Rot wie Blut von abgemeldet (Die Legende der Shichinintai) ================================================================================ Kapitel 3: Tengu ---------------- „Also, ich glaube, zu Pferd wären wir vielleicht etwas schneller.“ „Ich glaube, wir wären auch etwas schneller, wenn du nicht so viel Krempel mit dir herumschleppen würdest!“ „Ich habe einen einzigen Yukata zum Wechseln eingepackt und ein paar winzig kleine Schminktöpfchen, das ist kein „Krempel“. „Dann sag mir mal, was an Wechselkleidung so wichtig ist – wenn wir schmutzig sind, springen wir einfach in den nächsten Fluss oder See.“ Jakotsu schnappte nach Luft. „Bankotsu, das ist so dermaßen … ekelhaft, da fehlen mir glatt die Worte.“ „Da bin ich aber froh, ich dachte schon, du hörst nie auf, zu plappern.“ Jakotsu schob schmollend die Unterlippe hervor. Seiner Meinung nach mussten sie nicht leben wie Obdachlose oder Männer auf Kriegspfad, nur weil sie gerade keinen festen Wohnsitz hatten. Er selbst legte großen Wert auf Reinlichkeit. Dass er auf duftende Bäder verzichten musste, darauf hatte er sich eingestellt, aber auf Sauberkeit generell und Kleidung zum Wechseln … daran musste er sich noch gewöhnen. Sie waren inzwischen schon eine ganze Woche unterwegs. „Was ist nun mit Pferden? Ich meine, wir haben Matsumoto nicht bestohlen um das Geld nun spazieren zu tragen, oder?“ „Pferde kosten nicht nur Geld in der Anschaffung, du musst sie füttern und dann werden sie ständig krank.Du musst lernen, vorausschauender zu denken und das Thema ist hiermit beendet, klar?“ „Hast du schonmal in einer Schlacht gekämpft?“ Bankotsus Miene verdüsterte sich unbewusst und er murmelte ausweichend, „Einmal, ja.“ Was das für eine Schlacht gewesen war, darüber schwieg Bankotsu und Jakotsu fragte auch nicht weiter nach. Er hatte viele Männer bei sich gehabt als er noch bei Oneesama gearbeitet hatte. Nicht wenige von ihnen Krieger, Seeleute, Soldaten, Samurai und egal welchen Standes und welcher Herkunft sie waren, oder wie erfolgreich sie aus den Schlachten hervor gegangen waren, der Krieg hatte tiefe Wunden in ihren Herzen hinterlassen. Wunden, die sie sich von den Oiran lecken ließen, zu denen sie nachts kamen um zu vergessen. So viele waren gekommen, um zu vergessen. Und manchmal, da hatten sie keinen Beischlaf gesucht, sondern einen Schoß, in dem sie die Tränen dieses blutigen Horrors namens Krieg hatten vergießen können. Nach etwa fünf Stunden Marschzog der Himmel zu. Weit würden sie heute vermutlich nicht mehr kommen, weshalb Bankotsu beschloss, bei der nächsten sich bietenden Möglichkeit einen Unterschlupf zu suchen. Die Gegend war spärlich bewachsen, hier und da mal ein paar knorrige Bäume, welche noch an ihren letzten verkümmerten Blättern festhielten, und unendlich weite Wiesen. Der Weg war zur linken Seite hin leicht abschüssig und verlief sich auf einem weiten, verwahrlosten Feld, während zur rechten ein Steilhang nach oben führte – hätte man nach oben gesehen, hätte man nach drei Metern nichts als Nebel erblickt. Wie lang einem die Zeit werden konnte wenn man kein Ziel vor Augen hatte, das hatte Bankotsu beinahe vergessen. Er seufzte und wandte den Blick zur Seite zu seinem Gefährten, nur war da keiner mehr. Etwas perplex blinzelte der junge Mann und blickte dann zurück. Jakotsu war etwa zehn Meter zuvor stehen geblieben und starrte, wie es schien, wie gebannt auf einen bestimmten Punkt. „Jakotsu, wo bleibst du denn?“, rief er leicht ungeduldig und als dieser nicht reagierte, ging er schließlich die paar Meter zu ihm zurück, um zu ergründen, was Jakotsu denn da so Wichtiges entdeckt haben mochte, dass es ihn vom Weitergehen abhielt – und ihm stockte der Atem: Krähen. Überall wo man hinsah, Krähen. Das einst grüne Feld war beinahe gänzlich schwarz und hier und da hörte man das leise Rascheln von feuchtem Gefieder, wenn eines der Tiere aufflog, untermalt vom kratzigen Gesang dieser Todesboten. Ein unheimlicher und doch gleichsam Ehrfurcht erweckender Anblick. Jakotsu, welcher die Anwesenheit seines Gefährten zwar bemerkt, jedoch den Blick nicht abgewendet hatte, flüsterte beeindruckt: „So etwas Wunderschönes hab ich noch nie gesehen…“ Bankotsu bekam eine Gänsehaut. Er konnte nicht sagen, an was es lag, aber er hatte irgendwie das Gefühl, dass diese Krähen nicht die einzigen Geschöpfe in ihrer Nähe waren. Irgendetwas stimmte hier nicht. Langsam wurde der Nebel dichter. „Wir müssen weiter, sonst sehen wir bald die Hand vor Augen nicht mehr“,knurrte Bankotsu ungeduldig und gab Jakotsu einen leichten Stoß, damit der sich in Bewegung setzte. „Bankotsu-“ „Was auch immer jetzt schon wieder ist, heb es dir bitte bis später auf“, erwiderte der gereizt, musste jedoch zwangsläufig stehen bleiben als Jakotsu ihn grob am Oberarm packte. „Du hörst mir verdammt nochmal jetzt zu. Kommt dir das nicht seltsam vor? Krähen, Nebel?“ „Ich habe gerade wirklich keinen Nerv auf Rätselspielchen, Jakotsu.“ „Ist dir schonmal in den Sinn gekommen, dass Tengu in der Nähe sind?“, erwiderte Jakotsu gedämpft und Bankotsu fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen. Tengu, natürlich – wieso war er selbst nicht darauf gekommen? Diese Dämonen kamen immer im Nebel, halb menschlich, halb Krähe, lautlos und tödlich. Als der Nebel innerhalb von wenigen Augenblicken dichter um sie zusammenzog, wussten sie beide, dass es längst zu spät war, um zu entkommen. Also machten sie sich zum Kampf bereit, Rücken an Rücken, wenn auch Bankotsu mit wesentlich mehr Mut als Jakotsu. Das meiste, das Jakotsu über Dämonen wusste, war Theorie, er hatte viel zu lange nicht mehr gekämpft als dass er seinen Fähigkeiten hätte vertrauen können. Nur das Gewicht des Schwertes und Bankotsus Nähe gaben ihm etwas Sicherheit. Stille. Minutenlang. Nur das Geräusch des Regens, der stärker wurde und es bald unmöglich machte irgendetwas zu hören. Dann das Pfeifen des Windes, eine plötzlich starke Böe die ihre Kleidung flattern ließ und Bankotsu brüllte plötzlich: „Runter!“, noch während er mit Banryu ausholte und etwas direkt in der Luft zerteilte, das Jakotsu nicht sehen konnte, doch er spürte wie ein Regen von Blut auf ihn hinab ging – instinktiv suchten seine Augen die unmittelbare Umgebung um sich ab, aber da war nichts, er sah nichts, nicht das geringste. „Bankotsu?“, schrie er nervös, während er mit beiden Händen seinen Schwertgriff so fest umklammerte, dass seine Knöchel weiß wurden. Doch die einzige Antwort war das Rascheln von Federn, begleitet von einem unterdrückten krächzenden Laut, der unmöglich von einer normalen Krähe kommen konnte und da wurde ihm plötzlich noch etwas bewusst. Sie hatten absolut keine Ahnung, wie viele es waren. Es könnte einer sein, es könnten tausend sein. Nun gut, vielleicht nicht tausend, aber Jakotsu hatte kein gutes Gefühl für Zahlen. „Du musst dich auf deine Instinkte verlassen“, hörte er Bankotsu von irgendwo zurückbrüllen, wo er ihn gar nicht vermutet hatte. Kurz darauf erklang ein widerliches Geräusch, das die Vermutung nahelegte, dass Bankotsu einen weiteren erwischt hatte. „Instinkte, der ist lustig“, murmelte Jakotsu vor sich hin, der sich gerade auf dem Boden kauernd sicherer fühlte als aufrechtstehend. Sein Puls dröhnte so laut in seinen Ohren, dass er das Gefühl hatte, taub für jedes andere Geräusch zu sein, das ihn umgab. Aber vielleicht war das seine Bewährungsprobe. Entweder er bestand sie und erwies sich Bankotsu als würdiger Gefährte oder er starb. Eigentlich recht simpel. Plötzlich wurde er etwas ruhiger und er schloss die Augen, um sich ganz und gar auf sein Gehör zu konzentrieren und dann hörte er das pfeifende leise Atmen, den dynamischen sich schnell über dem Boden bewegenden Körper. Und wäre er nicht im nächsten Moment hastig nach rechts ausgewichen, dann hätte das Vieh wohl mehr erwischt als nur seinen Oberarm. Er spürte den Schmerz gar nicht. Es war nicht schlimm, sicherlich nur ein Kratzer und er hatte auch gar keine Zeit, sich mehr Gedanken darüber zu machen, denn er spürte, wie der Dämon wendete und wieder auf ihn zukam. Er dachte nicht mehr nach, ließ sich von seinem Instinkt leiten, genau wie Bankotsu es gesagt hatte, und die Klinge seines Schwertes fand sein Ziel; Er spürte wie warme Blutstropfen sein Gesicht benetzten und ein dumpfes Geräusch als der abgetrennte Kopf des Tengu zu Boden fiel. Nebel und Regen verzogen sich schlagartig. Als Jakotsu sich aufrichtete, war das erste, das er sah Bankotsu. Stolz und mit erhobenem Haupt und den Waffenarm mit der blutbespritzen Banryu leicht abgespreizt stand er da, während ihm zarte Sonnenstrahlen ein hauchfeines Muster auf die von der Anstrengung leicht geröteten Wangen zeichnete. Die Augen blitzten siegessicher und selbstgefällig. Und er wirkte irgendwie zufrieden. Attraktiv … das war das erste Wort, das Jakotsu einfiel.Er unterdrückte ein verträumtes Seufzen und spürte plötzlich etwas Feuchtes und Warmes an seinem linken Arm. „Na sowas…“, murmelte er und konnte nicht aufhören auf dieses intensive Rot zu starren. Das war … wirklich … sehr viel Blut … so schlimm hatte der Dämon ihn doch gar nicht erwischt … oder etwa doch…? Jakotsu war in einer Art Schockzustand. Deshalb hatte er anfangs weder die Verletzung registriert, noch bekam er mit, wie Bankotsu ihn nachdrücklich fort zog, damit sie vor Einbruch der Dunkelheit wenigstens einen sicheren Ort erreichen.   ~*~ Jakotsu wurde durch die Wärme und das sachte Knistern und Knacken eines Feuers geweckt. Die Augenlider waren ihm so schwer, so ließ er sie noch eine Weile geschlossen und sein linker Arm fühlte sich taub an. Was war eigentlich passiert…? Als der junge Mann endlich blinzelte, bemerkte er,dass er an einem Baum lehnte, eingehüllt in eine Decke, ihm gegenüber, müde wirkend und mit einem Stock in der Glut herumstochernd, Bankotsu. Der sah auf als er Jakotsus Blick auf sich spürte. „Wie geht es dir…?“ „Mir … Ist irgendwie schwummrig … und mein Arm… was…?“ Doch er brauchte gar nicht weiter fragen – wie von selbst schossen ihm Bilder von dem in den Kopf, was am Nachmittag geschehen war. Die Krähen. Der Dämon. Das Blut. Das Blut … Natürlich … Jetzt kamen auch die Schmerzen zurück und ein leises Wimmern kam ihm über die Lippen. „Mein Arm tut weh…“ „Die Wunde ist ziemlich tief“, begann Bankotsu mit von Müdigkeit kratziger Stimme, „und ich hatte nichts zum Desinfizieren, nicht einmal ein bisschen Sake, und zum Verbinden musste ich … deinen anderen Yukata zerreißen…“ Bankotsu blickte entschuldigend drein, aber Jakotsu hätte sich in diesem Moment wohl nicht mal aufgeregt, wenn man ihm erzählt hätte, er müsse für den Rest seines Lebens dieselbe Unterwäsche tragen. „Hier, du solltest etwas trinken“, nahm Bankotsu schließlich den Faden wieder auf und reichte ihm den Wasserschlauch, den er vor ihrer Abreise in einer klaren Quelle aufgefüllt hatte. Jakotsu streckte den unverletzten Arm aus und griff leicht zitternd danach, setzte in sich dann an die Lippen, während er, immer noch benebelt den gedämpften Worten seines Gefährten lauschte. „Wir sollten so schnell es geht einen Bader oder einen Heiler aufsuchen, wäre schlecht, wenn sich deine Verletzung wegen unsachgemäßer Behandlung entzündet oder du im schlimmsten Fall durch Wundbrand den Arm verlierst…“ Bankotsu brach ab, als er den entgeisterten Gesichtsausdruck seines Gefährten bemerkte–er hielt wohl lieber die Klappe, um Jakotsu nicht noch mehr zu beunruhigen, der im Übrigen erstaunlich gefasst geblieben war während dieser ganzen Geschichte. Nach einer Weile der Stille biss Jakotsu sich auf die Unterlippe. „Danke…“ Bankotsu blinzelte. „Wofür?“ „Für alles.“   ~*~ Es schneite und der kleine Junge hatte Mühe seine Füße aus dem Schnee zu bekommen,der so hoch war,dass er ihm fast bis zu den Knien reichte. „Haha-ue, warte auf mich!“, jammerte er und stemmte trotzig die Hände in die Hüften, während er darauf wartete, dass seine Mutter, welche bereits ein gutes Stück vor ihm war, sich umdrehte. Es war tiefster Winter und die junge Frau hatte ihren Sohn mit nach draußen genommen, da der Vater auf unbestimmte Zeit fort war und ihnen beiden die Zeit lang geworden war. Die noch recht junge Frau drehte sich um und rief ihm ein lachendes „Takeshi, nun stell dich doch nicht so an, du bist doch ein Mann“ zu, blieb aber trotzdem stehen und wartete, dass der Knabe zu ihr aufgeholt hatte, voller Wärme und Güte war dabei ihr Blick. Der Junge schmollte und schluckte seinen Groll herunter – seine Mutter, die in seinen Augen den Mond aufgehängt hatte, wollte er nicht enttäuschen – selbst wenn er wusste, dass die ihn nur liebevoll aufzog. Immerhin musste er sie beschützen können, jetzt wo der Vater im Krieg war. Takeshi stolperte und versank kopfüber im Schnee. Rappelte sich hoch. Nichts. Nur das Heulen des Windes und das dichte Schneetreiben, das ihm die Sicht versperrte. „Haha-ue?“ Die Stimme wurde verschluckt. Sie war fort und Bankotsu, welcher gerade aus dem Schlaf empor schwamm erinnerte sich daran, dass er Bankotsu war und schon lange nicht mehr Takeshi…   ~*~ Als Bankotsu erwachte fühlte er sich erschlagen, er hatte nicht sehr lange und auch nicht besonders gut geschlafen. Gediegen streckte er sich, wobei ihm ein inbrünstiges Seufzen entwich und blickte sich dann verschlafen und beherzt am Bauch kratzend um. Der Morgen dämmerte schon. Sie würden dringend einen Bader suchen müssen – Bankotsu konnte zwar grob einen Verband anbringen, aber für mehr reichte es einfach nicht aus. Soweit ihn seine geographischen Kenntnisse nicht im Stich ließen, würden sie wohl innerhalb eines halben Tagesmarsches die nächste größere Siedlung erreichen – dort würde man dann auch alles Wichtige für die Weiterreise besorgen können,vielleicht sogar eine Rüstung für seinen Gefährten und er zog sogar ernsthaft die Anschaffung eines Pferdes in Erwägung. Nach einem kargen Frühstück, das aus nach nichts schmeckendem klebrigen Reis und etwas Dörrfleisch bestanden hatte, waren sie wieder auf den Beinen. Jakotsu spürte seine Verletzung dumpf vor sich hinpochen, aber wenn er den Arm nicht zu sehr belastete ging es. Lediglich der Blutverlust, der doch erheblicher gewesen war als anfangs gedacht, raubte ihm etwas die Kraft und das karge Essen hatte nicht viel zu einer schnellen Regeneration beigetragen. Aber er beschwerte sich nicht. Vielmehr glitten seine Gedanken zu dem Yōkai vom Vortag. Als der Nebel sich verzogen hatte, hatte er die Kreatur das erste Mal richtig gesehen, halb menschliche Züge, halb Krähe, lederne Haut, dort wo keine Federn waren und ein Schnabel der, hätte er richtig zugebissen, ihm sicher locker den Arm glatt abtrennen können. Die Gegend veränderte sich langsam aber stetig - sie waren nicht mehr so weit in den Bergen oben, die Bäume wurden dichter, und das Klima war nun etwas milder und fast noch spätsommerlich. Die Blätter an den Bäumen erstrahlten in herrlichem Rot und Gelb, während die schräg einfallenden Sonnenstrahlen verspielte Muster auf das bunte Laub zauberten. Zwar kamen sie nur langsam voran, dennoch waren sie ganz gut in der Zeit und nach Bankotsus Rechnung dürften sie die nächste größere Siedlung wohl am Spätnachmittag erreichen. Ein Knacken im Unterholz bewog Bankotsu, stehen zu bleiben.Die Tiere des Waldes kamen selten näher zu den Wegen der Menschen. Ein Dämon? Jakotsu war ebenfalls stehen geblieben und wollte schon beunruhigt fragen, was denn nun schon wieder sei, doch Bankotsu brachte ihn zum Schweigen, indem er den Arm hob und ging in Hab Acht Stellung. Als jedoch im nächsten Moment ein Kind aus dem Unterholz herausstolperte,schmutzig bis zur Unkenntlichkeit und mehr tot als lebendig, ließ Bankotsu den Arm wieder sinken – das Kind erblickte nun auch den Fremden, torkelte ein paar Schritte auf ihn zu und Bankotsu konnte es gerade noch auffangen, ehe es mitten auf dem Weg zusammen gebrochen wäre. „Wem ist das Gör denn entlaufen…?“, gab Jakotsu neben ihm von sich und ärgerte sich darüber, dass er sich wegen einem Kind beinahe ins Hemd gemacht hätte. Das Erlebnis mit den Yōkai saß wohl noch tiefer als gedacht. Bankotsu antwortete nicht, sondern hielt dem Kind den Zeigefinger unter die Nase, um zu testen, ob noch Atem vorhanden war. Schwach. Aber vorhanden. Der Knabe wirkte ausgezehrt und wie Bankotsu vermutete, musste er wohl schon einige Tage ziellos umherirren. Das Kind mochte elf Jahre alt sein, vielleicht zwölf. „Wer bist du, Kleiner, und was ist dir passiert?“,versuchte er den Jungen anzusprechen. Der reagierte erst nicht und Bankotsu klopfte ihm sacht auf die Wangen. Er war bleich wie der Tod selbst. Die Lider des Jungen flatterten und alles was er hervorbrachte war „So…jiro“, und irgendetwas Unverständliches was in Bankotsus Ohren unangenehm nach „Dämonen“ klang. Dann verdrehte er die Augen, sodass nur mehr das Weiße zu sehen war, und verlor das Bewusstsein.   ~*~ „Du trägst ihn, Jakotsu.“ „Was, warum denn ich? Immerhin ist es deine Idee das Balg mitzunehmen.“ „Deine Nächstenliebe rührt mich wirklich zu Tränen“, erwiderte Bankotsu trocken. „Du bist natürlich unglaublich selbstlos und aufopfernd…Und außerdem bin ich verletzt.“ „Du bist noch nicht daran gestorben, oder? Jetzt nimm ihn schon – oder willst du stattdessen lieber Banryu schleppen, huh?“ Bankotsu stippte seinem Gefährten mit der flachen Seite der Waffe auf den Kopf und ließ ihn kurz das Gewicht spüren, was Jakotsu beinahe in die Knie gehen ließ. „Schon gut, schon gut, ich gebe auf – gib schon her. Du hast wirklich ein Herz aus Stein.“ Jakotsu nahm widerwillig den Jungen, der so gut wie nichts wog, auf den gesunden Arm und schwieg vorwurfsvoll. Dass Kinder hier unterernährt waren, war nichts Ungewöhnliches. Und dass Eltern ihre Kinder sich selbst überließen, war noch viel weniger ungewöhnlich. Hunger konnte aus jedem Menschen ein Monster machen.Irgendwie tat ihm der Kleine nun doch etwas leid. Jakotsu war im Grunde nicht hartherzig, er konnte nur mit Kindern kaum etwas anfangen. Die waren so … so zerbrechlich und stellten lauter dumme Fragen. Außerdem hackten sie auf einem herum, wenn man anders war. Er schüttelte das Gedankenbild ab von seinem eigenen, schwachen Ich, das hilflos boshafter Willkür ausgeliefert war. Das war Vergangenheit. Und er würde nie wieder verprügelt und in zerrissenen Sachen nachhause kriechen und etwas erklären müssen, das er nicht erklären konnte. Es ging langsam auf Nachmittag zu und ausnahmsweise blieben sie sogar von dem diseligen Wetter der letzten Tage verschont. Bald lichtete sich der Wald und ein verwilderter etwas breiterer Trampelpfad erschien, welcher zu einem breiten abschüssigen Feldweg führte. Von neuer Motivation geleitet, legten die beiden Gefährten unbewusst etwas an Tempo zu und nach einer knapp halben Stunde kam Rauch in Sicht. Und Rauch war ein gutes Zeichen, denn wo Rauch war, waren auch Menschen. Das Dorf, zu dem sie bald kamen, lag in einer Senke, geschützt vor der gröbsten Witterung – derjenige, der das Dorf dort angesiedelt hatte, musste sich dabei etwas gedacht haben, was Bankotsus Hoffnung hob, hier nicht nur ein paar Hinterwäldler anzutreffen. Es gab keinen Zaun und keine Wächter, was unglaublich leichtsinnig war in der heutigen Zeit, wo es vor Verbrechern und Dämonen nur so wimmelte. Vermutlich hatten die Leute hier ohnehin nichts, was es sich zu stehlen lohnte und glaubten deshalb, dass Vorsichtsmaßnahmen überflüssig waren. Bankotsus Verdacht bestätigte sich nur, als er auch niemanden auf sie zukommen sah, als sie auf der Straße, zu dessen Seite sich die ärmlichen Hütten aufreihten, gemütlich entlang spazierten. So nutzte er die Zeit um seinen Blick schweifen zu lassen - viel schienen die Leute hier wirklich nicht zu haben. Die Hütten wirkten gerade so, als würden sie nur mit viel Glück den nächsten schweren Sturm überleben, ein Brunnen, mit einer verrosteten Pumpe war auf dem Dorfplatz zu dem sie nun kamen zu sehen und irgendwo, aus einer nicht auszumachenden Richtung meckerte leise eine Ziege, ansonsten blieb es still. Bankotsu hob den Blick und bemerkte zu seiner Überraschung, dass etwas abseits ein größeres Haus stand, das wohl entweder leer stand oder dem Vorstand des Dorfes oder dessen Schirmherrn gehörte. Er vermutete wegen der Größe eher letzteres. Von Menschen war jedoch nach wie vor weit und breit nichts zu sehen und Bankotsu verlor langsam aber sicher die Geduld. Langsam ließ er seine Waffe sinken, formte die Hände vor seinem Mund zu einem Trichter und rief laut, ohne seinen Unmut zu verhehlen: “HEY! Wir haben hier etwas, das zu euch gehört, kommt gefälligst raus, wir sind keine Feinde!” Das war zwar nicht sehr überzeugend, fand Jakotsu, wenn man Bankotsu nicht kannte, aber er zog es vor, den Anderen jetzt nicht noch mehr zu reizen und seine Gedanken für sich zu behalten - er selbst sehnte sich nach nichts mehr, als einem Bad und einem Bett. Und wenn er nur eines von beiden hier bekam, dann wollte er sich nie wieder über irgendetwas beschweren. Einen Moment noch blieb es still und sie wollten schon glauben, dass das Dorf hier verlassen war, doch nach einer kurzen Weile hörte man es zaghaft hinter ein paar Türen rumoren und der ein oder andere neugierige Dorfbewohner streckte seine Nase hinter der Tür hervor. Da allerdings keiner wirklich Ambitionen zeigte, auf Bankotsu und Jakotsu zu zukommen, zählte Bankotsu innerlich langsam bis zehn zählte, um einen Tobsuchtsanfall zu verhindern und schlug dann einen gezwungen friedlichen Tonfall an: “Bitte, ihr guten Leute, wir sind erschöpft und mein Gefährte braucht einen Arzt - außerdem haben wir im Wald einen Jungen gefunden, der wohl ohne Zweifel zu euch hier gehört…” Das war noch nicht einmal geheuchelt, Bankotsu fühlte sich wirklich seltsam erschöpft, obgleich er bis auf das Tragen seiner Waffe sich keinen großen Anstrengungen ausgesetzt hatte. Vermutlich lag es einfach daran, dass ihn Jakotsus Gesellschaft anstrengte. Er brauchte selbst ein wenig Ruhe, dann würde es schon wieder gehen. Ein älterer Mann wagte sich schließlich hervor, gefolgt von einem kleinen Mädchen mit langsamen Schritten zu den beiden hin, blieb aber in sicherer Entfernung stehen und deutete eine leichte Verbeugung an. “Bitte verzeiht uns unsere Zurückhaltung, Kimura-san ist gerade nicht anwesend, er ging mit den anderen Männern um ein paar vermisste Kinder zu suchen … Von denen ihr wohl eines gefunden zu haben scheint…”, fügte er hinzu und man konnte deutlich die Verblüffung des Alten in seiner Stimme hören. “Das ist Sojiro, Großvater!” gab schließlich das kleine Mädchen mit piepsiger Stimme zu erkennen und warf Jakotsu, der diesen immer noch in den Armen hielt, neugierige und aufgeregte Blicke zu. Jakotsu indes schnitt ihr eine Fratze als niemand hinsah, während Bankotsu in bemüht ruhigem Tonfall mit dem alten Mann sprach, “Können wir uns bis zu der Rückkehr eures Herrn vielleicht irgendwo ausruhen, wir sind erschöpft und der Junge hier tut es auch nicht mehr sehr lange…” Hosted by Animexx e.V. 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