Von den Toten
1. Von den Toten
Marena blickte aus dem Fenster. Draußen war es noch fast dunkel, und Nebelfetzen hingen über dem
Schulgelände. Die Stunden, die sie diese Nacht mit lesen verbracht hatte, hatten sich tief unter ihren
Augen bemerkbar gemacht.
"Marena, könntest du bitte wiederholen, was ich gesagt habe?"
Marena zuckte zusammen und wandte ihren Blick vom Fenster ab. Verwirrt blickte sie zu ihrem
Mathematiklehrer hinüber, der sie durch die dicken Gläser seiner Brille musterte.
"Ich höre..?," sagte er und ging einen Schritt auf sie zu, während er seinen Zeigefinger zwischen die
Lippen steckte. Marena versuchte krampfhaft das Gemurmel um sie herum zu verstehen, dass ihre
Klassenkameraden veranstalteten, um ihr weiterzuhelfen. Doch es war aussichtslos, wie ein Kanon
wurden verschiedene Sätze wiederholt, die keinen Sinn ergaben.
"Ich....," begann sie zögernd. Die Schulglocke unterbrach sie und Marena sprang erleichtert auf, griff
nach ihrer Tasche und stürmte an ihrem Lehrer vorbei, der ihr entgeistert hinterher starrte. Es war nicht
ihre Art den Lehrer zu ignorieren, aber sie war nicht scharf auf eine Stunde Nachsitzen und so beeilte
sie sich lieber. Als sie durch den Ostausgang stürmte fiel ihr ein Stein vom Herzen. Endlich frei! Endlich
Ferien. Noch hatte sie keine Ahnung, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte, aber besser als Schule war
es allemal.
Nach weniger als zwanzig Minuten, die sie durch die Stadt gelaufen war, ließ sie die großen Häuser
hinter sich und weite Grünflächen platzierten sich an deren Stelle. Inmitten von diesem Grün, ein wenig
abseits der Straße, war das Haus ihrer Eltern. Mit ihren knapp 17 Jahren wohnte sie natürlich noch bei
ihnen. Sie versetzte dem Tor einen Tritt, da sie zu faul war ihre Hände aus den Hosentaschen zu
nehmen und tänzelte den gepflasterten Pfad entlang zur Haustür. Mit dem Ellenbogen drückte sie
ungeschickt auf die Klingel und wartete. Nichts passierte. Sie klingelte erneut, diesmal länger und
blickte sich forschend um. Jetzt erst bemerkte sie, dass das Auto ihrer Eltern nicht da war. Genervt zog
sie ihre Hand mitsamt Schlüsselbund aus der Hosentasche und schloss auf. Hinter sich schloss sie die
Tür wieder und warf ihre Schultasche neben die Garderobe. Es passierte nicht oft, dass sie alleine war,
wenn sie nach Hause kam. Eigentlich nie. Desto mehr wollte sie dieses außergewöhnliche Ereignis
genießen. Sie zog ihre Schuhe aus und ging ins Wohnzimmer. Im Vorbeigehen drückte sie auf einen
Knopf am Telefon, der rot blinkte.
"Sie haben eine neue Nachricht...," begann die monotone Computerstimme einer Frau, die wohl erotisch
klingen sollte.
"Nachricht eins: Hallo Mausi, deine Mami und dein Papi sind nur kurz vereist...," erklang die Stimme
ihres Vaters aus dem Gerät.
"Jaja, sicher in den Supermarkt, oder wohin geht es diesmal?," fragte Marena laut.
"..wir habe doch tatsächlich bei diesem Preisausschreiben gewonnen, du weißt schon, das mit der
Weltreise in zwei Monaten. Aber keine Sorge, wir melden uns natürlich jeden Tag, und horchen, wie es
dir geht, außerdem wird dir pro Woche zirka 100 Euro auf dein Konto überwiesen. Lass es dir gut
gehen, deine Mami und dein Papi haben dich lieb!"
Marena starrte entsetzt auf das rote Lämpchen das jetzt aufgehört hatte zu blinken. Wie war das? Das
war doch jetzt sicher ein Scherz. Doch Marena wusste, dass ihre Eltern mit sowas keine Scherze
machten. 'Das konnte doch der Psyche des Kindes schaden'.
Nach einigen Augenblicken fiel ihr Blick auf einige ungeöffnete Briefe, die neben dem Telefon lagen,
und um sich zu beschäftigen, riss sie den ersten auf und zog eine Freikarte für das Museum heraus. Na,
das kam ihr gerade recht. Im allgemeinen hasste sie es in diese hirnrissigen Ausstellungen zu gehen,
doch im Moment war eine Sonderausstellung über das alte Ägypten zu Gast.
Sie drehte sich um. Im Moment hatte sie keine Lust sich über ihre Eltern zu ärgern, deshalb zog ihre
Schuhe an und ging hinaus. Das
Museum war nicht weit entfernt. Sie nahm eine Abkürzung durch die schmalen Gässchen zwischen den
Hochhäusern und überquerte einen Hinterhof. Als sie wieder auf eine größere Straße stieß, stand sie
bereits gegenüber des Museums. Der Bau war einem griechischen Tempel nachempfunden und
verschwand trotz seiner eindrucksvollen Säulen zwischen den Hochhäusern. Marena ging die Stufen
empor und kam ziemlich außer Atem oben an. Nachdem sie die Freikarte vorgezeigt hatte, ließ man sie
ohne Fragen durch und sie trat in die menschenleeren Räume der Sonderausstellung ein.
Die goldenen Statuen, die Götter und Pharao darstellten, beeindruckten sie wenig, gelangweilt schritt
sie an den Vitrinen entlang in den nächsten Raum.
Hier waren Wandreliefs aus Grabkammern und auf großen Plastiktafeln wurden wissbegierige Besucher
über deren Inhalt aufgeklärt. Marena blickte auf die Speere und Wagenräder, auf die Modelle der
Tempelanlage in Luxor und wurde langsam schläfrig. Ihre Beine begannen zu schmerzen. Müde setzte
sie sich auf einen Stuhl und lehnte sich zurück. Das Brummen
der Klimaanlage in den Ohren schlief sie ein.
Ein rosafarbenes Meerschweinchen sprang über eine Wiese. Marena sah, wie es auf eine Fensterscheibe
zusprang.
"Nein! nicht! pass auf!," schrie sie, doch es half nichts, das Tier sprang und das Glas zerbrach klirrend.
Marena sprang auf. Sie blickte sich verstört um. Draußen war es bereits dunkel, die Klimaanlage
brummte immer noch. Sie riss sich zusammen und drehte sich um. Verschlafen trottete sie in den
nächsten Raum.
Wenn sie sich beeilte war sie pünktlich zum Freitagskrimi zuhause, stellte sie nach einem Blick auf ihre
Uhr fest. Der Raum war fast gänzlich leer bis auf eine Vitrine in dessen Mitte. Marena trat näher heran,
bis sie direkt davor stand.
In einem Sarkophag, den Körper noch in Leinbinden versteckt, lag ein Pharao. Marena musterte das
freiliegende Gesicht. Sie hatte sich die Mumien aus dem alten Ägypten immer ziemlich widerlich
vorgestellt, doch sie hatte sich geirrt.
Die graue Haut, die mit der Zeit wohl ihre Farbe verloren hatte, ähnelte eher Leder und zog sich straff
über die hohen aber schmalen Wagenknochen und den glatt rasierten Schädel.
Marena stutzte, die feinen Gesichtszüge wirkten fast noch kindlich. Ihr Blick fiel auf das kleine Schild,
das an der Vitrine befestigt war.
'Tutanchaton, später Tutanchamun, was soviel heißt wie: dem Amun gefallend Er führte die alten Götter
und teilweise den alten Kunststil wieder ein. Seine neue Hauptstadt wurde wieder Theben.'
Marena blickte wieder zurück auf die toten Gesichtszüge. Das war also dieser berühmte Pharao, der im
Alter von 18 Jahren gestorben war... Irgendwie sah er gar nicht aus wie ein Pharao, sondern wie ein
ganz normaler Junge. Marena hatte schon viel von ihm gelesen, denn insgeheim beschäftigte sie sich
gerne mit dem antiken Ägypten.
Ein dumpfer Schlag ließ sie zusammenfahren und sich umdrehen.
Einige Schritte von ihr entfernt stand ein Mann mit einer Kapuze über dem Kopf, der sie entsetzt
anstarrte.
"Nichts für ungut, Mädchen...," begann er zögernd und ging auf sie zu. "Ich will dir eigentlich nichts
tun, aber da du mich gesehen hast..."
Marena sank entsetzt in die Knie beim Anblick des langen Dolches, den der Mann entblößte.
Marena rutschte zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Scheibe der Vitrine. Der Mann kam immer
näher. Verzweifelt öffnete sie den Mund um etwas zu schreien, doch ihre Stimme versagte.
'Hilfe! Das kann doch nur ein böser Traum sein,' dachte sie und schloss die Augen.
Doch als sie sie wieder öffnete, kniete der Mann vor ihr nieder und packte unsanft ihre Arme und
drückte sie zurück. Als sie sich nicht wehrte, setzte er langsam das kalte Messer an ihren Hals, noch
zögerte er.
'Hilfe! Helft mir! Irgendjemand!," schrie Marena in die Tiefen ihrer Seele. Tränen schossen ihr in die
Augen. In ihrem Magen begann sich alles zu drehen und Säure kroch ihr den Hals hinauf.
Sie spürte ein Stechen, als das Messer einen kleinen Ritz in ihren Hals schnitt und ein kleines Rinnsal
warmer Flüssigkeit über ihre Haut lief.
'Bitte helft mir!,' schrie sie noch einmal verzweifelter als zuvor in sich hinein. Doch es kam keine
Antwort.
Die Neonlichter flackerte auf, als eine kurze Druckwelle durch den Raum ging. Die Vitrine hinter Marena
zerbarst und die Splitter flogen an ihr vorbei, zerschnitten ihre Haut und ihr Hemd. Den Schmerz jedoch
spürte sie nicht.
Ein goldener Stab blitze neben Marena auf und fuhr dem Mann zwischen die Augen. Es knackte, dieser
verdrehte die Augen und kippte zuckend nach hinten. Zwischen den Glasscherben blieb er schließlich
liegen.
"Ich weiß nicht, wie es hierzulande Sitte ist...," sagte eine beherrscht männliche Stimme hinter Marena
und sie drehte sich zitternd um. "Aber so behandelt man kein Weib ohne Grund," sagte der schlanke,
große Mann, der auf dem Sarg stand.
Schwarze Schulterlange Haare fielen ihm an den hohen Wagenknochen hinunter und eine große Kette
aus Tonperlen lag über seiner Brust. Ansonsten trug er nichts weiter außer einem Lendenschurz aus
weißen Leinen, der einen Kontrast zu seinem angenehmen braunen Hautton bildete. In der Hand hielt er
die goldblaue Geißel eines Pharaos. Seine tiefschwarzen Augen, mit denen er sie musterte, besaßen
einen fast saphirähnlichen Blaustich.
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so das war dann das erste kapitell auch schon.
@Motzi_die_Katze: vielen dank für die rechtschreibekorrektur...!