Zum Inhalt der Seite

Iest

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Puck

„Los, wer als Erster beim alten Tempel ist!“

Es war Teres, der den Vorschlag machte. Es war immer Teres, der solche Spiele vorschlug, bei denen es um Kraft ging und um Ausdauer. Um hohe Sprünge und schnelles Klettern. Hauptsache, das Rundgesicht konnte nicht mitmachen. Bevor Suri protestieren oder ein anderes Spiel vorschlagen konnte, hatte sich schon ein großer Teil des Rudels an der üblichen Startlinie aufgestellt. Teres grinste verschlagen. Unschlüssig trat Suri von einem Bein aufs andere. Sie wusste nicht, wie sie sich entscheiden sollte. Wenn sie mitmachte, würde sie ein schlechtes Gewissen haben, weil Puck zurückbleiben musste. Würde sie nicht mitmachen, hätte Teres ein Grund über die Familie der Roten zu lästern. Und diese Chance würde er sich nicht entgehen lassen. Suri spürte wie sich eine Hand auf ihren Arm legte. Halb drehte sie sich um und sah in Pucks entschlossenes Gesicht.

„Los, mach schon!“ Puck schob sie näher in eine gute Startposition und dann ging es auch schon los. Wie ein Baumhörnchen kletterte Suri den fast senkrechten Steilhang hinauf. Sie war so wütend.

Wütend auf Teres, der sich diese Spiele ausdachte.

Wütend auf die anderen, die mitmachten.

Wütend auf sich selbst, weil ihr es etwas ausmachte.

In immer größeren Sprüngen hetzte sie den Hang hinauf. Mit einem mächtigen Satz sprang sie oben über die Kante. Sie musste gewinnen, für sich und für Puck.
 

Gelangweilt kickte Puck ein Steinchen über den Pfad. Auch wenn sie Suri überredet hatte, am Rennen teilzunehmen, hieß das nicht, dass es ihr Spaß machte, allein zurückzubleiben. Es würde jetzt mindestens zwei Stunden dauern, bis die Meute wieder zurückkam. Hoffentlich kam Suri als eine der Ersten ins Ziel. Langsam schlenderte Puck in Richtung Fluss. Sie würde den Weg bei der Schlucht hochklettern und schauen, ob PJ schon zurück war. Lust, sich andere Spielkameraden zu suchen, hatte sie keine, sie hätte ja auch nur noch mit den Kleinen Wollknäuel haschen können.

KRRCHHHHKRRRCHHHH. Puck fauchte leise und ließ die spitzen Eckzähne sehen. Aufmerksam lauschte sie in Richtung des Geräusches. Dann entspannte sie sich und grinste verlegen. War doch nur der Lastenaufzug. Sie ging ein wenig schneller und hatte bald den Fluss und den Lastenaufzug erreicht. Wie immer war sie fasziniert von der Konstruktion. Mächtige Schwungräder wurden vom schnellfliessenden Fluss angetrieben, die Kraft über Zahnräder auf die Zugseile umgelegt. Rasch hoben sich die Lastkörbe in die Höhe. Die ganze Ware, die über den Fluss kam wurde so zum Wohnbereich auf das Hochplateau hochgezogen. Puck setzte sich ans Wasser und schloss die Augen. Wie friedlich es hier war. Das Rauschen des Flusses, die leisen Rufe der Arbeiter, das Ächzen der Lastkörbe und der Holzkonstruktion. Doch in Gedanken war sie bei den Läufern, hörte ihre vereinzelten Rufe, das Hasten durch den Wald. Sie waren jetzt bestimmt schon auf dem Weg zum unteren Ende der Schlucht, dorthin wo die Wände nicht so weit auseinander standen wie hier unten. Wie immer würde Teres als Erster springen, dort wo die Schlucht noch mindestens 9 Meter breit war. Nur Suri und vielleicht Kahtyr würden noch so weit springen können. Die anderen mussten noch tiefer in den Wald hinein um eine schmalere Stelle zu finden. Das kostete Zeit. Puck seufzte. Doch so weit wie sie musste keiner dem schmalen Ende der Schlucht entgegen laufen. Natürlich hatte sie versucht, beim Rennen zum Tempel mitzumachen. Doch spätestens beim Abgrund war für sie Schluss. Das eine Mal als sie ebenfalls hinunter gesprungen war hatte sie sich beinahe die Beine gebrochen. Lange hatte es gedauert bis alle Prellungen verheilt waren und danach hatte Medina ihr verboten jemals wieder den Abgrund hinunter zu springen. Wütend zupfte sie ein paar Grashalme aus. Sie war halt nur ein halber Iester. Ein Bastard eben. Nicht weit entfernt von der Stelle an der sie saß, lag der große ausgehöhlte Stein, in dem die Arbeiter Flusswasser sammelte, damit es sich im Sonnenlicht erwärmen und abends zum Waschen benutzt werden konnte. Puck stand auf und betrachtete ihr Gesicht in der sich spiegelnden Oberfläche. Rundgesicht! Es schmerzte, wenn Teres sie so nannte, aber leider hatte er Recht. Die Stirn war nicht so breit, das Kinn nicht so spitz wie bei den anderen. Und dann die Augen! Weil ihr Gesicht eine längliche ovale Form hatte und nicht klein und dreieckig war, wirkten ihre Augen viel kleiner. Und dann waren sie auch noch grün! Ihre Ohren waren klein und spitz, aber es fehlten die typischen Fellbüschel und sie konnte sie nicht in alle Richtungen drehen. Wenigstens hatten ihre Haare den dunkelroten Farbton ihrer Familie. Wie das Holz des Ketschbaumes behauptete ihr Bruder Somu. Wütend schlug Puck mit der Handfläche auf die Wasseroberfläche und der Spiegel brach sich in vielen kleinen Wasserringen. Sie zog die Schulter hoch und wandte sich wieder dem Lastenaufzug zu. Wieder war ein Tragkorb fertig beladen und hob langsam aber stetig vom Boden ab. Sie verfolgte mit den Augen, wie er immer höher stieg. Ein Meter, zwei Meter, drei Meter. Puck spannte die Sprungmuskeln an. Im Sprung fuhr sie die Krallen aus und krallte sich in fünf Meter Höhe an den Seilen fest. Eine geschickte Drehung in der Taille und sie saß neben den Bündeln und Paketen im Korb. Eigentlich konnte sie doch fast alles was die anderen auch konnten, wenn auch nicht immer mit der gleichen Stärke. Munter baumelte sie mit den Beinen und ließ sich vom Korb nach oben tragen. War doch viel bequemer als das mühsame Klettern.
 

Die Aufwärtsbewegung des Korbes wurde langsamer und hörte dann ganz auf. Sie hatten ihr Ziel erreicht. Auf dem Plateau standen schon die Arbeiter bereit, um die Ware umzuladen.

„Was haben wir denn hier Feines“, lachte ihr Onkel Maath und hob Puck vom Korb herunter. „Das ist ganz für mich alleine.“ Er rieb seine Nase an ihrem Arm und schnupperte übertrieben daran. Die Männer und Frauen lachten gutmütig, während sie den Korb entluden. Geschickt wanderte ein Paket nach dem anderen von Hand zu Hand, Fässer wurden vorüber gerollt, dann war der Korb auch schon leer. Ein Zeichen ertönte und der Aufzug setzte sich wieder in Bewegung. Puck war zur Seite getreten um nicht im Weg zu stehen. Jetzt machte sie noch mehr Platz als die ersten Schubkarren und Fässer an ihr vorbeigerollt wurden. Alle waren schwer bepackt, doch fröhlich plaudernd wanderten die Arbeiter zum Dorf. Sie nickten Puck freundlich zu und verschwanden zwischen den Büschen. Maath, der Lagermeister, überwachte den Abtransport. Als letzter hob er sich ein schweres Bündel auf die Schulter und folgte ihnen. Bei Puck blieb er noch einmal stehen.
 

„Machen sie wieder mal ein Rennen zum Tempel?“ Puck nickte zaghaft und senkte den Kopf. Maath seufzte. Er liebte seine Nichte sehr, obwohl er nie hatte verstehen können, warum seine Schwester sich mit dem Fremden eingelassen hatte.
 

„Wird schon werden.“ Er strich ihr aufmuntern über den Nacken, rückte sein Bündel zurecht und ging mit großen Schritten in Richtung Dorf. Puck folgte ihm langsam, doch dann überlegte sie es sich anders und ging in die entgegen gesetzte Richtung, zur Schlucht. Dort stand, dicht vor der Kante, der größte Ketschbaum, den Puck je gesehen hatte. Seine Wurzeln reicht tief hinunter in Erdreich und Fels, seine Äste ragten weit hinaus bis über die Mitte der Schlucht und seine Blätter hatten tatsächlich die gleiche Farbe wie Pucks Haare. Im Moment spielte das Sonnenlicht mit ihnen, setzte Glanzlichter auf, warf Schatten. Puck schleuderte die Schuhe von den Füßen, steckte sie in die großen Hosentaschen und kletterte geschickt den knorrigen Stamm hinauf. Nicht lange und sie hatte die Spitze erreicht. Die Aussicht war überwältigend. Weit reichte der Ketschbaum über das Blätterdach der anderen Ketschen und Deitzen hinaus. Unter ihr lag das rotgrüne Blättermeer des Plateauwaldes, die andere Seite der Schlucht war fast zum Greifen nah. Irgendwo da drüben rannten, sprangen und kletterten jetzt die anderen um den Sieg. Von hier aus war der alte Tempel nur einen Sprung weit entfernt, Puck lachte grimmig, für sie hätte ein Ozean dazwischen liegen können. Sie wollte nicht mehr daran denken. Gemütlich lehnte sie sich in einer Astgabel zurück. Aus ihren unergründlichen Taschen glaubte sie ein paar Deitznüsse, die sie genüsslich knabberte. Die Sonne schien ihr warm ins Gesicht und der Wind wisperte geheimnisvoll in den Zweigen. Puck wurde schläfrig und die mächtige Baumkrone schaukelte sie sanft in den Schlaf.
 

„Ouuu ouuuu ou“ Sofort war Puck hellwach und spitzte die Ohren.

„Ouuuu ouuu“ Vorsichtig rutschte sie den Stamm hinunter und spähte durch das rote Laub. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht und sie drückte sich ganz dicht an den Stamm um nicht aufzufallen. Ihre Augen waren nur noch zwei schmale grüne Schlitze und das Haar vermischte sich mit dem Blattwerk. Puck verschmolz mit der Umgebung.

Die Ous hätten sich vermutlich auch so nicht von ihr stören lassen, denn die Iester machten keine Jagd auf die kleinen Primaten, die gemeinsam mit ihnen das Hochplateau bewohnten. Ab und zu versuchten die Kinder eines der Äffchen zu fangen, was ihnen aber eher selten oder eigentlich fast nie gelang. Die Ous waren perfekt an das Leben im Plateauwald angepasst. Sie waren klein und leicht und konnte noch hoch oben in der Baumkrone von Ast zu Ast springen. Mit ihren kräftigen Fingern und Zehen packten sie erstaunlich fest zu, selten fiel ein Ou vom Baum. Zur Not wickelten sie ihre kurzen Schwänzchen um den Ast, beim Springen fungierte sie als eine Art Ruder. Durch ihr wuscheliges rotgrünes Fell waren sie im Blätterdach der Ketschen und Deitzen sogar für die scharfen Augen der Iester sehr schwer auszumachen. So nah war Puck schon lange nicht mehr an sie herangekommen. Fasziniert beobachtete sie das muntere Treiben. Da gab es eine kleine Gruppe junger Ous die Fangen spielten. Jeder gegen Jeden. Das Fangen selbst schien nicht so wichtig, der Spaß lag in der gegenseitigen Verfolgungsjagd. Etwas erhöht saßen die Mütter mit ihren Jungtieren. Ganz besonders bezaubert war Puck von einem gerade ein paar Tage altem Jungtier, das sich fest an die Mutter klammerte. Sein flauschiges Fell war hellrot und hatte noch nicht die rotgrüne Färbung der Mutter. Sein kleines Gesichtchen guckte ernst unter dem Bauch der Mutter hervor, so als fragte es sich, was es denn hier solle.
 

Die Ous hatten sich über den ganzen Baum verteilt. Einige knabberten frische Knospen, andere pflückten Nüsse aus den nahen Zweigen der Deitzen und wieder andere hatten sich in einem kleinen Nest aus Blättern zusammengerollt und dösten. Ein kleiner Ou, dessen rotes Fell gerade erst grüne Spitzen bekam, hatte genug von dem wilden Spiel. Mit einer Deitznuss ließ er sich nicht weit entfernt von Puck auf einem Ast nieder und machte sich eifrig ans Werk, die Nuss zu knacken. Hochkonzentriert betrachtete er die Nuss von allen Seiten und kaute dann ein wenig darauf herum. Aber seine Zähnchen waren noch nicht scharf genug. Auch mit den Fingerchen, und den zur Hilfe genommen Zehen wollte es nicht so recht gelingen. Fast hätte der Kleine die Nuss vom Baum geworfen, als er sah, dass ein älterer Ou eine Nuss kräftig gegen den Baum hieb. Gesehen und nachgemacht war eines. Leider hielt der kleine Ou seine Nuss nicht fest genug, sie prallte vom Stamm ab und verschwand durch die Blätter hinunter auf den Boden. Puck konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, denn der Gesichtsausdruck des kleinen Äffchens war zu drollig. Sie hätte nie gedacht, dass die Ous zu so einer Mimik fähig wären. Eigentlich benahmen sie sich fast wie die Iester. Das leise Ou Geschnatter konnte durchaus eine Sprache sein. Der Ou hatte kurz in ihre Richtung geschaut, blieb aber ruhig auf seinem Platz sitzen. Er schien zu überlegen, ob es sich überhaupt lohnte, noch eine Nuss zu pflücken. Vorsichtig griff Puck in ihre Tasche und tastete nach den Nüssen, die sie darin aufbewahrte. Sie zog gleich zwei hervor und presste sie fest gegeneinander. Das leise Geräusch verriet ihr, dass sie die Schale geknackt hatte. Geschickt ließ sie die Nuss über den Ast kullern, bis sie vor dem kleinen Ou liegen blieb. Dieser betrachtete die Nuss misstrauisch. Wo kam die denn her. Er schaute nach oben und wieder runter zur Nuss. Dann nahm er sie doch in die Pfoten, wenn sie schon mal da war, konnte man es ja noch mal probieren. Es spürte wohl, dass diese Nuss anders war. Seine Finger fanden den Sprung, tasteten und drückten und plötzlich brach die Schale in zwei Teile und der rosafarbene Kern lag frei da. Genüsslich verspeiste es seine Beute, ließ dann die beiden Schalenhälften fallen und sprang mit einem Satz zu seinen Spielgenossen zurück.
 

Diese waren inzwischen zur Ruhe gekommen, hüpften nicht mehr wie wild in den Ästen und Zweigen herum. Sie hatten sich alle auf einem dicken Ast versammelt, dessen dicht belaubte Zweige weit über die Schlucht hinausragten. Leise schnatternd saßen sie da, kuschelten sich aneinander. Ein kleiner Affe saß ganz vorne und schaute gelangweilt in die Schlucht hinunter. Plötzlich sprang er auf, weit hinaus in die Leere über der Schlucht. Puck fuhr erschrocken hoch, doch der Ou ergriff eine von einem höheren Ast herabhängende Liane und schwang sich in weitem Bogen zurück in den Baum.
 

Puck schlug sich beide Hände vor dem Mund, konnte gerade noch verhindern, einen lauten Schrei auszustoßen. Mit großen Augen beobachtete sie, wie sich jetzt alle kleinen Ous abstießen und sich an Lianen zurück in den Baum schwangen. Jetzt bemerkte Puck auch, dass die größeren Ous die Lianen benutzen, um in weiter entfernte Bäume zu gelangen. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Deshalb also sah man die Ous so selten auf dem Waldboden. Sie konnten hervorragend klettern und weit springen und dank der Lianen musste sie die Baumkronen auch nicht verlassen, wenn sie weit auseinander stehende Bäume erreichen wollten. Warum waren ihr die Lianen eigentlich noch nie aufgefallen? Die Iester benutzen die Fasern einer Wasserpflanze, um daraus starke Seile zu knüpfen, Lianen würden vermutlich viel zu schnell verrotten. Aber die frischen Lianen schienen einiges an Gewicht auszuhalten, oder nicht? Vorsichtig umrundete Puck den Baumstamm. Auf der der Schlucht abgewandten Seite gab es keine Ous. Geschickt balancierte sie einen Ast entlang, bis sie eine von oben herabhängende Liane erreicht hatte. Vorsichtig zupfte sie an der Liane, aber sie schien fest verankert in den Ästen über ihr. Mit der Liane in den Händen setzte Puck sich auf den Ast und hängte sich dann mit ihrem ganzen Gewicht dran. Die Liane hielt. Trotzdem schaute sie zweifelnd zum Waldboden hinunter. Es war so hoch. Sicherheitshalber hangelte sie sich die Äste hinunter, bis sie eine Höhe erreicht hatte, in der sie immer noch sicher landen konnte, auch wenn die Liane reißen würde. Puck zog noch einmal kräftig an der Liane, dann holte sie tief Luft, visierte einen Ast im gegenüberliegenden Baum an und stieß sich ab. Zuerst kniff sie die Augen zusammen, riss sie aber sofort wieder auf, was gut war, weil sie schon auf der anderen Seite angekommen war. Sie riss ein paar Zweige und Blätter ab, landete aber doch relativ sicher auf einem stabilen Ast. Ungläubig drehte Puck sich um, schätze die Entfernung ab und konnte es kaum glauben. Einen so weiten Sprung hatte sie noch nie geschafft. Und dabei war es gar kein richtiger Sprung gewesen, mehr ein Gleiten durch die Luft. Sie stellte fest, dass sie die Liane immer noch mit beiden Händen fest umklammerte. Bevor sie richtig darüber nachdachte, stieß sie sich schon wieder ab und flog durch die Luft zurück zur großen Ketsche. Diesmal war ihre Landung schon viel besser. Sie ließ die Liane rechtzeitig los und landete geschickt auf dem Ast, von dem aus sie gestartet war. Übermütig hüpfte sie durch den Baum, sprang von Ast zu Ast und landete mitten unter den Ous.

„Ou, ou ouuuu“, machte sie vergnügt und kletterte dann wieder bis ganz oben in die Baumkrone. Etwas außer Atem stieß sie durch das Blätterdach. Wieder betrachtete sie die gegenüberliegende Seite der Schlucht, doch dieses Mal dachte sie nicht an Teres und die anderen. Sie merkte sich, wie weit die Äste der Ketsche über die Schlucht hinausragten, wie weit einige besonders lange Lianen auf den Boden hinunterreichten. Ein wahnwitziger Gedanke nahm Formen an, wurde geprüft und abgewogen. Zufrieden nickte sie. Plötzlich war die andere Seite der Schlucht in greifbare Nähe gerückt.
 

Eine ganze Weile saß Puck noch reglos in der Baumkrone und hing ihren Gedanken nach. Dann, als die Sonne schon tief am Horizont stand und der Wind kühler wurde, kletterte sie wieder nach unten. Die Ous waren verschwunden. Sie hoffte, dass sie sie nicht durch ihren Übermut vertrieben hatte. Am Fuße der großen Ketsche setzte sich das Mädchen auf eine Wurzel und zog sich die Schuhe an. Ein letzter Blick noch hinauf zu den Zweigen der Ketsche, dann lief sie durch den Plateauwald nach Hause. Erst langsam, dann immer schneller. Vielleicht machte Tante Beru heute Abend ja Wlats.
 


 

Suri war etwas außer Atem weil sie den ganzen Weg zurück gerannt war. Außerdem hatte sie ein schlechtes Gewissen. Dabei hatten sie sich ein fantastisches Rennen geliefert und sie war nur eine Schwanzbreite hinter Teres im Ziel angelangt. Er hatte zwar nichts dazu gesagt, aber er schien beeindruckt gewesen zu sein. Dafür hatten die anderen ihr lautstark gratuliert und sie hatte sich fest vorgenommen, beim nächsten Mal zu gewinnen. Vergnügt lachend und plaudern hatte sie sich mit den anderen auf dem Heimweg gemacht, als ihr auf halber Strecke Puck wieder einfiel, die allein hatte zurückbleiben müssen. Hastig verabschiedete sie sich von den andern. Der Blick, den sie Teres im Vorbeilaufen zuwarf hätte ihn eigentlich tot umfallen lassen müssen. Innerlich fluchte sie. Warum nur gelang es ihm immer wieder, andere, sie eingeschlossen, zu manipulieren?
 

Der Himmel verfärbte sich schon rosé- und orangefarben als sie die Siedlung erreichte. Kurz vor dem Tor verlangsamte sie ihre Schritte. Der Torwächter senkte leicht die Spitze seines Speeres vor der Tochter der Anführerin. Suri nickte ihm im Vorübergehen zu und lief dann wieder schneller. Bald hatte sie das Haus ihrer Familie erreicht. Hinter ein paar Fenstern brannte schon Licht und natürlich war die Küche hell erleuchtet. Suri schlüpfte durch die Gartenpforte, umrundete das Haus und betrat es durch die Hintertür.
 

Die Küche nahm fast das ganze Erdgeschoss ein und war Mittelpunkt des Hauses. Herzstück war der lange Küchentisch, an dem sich zu allen Tageszeiten Familienmitglieder, Freunde und Besucher trafen. Es stand immer frischer Kräutertee bereit und etwas, was PJ als „Kafeh“ bezeichnet und meistens von ihm selbst getrunken wurde, weil das Gebräu allen anderen zu bitter war. Herrscher über das Küchenreich war Tante Beru, die Schwester von Medinas Vater. Sie war die Älteste der Roten, manchmal etwas brummig aber immer sehr freigiebig mit ihren Kuchen und Plätzchen. Und sie konnte wunderbar die alten Geschichten und Legenden erzählen. In den langen Nächten der Dunkelmonde versammelte sich oft die halbe Siedlung im Haus der Anführerin, um den Geschichten der alten Beru zu lauschen.
 

Als Suri sich durch die Hintertür in die Küche schob, war sie für diese Zeit ungewöhnlich leer. Tante Beru war da, wie immer, stand am Herd und rührte in einem Topf, aus dem es schon sehr verführerisch duftete. Somu, der gleich neben der Türe auf dem Boden saß, ein zerlegtes Küchengerät vor sich, blickte nur kurz auf, als seine Zwillingsschwester an ihm vorbeiging. Medina und PJ nutzen den zurzeit noch leeren Tisch und hatten darauf große Lagepläne ausgebreitet. Von ihren Gesprächen der letzten Abende her wusste Suri, dass es sich dabei um die Lage der alten Minenschächte handelte. PJ hoffte dort ein ganz bestimmtes Erz zu finden. Pugga, der alte Wollknäuel, der wie immer im Körbchen neben dem Herd döste, wurde munter und rollte fiepend auf sie zu. In jedem Haushalt fand sich so ein kleines Kerlchen. Die Iester hielten sich die zutraulichen Wollknäuel als Haustiere und Spielkameraden für ihre Kinder. Tiere wie Pugga waren anhänglich und treu und nahmen selten etwas übel. Andererseits waren sie sehr territorial eingestellt und verteidigten ihr Revier. Ihre scharfen kleinen Zähne waren eine echte Gefahr für die kleinen Räuber und Schädlinge, die es auf die Vorräte der Iester abgesehen hatten. Zwei bis dreimal im Jahr wurde ihr wolliges Fell von den Iestern geschoren. Gesponnen und gewebt oder gestrickt ergab es warme bequeme Kleidung für die Zeit der Dunkelmonde. Suri strich Pugga durchs dichte Fell, unbewusst nahm sie war, dass es bald wieder Zeit für die Schurr war. Pugga fiepte beleidigt als sie merkte, dass Suri ihr nicht die übliche Aufmerksamkeit schenkte und hoppelte zurück ins Körbchen. Diese merkte es kaum, denn sie war abgelenkt. Das Verhalten ihrer kleinen Schwester irritierte sie. Puck kniete auf einem Hocker vor der Arbeitsplatte. Die Ärmel hochgekrempelt, das Haar zu einem wirren Schopf auf dem Hinterkopf zusammengebunden, konzentrierte sie sich darauf, von einer Rolle Teig kleine Stückchen abzuschneiden und diese mit der Teigrolle zu flachen Fladen auszurollen. Puck war sehr geschickt daran, fast so gut wie Tante Beru. Ihre Fladen waren immer schön rund und gleichmäßig flach und sie meldete sich immer freiwillig, wenn es an das Ausrollen der Fladen ging. Deshalb war es auch gar nichts Ungewöhnliches, dass Puck mit soviel Eifer bei der Sache war. Suri fand es nur merkwürdig, dass sie so gut gelaunt war, denn eigentlich hätte sie damit gerechnet, dass Puck immer noch damit haderte, weil sie am Rennen nicht hatte teilnehmen können. Doch eben knallte sie einen weiteren Batzen Teig auf die Arbeitsplatte, streute etwas Mehl darüber und rollte ihn mit kurzen, knappen Bewegungen aus. Und, Suris Ohren zuckten nach vorne, dazu summte sie vor sich hin. Auf leisen Pfoten schlich sie näher an die Schwester heran.
 

„Guten Abend, Suri.“ Medina schaute von ihren Plänen auf und lächelte sie liebevoll an. Auch PJ nickte der Tochter seiner Lebensgefährtin freundlich zu.

„Suri!“ Puck hatte sich umgedreht und blickte sie erwartungsvoll an. „Wie ist es gelaufen?“ Suri hätte am Liebsten mit dem Fuß aufgestampft. Sie verkniff sich eine bissige Bemerkung und begnügte sich damit, wütende Blicke zur Mutter und PJ hinzuwerfen. Deren nachsichtiges Grinsen verriet ihr, dass sie genau wussten, dass sie ihr die Anschleichtour vermasselt hatte. Pucks grüne Augen hatten immer noch einen fragenden Ausdruck und Suri schluckte ihre Verärgerung hinunter.

„Ich bin Zweite geworden, nach Teres.“

„Das ist doch großartig, beim nächsten Mal schlägst du ihn bestimmt.“ Puck fiel ihr um den Hals, erinnerte sich zwar an ihre teigverklebten Hände, vergaß aber das Mehl, das sie auf Gesicht und Kleidung hatte und gab Suri großzügig davon ab. Lachend griff diese nach einem Tuch und befreite erst sich selbst und dann Puck von den Mehlspuren.

„Ha!“ kam es unerwartet aus Tante Beru’s Ecke. „Seid ihr nicht bald zu alt für solche Spiele?“ brummte sie. Bevor Suri protestieren konnte, schaltete sich Medina ein.

„Es ist eine gute Übung“, erwiderte sie ruhig. Die beiden Frauen wechselten einen langen Blick. Dann nickte Tante Beru kaum merklich und wandte sich wieder ihren Töpfen zu. Auch Suri und Puck hatten sich Blicke zugeworfen. Sie wussten worüber die beiden gesprochen hatten, ohne es laut zu sagen: Das K’hitai. Der Kampf der Anführerin gegen eine Herausforderin. Als älteste Tochter würde sich Suri eines Tages dieser Herausforderung stellen müssen. Viele der Spiele der Kinder war nichts anderes als eine Übung darauf. Puck, die wohl nie im Leben zum K’Irtai herausgefordert werden würde, griff nach dem nächsten Stück Teig. Somu, dessen Chancen auf eine Herausforderungen zum K’hitai noch geringer waren als die von Puck, arbeitete völlig unbekümmert an dem defekten Küchengerät weiter.

„Wie hast du denn den Nachmittag verbracht“, erkundigte sich Suri bei Puck, um von dem ernsten Thema abzulenken.

„Zuerst war ich unten am Fluss, später bin ich mit dem Lastenaufzug nach oben gefahren. Onkel Maath hat mit den anderen die Ware ins Dorf gebracht, aber ich bin lieber zur großen Ketsch und habe mich in ihren Ästen schaukeln lassen.“ Puck legte einen ordentlich ausgerollten Fladen auf den Stapel zu den anderen und griff nach der nächsten Teigkugel.

„Ich habe eine Herde Ous beobachtetet, sie hatten Jungtiere und eines war erst ein paar Tage alt, es war noch ganz rot.“ Nachdenklich ließ sie die Teigrolle sinken. „Warum jagen wir die Ous eigentlich nicht?“

Bedächtig rührte die alte Beru in ihren Töpfen. Erst in dem einen, dann in dem anderen. Sorgfältig streifte sie dann ihren Kochlöffel ab und legte ihn auf einen Teller. Dann, Puck hatte schon fast damit gerechnet, dass ihre Frage überhört worden war, antwortete die alte Frau.

„Es heißt, die Ous wären die Nachkommen des alten Volkes, das zur Zeit der Ahnen hier gelebt hatte. Doch dann erhoben sie sich gegen die Götter und wurden von ihnen bestraft.“

Tante Beru verstummte wieder. Das war ein gutes Zeichen, sammelte sie doch ihre Gedanken, um sich an die ganze Geschichte zu erinnern.

„Das wird eine lange Geschichte, Tante. Warum erzählst du sie uns nicht nach dem Essen? Dann kann die ganze Familie sie hören.“ Es war Medina, die das vorschlug. Sichtlich mühsam kehrte die alte Frau mit ihren Gedanken aus der fernen Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Sie nickte.

„Du hast Recht“, stimmte sie der Nichte zu. „Diese Geschichte ist es wert, von der ganzen Familie gehört zu werden.“

„Eine weise Entscheidung, wahrlich einer Anführerin würdig!“ Liebevoller Spott klang in PJ’s Stimme mit. Doch Medina lächelte nur.

„Lästere nicht. Pack lieber die Pläne zusammen und sieh nach, wie viel von dem Räucherfisch noch da ist. Du weißt ganz genau, was nachher hier los sein wird.“ Sie verpasste ihm einen kleinen Schubs und half dann der Tante, den großen Kessel auf die Feuerstelle zu hieven. Lächelnd rollte PJ seine Pläne zusammen und brachte sie in das gemeinsame Schlafzimmer. Kurze Zeit später hörte man ihn auf der hinteren Treppe. Pfeifend machte er sich, wie befohlen, auf den Weg zum Räucherhäuschen. Sumo verstaute das erst halb zusammengesetzte Küchengerät in einer Schublade und kletterte dann in den Vorratskeller hinunter, um Medina die Lebensmittel und Zutaten hoch zu reichen, die sie noch für das Abendessen benötigte. Suri hatte inzwischen das letzte Stück Teig in passende Stücke geschnitten und sie Puck zurechtgelegt.

„Ausrollen und Ausbacken“, trieb sie die Schwester an. „ich mach noch mehr Teig.“
 

Das Abendessen war die einzige Mahlzeit, die die Familie immer gemeinsam einnahm. Nicht alle konnten zum Mittagessen zuhause sein und es gab wie überall Langschläfer und Frühaufsteher in der Familie der Anführerin. Diese war nicht besonders groß. Tante Beru gehörte dazu und natürlich Medina und ihr Partner PJ und ihre gemeinsame Tochter Puck und die Zwillinge Somu und Suri. Medinas Bruder Maath und seine Partnerin Taasha vervollständigten die kleine Gruppe. Ihre Zwillinge Tusie und Maks waren erst in der Zeit der letzten Dunkelmonde zur Welt gekommen. Zum Abendessen versammelten sich alle in der großen Küche und wenn nicht gerade ein Fest stattfand, dann blieb die Familie gerne für sich. Etwas anderes war es, wenn Tante Beru sich entschloss, eine Geschichte zu erzählen. Dies sprach sich immer wie ein Lauffeuer unter Freunden und Nachbarn herum und so manch einer würde einen Grund finden um an diesem Abend bei der Anführerin vorbei zuschauen.

Die meisten brauchten keine Ausrede. Medina führte ein großzügiges Haus und jeder war willkommen. In Tante Berus großem Kessel simmerte ein aromatischer Gemüseeintopf und Puck und Suri hatten genügend Wlat gemacht, um die ganze Siedlung damit zu versorgen. Später beim Essen würde sich dann jeder seinen Wlat-Fladen selbst füllen, mit Tante Berus leckerer Soße und den Gemüse- und Fleischstückchen, die Suri klein geschnitten hatte. PJ hatte einen ganzen Korb voll geräuchertem Fisch aus dem Räucherhaus herübergebracht. Auf diesen Leckerbissen würden sich die Besucher am Meisten stützen.
 

Somu und PJ schleppten sämtliche Sitzgelegenheiten heran. Als Maath von der Arbeit nach Hause kam, hatte er gerade noch Zeit, Taasha und die Kleinen zu begrüßen, bevor er von den beiden eingespannt wurde. Bereitwillig trug er mit PJ die schwere Bank aus dem Garten herein. Danach war kein Platz mehr frei.
 

Die Sonne war endgültig untergegangen und die ersten Gäste trafen ein. Kaum einer kam mit leeren Händen und bald füllte sich die Küche mit den Gerüchen der mitgebrachten Speisen und dem Gelächter und Geplauder der Gäste. Sirit die Weiße war gekommen, mit ihrer ganzen Familie und selbstverständlich war auch Tamaran, die Schwarze anwesend. Teres, der seine Mutter begleitete, schaute sich abfällig um. Suri warf ihm funkelnde Blicke zu, doch Puck beachtete ihn gar nicht. Sie war damit beschäftigt, auf Tusie und Maks aufzupassen. Die hatten gerade erst damit anfangen, auf allen Vieren rutschend und krabbelnd ihre Umgebung zu erkunden und waren schwerer in den Griff zu bekommen als Ketschnüsse in einer heißen Pfanne. Kaum hatte sie Tusie vor rückenden Stuhlbeinen in Sicherheit gebracht, verschwand ihr Bruder Maks in die entgegengesetzte Richtung. Schließlich kam Pugga, die die ersten Besucher würdig begrüßt hatte, sich dann aber in ihr Körbchen verkrochen hatte als es ihr zuviel wurde, Puck zu Hilfe. Sie kullerte vor Maks über den Boden und lockte ihn in die Richtung, in der Puck mit Tusie saß. So schnell er konnte krabbelte er hinter der alten Wollknäueldame her und plötzlich hatte Puck nicht nur ein zappelndes Kleinkind auf dem Schoß sondern gleich zwei inklusive einem überreifen Wollknäuel, das sich auf ihrer Schulter in Sicherheit gebracht hatte. Lächelnd beugte sich Taasha vor und nahm Puck ihre Tochter ab. Tusie streckte die Arme nach Pugga aus und quengelte ein wenig, gab sich dann aber damit zufrieden, den langen geflochtenen Zopf ihrer Mutter aufzulösen. Eine Aufgabe, mit der sie bestimmt den ganzen Abend beschäftigt sein würde, denn großes Talent hatte sie nicht darin. Maks ließ die Augen nicht von Pugga. Doch als die Geräusche leiser wurden und die Lichter gedämpfter, rollte er sich auf Pucks Schoß zusammen und gab leise Schnurrgeräusche von sich. Pugga fiepte und Puck nahm sie von ihrer Schulter herunter und strich ihr liebevoll übers Fell. Kurz leckte ihr der Wollknäuel über die Hand, dann tapste sie zu Tante Beru hinüber, die vor der Feuerstelle auf ihrem Stuhl saß und ihre Gedanken zu sammeln schien. Pugga ließ sich neben ihr nieder, zog die Beine unter den Körper, legte das Schnäuzchen auf den Boden und seufzte zufrieden auf. Von ihr aus konnte es losgehen.
 

Medina stand auf und gab Suri und Somu ein Zeichen. Die beiden sprangen auf und räumten die Platten mit den Speiseresten ab. Puck, die immer noch mit Maks im Arm dasaß, konnte nicht helfen, doch Sirit und ihre Töchter Saane und Seena die nur wenig jünger als Puck waren standen ebenfalls auf um zu helfen. Tamarin rührte sich nicht von der Stelle. Es war wohl unter der Würde der Schwarzen, einen benutzen Teller vom Tisch zu räumen. Mit unbewegtem Gesicht saß sie da und ließ Medina, die sich vorbeugte und PJ leise etwas zuraunte, nicht aus den Augen. PJ ging durch den Raum und löschte die meisten Lichter. Bald war die Küche nur noch vom Herdfeuer und einigen wenigen Kerzen erleuchtet. Sirit und die Kinder hatten den Tisch abgeräumt und stellten jetzt Teller mit Keksen und kleinen Gebäckstücken bereit. Suri verteilte frische Becher während ihr Bruder Krüge mit Brunnenwasser auf den Tisch stellte. Medina schenkte jedem, der wollte dampfenden Kräutertee aus der großen Teekanne ein. Stühle wurden zurechtgerückt, jeder machte es sich so bequem wie möglich und eine erwartungsvolle Stille breitete sich aus. Alle Augen waren auf Tante Beru gerichtet. Diese ließ sich Zeit, wartete den richtigen Zeitpunkt ab. Als ein Stück Holz im Herd knackend zersprang straffte sie die Schultern und richtete sich auf. Ihr Gesicht, sonst von unzähligen Falten durchzogen glättete sich und ihre Stimme verlor die Brüchigkeit des Alters und war dunkel und wohltönend. Beru ließ ihre Vergangenheit aufleben und nahm die Anwesenden mit in eine Vergangenheit, die so alt war wie das Leben auf Iest.
 

„Heute will ich davon erzählen, warum die Iester keine Ous jagen. Es ist ein Teil der Geschichte unserer Ahnen. Ich will davon erzählen, wie es kam, dass sie sich auf zwei Beine erhoben, wie sie ihr Fell verloren und eine Sprache fanden.“
 

So unwahrscheinlich es klingen mag, der Ursprung allen Lebens liegt in den Tiefen der Ozeane. Dort unten, in der ewigen Dunkelheit liegen unsere Wurzeln. Unsere und die allen Lebens auf unserem Planeten. Es gibt unzählige Legenden darüber, wie die Göttin dem Wasser das Leben entrissen hat. Heute wissen wir, dass es nicht in einem Augenblick geschah. Es dauerte Äonen, bis die Ahnen unserer Ahnen das Bewusstsein entwickelten, das sie zu unseren Ahnen machten.
 

Sie waren klein, die Ahnen unserer Ahnen und ihre Körper waren noch vollkommen von Fell bedeckt. Eine Sprache kannten sie noch nicht, nur ein Schnurren und Maunzen mit dem sie sich mit ihresgleichen verständigten.
 

„Miu“, gurrte Tusie und starrte Tante Beru mit großen Augen an. Taasha strich ihr behutsam über das mit weichem Flaum bedeckte Köpfchen. Tante Beru lächelte in die Richtung der jungen Mutter.
 

Zu ihrer Zeit lebten sie in kleinen Familienverbänden und all ihr Trachten galt dem Überleben, der Nahrungssuche und dem Aufziehen der Jungen. Natürlich waren sie nicht allein in ihrer Welt. Viele der Pflanzen, von denen sie sich ernährten und viele der Tiere die sie jagten und andere die Jagd auf sie machten, existieren heute nicht mehr. Sie sind gestorben, wurden ausgelöscht als die Göttin das eine Volk strafte, das sich gegen Sie erhob. Nichts ist seitdem wie es vorher war.
 

Die Ahnen unserer Ahnen lebten ein glückliches und auf ihre Weise sorgloses Leben. Sie bauten ihre Nester in den niedrigen Sträuchern und Büschen entlang der Uferböschung und zogen dort ihre Jungen groß. Doch dann ging mit einer anderen Art, die in enger Nachbarschaft mit ihnen lebte, eine Änderung vor. Langsam erst, kaum dass man etwas merkte.
 

Die Anderen lebten in den Ästen und Zweigen der Bäume, die ihnen Schutz und Nahrung boten. Sie waren den Ahnen gar nicht unähnlich. Klein, wendig, hervorragende Kletterer. Mit ihren Vorderpfoten öffneten sie recht geschickt Nüsse und Samenkapseln, ihre Jungen krallten sich im Fell der Mütter fest und wurden überall hin mitgenommen, denn sie schliefen jeden Nacht in einem anderen Baum. Untereinander unterhielten sie sich mit einem leisen Schnattern. Dann war das Schnattern nicht mehr so leise und die Anderen verließen die Bäume. Sie fingen an, sich gegenseitig zu bekämpfen, sich das Revier und die Weibchen streitig zu machen. Irgendwann verließ eine der Gruppen die Wald- und Flusslandschaft, andere folgten und dann herrschte wieder Stille. Die Anderen waren verschwunden.
 

Die Ahnen unserer Ahnen lebten weiter wie bisher. Die Anderen gerieten in Vergessenheit, denn die Ahnen hatten keine Sprache und keine Legenden die die Vergangenheit besangen. Sie zogen ihre Jungen groß und gingen auf Nahrungssuche. Generationen kamen und gingen, die Jahreszeiten wechselten, nichts schien diesen uralten Zyklus je brechen zu können. Doch dann tauchten die Anderen eines Tages wieder auf. Selbst wenn die Erinnerung an sie bewahrt worden wäre, sie wären nicht wieder erkannt worden.
 

Sie waren größer geworden, nicht mehr ganz so wendig doch immer noch sehr geschickt mit den Vorderpfoten, die sie nun nicht mehr zur Fortbewegung nutzen, denn sie gingen nur noch auf zwei Beinen. Ihr lautes Schnattern war anderen Lauten gewichen, die komplexer waren und melodischer. Und sie schnatterten nicht mehr wild durcheinander, es sprach immer nur einer und die anderen hörten zu, meistens jedenfalls. Sie kamen mit der Abenddämmerung und schlugen am Fluss ein Lager auf. Ungewohnte Geräusche, fremdartige Gerüche und ein merkwürdiges flackerndes Licht brachten die Geschöpfe in diesem Revier dazu, sich tiefer in ihre Verstecke zu drücken. Die Jäger der Nacht schlichen in einem weiten Bogen um das Lager und gingen weiter entfernt auf die Jagd.

Am nächsten Morgen waren die Anderen immer noch da. Und die Veränderungen, die sie mit sich brachten, wurden spürbar. Bäume stürzten krachend um. Doch nicht einzelne, von alleine, wie nach einem schweren Sturm. Den ganzen Tag lang hieben die Anderen mit merkwürdig geformten Stöcken gegen die Stämme der Bäume. Ganze Waldstücke brachten sie auf diese Weise zu Fall. Mehrere Tage lang bebte die Erde, waren die dumpfen Schläge der Stöcke gegen die Baumstämme zu hören. Als endlich wieder Ruhe herrschte und die ersten Vögel vorsichtig zu zwitschern begannen, schlichen sich die Mutigsten unter den Ahnen vorsichtig aus ihren Verstecken heraus und blieben wie erstarrt stehen. Wenn sie gekonnt hätten, hätte sie sich verwundert die Augen gerieben, denn der Wald der bis jetzt ihr Zuhause gewesen war, war fast verschwunden. Die Anderen hatten ihm eine große freie Fläche entlang des Flusses abgetrotzt. Die Ruhe blieb trügerisch, denn die Anderen hatten den Platz nicht verlassen. In kleinen Gruppen waren sie dabei, die gefällten Bäume weiter mit ihren Stöcken zu bearbeiten. Sie entfernten das Laub, die Zweige, Äste und die Rinde, bis nur noch die glatten weißen Stämme übrig blieben. Diese wurden unter gewaltigen Kraftanstrengungen mit großem Getöse in die Erde gerammt. Ein paar Tage später stand ein großer Teil der Bäume wieder, doch diesmal ohne Blätter und Krone. Immer mehr der Anderen tauchten auf, schleppten große Bündel an, führten kleine blökende Tiere an Stricken mit sich.
 

Zum ersten Mal waren die Anderen aufgetaucht, als die Bäume und Büsche Blätter und Knospen trieben als sich der kleinere der Monde Iest hinter dem Muttermond hervorwagte und die Zeit der Lichten Monde begann. Den ganzen Sommer über arbeiteten sie auf der neuen Lichtung, erforschten das Umland, sammelten Früchte und Nüsse und jagten kleinere Tiere. Als die ersten Herbststürme über das Land fegten und die Monde begannen, ihre Gesichter abzuwenden, da waren die Anderen immer noch da. Zu Beginn der Dunkelmonde verschwanden sie dann in ihren merkwürdigen Unterkünften. Die ganze dunkle Zeit lang sah und hörte man nichts von ihnen.
 

Das Leben ist ein ewiger Kreislauf, das Ende der einen Zeit ist der Beginn der nächsten. Und so wie die beiden Monde unverrückbar ihre Kreise über das Gestirn ziehen, so unverrückbar folgt auf die Zeit der Dunkelmonde die Lichte Zeit.
 

Die Jungen der Grauen waren inzwischen alt genug, um feste Nahrung zu sich zu nehmen. Deshalb war die Mutter ständig auf der Jagd nach kleineren Nagetieren. Auch heute war sie wieder in der Dämmerung unterwegs. Ihren scharfen Augen entging nicht die kleinste Bewegung, ihre Ohren waren hoch aufgerichtet und lauschten auf das leiseste Geräusch. Ein kaum hörbares Rascheln verriet ihr wo sich ihre nächste Beute versteckte. Vorsichtig pirschte sie sich an, setzte sie Pfote vor Pfote, hielt den Bauch dicht über dem Boden. Nur die emporgereckte Schwanzspitze verriet ihre Aufregung. Die kleine Zirbelmaus ahnte nicht, dass sich der Tod auf ihre Fährte gesetzt hatte. Die zuckende Nasenspitze weit vorausgestreckt huschte sie davon, die Graue immer dicht hinter ihr. Diese konnte ihren Jagdtrieb nur mit Mühe beherrschen. Alles in ihr drängte danach, zuzuschlagen. Doch wenn sie sich zurückhielt und geduldig abwartete, führte die Maus sie vielleicht direkt zu ihrem Nest.

Nicht lange und die Zirbelmaus verschwand in einer Spalte im Fels. Der Spalt war groß genug, dass sich die Graue ebenfalls durchzwängen konnte. Vorsichtig witterte sie nach allen Seiten, dann schob sie sich langsam durch den Spalt. Innen drückte sie sich sofort eng an die Höhlenwand. Im Inneren der Höhle herrschte Dämmerlicht. Es reichte aus, dass die Graue mit wenigen Blicken erkennen konnte, dass keine Gefahr drohte, es dafür aber jede Menge Beute gab. Ihre Entscheidung, abzuwarten war richtig gewesen, hier musste es jede Menge Zirbelmausnester geben. Völlig unbekümmert huschten sie über den Höhlenboden, knabberten an Körner, die sie aus merkwürdig geformten Hügeln zogen. Der Schwanz der Grauen peitschte auf, ein Sprung, noch ein Sprung. Als sie nach dem dritten Sprung zum Stehen kam, da waren die Mäuse unter lautem Gequieke in ihren Schlupflöchern verschwunden, doch drei von ihnen hatten sich nicht mehr in Sicherheit bringen können.

Ein Laut des Erstaunens kam von der Öffnung der Höhle her. Die Graue fuhr herum. Dort stand einer der Anderen, ein Licht in der hocherhobenen Hand. Er machte einen Schritt in die Höhle hinein. Die Graue fauchte und stellte sich schützend über ihre Beute. Der Andere blieb stehen. Verzweifelt schaute sich die Graue um und entdeckte eine Öffnung weit oben in der Höhlenwand. Sie packte ihre Beute und zog sie, rückwärtsgehend, mit sich. Mit einem Satz war sie auf einem der Hügel, sie spannte die Beinmuskeln und sprang auf die Öffnung zu. Mit den Vorderpfoten klammerte sie sich fest, zog den Rest des Körpers nach. Sie ließ sich zu Boden fallen, landete geschickt auf allen vier Pfoten und war mit ein paar Sätzen in der Dunkelheit verschwunden
 

Von nun an fand die Graue jeden Abend in der Dämmerung den Weg zur Höhle und sie schlug reichlich Beute. An manchen Abenden traf sie auf den Anderen, doch niemals machte er Anstalten, sie zu jagen, ihr die Beute streitig zu machen oder sie aus seinem Revier zu vertreiben und so begegneten sie sich mit der Zeit mit gegenseitigem Respekt. Ihm schien es nichts auszumachen, dass sie ihm die Mäuse und andere Nager wegfing. Einmal fand sie eine Schale mit Wasser vor und als der Andere merkte, dass sie daraus trank, stellte er immer frisches Wasser für sie bereit.

Als die Jungen der Grauen alt genug waren, um das Jagen zu erlernen, da brachte die Mutter sie in die Höhle. Nicht lange und sie waren genauso erfolgreiche Jäger wie die Graue. Sie jagten nicht nur in dieser Höhle sondern dehnten ihr Jagdrevier auf das ganze Gebiet der Anderen aus. Nicht lange und andere aus ihrer Familie folgten ihren Spuren. Immer mehr der Ahnen trafen auf immer mehr der Anderen.

War die Graue dem Anderen wenn möglich aus dem Weg gegangen, hatte sich scheu in den Schatten verborgen, so wurden die Jungen ihrer Jungen in den Höhlen der Anderen geboren, ließen sich deren Jungen von den Anderen auf den Arm nehmen und streicheln. Und irgendwann war niemand mehr da, der sich an ein Leben außerhalb der Höhlen der Anderen erinnerte, der sich an eine Zeit erinnerte, als die Ahnen noch frei waren und ungebunden.
 


 

So oder so ähnlich begann es überall, die Ahnen unserer Ahnen trafen auf die Anderen und schlossen sich ihnen an. Sie hielten die Vorratskammern und Unterkünfte frei von Nagern und anderen Schädlingen und bekamen dafür einen sicheren Platz und Wasser. Ohne es zu merken, hatten sie sich freiwillig für ein Leben in Gefangenschaft entschieden.
 

Viele Generationen später lebten die Ahnen unserer Ahnen immer noch mit den Anderen zusammen. Es war nicht mehr nötig, dass sie noch auf die Jagd gingen, schon lange gab es keine Schädlinge mehr, die die Vorräte bedrohten. Die Ahnen waren Haustiere geworden, Spielkameraden für die Jungen der Anderen. Sie ließen sich füttern und streicheln. Doch noch immer waren sie klein und flink und ohne Sprache. Und immer noch sorgten sie sich um ihre Jungen und zogen sie auf.
 

Die Veränderung, die diesmal mit den Anderen vorgegangen war gravierender. Sie machten große Entdeckungen, große Erfindungen. Sie richteten ihr Leben nun nicht mehr nach dem Lauf der Jahreszeiten und der Natur, sie fingen an, den Planeten nach ihren Vorstellungen zu formen. Glaubten sie früher vielleicht noch an eine große Macht, an Götter gar, so stellten sie sich nun auf eine Stufe mit ihnen. Sie formten die Erde, Pflanzen und eines Tages durchbrachen sie eine bis dahin unsichtbar Grenze. Sie vergasen, dass sie und unsere Ahnen den gleichen Ursprung hatten. Sie machten sich daran, die Ahnen unserer Ahnen zu verändern.
 

Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Ahnen den Anderen bis zu einem gewissen Grad vertraut. Sie gebaren ihre Jungen in deren Unterkünften und ließen es zu, dass die Anderen sie auf den Arm nahmen und liebkosten, sie waren es ja nicht anders gewohnt. Doch, dann, eines Tages verschwanden die Jungen, erst waren es nur wenige, dann ein ganzer Wurf. Die Mütter suchten sie überall und klagten lautstark, als sie sie nicht finden konnten. Die Mütter gaben ihre Suche nie auf, doch die Jungen wurden nie gefunden. Es half auch nichts, dass die später geborenen Jungen versteckt zur Welt gebracht wurden, ein paar Tage nach der Geburt waren auch sie verschwunden. Und dann verschwand ein trächtiges Muttertier.
 

Der Braune suchte seine Gefährtin überall. Im ganzen Haus und der näheren Umgebung spürte er ihren Spuren nach, doch sie war unauffindbar, spurlos verschwunden. Und doch roch er sie manchmal, an den Händen des Anderen, mit dem sie die Behausung teilten. Der Andere sprach viel mit dem Braunen, melodische Töne, die sonst beruhigend auf ihn wirkten. Doch dieses Mal zeigten sie keine Wirkung, denn der Braune war besorgt um die Gefährtin und die ungeborenen Jungen. Da der Andere die einzige Spur war, die der Braune hatte, folgte er ihm, als dieser am nächsten Tag die Behausung verließ. Das Gebäude, in das er ihm folgte unterschied sich sehr von ihrem gemeinsamen Heim. Vorsichtig schlich der Braune die langen Gänge entlang. Es roch merkwürdig dort und das grelle Licht schmerzte in seinen empfindlichen Augen, trotzdem wanderte er tapfer weiter durch die Gänge. Er vermied es, von einem der Anderen gesehen zu werden und drückte sich eng an die Wand. Sämtliche Türen an denen er vorbeikam waren verschlossen und so schob er sich schließlich durch die erste Türe die er offen vorfand. Seine Gefährtin fand er nicht dahinter, wohl aber einige der vermissten Jungtiere. Leblos lagen sie auf einem großen Tisch, von einem Apparat daneben führten Schläuche und Drähte zu ihren kleinen Körpern. Dem Braunen sträubte sich dass Fell als er auf den Tisch gesprungen war und sah, was mit den Jungen geschehen war. Wenn die wehrlosen Jungen so behandelt wurden, wie erging es dann erst seiner Gefährtin? Welche Qualen musste sie erleiden. Machtlos, irgendetwas unternehmen zu können, fuhr er mit der Zunge über die Köpfe der Jungtiere. Dann sprang er vom Tisch und verließ schweren Herzens den Raum. Er würde seine Gefährtin finden und retten, koste es was es wolle. In dem Braunen erwachten die Instinkte seiner Vorfahren. Mit hochaufgerichtetem Kopf und langgestrecktem Schwanz schritt er weiter die Gänge ab. Es war nicht mehr notwendig, sich zu verstecken. Ein überraschter Laut ließ ihn langsam den Kopf wenden. Hinter ihm stand der Andere, dem er bis hierher gefolgt war. Hochmütig schaute der Braune zu ihm hinüber, dann ging er langsam zu ihm und rieb seinen Kopf an dessen Knie. Es roch jetzt sehr intensiv nach seiner Gefährtin. Der Andere beugte sich zu ihm hinunter, streichelte ihm den dicken Kopf. Der Braune schnurrte, dann, als er die tastenden Hände des Anderen unter seinem Bauch spürte, ein Zeichen, dass er gleich hochgehoben werden würde, sprang er los. Mit ein paar Sätzen war er in dem Raum, den der Andere verlassen hatte. Auf dem Tisch in diesem Raum lag die Gefährtin des Braunen. Ihre schönen hellbraunen Augen waren weit geöffnet, waren ohne Glanz, das grelle Licht störte sie nicht mehr. Überall war Blut. Auf dem Tisch neben dem toten Körper seiner Gefährtin stand ein großer durchsichtiger Kasten. Darin lagen fünf nackte Jungtiere. Sie waren kleiner als sonst ein Jungtier bei der Geburt und ihre Augen waren geschlossen. Der Kasten hinderte ihn daran, ihren Geruch aufzunehmen, aber auch so hätte er nicht sagen können, ob es die Jungen seiner Gefährtin waren. Ein Schatten fiel über ihn. Erschrocken sprang der Braune zur Seite. Vor ihm stand der Andere, der mit beiden Händen nach dem Braunen griff. Mit peitschendem Schwanz ging dieser rückwärts. Als er mit den Hinterpfoten an den Kasten mit den Jungtieren stieß und es nicht mehr weiter ging, zeigte er fauchend die spitzen Eckzähne. Der Andere beugte sich vor. Instinktiv sprang der Braune in die Höhe, im Sprung fuhr er alle Krallen aus. Verbissen krallte er sich im Gesicht des Anderen fest.
 

Die Anderen manipulierten die Gene unserer Ahnen. Sie vermischten sie mit den Genen anderer Tiere, doch keiner dieser Versuche war lang lebensfähig. Und dann, in ihrem Größenwahn, vermischten sie die Gene der Ahnen mit ihren eigenen. Die Jungtiere aus diesen Versuchen blieben am Leben. Sie wurden größer als die Elterntiere, mit längeren Gliedern, intelligenter und sie beschränkten sich nicht mehr nur auf Schnurren und Maunzen, sie konnten Laute ausstoßen, die die Eltern nicht mehr verstanden.

Dies war der Zeitpunkt, an dem die Göttin die Anderen bestrafte. Sie hatte mit angesehen wie die Anderen Iest bezwangen, wie sie den Planeten nach ihren Wünschen formten. Wie sie sich über alle anderen Arten auf Iest stellten. Doch als sie begannen, Wesen und Art der Ahnen zu verändern, da konnte die Göttin nicht mehr tatenlos zusehen.

Der Fluch der Göttin war verheerend! Iest selbst erhob sich, Berge stützen ein, Täler hoben sich empor, das feurige Innere stülpte sich nach außen. Sterne fielen vom Himmel und mit ihnen kam das Feuer. Es verschlang alles, was sich ihm in den Weg stellte und selbst der Regen, der wochenlang fiel konnte es nicht löschen. Erst als das Feuer keine Nahrung mehr fand und sich selbst verzehrte, als der Regen die Asche weggespült hatte, der Himmel wieder aufriss und die ersten Sonnenstrahlen die Erde berührte, erst da wagten sich die Überlebenden vorsichtig aus ihren Verstecken heraus. Wie hatte sich die Welt verändert! Ganze Bergmassive waren verschwunden, zerborstene Felsbrocken lagen überall verstreut auf den Ebenen. Die Flüsse, aus ihrem gewohnten Bett gerissen, suchten sich neue Wege. Sumpfland war dort entstanden, wo vorher blühende Wiesen und Büsche Schutz und Wohnraum geboten hatten.

Die Überlebenden fanden sich zusammen und machten sich auf einem langen beschwerlichen Weg auf die Suche nach einer neuen Heimat. Egal wohin sie kamen, die Spuren der Zerstörung waren weithin sichtbar und es war unmöglich, ein neues Leben aufzubauen. Doch die alten Instinkte kehren wieder, die Ahnen unserer Ahnen wurden wieder zäh und flink. Die von den Anderen manipulierten Nachkommen erwiesen sich aber als besonders zäh und gerissen. Sie waren es, die die Herden zusammenhielten, die Wasser fanden und einen geschützten Platz für die Nacht. Als die Überlebenden nach langer Wanderung das Hochplateau erreichten und beschlossen, sich hier ein neues Leben aufzubauen, da waren es unsere Ahnen selbst, und nicht mehr die Ahnen unserer Ahnen. Die neue Art hatte sich als widerstandsfähiger erwiesen. Als stärker. Mehrmals hatten während der langen Reise die Jahreszeiten gewechselt und ihrem Lauf folgend waren neue Jungtiere zur Welt gekommen. Hatten die Mütter früher fünf bis acht Jungtiere auf einmal zu versorgen, so waren es jetzt nur noch zwei, die leichter auf die Reise mitgenommen werden konnten. Selbst als sie das Ende ihrer Wanderungen erreicht hatten, kamen nie mehr als zwei Jungtiere auf einmal pro Wurf. Vereinzelt gab es in den Familien noch Väter und Mütter der alten Art und sie wurden respektiert so lange sie lebten, doch diese Leben währten im Vergleich zu dem ihrer Nachkommen nicht sehr lange.
 

Die Ahnen richteten sich auf dem Hochplateau ein. Das Leben nach dem Fluch der Göttin war nach wie vor schwierig und kompliziert, doch die Ahnen wuchsen an ihren Aufgaben. Schon während der Wanderung hatten sie sich manchmal auf zwei Beine erhoben, um eine bessere Übersicht zu bekommen und jetzt gingen sie immer öfter aufrecht. Sie entwickelten eine einfache Sprache, um sich untereinander besser zu verständigen. Eine immer größere Geschicklichkeit mit den Vorderpfoten und Werkzeuge erleichterten ihnen das Leben, die Familienverbände wuchsen, größere Gemeinschaften bildeten sich, die Nester aus Gras und Heu wurden durch einfache Unterkünfte ersetzt. Es würde noch Generationen dauern, bis die Linie der Ahnen unsere Großeltern erreichen würde, doch sie waren auf dem Weg dorthin.
 

Bei all den Veränderungen vergaßen die Ahnen niemals ihren Ursprung. In alten Liedern wurde das Leben vor und nach dem Fluch der Göttin besungen. Dieses Mal gerieten die Anderen nicht in Vergessenheit. Ihr Schicksal sollte allen Nachkommen als Warnung dienen.
 

Aber was war aus den Anderen geworden? Seit dem Fluch der Göttin hörte und sah man nie wieder etwas von ihnen. Nichts von dem was sie erbaut und erschaffen hatten, sollte von Dauer sein. Alles war zu Asche verfallen, in Rauch aufgegangen. Viele Jahre später, nachdem die Ahnen schon lange auf dem Hochplateau lebten, tauchten die Ous auf. Kleine Primaten, durch ihr rotgrünes Fell schwer auszumachen in den Bäumen, in denen sie lebten. Obwohl scheu und sehr zurückhalten, hielten sie sich immer in der Nähe der Ahnen auf. Waren sie schon immer hier gewesen? Keiner konnte es sagen. Die Ous erinnerten die Ahnen so sehr an die eigenen Ahnen, dass ein stillschweigendes Abkommen geschlossen wurde, sie niemals zu jagen. Irgendwann entstand dann die Legende, die Ous wären die Nachkommen der Anderen, von der Göttin verflucht in diesen Körpern zu leben.
 

Wir dürfen niemals vergessen, woher wir kommen. Unsere Wurzeln und die allen Lebens stammen aus der gleichen Quelle. Nie wieder soll sich ein Iester über ein anderes Geschöpf erheben oder sich den Göttern gleich stellen.
 


 

Eine Zeitlang war nur das Knacken der Holzscheite im Herd zu hören. Die alte Beru saß zusammengesunken auf ihrem Stuhl. Nur langsam kamen die Zuhörer wieder zu sich, wie nach einem langen Traum. Stühle wurden gerückt, ein leises Murmeln war zu hören. Einer nach dem anderen verließen die Gäste das Haus der Anführerin. Es gab keine Diskussionen, das eben gehörte musste still verarbeitet werden. Alle Iester kannten die alten Legenden um ihre Herkunft, doch so ausführlich und greifbar wie von der alte Beru wurden sie selten erzählt
 

Maks war in Pucks Armen eingeschlafen. Sie drückte ihn liebevoll an sich, schnurrte ihm leise etwas vor. Tief in sich fühlte sie eine große Traurigkeit aufsteigen. Tante Beru hatte die Vergangenheit der Iester aufleben lassen und ihr wurde plötzlich bewusst, dass dies nur zu einem Teil ihre Vergangenheit war.
 

Medina hatte die Nachbarn und Freunde zur Tür begleitet und schaute sich nun aufmerksam im Kreise der Familie um. Sie warf PJ einen auffordernden Blick zu und nickte dabei leicht in Pucks Richtung. Maath, der den Blick seiner Schwester ebenfalls gesehen hatte, ging neben Puck in die Hocke und nahm ihr den schlafenden Maks ab. Er und Taasha wünschten allen eine gute Nacht und verließen die Küche. Medina kümmerte sich um Tante Beru. Die alte Frau erhob sich langsam aus ihrem Stuhl und wurde von ihrer Nichte in ihr Schlafzimmer geführt. Suri und Somu brauchten keine große Aufforderung. Mit geschmeidigen Sprüngen hüpften sie die Treppe zum ersten Stock hinauf. PJ und Puck waren allein.

„Hilfst du mir, das Räuherhäuschen abzusperren“, wollte PJ wissen. Puck schniefte ein bisschen und nickte dann. Lächelnd packte PJ seine Tochter unter den Armen und hob sie sie vom Boden auf. Geschickt kletterte Puck auf seinen Rücken und ließ sich von ihm Huckepack zur Türe hinaus tragen.
 

Es war gar nicht möglich, das Fischräucherhaus abzusperren, denn PJ hatte dort gar kein Schloss. Aber immer wenn er das Gefühl hatte, das Puck traurig war und getröstet werden musste, dann schlug er es einfach vor, damit sie allein losziehen und Puck sich aussprechen konnte. Behütet und geborgen schmiegte sich Puck an PJ’s breiten Rücken. Und war überrascht, als er tatsächlich zum Räucherhaus hinüberging. Mit seinen langen Beinen benötigte er nur wenige Schritte, um es zu erreichen. Mit Puck auf dem Rücken ging er hinein und machte die Türe hinter ihnen zu. Drinnen blieb er stehen, ohne Licht zu machen. Durch die Oberlichter fiel Mondlicht in den Raum. Langsam schälten sich die Konturen aus dem Dunkel. PJ wartete einen Moment, dann ging er zielstrebig zu seinem Arbeitstisch an der Stirnseite des Raumes. Dort ließ er Puck vorsichtig von seinem Rücken gleiten. Er selbst ging auf die Knie und zog an einem der Bodenbretter unter dem Tisch. Zusammen mit seinen Nachbarn ließ es sich einfach hochklappen, es war eine gut getarnte Falltüre. Ohne ein Wort schob PJ sich unter den Tisch und ließ sich nach unten durch die Türe gleiten. Es sah nicht so aus, als ob er das zum ersten Mal machte. Er winkte Puck zu sich. Diese war sicherheitshalber einen Schritt zurückgewichen, doch jetzt kroch auch sie unter den Tisch und schaute durch die Öffnung nach unten. PJ stand auf der obersten Stufe einer Treppe. Er half ihr, zu ihm herunterzuklettern, dann schloss er die Falltüre. Der Riegel war so gut geölt, dass nicht ein Laut zu hören war als er vorgeschoben wurde. Puck verhielt sich mucksmäuschenstill und drückte sich eng an PJ. Die Treppe die nach unten führte war nur breit genug für eine Person, deshalb konnten sie nicht nebeneinander gehen. PJ nahm Puck bei der Hand und ging vor ihr die Treppe hinunter. Puck konnte zwar besser im Dunkeln sehen, aber PJ kannte den Weg und so kamen sie sehr schnell vorwärts. Puck lauschte aufmerksam auf die Geräusche, die aus der Tiefe kamen. Weit entfernt brummte es leise und irgendwo tropfte stetig Wasser. Es dauerte nicht lange, bis sie das Ende der Treppe erreicht hatten und durch einen hohen Bogendurchgang in eine große Höhle traten. Die Decke der Höhle war so hoch oben, dass Puck, die den Kopf in den Nacken legte, sie nicht sehen konnte. Zielstrebig ging PJ auf den Platz zu, wo er wohl Lampen und Feuer aufbewahrte, denn nur einen Moment später flammte ein kleines Licht auf, das den Docht einer kleinen Lampe entzündete. Puck kam es so vor als würde alles Licht, dass eventuell in der Höhle gewesen war von der kleinen Flamme angezogen, denn außerhalb des kleinen Kreises, der von goldenem Licht erleuchtet wurde zog sich die Dunkelheit zusammen und es war überhaupt nichts mehr zu erkennen.
 

„Komm, setzt dich doch“, PJ hatte die Lampe auf einem Tisch abgestellt und zog einen Stuhl für Puck heran. Sie kletterte hinauf und stützte sich mit den Armen auf der Tischplatte ab. PJ setzte sich ihr gegenüber.

„Das war eine aufregende Geschichte, die Tante Beru da erzählt hat, nicht wahr?“

„Ja, schon“, Puck hätte ruhig etwas mehr Begeisterung zeigen können.

„Es kommt nicht oft vor, dass Tante Beru die Legende so ausführlich erzählt, wir können froh sein, dass wir dabei waren. Es ist schön, wenn jemand da ist, der noch so gut über die Vergangenheit Bescheid weiß, nicht war.“

„Hmmm“, hochkonzentriert malte Puck mit der Fingerspitze Kringel auf den Tisch.

„Was ist los, Kleines, hat dir die Geschichte denn nicht gefallen?“

„Aber natürlich, Tante Beru kann wirklich toll erzählen!“ Puck hatte inzwischen eine ganze Landschaft auf die Tischplatte gekringelt.

Erstaunt sah PJ seine Tochter an.

„Sag mal, Puck, bist du denn nicht stolz auf dein Volk und seine Vergangenheit?“

„Doch, schon, irgendwie, aber ich bin ja eh kein richtiger Iester.“

„Wer sagt denn so was“, wollte PJ entgeistert wissen.

„Na, die anderen“, murmelte Puck.

„Die anderen? Wer? Suri, Somu oder Maaths? Oder vielleicht Tante Beru?“ Erschrocken sah Puck auf, doch PJ sprach weiter, bevor sie dazu etwas sagen konnte.

„Siehst du, wer dich kennt, der mag dich so wie du bist, egal, ob du nur zur Hälfte ein Iester bist oder zu einem Viertel oder gar nicht.“ Er beugte sich zu ihr hinüber. „Die anderen sind vielleicht nur unsicher oder neidisch und wollen das auf die Art verbergen.“

„Indem sie mich hänseln und immer das spielen wollen wo ich nicht mitmachen kann und mich Rundgesicht nennen?“ fragte Puck entrüstet.

„Nun, im Moment ist es ja wirklich noch etwas rundlich, aber glaube mir, das wächst sich raus. Und ich finde ein rundliches Gesicht sowieso immer noch besser als ein viereckiges.“ PJ strich sich über das kantige Kinn und seufzte mitleiderregend. Puck musste kichern und betrachtete den Vater dann so gründlich wie noch nie zuvor. Im Wechselspiel von Licht und Schatten wirkte sein Gesicht fremdartig und geheimnisvoll und doch so vertraut. In Gedanken verglich sie es mit dem von Maaths. Beide hatte eine hohe, breite Stirn, doch wie bei ihr selbst war das Gesicht von PJ länger und endete nicht in einem spitzen sondern einem kantigem Kinn, was seinem Gesicht tatsächlich etwas Rechteckiges verlieh. Seine Augen wirkten darin klein im Vergleich zu denen der anderen. Und sie waren grün wie ihre eigenen. Auch seine Ohren waren kleiner und rundlicher und es fehlten die typischen Haarbüschel an den spitzen Enden. Puck fuhr sich mit den Händen über die eigenen Ohren. Sie waren genauso klein wie die ihres Vaters, sie liefen nur etwas spitzer zu. Dafür war PJ groß, er überragte selbst den größten Iester noch um einen bis zwei Kopflängen. Genau genommen war sie ja auch recht groß für ihr Alter. Und dabei so grazil wie Medina und Suri.
 

Warum war ihr das eigentlich noch nie aufgefallen? Alles, was sie von Suri und Somu und den anderen unterschied, verband sie mit PJ und umgekehrt. Gut möglich, dass sie in den Augen der anderen nur ein halber Iester war, aber das bedeutete auch, dass noch etwas anderes in ihr steckte und jetzt wurde es verdammt noch mal Zeit, dass sie mehr darüber erfuhr. Energisch streckte sie das Kinn vor.

PJ hatte ihr Zeit gelassen, in Ruhe über alles nachzudenken und hatte inzwischen eine weitere Lampe angezündet. Jetzt kam er mit zwei dampfenden Teebechern zum Tisch zurück. Er lächelte Puck liebevoll zu und schob ihr einen der Becher hin. Vorsichtig trank sie einen Schluck und schaute sich über dem Rand des Bechers hinweg um. Durch die zweite Lampe wurde ein größerer Teil der Höhle beleuchtet. PJ schien sich hier eine Art Werkstatt eingerichtet zu haben.

PJ umschloss seinen Teebecher mit seiner großen Faust, streckte die Beine lang von sich und lehnte sich soweit es ging in seinem Stuhl zurück.

„Vielleicht ist das ja meine Schuld“, griff er ihre Unterhaltung wieder auf. „Ich habe nie besonders viel darüber gesprochen, was ich gemacht habe, bevor ich hier notlanden musste. Medina und ich wollten euch nicht verwirren. Du bist jetzt wohl alt genug, um es zu verstehen. An was kannst du dich denn erinnern?“ wollte er von Puck wissen.

„Du bist in einem Ball aus silbernem Licht vom Himmel gefallen“, kam prompt die Antwort.

PJ musste sich ein Grinsen verkneifen.

„Auf eine gewisse Weise ist das wohl richtig“, meinte er dann. „Ich bin tatsächlich vom Himmel gefallen, auch wenn es eigentlich mehr ein Sturz war.“ Er nahm einen Schluck Tee. „Eines ist schon mal sicher, meine Ahnen und ich wir stammen nicht von diesem Planeten. Und doch hätte es durchaus sein können. Weißt du, wo wir uns hier befinden? In einem unterirdischen Labor der Anderen!“ Puck schnappte nach Luft. Es war eine Sache, von den Anderen zu hören und eine andere, sich an einem ihrer alten Orte zu befinden. Scheu schaute sie sich um.

„Ich werde dir später zeigen, was ich alles entdeckt habe. Es war ein Glücksfall, dass ich damals den Eingang gefunden habe“. Nachdenklich schwenkte er seine Teetasse. „Weißt du, die Geschichte der Anderen hat viel Ähnlichkeit mit der meines Volkes. Unsere Ahnen haben sich ganz ähnlich entwickelt wie sie. Auch sie waren am Anfang Jäger und Sammler, wurden sesshaft, gründeten Siedlungen und Städte. Große Erfindungen wurden gemacht, die Wissenschaft entwickelte sich rapide. Immer neuere Energiequellen wurden entdeckt, neue Materialien und Wege, sie zu bearbeiten. Sie erforschten woher sie kamen und träumten von den Sternen. Irgendwann wurde ihnen ihr Planet zu klein, sie sehnten sich nach der Weite des Universums und machten sich auf, es zu erobern. Die Lage unseres Heimatplaneten geriet in Vergessenheit, das Wissen darum ging verloren. Es war kein besonders großer Planet, er schimmerte in der Schwärze des Alls wie eine kleine blauweiße Perle. Und doch entwickelte sich dort Leben. Das Leben, das mein Volk hervorbrachte. Der größte Teil seiner Oberfläche ist von Wasser bedeckt, ist es das so überraschend, dass auch unser Ursprung im Wasser liegt?“ PJ merkte, dass er ins Schwärmen geriet und schüttelte unwillig den Kopf. Puck hatte den Kopf auf die Hände gelegt, stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und hörte aufmerksam zu.
 

„Der Ehrgeiz meines Volkes lag übrigens nie darin, den Gencode anderer Lebewesen zu erforschen und zu verändern“, fuhr PJ mit seiner Erzählung fort. „Unser ganzes Ziel war die technische Entwicklung. Jede neue Energiequelle die sich auftat führte zur Entwicklung schnellerer und besserer Fortbewegungsmittel. Unsere Städte schossen wie Saktispilze aus dem Boden, ganze Sonnensysteme wurden kolonisiert. Große Sternenschiffe reisten von einem Planeten zum anderen. Wir fühlten uns unbesiegbar, waren die Herren des Universums. Und doch … Nenne es den Fluch der Göttin wenn du magst. Wir sind nicht auf einen Schlag verschwunden, wurden nicht von einer Naturkatastrophe heimgesucht. Aber die, die wir schufen, haben sich gegen uns erhoben und ihr einziges Ziel ist es, uns auszulöschen. Es sind Maschinen, Roboter, von uns geschaffen um uns das Leben zu erleichtern. Sie haben ein eigenes Bewusstsein entwickelt und sind in der Lage, sich zu reproduzieren. Es herrscht Krieg da draußen und ich weiß nicht einmal, wie es um unsere Sache steht.“ PJ’s Stimme war immer leiser geworden. Puck hatte ihren Vater noch nie so hoffnungslos gesehen. Sie beugte sich über den Tisch und griff nach seiner Hand. PJ strich sich mit der anderen Hand über die Augen und sah sie an.

„Du hast bestimmt Fragen, Kleines.“ Puck nickte.

„Bitte PJ, was ist Energie und was sind Maschinen und Ropotter?“ PJ verzog das Gesicht zu einem Grinsen.

„Das heißt Roboter. Aber fangen wir mit etwas Einfachem an. Energie. Du kennst doch den Lastenaufzug. Nun, den könnte man schon eine Maschine nennen. Die Schwungräder sind der Antrieb und das Wasser ist die Energiequelle, verstehst du das?“ Puck nickte, sie verstand es tatsächlich. Vor Aufregung bekam sie ganz rote Backen, als sie versuchte, sich an das eben gehörte zu erinnern und die nächste Frage zu formulieren.

„Warum glaubst du, die Anderen ähneln deinen Ahnen?“

„Puh, ich hatte gehofft, die Frage könnten wir übergehen.“ Er warf Puck einen Blick zu. „Aber irgendwann müssen wir sowieso darüber sprechen, warum nicht gleich jetzt. Der Grund, warum es diese Unterschiede zwischen den Iestern und mir und auch dir gibt, ist der, dass die Evolution bei unserer Entwicklung andere Wege gegangen ist. Tante Beru hat ja erzählt, dass sich die Anderen aus einer Art Primaten entwickelt haben, die viel Ähnlichkeit mit den Ahnen der Ahnen hatte, aber doch anders war. So ähnlich war es bei meinen Vorfahren.“

„Und was ist mit den Ahnen? Aus welchen Lebewesen haben sie sich entwickelt?“

PJ zuckte mit den Schultern. „Auf Iest gibt es keine Lebewesen mehr, die Ähnlichkeiten mit ihnen hätten, aber in meiner Welt schon. Ich denke, die Ahnen waren eine Art Katzenwesen.“

„Katzen … wesen.“ Puck klang unsicher. Darunter konnte sie sich absolut nichts vorstellen.

„Keine Sorge, Katzen sind äußerst edle und vornehme Tiere. Wenn ich da an meine „Verwandten“ denke …“ PJ verzog das Gesicht. Puck hatte keine Ahnung wovon er da eigentlich sprach. Sie musste das eben Gehörte erst mal verarbeiten.

„Die Anderen und deine Ahnen haben also eine gewisse Ähnlichkeit. Und Tante Beru glaubt, dass aus den Anderen die Ous geworden sind. Große Göttin!“ Puck musste schlucken. „Das bedeutet ja, dass wir beide mit den Ous verwandt sind. Wenn er das erfährt, dann hab ich ja gar keine Ruhe mehr.“ PJ erkundigte sich erst gar nicht, wer ’er’ war. Er trank seinen inzwischen kalt gewordenen Tee aus.

„Vergiss aber eines nicht, die Anderen haben damals die Gene der Ahnen verändert. Ich bin davon überzeugt, dass sich die Iester vermutlich nie hätten entwickeln können, ohne diese Manipulation. Du kannst dir doch denken, was das bedeutet!“

„Aber natürlich, etwas von den Ous steckt in jedem von uns.“ Puck grinste bei dem Gedanken, daran, was Teres wohl davon halten würde.

PJ reckte sich und stand auf.

„Es ist spät geworden, wir machen wohl besser Schluss für heute.“

Puck nickte, reichte PJ ihre leere Tasse und rutschte vom Stuhl herunter. PJ löschte die beiden Lampen. Er nahm Puck wieder bei der Hand, ließ sie diesmal aber vorgehen. Mit ihren empfindlichen Augen sah sie im Dunkeln einfach besser als er. Puck fand den Durchgang auch ohne Probleme und gemeinsam stiegen sie die Treppenstufen hinauf. Puck war ziemlich nachdenklich. Je länger sie über alles nachdachte, umso mehr Fragen hatte sie. Wie war PJ denn nun hierher gekommen und wieso war er noch hier, wenn er sich solche Sorgen um sein Volk machte? Er hatte versprochen, ihr alles zu zeigen und sie wusste, sie konnte sich darauf verlassen, denn PJ hielt sein Wort. Immer! Sie musste sich nur gedulden. Aber da war etwas, das hätte sie jetzt schon gerne gewusst. Sie hatten schon fast das Ende der Treppe erreicht, als sie stehen blieb und PJ’s Hand mit beiden Händen festhielt.

„Bitte PJ, wie nennt sich dein Volk?“ Er lächelte wehmütig als er sich zu ihr hinunter beugte.

„Wir werden Menschen genannt.“, sagte er dicht an ihrem Ohr und betonte das ’wir’ etwas.
 

Puck schlich sich vorsichtig in das Zimmer, das sie gemeinsam mit Suri bewohnte. Die Schwester schlief schon tief und fest und wie üblich hatte sie sich fest zu einem kleinen Ball zusammengerollt. Nicht mehr lange und Suri würde in ihr eigenes Zimmer umziehen. Puck seufzte leise. Auch wenn sie immer noch im selben Haus wohnen würden, würde sie Suri vermissen. Sie betrachte die Schwester, verglich das kleine Gesicht, die stupsige Nase und die weichen Haare mit den eigenen. Ob sie selbst für diese Menschen auch so fremdartig aussehen würde wie jetzt für die Iester? Nicht für ihre Familie, aber für alle anderen, wie für, na für Teres zum Beispiel. Leicht verärgert runzelte sie die Stirn, dann zog sich leise aus und schlüpfte unter die Decke. Es dauerte noch eine Weile, bis sie einschlief, all das Neue, dass sie erfahren hatte musste erst verarbeitet werden. Und als sie endlich einschlief träumte sie von den Ous. Sie waren einfach überall. Sie wohnten im Haus, halfen Tante Beru beim Kochen und saßen mit am Tisch. Doch das einzige, woran Puck sich am Morgen nach dem Aufwachen noch erinnerte, war, dass sie mit allen Ous an einer langen Liane über den Abgrund geflogen war.
 

Am nächsten Morgen schien wieder die Sonne und alle Träume waren vergessen. Suri warf Puck zwar neugierige Blicke zu, aber es war eine unausgesprochene Regel, dass man ihr keine Fragen zu dem stellte, worüber PJ mit ihr gesprochen hatte. Meistens erzählte sie es sowieso von sich aus. An diesem Morgen aber war die jüngere Schwester sehr still und in sich gekehrt. Doch dies gab sich sehr schnell während des gemeinsamen Frühstücks mit Taasha und den munteren Zwillingen. Medina und Maaths waren schon lange vorher aufgestanden, um im Lagerhaus die Vorräte zu überprüfen und PJ hatte Somu zu seinen Fischgründen mitgenommen. Die Schwestern waren mit Tante Beru, Taasha und den Kindern alleine im Haus und die munteren Zwillinge rissen Puck sehr schnell aus ihrer Grübelei. Nach dem Abwasch nahm Taasha Tusie und Maks mit zu einer Freundin in der Siedlung und die beiden Mädchen gingen in den Garten. Der Vormittag gehörte dem Unterricht und dem Lernen.
 

Als erstes waren die Meditationsübungen an der Reihe, die genau in der festgelegten Reihenfolge durchgeführt werden mussten. Danach stellten sich die beiden voreinander auf. Es gab keine Herausforderung zum Kampf, nicht unter Schwestern. Es war still im Garten, ein kleiner Vogel zwitscherte versteckt in den Zweigen eines Busches.

Suri und Puck umkreisten sich langsam, lauerten auf einen Fehler der anderen. Wie immer war es die jüngere, die zuerst die Geduld verlor und angriff. Mit einem leisen Fauchen stürzte sich Puck auf die Schwester, die geschickt auswich. Ein paar Griffe und Puck lag rücklings im Gras. Sie kicherte und schüttelte Suri ab. Noch war sie kein wirklicher ein Gegner für Suri und vermutlich würde sie nie eine Herausforderung zum K’hitai erhalten. Die blieb meistens den älteren Töchtern vorbehalten und schließlich war Puck nur zum Teil ein Iester. Keine würde je eine Herausforderung von ihr akzeptieren. Aber sie gab sich wirklich Mühe, nahm alles auf was man ihr beibrachte, nicht mehr lange und sie würde ein ernstzunehmender Gegner sein. Ein paar Mal noch kullerte Puck über den Rasen und vermutlich hätten sie den ganzen Vormittag so weiter gemacht, wenn PJ und Somu nicht vom Fischen zurückgekommen wären. Jeder von ihnen schleppte einen ganzen Korb voll nasser Fische. Somu ließ seinen auf den Tisch vor dem Räucherhaus fallen und marschierte, nach einem Blick auf PJ, in Richtung Küche.

„Na Mädchen, helft ihr mir beim Fische ausnehmen?“ wollte PJ vergnügt wissen. Während Puck bereitwillig ein Messer und den ersten Fisch zur Hand nahm, warf Suri einen argwöhnischen Blick auf PJ und die Fische und verschwand dann ohne ein Wort zu sagen ebenfalls in der Küche.

„Du weißt doch, dass sie keine nassen Fische in die Hand nimmt“, erinnerte Puck den Vater.

„Ach tatsächlich?“ tat PJ überrascht. „Na, wir zwei schaffen das schon. Und können uns während der Arbeit schön unterhalten.“ Er zwinkerte ihr zu. Puck, die die Fische genauso konzentriert ausnahm, wie sie Fladen ausrollte, bemerkte es nicht einmal.

„PJ“, fing sie an, „warum hab ich einen so merkwürdigen Namen? So wie ich heißt doch keiner.“

„Du hast doch keinen merkwürdigen Namen“, protestierte PJ. „Du hast eben einfach keinen typischen Iest-Namen. Weißt du, deine Mutter hat mir gestattet, dir einen Namen aus meiner Welt zu geben.“ PJ ließ die Hände auf den Tisch sinken. „Ich habe dir den Namen meiner Mutter gegeben.“ Er schien auf einmal gedanklich sehr weit weg zu sein.

„Deine Mutter hieß Puck?“ Puck klang ziemlich ungläubig.

„Natürlich nicht“, lachte PJ und vertrieb damit die Schatten der Vergangenheit. „Ihr Name war Penelope. Sie ist schon vor langer Zeit gestorben. Sie hätte dir bestimmt gefallen.“ Er nickte bestätigend. „Und nachdem ich dir schon den Namen meiner Mutter gegeben habe und er mit dem gleichen Buchstaben wie meiner anfängt, wollte ich dir auch noch einen Teil von meinem Namen geben. PJ steht nämlich für Peter Joshua. Weil dies aber kein Name für ein Mädchen ist, nannte ich dich Jade. Penelope Jade Greenstone, oder abgekürzt einfach Penny Jay.“

„Aha“, Puck wurde beinahe erschlagen von all den Namen, die alle ihre sein sollten. „Und wer war denn nun Puck?“ erkundigte sie sich nach dem einzigen Namen, den sie ihr Leben lang schon kannte.

„Puck? Nun das war ein ziemlich frecher Kobold, den ein gewisser Shakespeare, ein berühmter Geschichtenerzähler einmal in einer Geschichte beschrieben hat. Gleich nach deiner Geburt hast du ein so entrüstetes zerknittertes Gesichtchen gehabt, dazu die spitzen Öhrchen, ich musst da einfach an einen Kobold denken.“
 

„A-ha“, machte Puck, legte den Kopf schief und sah ihn von untern herauf an. „Und was ist ein Kobold?“

PJ seufzte. Es würde wohl doch länger dauern, als er dachte, Puck all das beizubringen, was sie wissen musste. Am Besten, sie fingen gleich Morgen mit dem Unterricht an.
 

Nach dem Mittagessen hatten die Kinder frei und konnten sich mit den Spielkameraden treffen. Es war Suri, die zuerst die Treppe hinunterhüpfte, während Puck langsamer hinter ihr herschlenderte. Die anderen hatten sich schon unterhalb des Abhangs zusammengefunden. Wie üblich führte Teres das große Wort. Warum hätte es auch anders sein sollen. Und doch war er an diesem Mittag nicht ganz so aggressiv wie sonst. Die Gruppe übte Klettern am Steinhang. Puck war recht geschickt im Klettern und ohne Zeitdruck war sie sogar richtig gut. Die Kinder jagten den Hang hinauf und hinunter und verfolgten sich gegenseitig. Ihr Lachen und Schreien war bis zur Siedlung hinauf zu hören. Sie hatten hörbar Spaß. Es war ein so großes Durcheinander am Hang, dass Suri und nach und nach auch den anderen erst spät auffiel, dass Puck verschwunden war. Teres grinste zwar triumphierend, weil das Rundgesicht sich seiner Meinung nach geschlagen gegeben hatte, aber als Puck die nächsten Nachmittage immer wieder für ein bis zwei Stunden verschwand, passte ihm das auch nicht. Nicht lange und er erfand ein neues Spiel. „Puck finden und verfolgen!“ Es war nicht schwer. Puck machte es ihnen leicht. Sie kletterte einfach den Steilhang hinauf und lief auf dem kürzesten Weg zur großen Ketsche am Rande der Schlucht. Dort kletterte sie den Stamm hinauf und machte es sich in einer Astgabel bequem. Und dann wartete sie auf die Ous. Es dauerte meistens nicht lange bis sie auftauchten und es sich in den Bäume rund um die Ketsche und in der großen Ketsche selbst gemütlich machten. Nach ein paar Tagen schien es als hätten sich die Ous an Puck gewöhnt, aber die anderen Kinder wurden von ihnen misstrauisch beäugt. Bald war es den Kindern zu langweilig, Puck zu verfolgen. Es tat sich ja überhaupt nichts. Die Ous hüpften durch die Zweige und Äste und sammelten Nüsse und Puck lag nur da und beobachtete sie. Nicht lange und die anderen Kinder hatten keine Lust mehr, Puck zu verfolgen und nachzusehen, was Puck und die Ous so trieben.
 

Natürlich hatte Puck Suri erzählt, warum sie jeden Mittag zu den Ous ging. Dass sie sie faszinierten und sie sie gerne beobachtete um alles über sie zu erfahren. Dass sie sich zu ihnen hingezogen fühlte, weil sie eine Art Verwandtschaft spürte und von ihnen lernen wollte, verschwieg sie der Schwester. Auch der Flug mit der Liane blieb noch ihr Geheimnis. Puck verfolgte damit eine ganz bestimmte Idee, denn noch immer galt es ein –Hühnchen mit Teres zu rupfen – wie PJ das manchmal nannte.
 


 

„Vater?“ Nur langsam kam Puck das ungewohnte Wort über die Lippen. Es war das erste Wort gewesen, dass er ihr in der Sprache der Menschen beigebracht hatte und immer noch überkam ihn ein fast feierliches Gefühl, wenn sie ihn so ansprach. Sie saßen zusammen vor dem Räucherhaus. Gleich nachdem er sie mit in die unterirdische Höhle genommen hatte, hatte er mit Hilfe von Somu einen Arbeitstisch und dazu passende Stühle gebaut. Noch saßen sie im Freien, nicht mehr lange und sie würden den Unterricht nach drinnen verlegen müssen, denn die Zeit der Dunkelmonde stand bevor. Die Sonne verlor jeden Tag mehr an Kraft und ein leichter Frost lag morgens schon in der Luft. Die Blätter der Bäume begannen die gleiche Färbung anzunehmen, wie die der Ketschen, nur die Eipen reckten ihre immergrünen nadelartigen Blätter stolz in die klare Luft.
 

Wie in der alten Geschichte die Anderen, so waren auch die Menschen in der Lichten Zeit in Pucks Leben getreten. Sie hatten sich nicht vertreiben lassen und waren zu einem festen Bestandteil ihres Lebens geworden. Sie übte zwar immer noch jeden Morgen mit Suri für das K’hitai, doch danach wartete PJ auf sie. Er hatte einen Lehrplan aufgestellt, den er gnadenlos mit ihr durchging, egal, wie sehr Puck maulte, bettelte oder sich bei Medina beschwerte. Diese strich ihrer jüngsten Tochter nur wehmütig über das ketschfarbene Haar. Aus irgendeinem Grund wurde die Mutter immer traurig, wenn der Unterricht bei PJ zur Sprache kam, aber sie sprach nie ein Wort dagegen aus und so biss Puck die Zähne zusammen und lernte alles, was PJ ihr beibringen wollte. Er brachte ihr das Rechnen bei und nicht nur das Zusammenzählen. Die Sprache der Menschen und ihre Geschichte und die Schriftzeichen, um dies alles niederzuschreiben. Davon war Puck wirklich fasziniert, denn die Iester benutzen dafür nur die mündliche Überlieferung. Sie kannten nur einige Symbole, die hauptsächlich für Landkarten verwendeten wurden, die auf speziell bearbeitete Häute gemalt wurden. Das glatte feine Papier das PJ mitgebracht hatte kannten die Iester nicht. Da PJ keine Ahnung hatte, wie es hergestellt wurde und sein Vorrat sehr begrenzt war, benutzen sie Ton den sie vom Flussufer hoch geholt hatten. Der geschickte Somu hatte ihnen einen Holzrahmen gebaut, der mit einer Schicht weichem Ton gefüllt wurde. Mit einem Stück Holz oder Knochen konnte Puck Zahlen und Buchstaben hineinritzen und alles so oft sie wollte wieder glatt streichen und von vorne beginnen. Mit der Zeit gewöhnte sie sich an den Unterricht und er fing an, Spaß zu machen. Sogar die Hausaufgaben die PJ ihr manchmal aufgab! Nur eines gefiel ihr nicht.

„Warum dürfen Suri und Somu nicht beim Unterricht mitmachen?“ Die Sprache der Menschen war ungewohnt, härter als die der Iester. Verstehen konnte sie sie schon recht gut, nur das Sprechen bereitete ihr noch Schwierigkeiten. Sie sprachen immer PJ Sprache während des Unterrichts, damit sie darin Übung und ein besseres Gefühl für die Sprache bekam.
 

PJ schaute von dem silbrig schimmernden Gegenstand auf, an dem er schon einige Zeit lang arbeitete.

„Ich habe oft und lange mit Medina darüber gesprochen, ob ich ihrem Volk das Wissen der Menschen vermitteln soll. Doch sie hat sich dagegen entschieden. Sie ist eine weise Frau, deine Mutter. Und eine gute Anführerin. Fortschritt muss wachsen. Es bringt nichts, wenn ich sage, wie dieses und jenes funktionieren soll. Natürlich kann ich Ratschläge geben, manchmal werden sie gehört, manchmal auch nicht. Ich durfte das Räucherhaus bauen und Maath hat sich meine Vorschläge für das Wasserrad angehört. Natürlich ist es schade, dass ich deine Geschwister nicht unterrichten darf, denn Somu hat wirklich ein helles Köpfchen. Aber er wird auch so seinen Weg gehen. Und Suri? Sie wird vielleicht eines Tages Anführerin und muss all das lernen, was eine Anführerin wissen muss.“ PJs Blick fiel auf den Rahmen mit dem Ton, den Puck vor sich liegen.

„Man lernt auch sehr viel durchs Zuschauen. Ich bin sicher, dass Somu noch einige Rahmen bauen wird. Maath hat schon Interesse daran gezeigt, er möchte es für die Lagerverwaltung nutzen.“ Lernen durch Beobachten? Eifrig malte Puck Striche und Punkte auf die glatt gestrichene Tonfläche. Ob PJ gemerkt hatte, worin ihr Interesse an den Ous tatsächlich bestand? Doch dieser betrachtete missmutig das glitzernde Ding, das vor ihm lag. Somu würde das bestimmt ganz fix in Ordnung bringen. Puck atmete erleichtert auf und glättete die Oberfläche ihrer Tontafel. Sie hatte keine Ahnung, was PJ davon halten würde, an einer Liane durch die Bäume zu schwingen. Solange er nichts davon wusste, konnte er es ihr auch nicht verbieten. Leise lächelnd beugte sie sich wieder über ihre Tontafel.
 

Die Zeit der Dunkelmonde war die Zeit der Ruhe und Zurückgezogenheit. Minustemperaturen im zweistelligen Bereich und Unmengen von Schnee machten eine weite Reise fast unmöglich. Die Siedlungen waren von der Außenwelt abgeschnitten. Tausch und Handel auf Iest kamen vollständig zum Erliegen. Nur die wilden Muuts zogen über die Ebenen, geschützt durch ihren dichten Pelz.

Die Siedlung auf dem Hochplateau hatte sich auf diese Jahreszeit gut vorbereitet. Die Lagerräume waren voll und das Wissen um die Beständigkeit der Jahreszeiten ließ keinen Trübsal blasen. Sie richteten sich innerhalb ihrer Siedlung und ihrer Behausungen ein und verbrachten die Zeit bis zur Lichten Zeit mit Geschichtenerzählen und dem Herstellen von Werkzeugen und allerlei nützlichen und schönen Gegenständen. Die Puggas waren kurz zuvor noch geschoren worden und ihre Wolle musste nun verarbeitet werden. Es gab genauso viel zu tun wie zu jeder anderen Jahreszeit, nur dass sich eben der Großteil des Lebens im Haus abspielte.
 

Es war unglaublich. Vor nicht einmal einem Mond war hier alles noch unter hohem Schnee begraben gewesen und nun reckten die ersten Blüten ihr Knospen dem Sonnenlicht entgegen. Puck war auf dem Weg zu großen Ketsche. Sie machte sich Sorgen um die Ous. Während der Dunkelmonde hatte sie es nur ein paar Mal geschafft, sich durch den tiefen Schnee zur Ketsche durchzuarbeiten, doch die Ous hatte sie nicht gesehen. Der Kindmond war schon lange hinter dem Muttermond zum Vorschein gekommen, doch die Ous blieben immer noch verschwunden. Hatten sie irgendwo in einem sicheren Versteck überwintert oder waren sie für immer weiter gezogen? Puck hoffte sehr, dass sie wiederkamen, denn sie wollte noch soviel von ihnen lernen.

„Ouououuuu.“ Als Puck das typische Schnattern hörte, rannte sie los. Außer Atem kam sie bei der Ketsche an und musste sich erst einmal an einer Wurzel aufstützen um zu Atem zu kommen. Eilig musterte sie die Äste und Zweige und lächelte dann. Die Ous waren zurückgekehrt. Ob sie sich noch an sie erinnerten? Langsam begann sie, den Stamm hinaufzuklettern, bis sie ungefähr auf gleicher Höhe mit den Ous war. Es war so schwierig, zu erkennen, ob es die gleichen waren, mit denen sie sich vor den Dunkelmonden etwas angefreundet hatte. Da, der junge Ou auf dem Ast, war das nicht derjenige, dem sie die Nuss geschenkt hatte? Vorsichtig ließ sie sich auf dem gleichen Ast nieder. Der Kleine blieb ruhig sitzen, er rückte nur ein Stück zur Seite. Puck blieb ruhig neben ihm sitzen, baumelte mit den Beinen und schaute den Ous zu.

„Hallo“, sagte sie dann, als sie dachte, dass die Ous sich nun wieder an sie gewöhnt hatten und merkte gar nicht, dass es die Sprache der Menschen war, die sie benutzte. Der kleine Ou musterte sie neugierig.

„Mein Name ist Puck, aber eigentlich heiße ich Penny Jay“, Puck plauderte einfach drauf los. Sie war so glücklich, dass die Ous wieder da waren und die Dunkelmonde heil überstanden hatten. Sie erzählte ihnen was sie während dieser Zeit getan hatte und erkundigte sich, wo die Ous denn einen Unterschlupf gefunden hatten. Es machte nichts, dass sie keine Antwort bekam. Ohne mit dem Reden aufzuhören griff sie nach einer Weile in ihre Tasche und holte eine Handvoll Ketschnüsse hervor. Da die ersten Nüsse in diesem Jahr erst in ein paar Wochen reifen würden, mussten die aus dem Vorrat des Vorjahres eine wahre Delikatesse für die Ous sein. Puck legte eine davon auf ihre Handfläche und hielt diese dem Ou hin. Er musterte lange Zeit erst das Mädchen und dann die Nuss mit ernsten Augen. Dann, Puck schlief schon fast der Arm ein, rückte er ein Stückchen näher und griff blitzschnell nach der Nuss. Puck grinste breit, als er sie geschickt gegen den Ast drückte und knackte.

„Ou?“ Ein winzig kleiner Ou klammerte sich neben Puck an den Ast und schaute sie neugierig an. Puck hielt ihm die ausgestreckte Hand hin. Ohne Scheu packte der Kleine ihre Finger und zog kräftig daran. Puck kicherte vergnügt, doch als er einen ihrer Finger in sein weiches Mäulchen stecken wollte, brachte sie ihre Hand in Sicherheit. Sie bot ihm ebenfalls eine Nuss an, die er sich sofort in das Mäulchen steckte. Das Kleine hatte eindeutig noch nicht das Nüsseknacken gelernt. Mit der Nuss im Maul sprang es zu seiner Mutter, die alles aus sicherer Entfernung beobachtet hatte. Froh, dass ihr Junges wieder bei ihr war, nahm sie ihm die Nuss aus dem Maul knackte sie und fütterte es damit. Puck blieb noch eine Weile ruhig sitzen und beobachtete die Ous. Sie schienen gut über die kalte Jahreszeit gekommen sein. Puck erkannte viele der Tiere vom letzten Jahr, es waren sogar ein paar neue Jungtiere dazugekommen. Ihr kleiner tapferer Freund musste das Jungtier sein, das ihr im letzten Jahr aufgefallen war. Damals war sein Fell noch ganz rot gewesen, jetzt verfärbte es sich schon an den Spitzen. Aufmerksamkeit musterte Puck die Umgebung, doch nichts rührte sich. Auch die Ous verhielten sich ganz natürlich, ein Zeichen, dass niemand ihr gefolgt war. Deshalb konnte sie es wagen zu einer herabhängenden Liane in der Nähe hinüberzuklettern. Sie zog kräftig daran und stieß sich dann ab. Geräuschlos flog sie durch die Luft und landete sicher in der nächsten Deitze. Sie ließ die Liane los, rutschte geschickt den Stamm hinunter, warf den Ous eine Kusshand zu und rannte den Weg zur Siedlung zurück. Irgendwo in der näheren Umgebung würde sie schon auf die anderen treffen, sie musste nur ihren Ohren folgen.
 

Während der Dunkelmonde war Puck ein ganzes Stück gewachsen. Obwohl sie erst vor kurzem 9 Jahre alt geworden war, war sie nun fast genauso groß wie die 5 Jahre ältere Schwester. PJ hatte die kalte Jahreszeit gut genutzt und den Unterricht auch in dieser Zeit fortgesetzt. Während Somu Maath im Lager half und Suri bei Tante Beru das Kochen lernte und oft mit Medina zusammen saß, machte Puck weiter ihre Rechen- und Schreibaufgaben. Bevor es richtig kalt geworden war, hatte sie noch mehr Ton geholt und ihn bei Tuve, dem Töpfer deponiert. Somu baute ihr noch mehr Rahmen und nun konnte sie schreiben soviel sie wollte und musste das Geschriebene nicht mehr löschen. Der erste größere Text, den Puck niederschrieb, war die Geschichte der Ahnen und der Anderen.
 

Wenn sie alleine waren, sprach PJ immer die Sprache der Menschen mit ihr und sie konnte sich schon sehr gut ausdrücken. Dass sie einen niedlichen Akzent hatte, verriet PJ ihr nicht, es war ihm wichtiger, dass sie soviel wie möglich sprach als ihre Aussprache zu korrigieren. Aber er wollte nicht, dass sie diese Sprache benutzte, wenn sie mit anderen zusammen waren. Es wäre unhöflich gewesen und er wollte Medina und die anderen Familienmitglieder nicht verletzen. Er und Puck waren seitdem nicht mehr in der unterirdischen Höhle gewesen, aber allein dass sie davon wusste und was sie alles in den letzten Monden über sich und ihre Ahnen gelernt hatte, hatte Puck selbstbewusster werden lassen. Bei einer ihrer ersten Übungen im Freien war es ihr sogar gelungen, Suri zu besiegen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch dem selbsternannten Anführer der Kinder, Teres, diese Veränderung auffiel. Suri kam es sogar so vor, als würde Puck dies geradezu herausfordern. Immer noch verschwand sie jeden Mittag um die Ous zu beobachten. Doch wenn man ihr nachging um zu schauen, was sie da tat, lag sie gemütlich auf einem Ast und schaute dem Treiben der Ous zu.
 

„Los, wer als Erster beim alten Tempel ist!“ Teres hatte gute Gründe, warum er heute dieses Spiel vorschlug. Es war das erste Mal seit der Dunkelmonde und es wurde es endlich Zeit, das Rundgesicht, das sich in letzter Zeit so unmöglich benahm, in seine Schranken zu verweisen. Suri wollte wieder einmal protestieren, doch die anderen Kinder schubsten und schoben sich schon gegenseitig aus dem Weg, um eine möglichst gute Startposition einzunehmen. Außerdem spürte sie wieder einmal Pucks Hand auf ihrem Arm.

„Lauf so schnell du kannst“, forderte die Jüngere sie auf, „und schau nicht hinter dich.“ Dieses Mal trat sie nicht zurück, sondern blieb neben der Schwester stehen und griff nach einer der unteren Wurzeln, die aus dem Steilhang herausschaute. Es war eindeutig. Puck hatte vor, am Rennen teilzunehmen. Als das Startsignal kam, war sie eine der ersten, die den Steilhang hinaufkletterte.
 

Suri hielt sich an das was Puck ihr gesagt hatte. Sie teilte sich ihre Kräfte ein, fand einen guten Laufrhythmus, atmete gleichmäßig und schaute nicht zurück. Vor ihr rannte Teres durch den Plateauwald und dicht neben ihr hielt sich Kathyr. Aber wo war Puck und was würde sie am Abgrund tun? Medina hatte ihr doch verboten, dort hinunter zu springen. Teres zog das Tempo etwas an und Suri, die wusste was sie sich zutrauen konnte, hielt mit. Es war so wichtig, dieses Mal einen guten Platz einzunehmen oder sogar zu gewinnen. Dieses Rennen war mehr als ein Spiel, der gute Name ihrer Familie musste verteidigt werden. Sie konnte nur hoffen, dass Puck vernünftig war und aufgab, wenn es gefährlich werden würde. Die Schwester hatte sich während der letzen Monde wirklich sehr verändert. Suri verdrängte diesen und jeden anderen Gedanken und konzentrierte sich nur noch auf das Laufen. Sie blieb immer dicht hinter Teres und am Abgrund konnte sie ihn sogar abhängen und an die Spitze setzen. Doch auf dem letzten steilen Stück vor dem Tempel holte er wieder auf. Von der anderen Seite der Schlucht leuchteten die Blätter der großen Ketsche herüber und merkwürdigerweise fielen Suri plötzlich die Ous ein. Ob Puck vielleicht doch wieder zu ihnen gegangen war? Teres war jetzt direkt neben ihr. Suri mobilisierte ihre letzten Kraftreserven doch es gelang ihm, sich an ihr vorbei zuschieben und als erster durch das hohe Portal des alten Tempels zu stürmen. Dann aber blieb er so abrupt stehen, dass Suri gegen ihn prallte. Kathyr, die wie immer dicht hinter ihnen war, konnte noch rechtzeitig abbremsen. Dann sahen sie, was ihn so gestoppt hatte. Zu Füssen der großen Statue der Göttin kniete jemand. Als die Person die Geräusche am Eingang hörte, drehte sie sich um und lächelte ihnen zu. Es war Puck.
 

„Puck!“ Suri stürzte auf die Schwester zu und warf die Arme um sie. „Ich hatte solche Angst, dass dir am Abgrund irgendetwas passiert ist. Wie hast du es nur geschafft, so schnell hier zu sein?“ Puck kam gar nicht dazu, etwas zu sagen, denn die anderen Läufer trafen nun auch ein und alle redeten durcheinander. Keiner konnte es so richtig glauben, dass ausgerechnet das Rundgesicht das Rennen gewonnen hatte. Teres beobachtete alles aus schmalen Augen. Auch er konnte sich nicht vorstellen, wie Puck es geschafft hatte, vor allen anderen am Tempel zu sein. Wegen des Hochwassers fuhren noch keine Boote auf dem Fluss, sie musste irgendwo anders einen Weg gefunden haben.

„Ich bin über die Schlucht gesprungen“, beantwortete Puck die Frage ihrer Schwester und die der anderen und in ihren Augen blitze es mutwillig auf. Genau genommen war das Gleiten an einer Liane nichts anderes als ein großer Sprung. Es hatte lange gedauert, bis sie die richtige Liane gefunden hatte und fast genauso lange hatte sie nach dem richtigen Ast gesucht. Der Rechenunterricht bei PJ war also doch irgendwie zu etwas nütze. Es hat viel Mut gekostet, über die Schlucht zu fliegen. Alle Ous hatten ihr zugesehen und aufgeregt geschnattert, als sie sich abgestoßen hatte. Sie war sich nicht sicher, was die anderen Eltern davon halten würden und wollte vorsichtshalber mit Medina und PJ sprechen, bevor sie ihr Geheimnis verriet. Außerdem sollten die anderen schon noch eine Weile rätseln, wie sie es wohl geschafft hatte. Puck war noch nie im alten Tempel gewesen. Doch jetzt wo sie wusste, wie er aussah, würde sie ihn von ihrer Ketsche aus sehen können. Die Statue der Göttin war fast so hoch wie eine Ketsche und aus einem weißen porösen Stein gehauen. Sie blickte milde lächelnd auf die Wesen zu ihren Pfoten hinunter. Die Ohren hoch aufgerichtet, den langen Schwanz elegant um den schlanken Körper gelegt, saß sie schon seit Generationen so da. Ob wohl die Ahnen der Ahnen wie sie ausgesehen hatten?

Suri legte den Arm um Puck und die anderen Kinder nahmen sie in ihre Mitte. Teres war der letzte, der den alten Tempel verließ. Unter dem Portal drehte er sich noch einmal um. Die Göttin blicke ihn aus sanften Augen an. Sie waren grün. Wie die von Puck.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  elbin-luna-chan
2007-04-06T10:39:58+00:00 06.04.2007 12:39
Glückwunsch zum ersten Platz in meinem Wettbewerb.

Deine Story hat einen Detailreichtum und einen Umfang, der nur eines ersten Platzes würdig ist.
Dein Stil liest sich hervorragend, man kann sich sehr gut in die Charaktere hineinversetzen und die Schauplätze sind alle ganz wunderbar beschrieben.
Die "Pointe" zum Schluss hast Du auch ganz toll rübergebracht und an der richtigen Stelle einen Schlussstrich gezogen.
Einfach hervorragend.


Zurück