Wie ein Licht im Nebel
Die nächsten zwei Tage war es ruhig. Rally nutzte die Gelegenheit, um
Misty im Laden etwas einzuführen. Schliesslich konnte es gut sein,
dass sie nochmals gebraucht würde. May und Ken hatten einen
unverdächtigen Wagen aufgetrieben. May hätte lieber ihren Fiat 500
behalten, aber Ken befürchtete, dass Tanner diesen Wagen bereits
kennen könnte.
Am dritten Tag war es mit der Ruhe vorbei. Rally, sie hatte gerade
den Laden geöffnet, sah Tanners blauen Corsa vorfahren. Misty war
einkaufen gegangen. Rally und May mussten also selbst zurechtkommen.
"Guten Tag, Mister Tanner", begrüsste ihn Rally freundlich, als er
zur Tür hereinkam.
"Guten Morgen", erwiderte dieser. "Wie läuft das Geschäft?"
"Kommt drauf an, welches sie meinen", meinte Rally lächelnd.
"Jedenfalls würde ich das gerne sagen. Aber Tatsache ist leider, dass
im Moment beides nicht besonders läuft."
"Naja, vielleicht kann ich ja wenigstens beim Waffengeschäft etwas
nachhelfen. Bei der Auseinandersetzung mit Martin habe ich bemerkt,
dass ich mich zu sehr auf des Gewehr verlasse. Also habe ich meine
Pistolen wieder hervorgeholt. Könnten Sie sich die mal ansehen?"
"Natürlich."
Tanner holte eine SIG P210 aus einem Seitenhalfter unter der Jacke,
und eine SIG P226 aus einer Tasche, die links unterhalb seines linken
Knies befestigt war. Bei beiden entfernte er die Magazine, entlud
sie, und legte sie dann auf den Tisch. Rally nahm die P210, und
demontierte sie. Sie betrachtete die Bauteile eingehend.
"Sie haben ihr Gewehr ja heute gar nicht dabei", sagte sie, während
sie den Lauf untersuchte.
"Warum sollte ich?", fragte Tanner.
"Weiss nicht. Aber beim letzten mal hatten sie es unter der Jacke
versteckt."
"Ach ja. Ich habe vergessen, dass ich mich im Laden eines Profis
befinde", meinte Tanner schmunzelnd.
"Zuviel der Ehre", erwiderte Rally. "Die P210 ist jedenfalls in gutem
Zustand. Ich schau mir mal die 226er an."
Die P226 war, aufgrund ihrer einfachen Konstruktion schneller
überprüft. Auch hier fand Rally nichts zu beanstanden.
"Sind beide in gutem Zustand", sagte sie, nachdem sie auch die P226
wieder zusammengesetzt hatte. "Ich würde damit bedenkenlos auf die
'Jagd' gehen."
"Zuallererst brauche ich aber Munition", sagte Tanner. "Sie haben
doch welche?"
"9mm Luger? In allen Geschmacksrichtungen."
"Dann hätte ich gerne GECO Dynamit Nobel, wenn sie welche haben."
"Jede Menge. Die benutze ich selber. Wieviel denn?"
"Für den Anfang 500 Schuss. Damit habe ich mal etwas Vorrat. Und ich
würde gerne ihren Schiessstand benutzen."
Nachdem Tanner die verlangte Munition erhalten hatte, ging er zum
Schiessstand hinüber. Rally schaltete den Überwachungsmonitor ein,
und beobachtete, wie er mit den Waffen umging. Nachdem Tanner zwei
Übungsserien geschossen hatte, ging sie zum Nebenraum, wo May sass.
"Komm mal rüber", sagte sie, und ging wieder zum Monitor. May folgte
ihr.
"Wer ist den im Schiessstand?", fragte May, als sie erkannte, das
Rally auf den Monitor schaute.
"Tanner", antwortete Rally knapp.
"Echt?" May lief ebenfalls zum Monitor. "Wie schlägt er sich denn?"
"Ganz gut. Er hat auf jeden Fall schon mit den Waffen trainiert."
Tanner hatte gerade eine weitere Übungsserie abgeschlossen, und liess
die Scheibe zurückkommen. Die Einschusslöcher waren zwar nicht so
nahe beisammen, wie May das von Rally gewohnt war, aber das Resultat
konnte sich durchaus sehen lassen.
"Hmmm... Scheint so, als könnte er nicht nur mit einem Gewehr
umgehen", meinte May.
Tanner schoss noch ein paar Serien. Dann war er mit dem Ergebnis
offenbar zufrieden. Er steckte die Waffen ein, und kam in den
Verkaufsraum zurück.
"Oh. Guten Tag Miss Hopkins", sagte er, als er May erblickte.
"Guten Tag. Wie liefs denn?", fragte May.
"Gar nicht schlecht. Muss wieder etwas in Übung kommen. Aber jetzt
wollen wir erstmal abrechnen."
"Selbstverständlich", meinte Rally, und holte die entsprechenden
Formulare hervor. "Und May, ich glaube, du hast was anderes zu tun,
nicht?"
"Bin schon unterwegs", sagte May in seltenem Enthusiasmus, und
verschwand wieder im Nebenzimmer.
May hatte tatsächlich etwas anderes zu tun. Sie verschwand durch den
Hinterausgang, und ging zum etwas abseits geparkten Ford Sierra, den
Ken für die Verfolgung ausgewählt hat. Wie üblich hatte May den Wagen
präpariert, so dass sie ihn trotz ihrer Kleinwüchsigkeit fahren
konnte. Vom Wagen aus beobachtete sie den Laden. Sie brauchte nicht
lange zu warten. Nach kurzer Zeit kam Tanner heraus, und fuhr mit
seinem Wagen davon. May heftete sich auf seine Fersen.
"Das ist ein interessanter Fall, Miss Farrah", sagte der Arzt.
"Was ist es denn genau?", fragte Becky.
Der Arzt legte die Aufnahme, die ihm Becky gegeben hatte, auf den
Tisch.
"Verbrennungen zweiten bis dritten Grades. Noch nicht all zu lange
her. Von der Vernarbung her würde ich sagen, dass der Arm eine Weile
lang unter oder in einem brennenden Gegenstand eingeklemmt war. Aber
das ist mehr Spekulation, als ein Befund."
"Sie meinen also, es sei ein Brand gewesen?"
Der Arzt nickte, und zeigte auf das Foto. "Sehen Sie. Der Rand der
Verbrennung ist fliessend. Hätte man ihn gefoltert oder sonstwie
absichtlich verbrannt, wäre eine scharfe Abgrenzung zwischen
verbrannter und nicht verbrannter Haut sichtbar. Nur hier ist ein
Streifen sichtbar, wo die Haut weniger verbrannt ist. Möglicherweise
ist hier ein Balken aufgelegen."
"Verstehe", sagte Becky. "Das würde vermutlich auch erklären, warum
er ein Atemgerät benutzt, wenn er etwas Anstrengendes unternimmt."
"Ist gut möglich. Wenn er tatsächlich in einen Wohnungsbrand oder
etwas ähnliches verwickelt war, dann hat er vermutlich eine
Rauchvergiftung und möglicherweise ein Hitzetrauma erlitten. Bei
anstrengenden Tätigkeiten kann die Lunge dann das Blut nicht mehr mit
genügend Sauerstoff versorgen. Das Inhalieren von Luft mit hohen
Sauerstoffanteil ist eine häufige Therapie in solchen Fällen. Wenn er
es allerdings ausschliesslich dazu braucht, um anstrengende
Tätigkeiten auszuführen, ist es äusserst ungesund."
"Ich glaube nicht, dass er auf sie hören wird. Aber danke für die
Auskunft."
"Ach, ich könnte doch niemandem einen medizinischen Ratschlag
vorenthalten."
Den Beisatz, "jedenfalls nicht bei der Bezahlung", sprach er nicht
aus. Aber Becky kannte ihn auch so.
"Eine Frage hätte ich noch", sagte Becky. "Sie sagten, die Narbe sei
noch nicht all zu alt. Wie alt schätzen sie denn?"
Der Arzt überlegte einen Augenblick. "Zu lange kann es nicht her
sein. Die Narbe ist noch relativ frisch. Drei oder vier Monate
vielleicht. Sechs Monate, wenn seine Haut langsam verheilt. Aber auf
keinen Fall länger." Becky nickte. "Danke. Ich werd mal sehen, ob ich
damit etwas anfangen kann."
May verfolgte Tanner. Wie Becky es ihr gesagt hatte, fuhr sie ihm
sehr vorsichtig hinterher. Sie war sich ziemlich sicher, dass Tanner
sie noch nicht bemerkt hatte. Tanner seinerseits machte es ihr aber
auch einfach. Er fuhr hauptsächlich über dicht befahrene Strassen.
Anscheinend rechnete er nicht mit einer Beschattungsaktion. Als
Tanner seinen Wagen aber in der Innenstadt einparkte, kam May etwas
in Bedrängnis, denn natürlich war weit und breit kein anderer
Parkplatz frei. Ausser einem gerade neben dem, den Tanner gerade
benutzt hatte. May liess es drauf ankommen. Sie drehte eine Runde um
den Block, so dass Tanner ausgestiegen war, als sie zurückkam. Sie
schaffte es, den Wagen in die letzte Parklücke zu setzen, ohne das
Tanner etwas zu bemerken schien. Der ging einfach von seinem Wagen
weg, und verschwand hinter der nächsten Ecke. May schnappte sich die
Kamera, die sie für solche Fälle im Handschuhfach deponiert hatte,
und folgte ihm. An der Kreuzung sah sie vorsichtig um die Ecke. Die
Querstrasse war sehr belebt. Trotzdem konnte May Tanner rasch
ausmachen. Er hatte die Strasse überquert, und ging nun zu einem
Kiosk auf der anderen Seite. Ein Mann in einem schwarzen Anzug stand
dort vor dem Zeitungsständer. Tanner beachtete in anscheinend nicht,
aber an den Lippenbewegungen konnte May erkennen, dass die beiden
sich durchaus unterhielten, ohne sich aber anzusehen. May schoss ein
paar Fotos von den beiden. Dann ging sie selbst so rasch wie möglich
über die Strasse, und schlich sich an den Kiosk heran.
"Wie weit ist er denn schon?", hörte sie Tanner fragen.
"Ziemlich weit. Er sucht schon die Standorte aus", sagte der Andere.
"Viel zu früh. Warum eilt es ihm so?"
"Nach allem, was ich weiss, steht er ziemlich unter Druck."
"Diese Idioten. Das macht alles komplizierter. Auf jeden Fall müssen
wir unseren Terminplan beschleunigen. Sonst hat er schon zuviel
Macht, wenn wir eingreifen."
"Ja. Der Boss hat bereits eine Besprechung angeordnet."
"Wie lautet der Code?"
"Brief 257"
"Ich werde da sein."
Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, entfernte sich Tanner wieder vom
Zeitungsstand. Er ging nicht direkt zu seinem Wagen zurück. May
folgte ihm unauffällig, um zu sehen, ob er vielleicht an einen Ort in
der Nähe wolle. Aber Tanner umrundete lediglich den Block, und stieg
dann wieder in den Wagen. May wartete, bis Tanners Wagen aus der
Parklücke fuhr. Dann stieg sie selber ein, und nahm die Verfolgung
wieder auf.
Becky sass vor ihrem Computer. Sie durchforstete verschiedene
Datenbanken nach aussergewöhnlichen Brandfällen in Europa innerhalb
der letzten drei bis sechs Monate. Was sie fand, ermutigte sie nicht
gerade. Es gab eine ungeheure Anzahl ungeklärter Fälle, und es war
nicht gerade leicht, die banalen von den wirklich interessanten zu
trennen. Becky hatte gerade eine Datenbank der italienischen
Kriminalpolizei angezapft, und eine Suchabfrage abgesetzt, als das
Faxgerät sich meldete. Die Nachricht kam über den Scrambler, einem
Verschlüsselungsgerät für Faxe. Sie war also definitiv wichtig. Becky
schaute sich die Seiten an, die nach und nach ausgespuckt wurden. Sie
stammten vom Insider, den sie auf Tanners Kreditkartennummer
angesetzt hatte. Sie machte sich eine mentale Notiz, ihm mal wieder
eine Gefälligkeit zukommen zu lassen. Einen 'Maulwurf' in einem
derart neuralgischen Informationszentrum zu haben, war einfach
unbezahlbar.
"Gute Arbeit, mein Junge", murmelte Becky, als sie die Seiten
durchsah.
Die Informationen waren wichtig genug, um ein neues Treffen mit Rally
zu vereinbaren. Aber erst wollte Becky sehen, was die
Datenbankabfrage gebracht hatte. Sie setzte sich wieder an den
Computer. Die Ergebnisse kamen gerade herein. Als Becky die Einträge
durchsah, fiel ihr etwas auf. Sie startete die Abfrage erneut,
diesmal mit einem zusätzlichen Kriterium: Vermutete Beteiligung eines
nicht italienischen Syndikats. Und sie staunte nicht schlecht
darüber, was dabei herauskam.
Eine halbe Stunde später klingelte bei Rally im Laden das Telefon.
Misty, die gerade im Nebenraum war, nahm den Hörer ab.
"Oh, Hallo Becky", sagte sie.
"Tag Misty", antwortete Becky. "Sag mal, könnt ihr heute Abend wieder
ein Treffen einrichten?"
"Von mir aus kein Problem, aber da musst du Rally fragen. Ich hol sie
mal."
"Danke"
Misty legte den Hörer auf den Tisch, und ging in den Verkaufsraum, wo
Rally auf zu bedienende Kunden wartete.
"Da ist jemand für dich am Telefon", sagte Misty.
Das war ein Code für "Becky am Apparat". Rally reagierte
dementsprechend schnell.
"Ich komme", sagte sie. "Übernimm doch bitte kurz den Laden."
"Okay", sagte Misty, und schnappte sich eine Schürze vom Gestell.
Derweil ging Rally in den Nebenraum, und nahm den Hörer wieder auf.
"Ja?", fragte sie.
"Bist du das, Rally?"
"Leibhaftig"
"Sehr witzig. Hör zu, ich hab einen Haufen neuer Informationen.
Können wir uns heute Abend treffen?"
"Sicher. Allerdings ist May gerade auf Tour. Ich weiss nicht, wie
lange das noch dauern wird."
"Dann soll sie halt später kommen. Das Zeug hier ist
hochinteressant."
"Schon gut, ich hab verstanden. 8 Uhr?"
"Wäre ideal."
"Okay, wir sehn uns dann."
"Bis später."
Rally legte auf. Becky hatte sehr aufgeregt geklungen. Allem Anschein
nach würde sie heute Abend ein paar nette Details über Tanner
präsentieren. Gut Gelaunt ging Rally in den Verkaufsraum zurück.
Misty war dort gerade dabei, mit einem Kunden die Formulare für einen
Waffenkauf auszufüllen. Rally riskierte einen Blick auf die Papiere.
Die Waffe, welche der Kunde kaufen wollte, kostete über 800 Dollar.
"Sag mal", fragte sie Misty, als der Kunde gegangen war, "wie kommt
es eigentlich, dass die guten Kunden immer genau dann kommen, wenn du
an der Theke stehst?"
May verfolgte Tanner weiter. Tanner seinerseits fuhr einen äusserst
seltsamen Kurs kreuz und quer durch die Stadt. May war sich nicht
ganz sicher, ob er eventuelle Verfolger abschütteln wollte, oder ob
er schlicht den Weg nicht kannte. In Gedanken versunken entging ihr
beinahe, dass Tanner wieder in eine Seitenstrasse eingebogen war. May
folgte ihm, und fand sich unvermittelt auf einer Landstrasse am
Stadtrand wieder.
Tanner war in letzter Zeit häufiger beschattet worden. Daher hatte er
es sich zur Gewohnheit gemacht, regelmässig in den Rückspiegel zu
schauen. Die Tatsache, das seit einiger Zeit jedesmal ein weisser
Ford zu sehen war, schien ihm seltsam, selbst wenn er bedachte, dass
diese Wagen relativ häufig waren. Auch als er ein paar sinnlose
Abbieger innerhalb der Stadt machte, änderte es sich nicht.
Schliesslich fuhr er auf eine Landstrasse, um sich Gewissheit zu
verschaffen. Und tatsächlich folgte ihm, in sicherem Abstand, genau
so ein weisser Ford, wie er ihn schon die ganze Zeit gesehen hatte.
"Dacht ichs mir doch!", sagte Tanner. "Hartnäckig ist sie ja, muss
ich schon sagen."
Dann trat er das Gaspedal durch.
"Scheisse, er hat mich entdeckt!", dachte May, als Tanners Wagen
plötzlich beschleunigte. Aber so leicht wollte sie denn doch nicht
aufgeben: Sie beschleunigte ebenfalls, und nahm die Verfolgung auf.
"Unsere Motoren sind etwa gleich stark", dachte sich May. "Es kommt
also völlig aufs Fahrgeschick an... leider."
Mays leise Selbstkritik schien aber fehl am Platz, denn sie konnte
Tanner mühelos folgen. Tanner bemerkte dies. Er fuhr in ein
nahegelegenes Waldstück. Vermutlich wollte er dort May abschütteln.
Das Waldstück verfügte über viele Kreuzungen, die darüber hinaus
relativ nahe beieinander lagen. Tanner steuerte auf die erste
Kreuzung zu, bremste scharf, hinterliess dabei zwei Bremsstreifen,
drehte scharf nach links, und beschleunigte wieder, wobei die Räder
durchdrehten. May waren die blockierenden Räder beim Bremsen, sowie
die durchdrehenden Räder beim Beschleunigen nicht entgangen.
"Haha! Du hast weder ABS noch Traktionskontrolle!", rief sie. "Jetzt
komme ich!"
Tatsächlich war Mays Ford mit beidem ausgerüstet. Und das ermöglichte
ihr ein perfektes Bremsen und Beschleunigen ohne grosse Mühe. Gerade
auf der Landstrasse, mit eingeschränkter Strassenhaftung, ein nicht
zu unterschätzender Vorteil. Und den bekam Tanner jetzt zu spüren. Er
bog noch einmal scharf ab, ohne dass dies May beeindruckte. Dann noch
zwei mal direkt hintereinander. Aber May war zu schnell an der ersten
Kreuzung, und sah ihn, ehe er um die zweite biegen konnte. Tanner
wurde klar, dass er seine Verfolgerin so nicht abschütteln konnte.
Also änderte er seine Taktik. Er fuhr ein Stück lang geradeaus, dann
bog er wieder rechts ab. May folgte ihm natürlich unverzüglich, aber
als sie um die Ecke bog, war von Tanners Wagen nichts zu sehen. In
einiger Entfernung war eine weitere Kreuzung, aber May konnte sich
nicht erklären, wie Tanner so schnell dahin kommen konnte. Sie fuhr
auf die Kreuzung, und bremste scharf. Sie schaute nach links und nach
rechts, aber auf beiden Seiten war keine Spur von Tanner zu sehen,
obwohl auf beiden Seiten lange Zeit keine Kreuzung mehr kam. May
schaute nach hinten, aber es gab keine Anzeichen, das Tanner ins
Gestrüpp gefahren wäre. Schliesslich schaute sie wieder nach vorn.
Ein Stück weiter war eine Biegung.
"Das ist doch nicht möglich", sagte May leise.
Trotzdem fuhr sie den Wagen um die Biegung. Die Strasse führte aus
dem Wald über freies Feld zurück in die Stadt. Auf der Strasse konnte
sie, schon ziemlich weit entfernt, einen blauen Wagen ausmachen. Ein
Blick durch den Feldstecher brachte die Bestätigung: Es handelte sich
um Tanner.
"Wie hat er das nur gemacht?", fragte sich May, als sie sich
frustriert in den Sitz zurückfallen liess.
"Er ist also davongekommen", resümierte Becky wenig überrascht.
"Tja", gestand May. "Keine Ahnung, wie er das gemacht hat. Sein Wagen
muss wesentlich stärker beschleunigt haben, als dies für einen Corsa
normalerweise möglich ist."
"Wahrscheinlich hat er einen Turbo eingebaut", erklärte Rally.
"Schneller wird er damit zwar nicht, aber er kann die
Höchstgeschwindigkeit wesentlich schneller erreichen."
Becky, May und Rally sowie Misty waren in Rallys Wohnung, um die
Resultate ihrer Nachforschungen zu zeigen.
"Hat die Beschattung wenigstens sonst was gebracht?", fragte Becky.
"Naja, Tanner hat sich in der Stadt mit einer verdächtig aussehenden
Person getroffen. Aber ich habe nur einen Teil des Gesprächs
mitbekommen. Es ging um irgend eine Person, die offensichtlich etwas
plant, und die gestoppt werden müsse, bevor sie zu mächtig würde. Ich
hatte den Eindruck, dass Tanner und jener Mann Kollegen sind."
"Seltsam. Weisst du irgendwas über eine grosse Sache, Becky?", fragte
Rally.
"Etwas grosses? Nein", sagte Becky überrascht. "Aber ich habe in
letzter Zeit ja auch nicht in diese Richtung ermittelt. Hast du ein
Foto, May?"
"Hier! Frisch aus dem Schnellentwicklungslabor!", rief May
triumphierend.
"Wunderbar! Ich wusste doch, es lohne sich, dich in der Kunst der
Beschattung zu unterweisen", freute sich Becky.
Doch als sie die Fotos in die Hände bekam, änderte sich ihr Stimmung
wieder.
"Die sind aber unscharf", meinte sie etwas verärgert.
"Sorry. Vielleicht solltest du mich auch in der Kunst der Fotografie
unterweisen."
Becky ging nicht weiter darauf ein, sondern schaute die Fotos durch.
So unscharf waren sie nun auch wieder nicht. Man konnte immer noch
Details erkennen, wie zum Beispiel... Becky stutzte.
"Hast du mal eine Lupe, Rally?", fragte sie.
"Klar", antwortete Rally, und gab Becky eine Leselupe, welche sie
einst gekauft, aber nie im Leben benutzt hatte.
Becky schaute sich zwei der Fotos mit der Lupe nochmals genauer an.
Dann legte sie Fotos und Lupe auf den Tisch. Ihr Gesichtsausdruck
verhiess nichts gutes.
"Der Mann, mit dem sich Tanner unterhielt, hatte eine kleine
Anstecknadel in Form einer Rose auf der rechten Brust. Das muss
nichts heissen, aber... Es wird gerne als Erkennungszeichen
verwendet, und zwar von Vectors Leuten."
"Nicht doch!", rief May.
"Tanner ein Angestellter Vectors?!", rief Rally.
Misty, welcher der Name nichts sagte, wunderte sich über die
entsetzten Gesichtsausdrücke Rallys und Mays. Sie hatte nicht den
Eindruck, dass die Geschichte einen Weg nahm, der ihr gefiel.
"Ich glaube nicht", sagte Becky nach einigem Zögern. "Ich glaube
nicht, das Tanner ein normaler Angestellter Vectors ist. Sie würden
sich sonst nicht so treffen. Wahrscheinlich ist Tanner ein
'externer'. Ein angeheuerter Mitarbeiter. Sein Hintergrund weist
ebenfalls darauf hin."
"Sein Hintergrund?", fragte Misty, die bis dahin stumm gewesen war.
Becky schaute kurz überrascht in Mistys Richtung, dann begann sie zu
erklären:
"Ich habe die Fotografie von Tanners Brandnarbe einem Doktor gezeigt.
Der war der Meinung, dass Tanner kürzlich in einen Brand geraten sei.
Also habe ich im fraglichen Zeitraum mal alle ungeklärten Brände in
Europa abgesucht. Das waren natürlich ziemlich viele, Aber eine Reihe
ist mir dann aufgefallen: Es gab mehrere Dutzend Brände, in denen die
Beteiligung eines Syndikats vermutet wurde. Dieses Syndikat hatte
sich anscheinend auf Mord durch Brandstiftung spezialisiert. Mehr
noch: Alle Anschläge waren gegen mutmassliche Mafiamitglieder
gerichtet. Es kann natürlich ein Zufall sein, aber wenn Tanner ein
Opfer eines solchen Anschlags war, dann hätte er auf jeden Fall Grund
genug, hierher zu flüchten."
"Das wird ja immer besser", brummte Rally. "Aber warum glaubst du
dann, dass er kein fest Angestellter Vectors ist?"
"Vectors fest Angestellte sind ausnahmslos Leute, die er bereits seit
Jahren kennt. In seiner Organisation herrscht ein grosses,
gegenseitiges Vertrauen, dass macht sie so stark. Ich bezweifle, dass
Vector Tanner gegenüber ein genug grosses Vertrauen aufbringt, um ihn
gleich fest einzustellen. Aber ich kann mir vorstellen, warum Tanner
mit Vector zusammenarbeitet. Wenn er tatsächlich wegen einer
Streitigkeit zwischen Syndikaten fliehen musste, hat er jetzt
möglicherweise einen Hass auf die Mafia. Und Vectors Syndikat ist
insofern speziell, als dass es von den Streitereien der anderen
Syndikate lebt. Auch bei den Fällen, die er als Kopfgeldjäger
angenommen hat, ist er sehr wählerisch. Es waren alles Fälle von
Leuten, bei denen Verbindungen zu einem Syndikat vermutet wurden."
Die vier Frauen lehnten sich zurück, und liessen sich die Sache durch
den Kopf gehen.
"Seltsamer Typ", sagte Misty schliesslich.
"Kann man wohl sagen", bestätigte May.
"Je mehr Indizien zusammenkommen, desto mysteriöser wird der Kerl",
sagte Rally. "Hast du sonst noch irgendwas, Becky?"
"Naja, etwas habe ich noch. Wegen der Kreditkarte habe ich zwei Dinge
rausbekommen. Erstens: Er hat die Kreditkarte noch nie benutzt.
Ausser in deinem Laden, meine ich. Verstehe dass wer will. Und das
zweite: Ich habe jetzt seine Adresse."
Rally setzte sich ruckartig auf.
"Du hast was!?", rief sie.
"Seine Adresse", wiederholte Becky grinsend.
"Du hast dir das bis zum Schluss aufgespart, nicht wahr?", meinte
May.
Becky sagte nichts, und holte nur den Insiderbericht hervor. Darauf
stand tatsächlich Tanners Adresse.
"Ich war heute mal kurz dort, und hab ihn gesehen, wie er seinen
Wagen in die Garage fuhr. Er wohnt also tatsächlich dort."
"Na das ist doch endlich mal was", freute sich Rally. "Misty, ich
hoffe, du hast dein Handwerk noch nicht verlernt."
"Willst du bei ihm einbrechen?", fragte Misty.
"Nicht doch, ich will ihn besuchen", meinte Rally. "Nur eben dann,
wenn er nicht zuhause ist."