nächsten Zug zu warten.
 

Erst als Jason schon befürchtete festzuwachsen, schenkte ihm Lance wieder seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Mit ein- und demselben Funkeln in den blauen Iriden fokussierte er ihn erneut so durchdringend, dass der Blondschopf seine letzte anstrengend erkämpfte Gelassenheit einbüßte. Und Lance schien das sofort realisiert zu haben, denn wenig später wurde er abermals von ihm gepackt, doch dieses Mal auf das Sofa gebettet und unter einem stählernen Körper begraben. Jason hatte nicht einmal die Möglichkeit nach Luft zu schnappen, fühlte stattdessen fordernde Lippen auf den Seinigen und eine forsche Hand unter seinem T-Shirt. Nur hatte Lance seine Körperhaltung falsch verstanden gehabt. Er hatte nicht resigniert, ganz im Gegenteil. Jäh unterbrach er ihren Kuss und griff nach Lance’ Hand auf seinem Oberkörper.

„Fass mich nicht an!“, fauchte er. „Vielleicht täusche ich mich tatsächlich, aber bis ich näheres weiß, hast du deine Finger von mir zu lassen! Haben wir uns verstanden?“

Mehr als einen undefinierbaren Blick erntete er von dem Schwarzhaarigen nicht.

„Du hast mir eben offenbart, dass du mich willst, von der Art und Form mal ganz zu schweigen, und genau das werde ich dir von jetzt an verwehren.“

Mit einem Ruck schob er sich unter Lance hervor, was ihm auch nur möglich war, weil ihn dieser gewähren ließ.

„Ich werde Bürgermeister werden“, fügte Jason aufgewühlt an. „Du wirst schon sehen!“

Wenngleich ihm seine Worte selbst zuwider waren – er spürte die leichte Erregung, die Lance in ihm ausgelöst hatte und die befriedigt werden wollte -, beharrte er durch eine herrische Handbewegung auf ihnen.
 

„Bist du endlich fertig?“, fragte Lance gelangweilt. Doch so unterkühlt er bereits wieder klang, so spiegelte sich das überhaupt nicht in seinen Augen wider. Da erkannte Jason weiterhin ein unstetes Glimmen, das von Unruhe zeugte.
 

Den Blondschopf verwirrte Lance’ zwiespältiges Auftreten. Es hinderte ihn an einem konsequenten Denken. Als er sich das Feuer in dem dunklen Blau betrachtete, hätte er Lance nur zu gerne geküsst und… Aber wenn er seinen Ruf oder was davon noch übrig war retten und den Namen seines Vaters reinwaschen wollte, dann durfte er sich seinem Gegenüber nun nicht hingeben und am Ende von ihm in eine andere Welt manövriert werden. Er musste sich von ihm lossagen, um für das einzutreten, was ihm wichtig war. Und um vielleicht damit sogar ihre Beziehung zu retten, die momentan aus verzweifelt heißhungrigen Begegnungen bestand, aber an Tiefgang verloren hatte.

Widerwillig schloss Jason für einen Augenblick die Augen, um vor allem dem bannenden Blick Lance’ zu entgehen.

„Ja, das war alles“, erwiderte er leise.

Anschließend ging er zur Tür und wäre auch sofort durch sie hindurchgeschritten, wenn ihn ein „Du möchtest da jetzt nicht raus!?“ nicht zögern hätte lassen.

Doch er antwortete nicht auf die seltsam erhitzte Frage. Diese Tonlage kannte er von Lance nicht, aber ihm war gerade auch nicht danach, sie näher kennenzulernen. Darum ließ er seinen Freund einfach hinter sich und stellte sich den Reportern, die nur darauf gewartet hatten, ihn zu zerpflücken.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  inulin
2007-07-18T11:00:52+00:00 18.07.2007 13:00
Wahhh! Jason ist ja lebensmüde! @_@ Ich wär da nich rausgegangen...
Anders kann man es nich nennen. Die nehmen den doch jez auseinander.

Irgendwie musste ich bei den Mahnungen von Father Dest an Jeanne, die Kamikazediebin denken. *lol*
Aber ganz klar, was er gemacht hat, ist mir immer noch nicht. Er hat den Menschen in Asht-Zero also Angst gemacht? So quasi als, wie nenn ich das jez mal(???), als Mann für die Gerechtigkeit, oder so...?
Mannomann... Das soll mir ja noch was werden. Aber irgendwie kann ich auch Hollys Theorie verstehen, wo sie meinte, das Jason jetzt Father Dests Tätigkeiten fortführen könnte... Ich finde das ist gut vorstellbar. Auch wenn Jason selbst davon gar keine Ahnung hat.

Und was mich gefreut hat, dass Lance so heißblütig über seinen Freund herfällt. Und dieses Angestaute loswerden möchte. Sozusagen den 'druck loswerden'. Ich find das zeigt doch nur, dass er Jason bisher treu war, sich niemand anderen gesucht hat und ihn immer noch begehrt.

Ich freu mich auf den nächsten Teil. Und vor allem darauf zu erfahren, ob Jason das Szenario vor seiner Haustür überlebt hat. ^^


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