Wenn du überfordert bist...
Willkommen in der Welt, mein Schatz.
Gestern bist du zwei Wochen alt geworden. Wie schnell doch die Zeit vergeht...
Seitdem du endlich zu Hause bist, dreht sich alles nur um dich. Deine Geschwister lieben dich, doch du bist noch zu klein, um mit ihnen zu spielen. Unsere Große geht ja schon fast in die Schule, und dein Bruder seit diesem Jahr in den Kindergarten.
Dein Papa liebt dich auch. Doch du kleiner Schlingel kannst noch nicht mit ihm an den Autos herumbasteln oder Fußball spielen, auch dazu bist du noch zu klein.
Du bist noch so klein.
Ohne mich würdest du wohl kaum überleben. Ich füttere dich, wickle dich, beruhige dich, schaukle dich und trage dich den ganzen Tag. Nicht, dass ich es nicht wirklich gerne machen würde, aber – auch wenn du erst zwei Wochen alt bist – es ist einfach nur...
Lästig.
Jeden Tag falle ich tot ins Bett, nur um dann mindestens drei Mal von deinem Geschrei geweckt zu werden.
Wenn du überhaupt schläfst. Man sagte mir, es sei normal, dass du erst lernen musst, wann man schläft und wann man wach ist – wann Nacht und wann Tag ist.
Und du schreist immer, den ganzen Tag, die ganze Nacht, bis auf einige Ausnahmen. Man sagte mir, auch das sei normal, es gäbe eben Kinder mit so genannten „Dreimonatskoliken“. Deine Geschwister hatten das nie, alle beide nicht. Man sagte, es läge daran, dass du Bauchschmerzen hättest, weil dein Darm noch nicht richtig mit der Milch zurechtkäme. Das würde sich aber – normalerweise – spätestens nach eben diesen drei Monaten legen.
Doch es kann einfach nicht sein. Warum würde die Natur so einen Unsinn erfinden, und dich absichtlich leiden lassen?
Und mich noch dazu?
Tag für Tag, eine Art Rund-um-die-Uhr-Job ist das Muttersein ja normalerweise schon. Aber mit dir... Du schreist ja nur. Pausenlos.
Außer wenn du ausnahmsweise einmal schläfst.
Und gerade eben bist du wieder aufgewacht. Kein freudiges Grinsen, Glucksen, oder sonst etwas, was normale Babys beim Aufwachen machen. Nein, du schreist.
Hasst du mich so sehr?
Ich kann einfach nicht mehr. Dich dauernd herumzutragen, dich beruhigend zu schaukeln, dir gut zuzureden, zu singen – nichts scheint zu helfen.
Du machst das absichtlich, nicht wahr?
Vielleicht hast du ja eine volle Windel. Doch auch nach dem Wickeln hörst du einfach nicht auf, wärst mir in deiner ganzen Spinnerei sogar fast eben noch vom Wickeltisch gefallen.
Hast du Hunger? Doch schreiend zu Trinken, das schaffst nicht einmal du. Und nachdem du dich mehrere Male fast an der Milch erstickt hast, lasse ich es sein.
Die Versuche, dich mit schepperndem Spielzeug abzulenken, habe ich schon lange aufgegeben. Du schreist lauter, als dass du es hören könntest.
Der Schnuller könnte vielleicht helfen. Doch du nimmst ihn nicht, und spuckst ihn immer wieder aus, sodass er auf dem seit Tagen nicht geputzten Boden landet. Wann hätte ich denn noch Zeit dafür? Ich habe ja nicht einmal Zeit für die restliche Familie, schaffe es kaum, jeden Tag etwas zu essen auf den Tisch zu bringen.
Dich interessiert das nicht. Du schreist nur. Und nichts hilft dir.
Also wieder herumtragen, nur tragen, und schaukeln, und herumgehen. Tragen, schaukeln, herumgehen. Den ganzen lieben langen Tag lang. Als ob es helfen würde.
Wieso hörst du nicht auf zu schreien?
Du hast keinen Hunger, keine volle Windel. Ich trage dich, knuddel dich und singe dir vor. Du müsstest doch eigentlich vollends zufrieden sein. Deine Geschwister waren es, sie haben gegluckst, gelacht und waren brav.
Du hasst mich, nicht wahr?
Jeden Tag bin ich allein mit dir, während dein Vater für uns alle die Brötchen verdient, und höre nichts als dein unzufriedenes Geschrei. Und kann nichts tun. Nichts hilft, nichts ist gut genug für dich. Nicht einmal Medikamente, von denen mir eigentlich angepriesen wurde, dass sie Wundermittel seien. Oder auch kleine Hausmittelchen, die andere Mütter im Internet empfehlen. Nichts hilft.
Du schreist einfach immer weiter.
Wenn dir doch endlich einmal die Puste ausgehen würde, doch im Gegensatz zu manch anderem bist du in dieser Disziplin leider viel zu ausdauernd.
Hör doch endlich auf...
Meine Ohren klingeln schon.
Hör auf.
Was soll ich denn noch tun?
Hör auf.
Sag mir was ich tun soll!
Hör auf.
Ich kann nichts tun, nichts wird helfen.
Hör endlich auf!
BILD-Zeitung, Samstag 19. Januar 2008:
15 Tage altes Baby totgeschüttelt
Ohne mich hättest du überlebt...
(Die) beiden anderen Kinder (der Eltern) wurden dem Jugendamt übergeben.
Und ohne dich wäre in unserer Familie alles noch schön...
~~
Bemerkung der Autorin:
Heute hat mir der Zeitungsartikel endlich den Anstoß gegeben, diesen OS zu "Papier" zu bringen. Wollte ihn eigentlich schon länger schreiben... Aber naja. Davon abgesehen hoffe ich, dass solche Fälle irgendwann nicht mehr passieren. Denn es ist einfach nur schrecklich...
Widmung:
Erstens Riokochan *lüb hat* Jetzt gibts endlich noch eine "Du"-Story auf Mexx ^.~
Und zweitens die liebe Shikyo (Snowblind), die mir die Story eben trotz Code-Stress nochmal kurz überflogen hat ^__^
(Reihenfolge hat keine Bedeutung bezüglich "Wen hab ich mehr lieb?" xDD)