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Fanart

ADHD-no-Jutsu   [Zeichner-Galerie] Upload: 16.10.2015 03:38
"Mensch Ekelpack, bleib wo ich dich sehe," nuschelte Nadir und schnappte nach Nasreens Handgelenk. Sie stolperte und fiel ihm plump in die Arme. "Du hast kein Handy, schon vergessen? Geh mir nicht verloren."
Nasreen nahm seine viel größere Hand in ihre und schmiegte sich an Nadirs Arm. "Dann lauf nicht so schnell. Ich will Schaufenster gucken."
Die meisten Läden hatten Nasreen wenig zu bieten - oder aber sie waren zu teuer. Je schneller sie das Kino erreichten, desto besser. In seiner Eile sie abzuholen, hatte Nadir fast die Hälfte seines Ersparnisses eingesteckt. Viel zu viel für einen Abend mit einer Achtzehnjährigen, die seit Jahren nicht mehr shoppen war. Die seit Jahren das verarmende, von der Außenweld abgetrennte Ghetto nicht verlassen hatte.

Oren, sein ehemaliger Vorgesetzter, war zur Reserve an den Checkpost des Al Shama Ghettos gerufen worden. Und Nadir wusste genau, was er ihm im Kofferraum aus Al Shama mitbringen sollte: seine kleine Schwester. Wenigstens für ein, zwei Tage, damit sie etwas anderes als Armut und Verfall sehen konnte. Sie hatte das Ghetto nicht ein einziges Mal verlassen, seitdem die Mauern um Israels Araber gezogen worden waren.

Nadir hatte drei Mal das "Privileg" gehabt - als er für kurze Zeit, mit einer Sondergenehmigung, bei Oren arbeiten durfte, bis eine zionistische Kollegin ihn unter falschen Anschuldigungen verhaften ließ. Dann, als er dank seiner jüdischen Frau - nunmehr Ex - in ein funktionierendes, israelisches Krankenhaus ausgefahren wurde, nachdem er schwerkrank im Regen zusammengebrochen war. In Haifas Rambam-Krankenhaus versuchte der Arzt ihm prompt eine Überdosis Schlaftabletten aufzuschwatzen. Und das dritte Mal, als Nadir sich vor Nasreens verheulten Augen von der Ghettomauer stürzte. Spontan, ohne sich - bis kurz vorm Aufprall - darüber im Klaren zu sein, was dieser Sprung bedeutete: wenn nicht den sicheren Tod, dann lebenslange Haft. Doch Oren war auch damals in der Reserve und bestach seine Kameraden, Nadir gemeinsam zu retten.

Bis er sich unter seiner neuen Identität sicher genug fühlte, durfte seine Familie nicht wissen, dass er am Leben war. Im neuen Israel, umgeben von Menschen, die 2016 die Regierung gestürzt und einer rechts-fundamentalistischen Zionistenpartei an die Macht geholfen hatten, hatte er als christlicher Araber keine Rechte mehr. Sogar sprechen war gefährlich - konnte er sein Äußeres noch als marokkanisch oder tunesisch abgeben, seinen arabischen Akzent konnte er nur schwer kaschieren. Einst ein zugelassener Krankenpfleger, konnte er nun nur noch schwarz arbeiten - und nur dort, wo keiner Fragen stellte. Tel Avivs neues Superbordell mit den hundert Studios und männlichen, weiblichen, und sonstig bekennenden Prostituierten, war seine einzige Option und er verfiel der alten Routine, die ihm überhaupt erst den Glauben an Gott und die Menschheit geraubt hatte. Wenigstens hatte Tel Aviv ein anderes Clientele. Und er verdiente genug, um auch seine weiterhin im Ghetto gefangene Familie anonym unterstützen zu können. Wieder hatte er alles nur Oren zu verdanken, der das Geld von ihm annahm und Nadirs Vater als eine Art Pension für seine Hinterbliebenen zukommen ließ. Einen Teil seines Geldes, das Nadir im Aquarium seines Axolotls im Einbauschrank versteckte, sollte Nasreen gehören - aber nicht zum sofortigen Verplempern in Tel Aviv. Und er Rest wurde gespart, bis es reichte, um damit nach Europa zu fliehen.

"Haarball," krächzte Nasreen, "Wie weit ist es noch bis zum Kino?"
Eine Gruppe junger Israelis kam Nadir und Nasreen entgegen. Nicht alle Israelis - heute nur noch Juden - waren rechts oder hatten ein Problem mit Arabern, aber dasselbe hatte man auch von 1933s Deutschen bezüglich jüdischer Mitbürger sagen können. Auf Hebräisch zischte Nadir, "Und was hab ich dir gesagt, Ekel? Sprich hier kein Arabisch, ich will nicht, dass Papa uns wirklich noch begraben muss!"
"Mein Hebräisch ist kacke!"
"Super, dann sei still!"
Nasreen trat ihrem Bruder ans bein, ehe sie sich auf seinen Rücken schwang. Nadir stöhnte unter ihrem Gewicht; als sie erfahren hatte, dass ihr Bruder am Leben war, begann sie spontan ihre Magersucht zu überwinden. Trotzdem war sie noch immer winzig. Ihre dünnen Arme fuhren um seinen Hals und sie legte ihren Kopf auf seinen. Er hörte ein Schniefen. Wenn sie ihm die Haare vollrotzte, würde er sie knicken - so viel stand fest. "Ich dachte, du wärst tot," schluchzte sie. Nadirs Freund Saleem hatte sie auf der sicheren, der vor die Hunde gehenden Seite der Mauer in ein improvisiertes Trampolin gestürzt. Er war nur gesprungen, um Nasreen eben davon abzuhalten. Um ihr zu zeigen, was sie sich da in den Kopf gesetzt hatte. Um ihr so eine Angst vor dem Tod einzujagen, dass sie nie wieder auch nur darüber nachdenken würde. Damit, dass er überleben und ihr erschüttertes Gesicht in seinen Träumen ertragen müsste, hatte Nadir nicht gerechnet.
Er wollte sie abwerfen, sie umarmen, aber sie durften nicht auffallen. Allein der Größenunterschied machte es unwahrscheinlich, dass sie eines der vielen Pärchen waren, die Donnerstag Abend ausgingen. Und Nasreen half nicht gerade, wie sie sich an Nadir klammerte, als wäre er tatsächlich ihr Freund. Geschwister in Tel Avivs Nachtleben waren genau so auffällig wie ein Liebespaar, wo die Frau halb so groß und fast ein Jahrzehnt jünger war. "Welchen Film willst du eigentlich sehen?" fragte Nadir, als er Nasreen absetzte. Es hatte zu nieseln begonnen und mit Nasreen auf dem Rücken wollte er nicht ausrutschen. Ihr ratloser Blick brach ihm beinahe das Herz. Sie hatte keine Ahnung, was lief, was in den letzten sechs Jahren lief und gelaufen war. Er selbst war erst seit etwa einem Jahre auf freiem Fuß. Das iPhone war inzwischen transparent. Bar Rafaeli war zum sechsten Mal verheiratet, diesmal mit Ofer Shechter. Und der Mindestlohn war auf dreißig Shekel gestiegen.

Am Kinoschalter angekommen, wollte Nadir, wie früher, die Kassiererin fragen, was innerhalb der nächsten Stunde anfing, besonn sich aber eines besseren: viel zu viele Worte. Zu seiner Erleichterung drängelten sich wie gewohnt ein paar junge Israelis vor und Nadir konnte sich mit Nasreen in Ruhe beraten. Und sie wollte prompt den Titel, der sich akzentfrei nicht aussprechen ließ. So viele P's! "Hi," grinste er nervös und wechselte zu Englisch mit französischem Akzent, "We wud leik tu see ze Ritörne of Loki: ze Power of Poseidonn pliez. Tu kards. Sänk yu verrie matsch."
Die Kassiererin grinste zurück und drückte Nadir zwei Karten in die Hand. Er zahlte und machte sich mit Nasreen vondannen, um beim Kiosk noch schnell etwas zu essen zu besorgen. Bei allem, das sich in Israel geändert hatte - Popcorn kostete noch immer eine volle Stunde Mindestlohn.
Themen:
Freundschaft, Gefühle, Alltag

Stile:
Computer Grafik

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