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Heilloser Romantiker

von

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Kapitel 43

Kapitel 43
 

Mit auf der Brust gesenktem Kinn lehnte Rick an der Tür. Kraftlos hatte er seine Hände zu Fäusten geballt, von denen eine ab und an gegen das Holz schlug. In seiner Fantasie spielten sich bereits die ersten horrorartigen Szenen ab. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie er gefesselt am Boden lag und wehrlos die Lippen seines Widersachers auf sich spüren musste. Wie die raue Stimme ihm ins Ohr flüsterte, dass er keine Spielchen mehr dulde und er nun ihm gehöre. Wie die fremden Hände über seine Seite strichen, über seine Brust, hinunter bis zu seinem Bauchnabel und immer weiter hinab. Wie er von dem Kerl stückchenweise genommen wurde, ohne den Hauch einer Chance zum Entkommen zu haben…

Sein Blick wurde immer leerer und seine Atmung flachte immer weiter ab. Vergeblich versuchte er die Bilder sofort wieder loszuwerden; sie schienen sich regelrecht in seinen Kopf zu brennen. Alsbald loderte sein gesamter Körper.
 

/Es gibt keinen Weg hier raus…

Egal, wie viel ich schreie und lärme, ich werde von den unsichtbaren Fesseln nicht erlöst, die Wunden in mein Herz schneiden. Er zeigt kein Erbarmen, er ist tatsächlich so kühl, wie es mir seine Augen verraten haben. Diese dunklen Tiefen entbehren jedwedem Zeugnis von Milde. Will er über mich herrschen? Will er mich in die Knie zwingen, bis ich wortlos zu allem bereit bin?

Ich bin doch bereits von Trist und Lieblosigkeit umgeben! Ist ihm meine Niedergeschlagenheit denn nicht genug? Die Gewissheit, Joe nie wieder zu sehen!?/
 

„Sie sind grausam!“, schrie Rick die Tür an. Woher er das Stimmvolumen nahm, obwohl er sich gänzlich entkräftet fühlte, wusste er nicht, aber seine Worte drangen selbst ihm laut an die Ohren. Das musste doch jemand außer ihm gehört haben, der ihn endlich hier raus ließ. Mit angehaltenem Atem wartete Rick auf ein Lebenszeichen von der anderen Seite der Tür. Noch nach endlosen Minuten horchte er umsonst. Seufzend legte er seinen Kopf an das Holz und presste sein rechtes Ohr schmerzhaft an dieses. Irgendein Geräusch musste er doch vernehmen können, wenn auch noch so leise und unbedeutend. Er konzentrierte sich auf das, was er hören könnte, malte sich aus, wie sich Schritte näherten oder wie sich Menschen in einem anderen Zimmer unterhielten. Doch nichts von alledem wurde Wirklichkeit. Es gab niemanden, der sprach, es gab keinen, der auf ihn zugelaufen kam. Es gab nichts, was ihn hätte ermutigen können.
 

/Gibt es hier denn niemanden, der wenigstens ein bisschen Herz hat? Das Haus muss riesig sein, wenn man in diesem Zimmer nichts von anderswoher vernehmen kann. Also müssen sich doch noch andere Leute hier aufhalten… oder nicht?

Bitte, bitte lass’ irgendwen hier sein, der meine Schreie wahrnimmt und der nicht von solcher Kälte durchtränkt ist…/
 

Fest kniff Rick seine Augen zusammen, als sich ein schockierender Gedanke in seinen Verstand stahl. Selbst wenn außer diesem Kerl noch eine andere Person hier verweilte, würde sie ihm nicht helfen können, denn sie stünde sicherlich auch unter seiner Kontrolle und hätte Angst, bei einem Fehltritt die Konsequenzen tragen zu müssen. Der Dunkelhaarige glaubte nicht daran, dass sich noch ein derart unmenschliches Individuum in ein- und demselben Haus aufhalte; er hielt eine solche Koexistenz für sehr unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich. Doch auch jeder andere würde ihm seine Wünsche nicht erfüllen. Also, was brachte es, nach Hilfe zu flehen? – Absolut nichts!
 

/Ich… bin… allein…/
 

Während er seine Beine anwinkelte und sie mit den Armen bestimmt an sich presste, fühlte er sich mit jedem Zeigerschlag einsamer. Er hatte alles verloren. Mit einem Schlag war er aus seinem Leben gerissen worden. Aus demjenigen, in dem er Joe endlich offiziell hatte lieben dürfen. In dem er sich hatte nicht mehr verstecken müssen, in dem er sogar seinen Eltern hatte gegenübertreten wollen.
 

/Und nun habe ich nichts mehr als das kleine silbrige Kleeblatt, das mich an das erinnert, was vor kurzem noch Realität gewesen war…/
 

Ein paar Stunden konnten alles verändern, obgleich sie nur einen nichtigen Teil in der Zeitrechnung darstellten. Für einen einzelnen aber konnten sie überaus entscheidend sein. Wie schnell konnte man dem Tod ins Auge sehen? Das Leben konnte eher vorbei sein, als einem lieb war oder man mit der Wimper zuckte.

Zwar schlug Ricks Herz noch, doch er war seiner Lebensessenz entrissen worden: Er vermisste Joe unsäglich. Vor allem die unbeschreibliche Geborgenheit, die ihm dieser vermittelte. Schon ein einziges Wort, die kleinste Berührung konnten ihn aufmuntern, ihm die Hoffnung zurückgeben, die er verloren glaubte. Schon das kleinste Joe-Lächeln konnte ihn der Zukunft positiv entgegenblicken lassen.

Krampfhaft rief er sich ein Bild von seinem Freund ins Gedächtnis, möglichst detailreich und farbenfroh. Es sollte gegen all die Empfindungen in ihm ankämpfen, die Angst und die Einsamkeit verdrängen, die ihn noch zerbrachen, wenn er nicht aufpasste. Schließlich hatte er dem blonden Jüngling ein Versprechen gegeben und das galt es nicht zu brechen. Vor seinen Augen zeichnete sich rasch das leicht kantige, aber doch weiche Gesicht seines Freundes ab. Die hellen Strähnen fielen ihm teils in die Stirn, die grünen Tiefen funkelten über alle Maßen. Trugen genau den verwegenen und gutmütigen Ausdruck in sich, den Rick an ihm so liebte. Sein Mund beherbergte ein schelmisches Grinsen, war leicht geöffnet und lud förmlich zu einem Kuss ein. In Gedanken näherte sich Rick diesen sinnlichen Lippen und drückte seine wenig später auf sie, zuerst ganz sacht, dann immer fordernder und leidenschaftlicher. Seine Fantasie war unglaublich, denn sie bewirkte tatsächlich, dass er sich seinem Freund ganz nah fühlte, so als ob sie gar nicht getrennt seien, als ob er das warme Fleisch wirklich berühre. Er wollte aus dieser seiner Vorstellung nie wieder erwachen. Nie wieder die grausame Wirklichkeit sehen, die ihn sogleich übermannen, wenn er sich aus seiner Vorstellungskraft lösen würde.
 


 

Bedrückt saß Joe auf dem Beifahrersitz und blickte mit gemischten Gefühlen das Schild an, das erhaben vor ihm in der Erde steckte. Er wollte dem erneuten Schweigen, das zwischen Steven und ihm eingekehrt war, endlich ein Ende bereiten. So konnte das partout nicht weitergehen. Waren sie denn nicht zwei erwachsene Menschen, die vernünftig miteinander kommunizieren konnten? Sie führten sich auf wie zwei Teenager, wenn schon nicht unbedingt sein Vater, dann auf alle Fälle er.

Die schwarzen Lettern waren rein durch das Licht der Laternen lesbar, acht Druckbuchstaben, die in gleichmäßigen Zügen auf gelbem Untergrund prangten. Sie waren der Beginn einer Stadt, in der sich Hoffnung, Schmerz, Zuversicht, Kummer und Sehnsucht vereinigten. ’Veneawer’ stand für ihn von Beginn an für Freundschaft, Liebe, Leid und Qual. Das eine brachte immer das andere mit sich und er hatte verstanden, was es hieß, von ganzem Herzen zu lieben. Er liebte aber neben Rick auch Steven, obgleich er lediglich sein Stiefvater war, oder etwa nicht? Im Grunde war es doch gleich, ob er sein eigen Fleisch und Blut war oder nicht. Steven hatte sich jahrelang gut um ihn gekümmert, hatte ihn wie einen Sohn behandelt. Und allein dafür sollte er ihm doch dankbar sein. Selbst jetzt mimte er den sorgenvollen Vater, der alles stehen und liegen gelassen hatte, um ihm bei der Suche nach seinem vermissten Freund zu helfen. Zeigte das denn nicht, dass es zwischen ihnen nicht nur eine Basis von Vertrauen und Verlässlichkeit gab, sondern eine tiefer gehende Beziehung, die auf gegenseitiger Hilfsbereitschaft und Toleranz beruhte?

Bevor er mit Steven nicht im Reinen war, konnte er nicht all seine Kraft darauf verwenden, nach Rick zu suchen, zumal es unfair gegenüber dem Mann wäre, der ihn größtenteils großgezogen hatte. Er fragte sich immer und immer wieder, weshalb er ihm überhaupt solche Worte an den Kopf geworfen hatte. Und ehe er keine Antwort darauf wusste, konnte er sich auf kein neues Gespräch mit ihm einlassen, denn das würde in demselben Fiasko enden wie das vorige. Er brauchte gute Argumente, um sich gegen die berechtigten Anschuldigungen zur Wehr setzen zu können und die fehlten ihm noch. Während sie ein letztes Mal abbogen, um auf die Straße zu gelangen, in der er wohnte, erwischte er sich dabei, wie er nervös mit seinen Fingern am Saum seines Mantels spielte. Normalerweise hatte er sich besser unter Kontrolle, doch Ausnahmezustände brachten manchmal Eigenschaften zum Vorschein, von denen man selbst nicht einmal ahnte, dass sie einem zu Eigen waren.

Die Dunkelheit legte sich bereits über die Dächer der Stadt. Die Scheinwerfer und die Straßenlaternen spendeten als einziges Licht, das nur partiell ihren Weg erhellte und die Ecken und Gassen noch tiefer und bedrohlicher wirken ließ. Sie wurden zunehmend langsamer und hielten alsbald an, woraufhin das Brummen des Motors sofort verstummte. Es war an der Zeit, dass Joe einen Schritt auf Steven zuging und das Missverständnis, wenn es denn eines war, aus der Welt schaffte. Seine hellgrünen Augen schweiften hinüber zum Haus, in dem er seit zwei Jahren lebte. Es wirkte ebenso unscheinbar wie immer. Es gab keine besonderen Merkmale, die das Haus auszeichneten und von den vielen anderen in dieser Stadt groß unterschieden. Vielmehr war es ein schlichter Bau, der nun zur Hälfte von finsteren Schatten umhüllt war.
 

/Allmählich verstärkt sich in mir der Verdacht, dass es nur einen Grund geben kann, weshalb ich ihn nicht als meinen Vater deklariert habe. Und je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr glaube ich, dass es wirklich keinen anderen geben kann. Zu meiner Schande kann Steven noch weniger für meinen Ausraster als mir lieb wäre. Jetzt sollte ich mich nur noch überwinden können, es ihm schonend beizubringen und wenn ich mir sein Gesicht so betrachte, das durch das fahle Licht ältlich wirkt, dann würde ich am liebsten ein Feigling sein und einfach aussteigen und… Ich bin solch ein Idiot! Wenn ich weiter so viel Zeit vergeude, nur weil ich mich meiner Situation nicht stellen möchte, dann muss Rick noch mehr erleiden./
 

Einen lauten Seufzer unterdrückend öffnete Joe die Autotür und stieg aus, tat es Steven gleich, der bereits vor der Eingangstür auf ihn wartete. Noch einmal tief durchatmend schritt er auf ihn zu und nahm ihn fest ins Visier. Sein Stiefvater erwiderte seinen Blick nicht, betrachtete stattdessen die Briefkästen, auf denen ein Stapel alter Zeitungen lag. Desinteressiert griff dieser nach einer und las nicht einmal ansatzweise das, was in ihr stand, nicht nur weil es dazu zu dunkel war, sondern da er die Nachrichten sowieso schon seit langem kannte. Joe verstand dies als wohlweisliche Abweisung, aber er erhob dennoch seine Stimme: „Gibst du mir noch eine Chance, dir mein Verhalten zu erklären?“

Zuerst wollte Steven keine Antwort geben und hielt sich die Zeitung vors Gesicht, doch dann legte er sie beiseite und blickte sein Gegenüber an. Joe sah in frostige Augen, wie er es nicht anders erwartet hatte, weshalb er darauf vorbereitet gewesen war. Dennoch wurde ihm noch mulmiger zumute.

„Hast du dir auch was Gutes einfallen lassen oder möchtest du die Verantwortung wieder auf andere abwälzen?“

Selbst falls er nicht beabsichtigt hatte, sich nach völliger Ablehnung anzuhören, tat er es trotzdem. Und Joe schüttelte nur leicht mit Kopf. Die Reaktion war keineswegs abnorm, vielmehr konnte er sie gut nachvollziehen, was ihm das Herz nur noch schwerer werden ließ.

„Nein das möchte ich nicht und dazu solltest du mich gut genug kennen. Aber bevor es sich wieder nach einer Ausrede anhört, komme ich lieber gleich zur Sache. Ich habe meinen Vater sehr geliebt und konnte seinen Tod nicht akzeptieren.“

„Sollten wir nicht lieber rein gehen?“, warf Steven ein und deutete auf die immer noch verschlossene Tür.

Joe stützte sich an eben jener mit einer Hand ab. „Nein! Das klären wir hier und jetzt!“ Nach einer kleinen Pause fuhr er fort. „Du tratst in unser Leben und ich projizierte all meine Liebe, die ich für meinen Vater empfand, auf dich. Zum einen wohl aus der Tatsache heraus, dass Mom und Rebecca dich vergötterten, zum anderen vermutlich aus dem Grund, dass ich plötzlich einen Ersatz hatte. Das mag sich abfällig anhören, doch ich lernte mit der Zeit deine Person zu schätzen und alsbald entwickelte ich aufrichtige Gefühle dir gegenüber. Ich würdige deine Aufrichtigkeit und deine Ehrlichkeit. Aber ich werde dich nie so lieben können wie meinen leiblichen Vater und ich habe begriffen, dass du nicht als Ersatz fungieren kannst. Du bist ein eigenständiger Mensch und kannst mir nicht den Mann zurückbringen, den ich nicht gehen lassen wollte.“ Während Joe sprach, sah er durch Steven hindurch, als ob er nur eine durchsichtige Erscheinung wäre. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen und das zum Ausdruck zu bringen, was ihm auf der Seele lag und von ihm noch nie ausgesprochen worden war.

„Wie kamst du auf die Idee, ich könne ihn ersetzen? Menschen kann man nicht einfach auswechseln, als ob sie irgendwelche Objekte wären.“

Joes Kopf sackte leicht auf seine Brust. „Vielleicht weil ich ein Kind war? Vielleicht weil ich seinen Tod nicht dulden konnte?“

„Und die Sorge wegen Rick hat dich das nach so vielen Jahren erst erkennen lassen?“ Steven klang nicht recht überzeugt.

„Wenn ich bejahen würde, müsste ich lügen.“ Der Blonde seufzte und hob seinen Blick wieder an. „Ich wollte es nicht wahrhaben und vermied eigentlich jedes Mal, auch nur annähernd an dich zu denken, deinen Namen zu sagen oder dich auf andere Art und Weise zu erwähnen, wenn ich hier in Veneawer war. Dabei habe ich nie daran gedacht, wie du dich dabei fühlen könntest. Und nun sehe ich, wozu das alles geführt hat. Ich habe dir weh getan und das oblag meinen Absichten. Aber ich wollte einfach nicht zu sehr an ihn denken.“

„Heißt das, dass du mich nicht als Steven geachtet hast, sondern als Tristan?“

Ein kurzes Zögern seinerseits. „Es tut mir leid.“

Mit einer Hand griff Joe in seine Hosentasche und zog einen Schlüsselbund heraus, mit dem er auch gleich die Haustür öffnete. Er hatte Steven all die Jahre belogen. Noch schlimmer: Er hatte sich selbst belogen! Er wäre am liebsten im Boden versunken, doch da sich wie immer kein Erdspalt auftat, zog er es vor, so schnell wie möglich in seine Wohnung zu flüchten. Er hatte alles gesagt, was einmal gesagt werden musste. Zu seinem Entsetzen war es weitaus schlimmer, als er sich je von sich aus eingestanden hätte.

Mit schweren Schritten stieg er die Treppe hinauf und jede Stufe schien höher und unüberwindbarer zu sein. Er hörte, wie Steven ihm folgte, doch weder wandte er sich zu ihm um noch schenkte er ihm anderweitig Beachtung. In diesem Moment wünschte er sich nichts sehnlicher, als Rick in seinen Armen zu halten und dessen heißen Atem in seinem Nacken zu spüren. Vielleicht mag der Kleinere der Umstand sein, warum er mit einem Mal tiefer in sich horchte als üblich, aber er vermisste ihn schrecklich. Es schmerzte unwahrscheinlich, ihn nicht bei sich zu haben. Seine rechte Hand zuckte, als ob sie ihm damit zeigen wollte, dass sie durch das braune Haar wuscheln wolle. Doch so bald würde er es wohl nicht spüren dürfen.

„Ich brauche dich!“, ächzte er, nicht merkend, dass Steven hinter ihm stand und ihm den Schlüsselbund aus der Hand nahm.

Als sich sein Blick wieder klärte, saß er in seiner Küche und schaute erst einmal um sich, als ob er sich vergewissern wolle, nicht gerade aus einem bösen Traum erwacht zu sein.

„Du musst was essen“, meinte Steven, als Joes Blick den seinigen traf und spätestens jetzt wusste der Blonde, dass er nicht geschlafen hatte.
 

/Wie kommt es, dass du mich weiterhin umsorgst?

Ich hätte dir nicht einmal böse sein können, wenn du wieder ins Auto gestiegen und zurück zu Mom gefahren wärst./
 

„Ich verspüre absolut keinen Hunger“, erwiderte er. „Darf ich dich was fragen?“

Mit einem Glas in der Hand kam Steven auf ihn zugelaufen und nahm ihm gegenüber Platz. „Nur zu.“

„Warum bist du noch hier?“

Ein trauriges Lächeln umspielte die Lippen des Älteren. „Ich gebe nicht so leicht auf.“

„Dabei hast du doch keinen Grund mehr, bei mir zu sein.“

„Meintest du nicht selbst, dass ich dich besser kennen müsste?“
 

/Aber da habe ich dir noch nicht ins Gesicht gesagt, dass ich nicht über dich rede, wenn ich nicht gerade bei euch zu Hause bin… Ich war eben eindeutig zu ehrlich und merke ja selbst, was für eine Hiobsbotschaft das ist. Wie musst du dich dann erst fühlen?/
 

„Ich kenne mich ja selbst nicht mehr“, meinte Joe nach einer Weile.

„Du hättest vielleicht eher mal mit jemanden über den Tod deines Vaters reden sollen.“

Während Joes Gesicht einen grimmigen Ausdruck annahm, stand er auf und griff nach der erstbesten Flasche, um aus ihr einen kräftigen Schluck zu nehmen. Um nichts darauf erwidern zu müssen, setzte er die Plastikflasche immer wieder von neuem an. Er hatte nie mit jemandem reden wollen; er hatte immer gedacht, dass er damit klarkäme und bis jetzt war sein Plan auch aufgegangen. Doch diese unbändigen Gefühle Rick gegenüber brachten immer weitere Emotionen zum Vorschein.

„Können wir endlich Rick suchen gehen?“, fragte er betont freundlich. Er brauchte einfach ein wenig Abstand von Steven. Nicht nur das, er wollte schlichtweg allein sein.

Sein Stiefvater schien keine Einwände zu haben, denn er erhob sich und ging zur Tür. „Denk dran, keine Alleingänge!“

Joe hörte und sah, wie die Tür ins Schloss fiel.
 

/Und auf was warte ich noch?/
 

Mit plötzlich aufkeimender Hast warf er einen Blick in einen der Schränke, griff nach der LED-Taschenlampe, die er als nützlich erachtete und warf sich dann seinen Mantel wieder über, den er wenige Minuten vorher abgelegt hatte.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend stürmte er die Treppen hinunter und kurz darauf umspielte ihn die frische Nachtluft, die den Duft von Schnee in sich trug. Zwar stoben keine Flocken mehr vom Himmel, doch unter seinen Füßen knirschte er dafür umso wohliger.
 

Joe dachte nicht darüber nach, wohin er lief, sondern setzte einfach einen Fuß vor den anderen und suchte mit seinen Augen angestrengt die Gegend ab. Da sich der Tag schon lange dem Ende geneigt hatte, war es schwer, mehr als vage Umrisse und Silhouetten wahrzunehmen. Außer ihm waren nicht viele Menschen unterwegs, aber immerhin noch genug, um nicht wirklich aufzufallen. Denn es war nicht eher ungewöhnlich, sich fremde Autos näher zu betrachten und insbesondere ein Augenmerk auf das Kennzeichen zu legen. Bemüht versuchte Joe, nicht wie ein Landstreicher zu wirken und aufrecht zu gehen, sich immer nur dann zu bücken, wenn ein Auto etwa der Form eines Mercedes glich. Die S-Klasse war nicht allzu sehr verbreitet, doch sowohl die Dunkelheit als auch sein Befinden erschwerten sein Bemühen. In Gedanken war er ganz woanders. Immer wieder suchten ihn die Erinnerungen an seinen Vater heim und das letzte Gespräch mit Steven. Und obendrein schwirrten Bilder von Rick in seinem Kopf herum, die ihn manchmal die Augen fest zusammenkneifen und stehen bleiben ließen, bis er sie wieder abgeschüttelt hatte und weiter ging.

Mittlerweile lief er schon seit über zwei Stunden wahllos durch die Straßen von Veneawer und dass ihm Menschen begegneten, kam nur noch ganz vereinzelt vor. Bisher hatte er noch kein einziges Auto entdeckt, das dem gesuchten Modell entsprach, und obgleich es ihn nicht wunderte, trübte sich sein Denken nur noch mehr. Eigentlich besaß fast jedes Haus eine Garage und die großen Wohnblöcke hatten meist Tiefgaragen. Und wer ein teures Auto fuhr, der ließ dieses garantiert nicht auf offener Straße stehen. Natürlich konnte man eine solche Aussage nicht pauschalisieren, da es leider immer wieder Menschen gab, die ihr ganzes Geld in ein Auto steckten, das ihnen Ansehen brachte, die sich aber ansonsten nichts mehr leisten konnten und zu allem Überfluss ihre Kinder darunter leiden ließen.

Kühler Wind kam auf und Joe zog mit beiden Händen an seinem Kragen, hielt ihn sich teils vors Gesicht. Mit seinem Mund hauchte er ein wenig warmen Atem auf seine Finger, die sich ein wenig steif anfühlten. Allmählich verzogen sich die schweren Wolken, die den ganzen Tag über Schnee gebracht hatten, und als er seinen Blick mal zum Himmel gleiten ließ, konnte er tatsächlich einen einsamen Stern erblicken. Länger als gewollt verweilten seine grünen Tiefen auf dem Himmelskörper, der vielleicht gar nicht mehr existierte.
 

/Keiner weiß, was nach dem Tod kommt, und vermutlich ist das genau richtig. Forschungen an so reinen Seelen wie deiner wäre eine Schmach und das Kommende sollte auch in Zukunft unentdeckt bleiben. Ich kenne noch einen zweiten, vollkommen reinen Menschen…

Rick, ich möchte dich endlich wieder haben!/
 

Mürbe fuhr sich Joe durchs Haar. Diese ihm unbekannte Sentimentalität brachte ihn noch gänzlich um den Verstand, wenn er sich weiter in seinen Emotionen suhlte. Wo war nur seine Unbeschwertheit geblieben, die ihn die Dinge recht objektiv sehen ließ? Statt des gewohnten Lächelns in seinem Gesicht fühlte er nichts als Verdruss. Langsam verstand er, wie es all die Zeit in Rick ausgesehen haben mag; und sein Herz krampfte sich noch ein Stück weiter zusammen. Ein Hauch blies ihm das Haar zurück in die Stirn und er senkte seinen Blick wieder gen Boden, auf dem seine Gestalt einen langen Schatten warf. Hinter ihm erlosch die Laterne und die Kirchenglocken verkündeten die Mitternacht. Zwölf dumpfe Schläge, die sich nach langem Widerhall in der Weite verloren und dann nicht mehr wiederkehrten. Als der Klöppel das letzte Mal an die Innenseite der Glocke stieß, überfiel Joe eine Gänsehaut, die sich über seinem Körper ausbreitete und noch immer vorherrschte, als sanfte Stille ihn wieder umgab. Wie in Trance sah er die Kathedrale vor sich - die Sicht lediglich durch eine Schicht Glas getrübt -, auf deren Mauern die Sonne fiel und das Bauwerk in einen sanften Schimmer tauchte. Als sich sein Kopf drehte, sah er Rick glücklich und zufrieden aus dem Fenster blicken. Seine Gesichtszüge entbehrten in der Tat jedweden Kummer.
 

/Genau so möchte dich wieder sehen. So und nicht anders…/



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  inulin
2007-03-01T20:53:45+00:00 01.03.2007 21:53
Q_Q
Ich wünschte ich könnte Joe mal in dein Arm nehmen. Das kann man sich ja nicht mit ansehen. *schnief*
Wieder einmal super geschrieben. Ich begeistere mich jedes Mal wieder aufs Neue daran, dass man sich das Gefühlschaos so prima vorstellen kann. Ich hab das richtig im Kopf wie Joe da jetzt durch die Straßen läuft und sich verzweifelt die Autos und dann den Stern anschaut, dabei dann aber immer noch an seine Liebe denkt.
Aber diese Warterei bei Rick macht einen echt fertig. Und ich frag mich wirklich, ob Joe ihn noch findet, bevor Schlimmeres passieren kann.


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