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Heilloser Romantiker

von

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Kapitel 55

Kapitel 55
 

Worte können dermaßen viel bedeuten, wenngleich einem der Sinn nicht offen zu liegen scheint. Oft kann man sie viele Male lesen, eine kleine Ewigkeit über sie nachdenken, ohne dabei zu einem stichhaltigen Schluss zu gelangen. Manchmal versteht man einfach nicht, was einem die Worte sagen wollen.
 

~~ Zusammen werden sie eins und halten sich die Waage. ~~

~~~~~~ Hüte dich vor der roten Glut der 13! ~~~~~~~~~~~
 

Joe hatte nicht mitgezählt, wie viele Male er die zwei Sätze gelesen hatte, aber das hätte ihn ohnehin auch nicht weitergebracht. Egal, wie er die Worte drehte und wendete, sie ergaben keinen Ort, an dem er Rick finden konnte. Und diese seine Unfähigkeit raubten ihm allmählich die letzten Nerven und ließen ihn im Wartezimmer des Krankenhauses unstet auf und ab laufen. Die Beschwerde, die bei ihm diesbezüglich eingegangen war, hatte er bisher gekonnt ignoriert. Er konnte eben nicht aufhören, wie ein Irrer umherzulaufen. Und das immer wütender werdende Gesicht des älteren Herren, der an einer Seite des Raumes saß, ließ ihn für den Moment noch völlig kalt. Es gab für ihn im Augenblick wichtigeres als einen Mann zufrieden zu stellen, nur indem er darin innehielt, seine Unruhe auszuleben.
 

Zwei Sätze, die sich einfach nicht fassen lassen wollten, waren das markante Problem. Er musste sie entschlüsseln und kein anderer. Er trug allein die Verantwortung für Ricks Freigabe, denn die Rätsel verwiesen immer auf Plätze, die mit ihnen zu tun hatten. Bisher hatte ihm keiner helfen können und somit musste er wohl auch dieses Mal selbständig mit dieser seiner ihm aufgetragenen Aufgabe fertig werden, selbst wenn er um diese niemals gebeten hatte.
 

„Hätten Sie die Güte, ihre Füße endlich im Zaum zu halten?“, fuhr ihn der Mann barsch an. „Das kann ja keiner mit ansehen!“
 

„Kann ich nicht“, entgegnete Joe schulterzuckend. „Tut mir leid, Ihrer Vorstellung von Höflichkeit nicht zu entsprechen, aber ich kann es momentan wirklich nicht.“
 

Mit nun wieder starrem Blick lief Joe weiterhin durch den Raum und machte nach allen fünf Schritten kehrt. Die wenigen Worte kreisten dabei unablässig in seinem Verstand und das Innere seines Kopfes glich alsbald einer wilden Karussellfahrt aus weißen Linien bestehend, die einstweilen klar definierte Lettern gewesen waren.
 

„So was Ungehobeltes“, hörte er den Mann vor sich hinbrummeln, als dieser das Zimmer hinkend verließ.

Eine Geste, durch die seine Füße letztendlich doch irgendwann den Dienst verweigerten. Nur wenige Sekunden, nachdem der Ältere gegangen war, ließ sich Joe auf einem Stuhl nieder und streckte seine Beine von sich. Sein Herz hämmerte regelrecht in seiner Brust. Er wollte doch nur eine kleine Idee, einen Lichtblitz, der ihn ein wenig im Denken vorankommen ließ. Bisher war er sich noch nicht einmal im Klaren darüber, was die Worte auch nur annähernd bedeuten konnten.
 

„Mist“, murrte er.
 

Vielleicht sollte er doch jemanden zu Rate ziehen, aber allein der Gedanke wurde hinfällig, nachdem ihm niemand einfiel, der dazu in der Lage wäre. Wer wusste denn genug über seinen Freund und ihn, um eine vielversprechende Lösung beim Lesen des Rätsels parat zu haben?
 

„Keiner“, murrte er erneut.
 

Aus seiner Verzweiflung heraus stampfte er einige Male mit der Ferse seines rechten Fußes auf dem Boden auf. Außer ihm war keiner mehr im Wartezimmer, so dass sich auch keiner seine Niedergeschlagenheit zu Gemüte führen musste. Etwaigen wäre er den anderen Leuten sowieso nur zur Last gefallen und hätte sie um ihre Ruhe gebracht, sofern man diese in einem Krankenhaus haben konnte.

Seit knapp einer Stunde war er bereits wieder zurück, doch hatte seitdem noch nicht bei Steven vorbeigesehen. Er konnte ihm nach all dem, was geschehen war, doch nicht ohne Resultate unter die Augen treten. Die Schuldgefühle waren auch so schon groß genug, da musste er nicht auch noch kleinlaut zugeben müssen, dass er völlig unfähig war, ein paar Worte in einen vernünftigen Zusammenhang zu bringen.

Egal, was er momentan dachte, es fühlte sich erdrückend an. Dazu brauchte er einzig an Rick denken, der zweifelsohne gänzlich auf ihn vertraute. Umsonst hatte er nicht so vieles leichthin genommen und aus vielen Situationen einen Scherz gemacht. Auch wenn das unsensibel klingen mochte, es hatte zum Beispiel Rick immer geholfen gehabt, denn schließlich hatte er ihm so oft ein Lächeln abringen können. Und dann, wenn es die Lage erforderte, war er wieder ernst geworden und hat dem Dunkelhaarigen anderweitig wieder Mut gemacht. Doch wieso vermochte er so etwas bei Rick zu tun aber nicht bei sich selbst? Warum konnte er sich nicht gerade mit Worten besänftigen, um wieder geradeaus denken zu können? Es drehte sich alles. Er drehte sich im Kreis und konnte ihm nicht entsteigen.

Was bedeuteten denn die Worte? Warum ließen sie sich nicht einfach in den Rest einfügen, so dass er Rick retten konnte?

Er war nicht der Typ, der einfach aufgab und alles in die Ecke schmiss, wenn etwas mal nicht so lief, wie er sich das vorstellte. Doch gerade war er nahe daran, das Rätsel in tausend Stücke zu zerreißen und es damit aus seinem Verstand zu löschen. Es machte ihn einfach wahnsinnig, dass der seidene Faden, an dem Ricks Leben zu hängen schien, durch ihn durchtrennt werden konnte.
 

Bevor er wirklich noch diesen Fehler, das schwarze Papier und damit die möglicherweise erlösenden Worte dem Erdboden gleich zu machen, so dass sie kein weiterer mehr je zu Gesicht bekommen konnte, beging, zog er es vor, doch Steven unter die Augen zu treten, wenngleich er keinerlei aufmunternden Emotionen erwarten konnte, wenn er ihn verletzt daliegen sah. Der Anblick an sich würde wie ein Schlag mitten ins Gesicht sein, dennoch stand er bereits vor Stevens Zimmertür. Zaghaft ließ er die Knöchel seiner Rechten gegen das Holz fahren. Obwohl er keine Stimmen des Inneren des Raumes vernahm, öffnete er leise die Tür und trat ein. Deprimierende Stille lediglich unterbrochen von einem steten Piepsen nahm ihn sogleich in ihre Fänge und begleitete ihn auf den Weg zu einem Stuhl, auf dem er sich neben dem Bett seines Vaters platzierte, um wenig später in dessen schlafendes Gesicht zu blicken. Er vermutete, dass sich seine Mutter wohl irgendwo ein wenig ausruhte und den Schock dabei zu überwinden versuchte; der Unfall war selbstverständlicherweise auch an ihr nicht spurlos vorbei gegangen.
 

„Unfall?“, spottete er mit kaum wahrnehmbarer Stimme.
 

/Das war versuchter Mord!

Auch wenn ich das immer noch nicht gänzlich begreifen möchte. Ich spüre doch, wie sich die Vorwürfe in mir dadurch nur verstärken.

Ich sehe dein bekümmertes Gesicht, das mich zu Recht anklagt. Ja, ich bin der Verantwortliche für deine Schmerzen, aber ich kann gar nicht in Worte fassen, wie glücklich ich darüber bin, dass du lebst. Vor kurzem noch…

… habe ich dir vorgeworfen, dass du nicht mein Vater seiest. Für so unsensibel habe ich mich selbst nicht einmal gehalten, zumal du mir immer das nötige Vertrauen und insbesondere Liebe entgegenbrachtest. Ich weiß,… ich habe meinen leiblichen Vater verloren und dachte, ich könne keinen neuen akzeptieren, doch deine Hartnäckigkeit und deine weitere Fürsorge, die du mir trotz meiner harten Worte entgegenbrachtest, lehrte mich eines Besseren.

Und nun liegst du hier vor mir, vollkommen hilflos und blass. Vorhin lächeltest du, doch das war sicher nur Fassade, damit ich mir keine Sorgen mache. Doch denkst du, sie verschwinden einfach, indem du mir vorspielst, dass die Welt in Ordnung sei? Das ist sie nicht!

Verdammt!/
 

„Das ist sie nicht!“
 

Joes Augen folgten dem Schlauch, der von Stevens Mund hin zum Beatmungsgerät führte. Je mehr Zentimeter er auf dem Weg dabei überwand, desto mehr trübte sich seine Miene.
 

/Die Ärzte meinten, dass du die nächsten zwei Tage noch viel Ruhe brauchst, dein Zustand aber stabil sei. Als du wach warst, habe ich das auch geglaubt, doch wenn ich dich jetzt so daliegen sehe, schwindet in mir das Gefühl allmählich, dass ich das weiterhin kann. Du siehst so zerbrechlich aus und das ist so grotesk, wo du doch immer so stark und unerschütterlich erschienst. Erst als ich…

… Ich habe dich… erstmals bestürzen können. Hast du deshalb dein Leben aufs Spiel gesetzt, um mir zu zeigen, dass du ein ebenbürtiger Vater sein kannst?/
 

„Sag’ mir, hast du dich deshalb in Gefahr begeben?... Das darf nicht wahr sein!“ Joe nahm eine von Stevens Händen in seine und drückte sie. „Das darfst du nicht aus diesem Grunde getan haben.“
 

Er war nun zweiundzwanzig Jahre alt und hatte gedacht, nicht mehr wie früher trauern zu können. Doch gerade, obwohl er es nicht wollte, tat er das. Die Gefühle von früher flammten in ihm nach und nach wieder auf und er wollte sie wieder ins dunkle Eck befördern, wo sie hingehörten, doch er vermochte es nicht. Allmählich spürte er auch die Tränen, die in ihm aufsteigen wollten. Tränen aus der Wunde in seinem Herzen. Fest presste er seine Lippen gegeneinander.

Zwar war er nie zu einem Eisblock mutiert, an dem alles einfach abprallte und Gefühle keine Chance hatten durchzudringen, aber er wollte dennoch nicht wieder tagelang am Fenster sitzen und in den Garten hinausschauen nicht einsehend wollend, dass ein geliebter Mensch aus seinem Leben getreten war.

Steven war nicht tot. Das wiederholte er immer und immer wieder in seinem Verstand. Hörte er nicht sein gleichmäßiges, rhythmisches Atmen?
 

Irgendwann vernahm er, wie die Tür leise aufgeschoben wurde, und er sah direkt in das Gesicht seiner Mutter, als er zu ihr blickte. Sie wirkte ebenfalls völlig blass und erschöpft.
 

„Komm’, setz dich.“
 

Er stand auf und bot ihr den Stuhl an, den sie dankend annahm.
 

„Hast du es?“, fragte sie hoffnungsvoll, aber dennoch wirkte sie dabei müde.
 

„Ja…“

Mehr erwiderte er nicht. In einvernehmlichem Schweigen schwelgte jeder für sich für die nächsten Minuten in seinen eigenen Gedanken respektive Erinnerungen.

„Eigentlich möchte ich nicht, dass nochmals“, begann er dann, „einer von euch irgendetwas mit Ricks Entführung zu tun bekommt, aber…“ Er stockte.
 

„Du solltest eines wissen, Joe.“ Sie drehte ihren Stuhl so, dass sie ihn direkt ansehen konnte. „Wir werden immer für euch zwei da sein, egal welche Konsequenzen das hat. Das liegt nun mal in unseren Genen“, fügte sie leicht lächelnd an.
 

Joe wusste gar nicht, was er erwidern sollte, darum sagte er nach einigem Ringen irgendwann ein einfaches ’Danke’.

„Kannst du es dir einfach mal durchlesen?“, bat er sie liebevoll, als er ihr das dunkle Papier überreichte.
 

Nicht einmal ansatzweise konnte er sich davon etwas versprechen und doch setzte er ein klein wenig Hoffnung in seine Mutter.
 


 

Seit Serrats Verschwinden war keiner mehr in das Zimmer getreten, in dem Rick nun schon seit mehr als vier Tagen festgehalten wurde. Bis auf die wenige Luft, das durch das kleine Fenster dringen konnte, durch das er auch jetzt blickte, bekam er keinen frischen Sauerstoff. Sein Körper sandte zunehmend Signale der Erschöpfung und des Unwohlseins aus. Lange würde er es nicht mehr in diesem Verließ aushalten, dessen war er sich sicher. Wenn sein Körper etwaigen nicht schlappmachte, dann gewiss seine Psyche. Allmählich konnte er sich der Misere, in der er sich unbestritten befand, nicht mehr erwehren. Immerzu musste er kämpfen und nach den schönen Dingen des Lebens suchen. Ständig wurde von ihm verlangt, Schlechtes zu überwinden und in die Zukunft zu blicken. Aber was war, wenn man das mit der Zeit nicht mehr konnte?

Eigentlich hätte er Serrats Worte belächeln müssen, vor allem seine letzten. Aber irgendwie hatte er das, als sie erklangen, nicht vermocht und tat das auch jetzt nicht. Sie hatten ihn tief getroffen, aber nicht weil sie aus dem Mund eines korrupten Menschen gekommen waren, sondern von jemandem, der sich als Freund seines Vaters betitelte. Es war nicht Damons Idee gewesen, sondern er hatte sich einzig und allein von diesem selbstsüchtigen, egozentrischen Menschen von ihr überzeugen lassen. Irgendwie wusste Rick nicht was schlimmer war, denn beides hatte dasselbe erschütternde Resultat: Er war von seinem leiblichen Vater verraten worden. Von welcher Seite aus man das auch betrachten mochte, es gab nichts, was den Dunkelhaarigen ein wenig aufmuntern konnte. Zunächst hatte er geglaubt, das entschädige seinen Vater ein wenig, aber das tat es nicht.

Mit leerem Blick sah er das eins saftige, grüne Gras, das nun von Tag zu Tag dürrer und lebloser schien. Die Natur lebte jedes Jahr von neuem auf und würde es nächstes Frühjahr wieder tun, woher sie auch immer dafür die Kraft nahm. War es einzig das Sonnenlicht und die Wärme, die ihr so viel Standhaftigkeit verliehen?
 

/Das Bestehen der Natur ist ein einziger Kreislauf. Das, was im Herbst zu Erde zerfällt, ist der Nährboden für die Pflanzen, die im Frühling ihre Köpfe gen Himmel neigen. Sind aber auch die Menschen, die andere zerstören, diejenigen, die neues Leben in die Welt setzen?

Ein absurder Gedanke, der sich auch noch bewahrheitet…/
 

Irgendwann schloss er die Augen und hielt, indem er sich an der schmalen Fensterbank festhielt, sein Gleichgewicht. Derart präsent hatte er seinen Körper selten gespürt. Fast schon hatte er das Gefühl zu spüren, wie das Blut in ihm zirkulierte. Wie sein Herz die zähe, rote Flüssigkeit ohne Unterlass durch ihn hindurch manövrierte, jedwedes Labyrinth mühelos meisternd. Er wiegte sich im seichten Klang der leisen Schläge, bis er in die Knie sank und seine Arme um seine Taille schlang.
 

„Nicht mehr lange.“
 

Rick schreckte zusammen und fuhr seinen Kopf abrupt herum. Da stand Alexandros am Türrahmen gelehnt und ihn fixierend.
 

„Bald wird dein kleiner Freund über dich richten.“
 

Die Kühle seiner Worte und ihre Schwere barsten dem Jüngern beinahe das Herz.

„Nimmt die Grausamkeit denn nie ein Ende?“, fragte er mit leiser, bebender Stimme.
 

„Die Starken werden über die Schwachen richten, so besagt es das Gesetz.“
 

„Das Ihrer Sippschaft? Ungegorene Richtlinien, die mehr Schaden anrichten als Gutes?“
 

„Hat hier wer behauptet, dass ich Gutes tun möchte?“

Alexandros näherte sich ein paar Schritte.

„Ich habe keine Liebe erfahren, also warum sollte ich damit anfangen, den Armen zu helfen und die Schwachen zu unterstützen? Sieh’ es ein, die Welt dreht sich nun einmal nicht nach deinen Vorstellungen.“

Mit einer Hand umfasste er Ricks Kinn.

„Darum werde ich mir weiterhin das nehmen, was ich begehre.“
 

Der Jüngere kniff seine Augen zusammen. „Hände weg!“
 

„Na na, langsam solltest du wissen, dass es hier nicht darum geht, was du möchtest.“
 

„Wie kann man nur derart kaltherzig sein?“
 

Alexandros griff sich eine von Ricks Händen und führte sie an seine Brust.

„Darin schlägt ein Stein und kein Organ voller Emotionen. Auch das solltest du langsam begriffen haben.“
 

„Und was ist mit Olivier? Meinen Sie nicht, dass er sich nach ein wenig Zuneigung Ihrerseits sehnt?“
 

„Er ist aus dem Alter heraus, an der Mutterbrust zu saugen.“
 

„Was für ein grausamer Mensch Sie doch sind.“
 

„Nur weiter. Sprich dich nur aus.“
 

„Lassen Sie mich gehen.“
 

„So unterwürfig?“

Auf Ricks Flehen in den Augen spielte er an.
 

„Was nütze ich Ihnen denn, wenn ich hier zugrunde gehe?“
 

Für einen Moment stockte Alexandros in allem. Nicht einmal zu atmen schien er. Doch die Ruhe währte nicht lange.

„Dann habe ich eben solange Spaß wie ich ihn haben kann.“
 

„… weg… von mir“, zischte Rick, als er den Mund des anderen auf seiner Wange spürte.
 

Als ein dumpfer Schlag ertönte ließ er in der Tat von ihm ab. Als sie beide zur Tür sahen, wusste Rick nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
 

Olivier stand dort mit einem Tablett in der Hand. Scheinbar wollte er ihn gerade mit Essen versorgen, doch das Funkeln in seinen Augen ließ ihn mehr als nur bedrohlich wirken.
 

„Steh’ nicht untätig herum, sondern stelle das Tablett ab und verschwinde wieder.“

Mit einer Hand deutete Alexandros ihm an, dass er es ernst meinte.
 

Aber anstatt zu gehorchen kam Olivier mit festen Schritten näher, nachdem er das Tablett auf dem Boden abgestellt hatte.

„Du…“, knurrte er an Rick gewandt. „Du bist an allem Schuld.“

Er holte aus und verpasste dem anderen eine Ohrfeige. Alexandros bekam die Hand des hageren Jungen zu spät zu fassen.
 

„Was fällt dir ein?“, fauchte er ihn an und packte ihn grob an dem Arm, mit dem er eben zugeschlagen hatte, zerrte in daran zwei Meter von Rick weg. „Raus hier! Du bist hier nicht erwünscht!“
 

Nun landete Oliviers Hand in Alexandros Gesicht, woraufhin ein paar verzweifelte Boxschläge mit den Fäusten folgten.
 

Teuflisch.
 

Nahezu diabolische Züge nahm Oliviers Miene an. Sich wild wehrend wurde er hinausgeschubst und Alexandros verschwand mit ihm hinter der Tür, durch die Rick noch eine Weile lang laute Rufe vernahm.
 

/Das war sicherlich das erste Mal, dass Olivier seine wahren Gefühle zeigte…

Und Alexandros versteht sie nicht, dabei ist es doch offensichtlich, wie der Junge um Zuneigung kämpft. Dieser Mann hat wirklich kein Herz…

Wie mag ein Mensch nur aufgewachsen sein, wenn er sich derart verhält und keinerlei Reue vernimmt?

Ich habe es Olivier zu verdanken, dass ich nun nicht unter seinem Körper liege und seine Hände gierig über meine Haut fahren. Dass ein solch bemitleidenswerter Mensch mich einmal aus einer derartigen ausweglosen Situation befreien würde…/
 


 

„Mom?“
 

Schon seit Minuten saß sie einfach nur da, eine Hand unterm Kinn und die Augen starr auf das schwarze Papier geheftet.
 

„Einen kleinen Moment noch.“
 

Joe wurde bald wahnsinnig. Allein schon die Gegebenheit, dass sie flüstern mussten, da Steven immer noch schlief, zehrte an ihm. Er wollte endlich wissen, weshalb seine Mutter derart konzentriert war. Hatte sie etwa eine Ahnung, auf was die weißen Lettern hinwiesen?
 

„Bitte…“, presste er gequält zwischen seinen Lippen hervor.
 

Das gab es doch nicht. Wie lange sollte er denn noch darauf warten, bis sie sich aus dieser ihrer Position löste? Er konnte sie nicht länger so sehen, das hielt er nicht mehr aus. Darum wandte er sich von ihr ab und ging zur Tür, deren Klinke er sofort herunterdrückte. Alsbald lief er im Gang auf und ab, wobei er ab und an einer vorbei gehenden Krankenschwester auswich oder gar einem Arzt, selbst einem Bett, das in rasanter Geschwindigkeit an ihm vorbei geschoben wurde, während sich die Stimmen der Betreuer halb überschlugen.

Als sich seine Mutter nach zehn Minuten immer noch nicht blicken ließ, lehnte er sich gegen die weiße Wand und schloss die Lider. Wie in Trance nahm er die Geräusche wahr, die von überall her gleichzeitig auf ihn eindrangen. Ein paar davon konnte er zuordnen, die anderen nicht, wenngleich er sich mit der Zeit darauf konzentrierte. Nach einer schier endlosen Zeit mischte sich die Stimme von Veronica darunter, was ihn sofort seine Augen öffnen ließ.
 

„Und?“, entkam es ihm ungeduldig.
 

„Komm mit.“ Sie klang sehr verschwörerisch.
 

Joe brummte vor sich hin.
 

„Wir brauchen einen Zettel und einen Stift.“
 

Nun vollkommen aufmerksam lief er ihr hinterher und wenig später saß er ihr in der Krankenhauscafeteria gegenüber.
 

„Musst du das so spannend machen?“
 

„Wo hast du das erste Rätsel gefunden?“
 

„Mhh… an meiner Wohnungstür.“ Er legte seinen Kopf schief.
 

„Das führte dich wohin?“
 

„In die Kathedrale.“

Neugierig sah er ihr dabei zu, wie sie zwei Punkte auf dem gelben Zettel malte, einen in die linke, den anderen in die rechte obere Ecke.

„Das dritte an unserem Baum“, fuhr Joe ohne weitere Fragen fort. „Und dann der Supermarkt, wie du weißt.“
 

Nun sah er vier kleine anthrazitfarbene Punkte, in jeder Ecke einen. Freihändig verband Veronica sie durch Kanten, aber nur so, dass sie am Ende ein Rechteck bildeten.
 

„Zusammen bilden sie eins“, wiederholte sie die Worte des Rätsels.
 

Joe nickte nur. „Und halten sich die Waage“, ergänzte er dann. „Die Mitte!“, rief er und erntete dafür ein aufrichtiges Lächeln seiner Mutter.
 

„Gut, nun hast du das Prinzip verstanden. Nun müssen wir das nur noch anhand einer Karte auf die wirklichen Orte übertragen.“
 

„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“
 

„Dann hole lieber den Atlas aus dem Auto“, zwinkerte sie und drückte ihm den Schlüssel in die Hand.
 

Als er zurück war, schlug er die Seite auf, die sowohl Luminis als auch Veneawer aufzeigte. „Die ist zu grob“, seufzte er, nachdem er nicht gleich fand, wonach er suchte.
 

„Hier müsste die Kathedrale sein.“
 

„Aber ein Konjunktiv reicht uns nicht, schließlich müssen wir den Ort exakt ausfindig machen, wo sie Rick gefangen halten… Mom!“

Seine Finger der Hand, mit der über die Landkarte fuhr, begannen zu beben.

„Welcher Tag ist heute?“
 

„Donnerstag.“
 

Er schüttelte mit dem Kopf. „Welches Datum?“
 

„Der zwölfte November.“
 

„Verflucht!“

Er sprang auf und lief einmal um den Tisch.
 

„Dreizehn…“
 

„Verdammt, verstehst du Mom? Wenn morgen die Sonne untergeht, dann…“ Er fühlte einen dicken Kloß in seinem Hals.
 

„Gut, wir brauchen wirklich eine genauere Karte.“
 

Nickend klappte er den Atlas zu.
 

„Gehen wir, denn die Zeit rennt uns nun wirklich davon.“
 

Geradewegs verließen sie gemeinsam das Krankenhaus und fuhren mit dem Auto gen Innenstadt. Ihr Ziel war das Fremdenverkehrsamt, von wo sie sich am schnellsten die gewünschte Karte erhofften. Es war noch nicht ganz zwanzig Uhr und sie hatten Glück, dass noch nicht geschlossen war.

Hektisch erfragten sie, was sie begehrten und die Angestellte sah sie skeptisch an.
 

„Wir sind spät mit Planen dran“, versuchte Joe sie zu beruhigen. Ein falscher Verdacht ihrerseits würde möglicherweise das Ende von Rick bedeuten. Das Gefühl, dass Rick zunehmend mehr in Gefahr schwebte, ließ ihn nicht mehr los, seitdem es eingesetzt hatte.

Zwar beäugte sie ihn immer noch kritisch, wurde ihrer Aufgabe aber dennoch gewissenhaft gerecht. Alsbald drückte Joe ihr einen Geldschein in die Hand.

„Der Rest ist für sie.“
 

„Du weißt schon, dass das zu viel war?“, meinte Veronica, als sie wieder im Auto saßen.
 

„Soll sie eben daran ersticken.“
 

„Joe!“
 

„Ist doch wahr! So wie sie uns musterte, musste ich doch was tun.“
 

Seufzend schnallte sich Veronica an, währenddessen erste Regentropfen auf die Windschutzscheibe prasselten.
 

„Der Himmel ist genauso verzweifelt.“
 

„Nun fahr schon“, erwiderte Joe nur.
 

/Wahrlich scheint das Wetter ebenso zu trauern wie ich… Ich merke, wie gereizt ich bin und wie ungerecht gegenüber anderen, aber ich kann momentan nicht allen gerecht werden…/
 

Nach ein paar Minuten Fahrt in strömendem Regen stellte sie den Motor ab.
 

„Und los!“, meinte ihr Sohn und sprang aus dem Auto, rannte vom Parkplatz das ganze Stück unter das schützende Vordach des Krankenhauses zurück.
 

Als Veronica mit einem Regenschirm nachkam, gingen sie zusammen erneut in die Cafeteria und während Joe sofort damit begann, die Karte auf einem Tisch auszubreiten, kaufte sie ihnen etwas Warmes zu trinken.

„Bitte sehr.“ Sie stellte eine kleine, weiße Porzellantasse vor ihm ab.
 

„Die Kathedrale habe ich bereits gekennzeichnet und meine Wohnung dürfte ich auch gleich haben. Ah, da ist das Haus ja.“
 

Die anderen zwei Stellen waren kurze Zeit später ebenfalls mit einem Kreis markiert.

„Hast du irgendwas, womit man gerade Linien ziehen kann?“

Noch bevor sie seine Frage überhaupt richtig verarbeiten konnte, hatte er bereits sein Handy auf der Karte liegen und zog den Stift an einer der äußeren Seiten entlang.

„Sieh mal, Mom. Die Orte bilden in der Tat ein Rechteck, scheint in jeder Ecke ziemlich genau einen Winkel von neunzig Grad zu geben.“

Er sah ihr in die Augen.

„Wie hast du das nur erraten?“
 

„Glück?“, sie hob die Hände und lächelte entschuldigend.
 

„Gut, nun die Diagonalen.“

Schon während er sie einfügte, stockte ihm das Herz, denn er befürchtete Schlimmes.

„Verdammt! Das kann doch nicht wahr sein!“
 

„Lass mal sehen.“

Nun verfinsterte sich auch ihre Miene.

„Da lag ich wohl doch falsch…“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  smily
2007-04-30T13:32:29+00:00 30.04.2007 15:32
Wie spannend kann man das eigentlich denn noch machen? Und außerdem schliese ich mich inulin an: du bist gemein an so einer Stelle auf zuhören! :(
Aber ich kann es jetzt kaum erwarten wie das ganze endet!
So spannend...
ciao, ciao
deine smily
Von:  inulin
2007-04-29T15:55:22+00:00 29.04.2007 17:55
Du bist gemein! Gemein, gemein, gemein. >_<
An SO einer Stelle nen Strich zu ziehen. *grml*
Ich war schon total begeistert, dass sie es zu lösen vermögen und dann haust du da so ein Ding raus. Veronica darf sich nicht vertan haben.
Gott sei dank bist du zuhause. XD
Schreib schnell weiter. Q_Q


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