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Die letzten Jahre

von

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"Heimweh"

Kapitel XVI : „Heimweh“
 

Harry schaffte es nicht mehr, ordentlich vom Besen herunterzusteigen. Stattdessen ließ er sich kaum, dass er mit den Füßen den lang ersehnten Boden berührte, zur Seite ins Gras fallen.
 

Erschöpft lauschte er dem Pochen seines Herzens. Das Gras unter ihm war feucht und kalt, der Himmel über ihm dunkel, Wolken verbargen die Sterne. Doch er hatte es geschafft. Er war wieder zu Hause. Bei seinen Freunden.
 

Und er hatte versagt. Natürlich hatte er das. Es war ihm von Anbeginn seiner Flucht bewusst gewesen, doch da hatte er sein Versagen nicht als schlimm empfunden. Er tat es auch jetzt nicht – redete er sich ein. John hatte ihn zurückholen wollen. Er hatte gesagt, dass er ihn dabei haben wollte. Und doch hatte er sich in letzter Sekunde wieder dem Clan zugewendet, hatte ihm nicht helfen wollen.
 

Es tat weh.
 

Und deswegen war das für ihn noch ein Grund gewesen, wieder zurückzukehren. Seine Freunde – Hermine und Ron – würden immer zu ihm halten. Sie hatten keine anderen Verpflichtungen, die sie über ihn stellten. Sie hatten sich immer gegen alle Regeln gestellt, um ihn zu helfen.
 

Über diesen Gedanken schlief er ein.
 

~~~~~*~~~~~
 

Als Harry aufwachte, war der Himmel über ihm von einem klaren Blau. Die Wolken hatten sich verzogen und die Sonne strahlte ihm genau in die Augen. Er richtete sich auf und stellte dabei fest, dass er vollkommen durchnässt war. Als er aufstand, versuchte er den gröbsten Dreck abzuwischen, doch die Grasflecken blieben.
 

Blinzelnd sah er zum Schloss. Er konnte niemanden sehen, doch der hohe Stand der Sonne zeigte ihm an, dass er nur Glück gehabt hatte, dass ihn bisher niemand gesehen hatte. Es musste schon fast Mittag sein.
 

Jetzt stellte sich nur eine Frage: Wie sollte er in dieses Schloss kommen, ohne allzu viel Aufsehen zu erwecken? Wenn er von irgendwem gesehen wurde, bevor er in das Büro von McGonagall gelangte, würde das nicht nur für Gerüchte, sondern eventuell auch für reichlich Ärger sorgen.
 

Was soll's, dachte er sich und nahm seinen Besen in die Hand. Er würde halt vorsichtig sein müssen.
 

Seine Füße fühlten sich seltsam leicht an, als er Schritt für Schritt über das Gras ging. Und doch hielt irgendetwas Schweres seinen restlichen Körper zurück.

Er kniff die Augen zusammen, um erkennen zu können, ob jemand in der Nähe war, dann rannte er zu dem großen Torbogen und versteckte sich hinter einem Baum, der in der Nähe stand. Genau in diesem Moment läutete die große Glocke im Turm über ihm. Er zuckte zusammen, weil er das Geräusch schon lange nicht mehr gehört hatte, dann atmete er erleichtert aus. Es war die Mittagsglocke. In weniger als fünfzehn Minuten würden sich alle Schüler in der Großen Halle versammelt haben und zu Mittag essen. Sein Magen knurrte, als er an das herrliche Essen in Hogwarts dachte und ihm fiel ein, dass er selber seit gestern früh nichts mehr gegessen hatte – doch das war seine Chance.
 

Er wartete ab, und während Minute um Minute verstrich, versuchte er sich zu erinnern, wie er zu McGonagalls Büro gelangte.
 

Schließlich kam er aus seinem Versteck hervor schob sich an der Wand entlang und spähte in die Eingangshalle. Niemand war zu sehen, also lief er schnell zu einer großen Statue, die an einer der Seiten stand. Aus der Großen Halle hörte er die Stimmen von hunderten von Schülern und das Geklirr von Besteck. Auf Zehenspitzen lief er von der Statue in einen abzweigenden Gang. Sein Herz machte einen Satz, als ihm einfiel, dass er vorher gar nicht in diesen hineingesehen und sich vergewissert hatte, ob er auch leer war. Doch er hatte Glück: Offensichtlich waren wirklich alle Schüler beim Essen.
 

Der restliche Weg war einfach. Ein paar Gänge entlang, hineinsehen, ein paar Treppen hoch, sich hinter der einen oder anderen Statue verstecken oder unterm Treppenabsatz – nur einmal musste er sich wirklich verstecken: Ein Erstklässler lief die Treppe herunter. Harry dachte sich, dass er ziemlich verzweifelt aussah und für einen Moment kam seine alte Heldeneigenschaft wieder zum Vorschein, doch er konnte sich gerade noch zurückhalten und blieb in seinem Versteck, bis der Junge verschwunden war.
 

Als er schließlich vor McGonagalls Bürotür stand, zögerte er. Sollte er klopfen? Oder einfach die Türe aufmachen? Wahrscheinlich war sie noch nicht einmal da – gerade jetzt musste auch sie beim Essen sein und danach würde sie Unterricht haben. Doch es war besser, wenn er irgendwie rein kam, anstatt im Gang zu stehen und zu riskieren, erwischt zu werden.
 

Da fiel ihm ein, dass er seinen Zauberstab verloren hatte – wie sollte er die Türe bloß ohne Zauber aufbekommen? Mit aufkommender Panik lehnte er seine Stirn an die Türe.
 

Diese gab plötzlich nach und er stolperte nach vorn. Erschrocken hielt er sich am Türrahmen fest und starrte in den Raum, in der Erwartung, dass irgendjemand vor ihm stände. Doch das Büro war leer. Natürlich war es leer.
 

Vorsichtig schloss Harry die Tür wieder hinter sich und beschloss, auf McGonagall zu warten.
 

Nach einigen Minuten wurde ihm das jedoch auch zu langweilig. Er stand von dem Sessel auf, auf dem er es sich gemütlich gemacht hatte, und besah sich das Regal hinter dem Schreibtisch. Auch das langweilte ihn recht schnell, denn es handelte sich – wie nicht anders zu erwarten war – nur um Sachbücher. Plötzlich fiel sein Blick auf die Unterlagen auf dem Schreibtisch. Was seinen Blick so gefangen hatte war ein Bild von ihm selbst, das auf einem der Stapel ganz oben lag.
 

Er machte einen Schritt darauf zu, langsam, weil er sich trotz langer Erfahrung in der Zaubererwelt noch nicht ganz an sich bewegende Bilder gewöhnt hatte – erst recht, wenn es sich auf dem Bild um ihn selbst handelte.
 

„Vermisst ...“, las er flüsternd die Titelzeile. Auf dem Bild darunter lächelte er sein schönstes Heldenlächeln. Er wusste gar nicht, wann er einmal so gelächelt haben sollte.
 

~~~~~*~~~~~
 

Es war sicher mehr als eine Stunde vergangen, als er auf einmal hörte, wie sich Schritte der Tür näherten. Er stand gerade auf, als ihm einfiel, dass McGonagall vielleicht nicht allein war. Er wollte zuerst mit ihr persönlich sprechen – weil sie die Direktorin von Hogwarts war und auch, weil sie nichts so schnell aus der Fassung bringen konnte, jedenfalls würde sie nicht das ganze Schloss zusammen schreien.
 

Hektisch blickte er sich um, sah den Vorhang am Fenster und schlüpfte dahinter. Keine Sekunde zu spät: Schon im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet und die Stimmen wurden verständlich.
 

„Ich bitte Sie, Mrs McGonagall!“
 

„Ich habe nein gesagt, und dabei bleibt es auch.“
 

Ein Stuhl wurde verschoben. Harry versuchte, seinen Atem anzuhalten. Die fremde Stimme kam ihm bekannt vor.
 

„Aber-“
 

„Kein aber, junge Lady! Ich kann durchaus verstehen, dass Sie sich Sorgen machen, aber das ist kein Grund, panisch und unüberlegt zu handeln!“
 

„Aber was sollen wir denn sonst tun? Es ist schon drei Monate her und wir haben kaum eine Spur von ihm!“
 

„Wenn man Moodys Paranoia trauen kann, meinen Sie? Ich halte nicht viel davon. Mr Potter war immer ein Verfechter der weißen Seite, wieso sollte er sich auf einmal irgendwelchen ominösen Untergrundorganisationen angeschlossen haben?“
 

Schweigen.
 

„Miss Granger, ich hoffe doch sehr, dass Sie auch Mr Weasley klar machen, wie sinnlos und gefährlich Ihre Pläne sind.“
 

Harry hörte nicht, wie Hermine 'Ja' sagte, doch er konnte das Nicken spüren. Die Tür klackte, als sie erneut geöffnet und geschlossen wurde. Eine unwirkliche Stille legte sich über das Büro.
 

Harry hatte ganz langsam ausgeatmet und wieder eingeatmet, doch jede Bewegung, sei es auch nur sein Atem, erschien ihm verräterisch. Minuten waren seit Hermines Abgang vergangen und mit jeder Sekunde sank sein Mut, hervorzutreten und sich zu zeigen. Er konnte hören, wie McGonagall in ihren Unterlagen blätterte. Das Ticken der Wanduhr war das einzige Zeichen von Zeit, und doch hatte er das Gefühl, dass die Abstände zwischen den Sekunden immer länger wurden.
 

„Sie können sich jetzt zeigen, Mr Potter.“
 

Harrys Herz machte einen Satz. Vor Schreck stolperte er aus seinem Versteck hinter dem Vorhang hervor und verhedderte sich darin, sodass er auf den roten Teppich fiel. McGonagall beobachtete ihn scheinbar unbeeindruckt, doch als Harry sich mit glühenden Wangen aufrappelte, meinte er einen Schimmer der Erleichterung in ihren Augen zu sehen.
 

„Sie sehen fürchterlich aus, Mr Potter.“
 

Harry fuhr sich durch die vom Wind zerzausten Haare.
 

„Ließ sich nicht vermeiden.“
 

McGonagall musterte ihn weiter, doch es war kein abschätziger Blick, wie man bei seinen verdreckten Klamotten vielleicht annehmen könnte, sondern vielmehr ein Blick, der prüfte, ob noch alles an ihm dran war.
 

„Setzen Sie sich, Potter.“
 

„Aber ... die Sitze ...“
 

„Glauben Sie, das würde mir etwas ausmachen?“ McGonagall hob eine Augenbraue. „Setzen Sie sich, trinken Sie eine Tasse Tee und erzählen Sie, wo Sie in den letzten drei Monaten gewesen sind.“
 

Harry schluckte. Es war klar, dass sie das fragen würde, doch wenn er ehrlich war, hatte er sich noch keine Antwort zurechtgelegt. Er musste also das Blaue vom Himmel herunter lügen – doch McGonagall würde ihn mit Sicherheit durchschauen. Sein Körper war bis in die Spitzen angespannt, als er sich in dem weichen Sessel niederließ und den Kopf gesenkt die Hände in seinem Schoß faltete.
 

Minutenlang sagte keiner ein Wort.
 

„Tonks und Kingsley haben Sie gesehen, Mr Potter.“, fing McGonagall schließlich das Gespräch an. „Können Sie mir einen Grund nennen, wieso Sie weggelaufen sind?“
 

Harry schluckte. Natürlich erinnerte er sich noch. Erst durch diese Flucht war er in dieses seltsame Haus geraten mit dem noch viel seltsameren Mann, der ihm damals zu seiner neuen Identität verholfen hatte. Er entschied sich dafür, so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben.
 

„Damals wollte ich noch nicht zurück. Ich – ich habe mich einfach erschrocken, als ich die beiden gesehen habe und hatte Angst, dass sie mich wieder zurückholen wollten.“ Er schluckte und hoffte, dass McGonagall nicht weiter nachhaken würde.
 

Sie hob eine Augenbraue, tat ihm aber den Gefallen.
 

„Und von da an haben wir Sie nicht mehr gesehen. Wo in aller Welt haben Sie sich rumgetrieben?“
 

„Mal hier, mal dort.“ Harrys Kehle wurde trocken. „Ich hab mich halt so durchgeschlagen, genug Geld von meinen Eltern hatte ich ja.“
 

„Daher auch die Auflösung ihres Kontos.“
 

„Ja.“ Davon wusste sie also auch. „Es war nicht sonderlich schwer, so zu leben. Aber ...“
 

Er verstummte. McGonagall sagte nichts, sah ihn nur mit ihren strengen Augen an und wartete, bis er weitersprach.
 

„Es hat mir nichts gebracht. Ich habe die ganzen drei Monate verschwendet. Ich habe nichts von dem erreicht, was ich wollte. Deswegen bin ich zurückgekommen.“
 

McGonagall sah ihn an, ohne eine Miene zu verziehen. Dann, langsam, schob sie sich die Brille hoch, stand auf, wobei sie sich auf den Lehnen ihres Sessels aufstützte und ging um den Schreibtisch herum. Harry erschrak, als sie ihm auf einmal ihre Hand hinhielt.
 

„Willkommen zurück, Harry.“
 

Die Andeutung eines Lächelns war auf ihren Lippen zu lesen.
 

~~~~~*~~~~~
 

McGonagall begleitete ihn zum Gryffindorgemeinschaftsraum. Da gerade Unterricht war, hielt sich keiner dort auf, die Schüler, die Freistunden hatten, verbrachten diese Zeit meistens in der Bibliothek oder draußen, um die ersten grünen Zweige zu sehen.
 

Etwas befangen sah Harry sich um. Alles sah noch so aus wie vorher: Die lose zusammengewürfelten Sessel, der Kamin, in dem ein gemütliches Feuer brannte und die Farben, Rot und Gold. Es war ein Gefühl des Wiederkehrens, das ihn durchströmte.
 

„Ihre Sachen sind noch hier. Die Hauselfen haben sie nur weggeräumt, aber ich werde ihnen Bescheid sagen, dass sie sie wieder hochbringen sollen. Sie haben eine halbe Stunde Zeit, um sich wieder etwas einzugewöhnen, dann werden wohl die ersten Schüler reinkommen.“ McGonagall wandte sich um. „Ich sage jetzt der Lehrerschaft von Ihrem Auftauchen Bescheid, dann komme ich wieder zurück. Halten Sie sich solange an Ihre Freunde.“
 

Dann verließ sie den Raum wieder durch das Portrait.
 

Plötzlich fühlte Harry sich allein. Nein, nicht allein – er fühlte sich fremd. Fremd in diesem Raum. Wieso? Drei Monate konnten doch nicht so viel ausmachen, außerdem erkannte er doch alles wieder. Und doch hatte er das Gefühl, nicht mehr hierher zu gehören.
 

Weil er sich unwohl fühlte, wenn er nur so dastand, begann er auf und ab zu laufen. Schließlich wurde ihm auch das zu dumm und er setzte sich in den Sessel, der am nähesten am Kamin stand. Doch die Flammen konnten ihn nicht beruhigen. Er sprang auf und lief die Treppe zum Jungeschlafsaal hoch. An der Tür angekommen, zögerte er kurz. Er hatte das Gefühl, in einen anderen Raum zu gehen sei gefährlich – obwohl er wusste, dass sich um diese Zeit niemand dort aufhalten würde. Als er die Tür aufdrückte und nach links sah, war er beinahe erschrocken über das leere Bett, das am Fenster stand. Es war nicht bezogen, kein Koffer stand daneben und selbst die durcheinander geworfenen Sachen der anderen schienen den Platz um sein Bett herum vermieden zu haben. Es war, als hätte nie jemand hier gelebt.
 

Den Anblick nicht ertragen könnend, ging er wieder hinunter in den Gemeinschaftsraum, nahm sich wahllos ein Buch, das auf einem der Tische lag, setzte sich wieder an den Kamin, jedoch auf den Boden, und begann zu lesen.
 

Jedenfalls versuchte er es. Denn als er einige Zeit später die ersten Stimmen hörte, hatte er keine einzige Seite umgeblättert.
 

Er stand auf, weil er sich, den Rücken zum Portrait gewandt, ungeschützt fühlte. Das runde Loch, vor dem das Bild aufgehängt war, öffnete sich. Einen Moment lang schien die Zeit stehen geblieben zu sein.
 

Dann schlüpfte ein Erstklässler durch.
 

Das kleine Mädchen starrte ihn an, Harry starrte zurück. Er hatte sie noch nie gesehen, aber natürlich wusste jeder, wer Harry Potter war. Harry sah, wie ihre Lippe anfing zu zittern und sie auf einmal einen markerschütternden Schrei losließ und umkippte.
 

„Hey, hey, hey, alles in Ordnung?“
 

Harry lief zu dem Mädchen und hob es hoch, sodass es wieder stand. Sie starrte ihn immer noch mit weit aufgerissenen Augen an.
 

„Brauchst doch nicht gleich zu schreien ...“, murmelte Harry etwas befangen.
 

„Du bist – du bist-“
 

„Jaja, ich weiß. McGonagall – ich meine, Professor McGonagall kommt gleich und erklärt alles.“
 

Er führte das Mädchen zum Kamin, ließ sie sich in einen Sessel setzen und drückte ihr das Buch in die Hand.
 

„Hier. Lies das, bis sie da ist. Ist spannend.“
 

Das Mädchen, immer noch neben sich stehend, nahm das Buch und starrte genauso auf die Seiten, wie Harry es getan hatte.
 

Aus irgendeinem Grund ließ Harry sie nicht aus den Augen.
 

Eine Weile lang war es vollkommen still.
 

Und dann:
 

„Harry?“
 

Er erstarrte. Die Stimme kam vom Eingang. Und obwohl es eindeutig eine Frau war, die da seinen Namen ausgesprochen hatte, so war es doch nicht McGonagall. Harry wusste genau, wer es war.
 

„Harry! Oh mein Gott!“
 

Er hatte sich gerade umgedreht, da flog ihm Hermine regelrecht in die Arme. Sie drückte sich an ihn, als wäre es das einzig Wichtige auf der Welt. Er spürte, wie seine Schulter nass wurde und umarmte sie zaghaft zurück. Es war ein seltsames Gefühl, einem Menschen wieder so nahe zu sein.
 

Hinter ihnen versammelten sich andere Schüler, und er suchte nach einem Jungen mit roten Haaren. Hermine drückte ihn von sich, ließ ihn jedoch nicht los, sondern begutachtete ihn von oben bis unten.
 

„Ist alles okay mit dir, Harry?“
 

„Ja ... alles in Ordnung.“
 

Doch sie sah ihn immer noch mit diesem besorgten Blick an.
 

„Harry ... du ... wo warst du die ganze Zeit?“ Hermines Augen glänzten noch feucht. „Weißt du eigentlich, wie viele Sorgen wir uns gemacht haben?“
 

„Ja ...“ Harrys schlechtes Gewissen verstärkte sich. „Deswegen bin ich auch zurückgekommen ... es tut mir Leid.“
 

„Entschuldigung angenommen.“ Hermine lächelte. „Aber nur unter einer Bedingung: Tu uns das nie wieder an! Nie wieder, hörst du? Wir sind doch deine Freunde, Harry! Du kannst mit uns über alles reden, wir stehen zu dir, hast du das kapiert?“
 

Über alles reden? Harry bezweifelte dies, als er daran zurückdachte, was er wirklich in den letzten drei Monaten getan hatte. Weder Hermine noch Ron würden als Verfechter der weißen Seite verstehen können, dass er sich einer so zwielichtigen Gruppe wie der von Jakob angeschlossen hatte – und er wollte gar nicht wissen, was sie sagen würden, wenn sie erfahren würden, wie absolut dämlich er sich angestellt hatte. Wahrscheinlich würden sie ihn irgendwo anketten, aus Angst, dass er gegen die Wand laufen würde.
 

Plötzlich tauchte ein Rotschopf in der Menge, die sich inzwischen um sie herum gebildet hatte, auf. Es war Ron.
 

Er sagte nichts, sondern umarmte gleich beide. Harry hoffte, dass Ron nicht auch anfangen würde zu weinen; der ganze Trubel war so schon mehr als genug für ihn.
 

Seine Erlösung war McGonagall, die plötzlich hinter den Schülern stand.
 

„Ruhe!“ Ihre energische Stimme ließ sofortige Stille einkehren. Sie sah ernst in die Runde. „Wie Sie alle sehen, haben wir ab heute einen alten neuen Schüler auf dieser Schule, Harry Potter. Genug der Information. Wenn ich einen von Ihnen erwische, wie Sie Mr Potter belästigen, Gerüchte über ihn verbreiten oder ihn sonstwie in seinem Leben stören, wird das ernsthafte Konsequenzen für Sie haben. Ich hoffe, jeder hat mich verstanden.“ Sie sandte noch einmal einen giftigen Blick, der über alle Schüler glitt, nickte Harry dann zu und verschwand wieder.

Dieser fühlte sich nicht wirklich sicher in seiner Haut. Er bezweifelte, dass diese karge Rede irgendjemanden, abgesehen vielleicht von den ängstlichen Erstklässlern, davon abhalten würde, ihn mit Fragen zu durchlöchern.
 

Ron zupfte ihn am Ärmel.
 

„Komm, wir gehen hoch. Dann kannst du uns alles erzählen, wenn du willst.“
 

Harry zögerte nicht, dass Angebot anzunehmen. Er, Ron und Hermine gingen schnellen Schrittes die Treppe zu den Jungenschlafsälen hoch und Hermine verschloss die Tür mit einem Zauber.
 

Harry setzte sich auf sein Bett. Mit einem flauen Gefühl beobachtete er, wie Hermine und Ron sich neben ihn setzten, einer links, einer rechts. Plötzlich fühlte er sich eingezwängt zwischen den beiden, sagte aber nichts.
 

Auch sie schwiegen, sie schienen darauf zu warten, dass er zu erzählen begann.
 

Aber was konnte er sagen? Die Wahrheit war ausgeschlossen. Sie würden es nicht verstehen, es nicht akzeptieren. Und die wenigen Informationen, die er McGonagall gegeben hatte, würden ihnen nicht reichen. Er musste sich etwas Neues ausdenken.
 

„Ich ... na ja ...ihr wollt sicher wissen, was ich die ganze Zeit gemacht hab, oder?“ Ron nickte. „Na ja ... diese Sache ist die ... ich hab nicht wirklich was gemacht. War mal hier, mal da. Es hat nicht wirklich etwas gebracht, wisst ihr. Und deswegen bin ich wieder hier.“
 

Soweit war es die Geschichte, die er auch McGonagall aufgetischt hatte.
 

Ron nickte zustimmend, doch Hermine sah ihm immer noch in die Augen. Er wich ihrem Blick aus.
 

„Und weiter?“, fragte sie.
 

„Weiter ...? Na ja ... Soll ich dir jetzt erzählen, wann ich in welchem Gasthaus war?“ Er lächelte gezwungen. Hermine biss sich auf die Lippe. Bereits aus dem Augenwinkel konnte Harry erkennen, dass sie etwas sagen wollte. Ihm war bewusst, dass sie ihm nicht glaubte. Oder vielleicht war das auch zu viel gesagt – aber sie wusste, dass er ihnen etwas verheimlichte.
 

„Okay ...“, sagte sie schließlich langsam und legte ihre Hand auf seine. „Harry, schön, dass du wieder da bist.“
 

~~~~~*~~~~~
 

Als Harry die Augen aufschlug, war es vollkommen dunkel um ihn herum. Er drehte sich um und versuchte wieder einzuschlafen, doch schon kurze Zeit später musste er einsehen, dass er vollkommen wach war. Blind wie er war, schlug er die schwere Bettdecke zurück und tapste auf nackten Füßen durch den Schlafsaal, fand die Tür, machte sie auf und schloss sie ebenso leise, als er hinausgegangen war.
 

Natürlich war der Gemeinschaftsraum leer. Die Dunkelheit wurde nur von einem warmen Kaminfeuer erhellt. Harry ging daran vorbei und öffnete das Portrait. Die fette Dame blinzelte, wachte zu seinem Glück jedoch nicht auf.
 

Als er draußen auf dem Gang stand, wusste er nicht, was er tun sollte. Es schien mitten in der Nacht zu sein; der Gang, in dem er stand, war kalt, dunkel und als er genauer auf die Stille um ihn herum lauschte, hörte er leises Geraschel und Gemurmel, das wohl von den Bildern kommen musste. Die Sperrzeit war mit Sicherheit noch nicht vorbei – wenn er sich recht erinnerte, durfte man erst ab sechs Uhr aus den Gemeinschaftsräumen heraus.
 

Schließlich, um nicht einfach so dazustehen, setzte er sich in Bewegung. Er ging los, stieg eine Treppe hinunter und schlich durch die verschiedensten Gänge. Dabei war es ihm egal, ob links oder rechts, oder in welcher Etage er sich gerade befand. Es war ein seltsames Gefühl, wieder in Hogwarts zu sein. Jetzt spürte er es noch mehr, dieses Gefühl, das vertraut sein müsste, es aber dennoch nicht war. Harry erschrak, als er im Dunkeln beinahe gegen eine Wand gelaufen wäre, die er dort nicht vermutet hatte. Er wusste, dass Hogwarts sich immerzu veränderte, doch er hatte sich nicht erinnern können, dass sich hier jemals eine Wand bewegt hatte. Als er gezwungenermaßen umkehrte, bewegte sich plötzlich die Treppe, über die er hinauf gekommen war, und zwang ihn dazu, einen anderen Weg zu nehmen.
 

Harry gab es auf, sich orientieren zu wollen. Er konnte nur hoffen, auf keinen der Lehrer zu treffen, doch jetzt, da Snape nicht mehr da war, war diese Gefahr mindestens um die Hälfte des Risikos entschärft.
 

Snape.
 

Harry hatte schon lange nicht mehr an ihn gedacht. Denjenigen, der Schuld an seinem Schicksal war. Dabei hatte er es sich sogar zum Teil selbst zuzuschreiben, Held, der er gewesen war, musste er sich natürlich dem sicheren Tod entgegen werfen. Doch ansonsten würde jetzt McGonagall auf der Schwelle zum Tod stehen.
 

Harry blieb vor einer geschwungenen Treppe stehen und sah nach oben, wo sie ins Nichts führte. Ohne zu zögern ging er darauf zu und begann sie hinaufzusteigen, ohne sich dafür zu interessieren, wohin er damit kam.
 

Er war gerade an den letzten Stufen angekommen, als er einen scharfen Windhauch an seinem Körper spürte. Er öffnete die Tür am oberen Ende der Treppe und befand sich plötzlich draußen.
 

Der Wind pfiff eisig an ihm vorbei, Regen peitschte den kalten Steinboden unter seinen nackten Füßen und am Himmel durchzuckte just in diesem Moment ein heller Blitz die zusammengedrängten Wolken. Harry zog fröstelnd die Arme an den Körper, doch es fühlte sich an, als würden seine Kleider kein Hindernis für den Wind darstellen.
 

Als er sich umsah, stellte er fest, dass er auf einem der vielen Türme des Schlosses stand. Vor ihm erstreckte sich eine kleine Terrasse, die nach etwa zwei Metern von niedrigen Zinnen abgegrenzt wurde. Harry trat an sie heran und wagte einen Blick in die Tiefe. Die Wand des Turmes verlor sich irgendwo in der Dunkelheit und als er seine Augen von ihr löste und seinen Blick über die Wiesen schweifen lassen wollte, sah er nur die Schwärze der Nacht.
 

Harry seufzte und zog sich wieder zurück, doch obwohl die Kälte ihm langsam die Finger taub werden ließ, machte er keine Anstalten, wieder hinunterzugehen, sondern lehnte sich mit dem Rücken an die Zinnen. Was machte er hier eigentlich? Anstatt sich hier den Tod zu holen, sollte er lieber gehen und den Gemeinschaftsraum suchen. Er hatte heute zum ersten Mal wieder Schule und sollte sich besser darum kümmern, den verpassten Stoff wieder aufzuholen. Doch irgendetwas hinderte ihn daran, einfach wieder in den alten Trott zurückzufallen.
 

Denn das würde er. Zurückfallen. Verhalten sah Harry über die Schulter, drehte sich jedoch schnell wieder weg. Er hatte schon darüber nachgedacht, sich umzubringen, doch was würde das nützen? - Nur sein Leben noch vorzeitiger beenden. Und diese Methode würde sicher nicht diejenige sein, die er wählte. Er war sich sicher, solch eine Entscheidung in der Sekunde zu bereuen, in der es kein Zurück mehr gab.
 

Harry stieß sich von der Mauer ab und ging auf die Tür zu, die noch immer offen stand. Doch auf halber Strecke blieb er stehen und sah noch einmal zurück. Wenn es heller geworden war, wollte er noch einmal hierher zurückkehren und in die Tiefe schauen. In der Hoffnung, unendlich weit sehen zu können.
 

Denn jetzt konnte er das Gefühl bestimmen, dass ihn seit seiner Ankunft nicht mehr losließ: Es war das gleiche Gefühl, dass er bei seinen Herzattacken spürte; es fühlte sich an, als würde jemand sein Herz zerdrücken, langsam und ohne Gnade. Doch dieses Mal konnte er ganz ruhig dastehen, sein Atem war normal und kein Durst quälte ihn. Denn dieses Mal war es das Schloss selbst, das den Druck auf ihn ausübte.



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