Sherry - Jenseits von Gut und Böse von Cognac ================================================================================ Kapitel 7: Gefährliches Bündnis ------------------------------- Kapitel 7: Gefährliches Bündnis Zaghaft drückte sie gegen den -unter Spannung stehenden- Abzug. Sie spürte den Widerstand an ihrer Fingerspitze und wie dieser langsam nachgab. Laut war der Knall, den der Schuss verursachte, sodass sie unvermeidbar zusammenzuckte, trotz der Ohrschützer die sie trug. „Du hältst sie viel zu unruhig.“, kommentierte er trocken, als die Kugel erneut weit über das Ziel hinaus ins Leere schoss. Das war schon ihr zwanzigster Versuch und noch keiner davon traf bislang ins Schwarze. Eine äußerst ernüchternde Bilanz. „Es ist dieser verdammte Rückstoß. Eine Waffe zu halten und auch noch abzufeuern ist einfach ungewohnt für mich.“, versuchte sie ihre vielen Fehlschüsse zu rechtfertigen. Der große langhaarige blonde Mann, mit seinem unverkennbaren schwarzen Mantel samt Hut, legte eine Hand auf die Schulter der -im Vergleich zu ihm- zierlich wirkenden jungen Dame. „Genau deswegen ist es wichtig, dass zu lernst damit umzugehen.“, erklärte er ganz entspannt. Shiho ließ ihre ausgestreckten Arme sinken, um diesen ein wenig Entlastung zu verschaffen. Nach einer halben Stunde auf dem Schießstand fühlten sie sich ungemein schwer an, fast wie versteinert. Die in ihren Händen ruhende Pistole, mit dem Lauf nun gen Boden gerichtet, hielt sie aber weiterhin fest umklammert. Sie spürte wie ihre Finger allmählich verkrampften. „Du musst lockerer werden.“, riet ihr Gin, als er ihre steife Haltung bemerkte. Shiho wurde leicht rot im Gesicht, ohne dass sie dies abstellen konnte. Sie hatte ihm zwar gestattet, sie während ihrer gemeinsamen Trainingsstunden zu duzen, da es für sie einfacher war, wenn sie nicht auf die förmliche Weise angesprochen wurde. Doch ein wenig seltsam kam es ihr trotzdem vor, jedes Mal, wenn er davon Gebrauch machte. Es war immerhin nicht so, als wären sie beide auf ein und derselben Wellenlänge. Sie war eine junge Frau, kaum dem Alter eines Mädchens entsprungen, zurückhaltend, unauffällig und völlig unbekannt durch ihr abgeschottetes Dasein, selbst in der Forschungsabteilung. Gin hingegen, ein gut gebauter, stattlicher Mann in seinen besten Jahren, war selbstbewusst und besaß eine Menge Charisma. Sein Name hatte Gewicht und er war einer der wenigen Leute in der Organisation, die nur dem Boss persönlich unterstellt waren. Unterschiedlicher konnten zwei Personen vermutlich gar nicht sein und dennoch sprang er mit ihr anders um, als der Rest der Männer in Schwarz es tat. „Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass ich dafür gemacht bin.“, äußerte die rotblonde Wissenschaftlerin ihre Zweifel an dem, was sie hier taten. Diese Sache mit den Schießübungen war ja nicht einmal ihre eigene Idee gewesen. Vor einer Woche noch, hätte sie sich hunderte Variationen ausdenken können, wo sie sich heute wohl aufhalten würde und in keiner von ihnen, hätte sie sich an jenem Fleck gesehen, an dem sie jetzt gerade war. Normalerweise hätte sie an einem solchen Ort überhaupt keinen Zutritt. Es war Gin gewesen, der dies ermöglicht hat. Ob Zufall oder nicht, war Shiho ihm in der Forschungsabteilung, nach dem Vorfall mit Uchida, erneut über den Weg gelaufen. Er schien sich recht häufig dort aufzuhalten, aus welchem Grund auch immer. Gin war auf sie zugegangen und hatte ihr den frappierten Vorschlag unterbreitet, dass es auch einer vielbeschäftigten Wissenschaftlerin nicht Schaden könnte, ein paar Grundformen der Selbstverteidigung zu erlernen. Es war durchaus ein gut gemeinter Rat, denn die Organisation war nun einmal ein hartes Pflaster und man konnte sich freilich auch nicht jedem anvertrauen, weshalb er versprach sich dem persönlich anzunehmen, falls sie Zusagen sollte. Shiho war anfangs jedoch sehr schüchtern und unentschlossen, ob dies wirklich notwendig sei und hatte zunächst dankend abgelehnt. Gins Angebot ihr zu zeigen, wie sie selbst besser auf sich Acht geben könnte, weckte aber fortan ihre Neugierde und ließ sie die folgenden Tage nicht mehr los. Es war schließlich -von Anfang an- ihr eigener Wunsch gewesen, nicht die Hilfe anderer benötigen zu müssen und auf sich selbst aufpassen zu können. Sie wollte nicht auf den Schutz von Pernod oder jemand anderen angewiesen sein und auch Akemi sollte sich wegen ihr nicht ständig Sorgen müssen. Zwar hatte sich Shiho bisher noch recht wacker geschlagen, doch musste sie auch kennenlernen was es hieß Feinde in den eigenen Reihen zu haben und nicht immer würde sie das Glück haben glimpflich davonzukommen. Irgendwann hätte sie nur sich selbst und ihr eigenes Können. Somit akzeptierte sie schlussendlich nach reichlicher Überlegung, sich einige Fähigkeiten beibringen zu lassen. Es könnte ja nicht schaden künftig Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Dass sie sich hin und wieder von Gin unterweisen lassen würde, machte Shiho aber zu ihrem kleinen Geheimnis. Weder Pernod noch Akemi erzählte sie davon. Der Forschungsleiter wäre ohnehin strikt dagegen gewesen, egal welche Argumente sie aufgefahren hätte. Sie ließ Gin ihre Entscheidung zukommen, welcher sich darüber sehr erfreut zeigte und versprach ihr dabei zu helfen stärker zu werden. Ein Vorfall wie der mit Uchida sollte sich niemals mehr wiederholen. Auf ihre Frage, was mit diesem eigentlich passiert sei, sagte Gin nur, dass er umgehend in ein anderes Labor auf Hokkaido versetzt wurde. Sein Verhalten sei für die Riege der Forschungsabteilung einfach nicht länger tragbar gewesen und man wolle somit das Gesicht wahren. Genaueres erfuhr Shiho jedoch nicht, interessierte sich dafür aber auch gar nicht, sondern war froh und erleichtert, dass dieser Widerling seine verdiente Strafe erhielt. Wenn sie zu diesem Zeitpunkt auch nur geahnt hätte, was sein Peiniger tatsächlich mit ihm angestellt hat, sie würde gewiss anders darüber denken. Gin ließ durch seine kühle Haltung allerdings nicht durchsickern, dass er in Wahrheit das Leben von Uchida mit seinen bloßen Händen beendet und dabei nicht das Geringste gefühlt hat. Infolge ihres ersten Unterrichtstags in Punkto Selbstverteidigung, brachte Gin sie in eine Sektion, die als gesondertes Trainingsgelände ausgeschrieben war und weit abseits ihres gewohnten Umfeldes lag. Dort hatten nur Organisationmitglieder mit einer speziellen Bevollmächtigung Zutritt. Neben kleinen und mittleren Schießständen gab es darüber hinaus mehrere Fitnessräume, Bereiche für Krafttraining, aber auch Hallen für die Ausübungen unterschiedlicher Kampfsportarten, wie Karate, Aikido oder Kendo. Shiho erinnerte sich, wie sie an einem der Dojos vorbeigeführt wurde, indem mehrere muskelbepackte Kerle mit kurz geschorenen Haaren, teils aber auch kahlrasiertem Schädel, in gleichmäßigen synchronen Abfolgen mit ihren bloßen Fäusten auf Sandsäcke, so hart wie Granit, einschlugen. Ihr war dabei ein mulmiges Gefühl durch jede Faser ihres Körpers gewandert. Sie hatte sich zwar in weiser Voraussicht extra etwas sportlicher gekleidet, dennoch stach sie an diesem Ort heraus, wie ein Schaf inmitten eines Wolfsrudels. Gin hat sie beruhigt und ihr angewiesen, ihm einfach niemals von der Seite zu weichen, solange sie sich dort aufhielten. Mit ihm als Begleiter, würde es keiner wagen ihr auch nur zu nahe zu kommen. In einem privaten Trainingsraum, wo es nur Meister und Schüler gab, zeigte ihr Gin zu Beginn die Grundlagen der Entwaffnung. Dafür hatte er sich extra seinem Mantel entledigt, sowie die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, um etwas mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Ein ungewohntes Bild für Shiho, besonders als er auch seinen Hut absetzte und sein langes schimmerndes Haar über sein unverdecktes Gesicht und seine Schultern fiel. Er sah gar nicht mal so übel aus, stellte die junge Frau fest, schüttelte diesen Gedanken aber schnell wieder von sich. Es war besser, wenn sie sich auf das konzentrierte, weswegen sie hier war. Fleißig wiederholte sie daher jeden Schritt und jeden Griff, den ihr Gin vorzeigte und das solange bis er damit zufrieden war, was teils Stunden dauern konnte. Doch Shiho dachte nicht daran das Handtuch zu werfen. Wenn sie in ihrem Leben immer aufgegeben hätte, wenn es schwer wurde, wäre sie schon frühzeitig ein Opfer ihres Schicksals geworden. Deswegen machte sie weiter und hielt durch, egal was Gin als Nächstes für sie parat hatte. Tag für Tag folgten weitere Techniken zum Abwehren verschiedener Angriffe. Seien sie frontal oder aus dem Hinterhalt ausgeführt. Jedes Mal lernte sie etwas Neues dazu. Shiho stellte sich gar nicht mal so schlecht an, je mehr sie an sich arbeitete. Ihr junger und schlanker Körper eignete sich hervorragend für die wendigen und beweglichen Manöver, erklärte ihr Gin, als sie den Befreiungsgriff Schritt für Schritt durchgingen. Körperstärke war nicht alles und bestimmt nicht ausschlaggebend, um einen nach außen hin überlegen wirkenden Gegner in die Knie zu zwingen. Der Vorteil des Unterschätzens, dessen Ausmaß man nicht ignorieren sollte. Ihr taten zwar nach jeder Trainingseinheit sämtliche Muskeln vom Hals bis in die Zehen weh, doch war es gleichzeitig auch ein befreiendes Gefühl. Es war wie ein Ventil für ihre stressige und nervenaufreibende Arbeit im Labor. Die Ehre, das alles von Gin persönlich beigebracht zu bekommen sah Shiho darüber hinauszunehmend als Chance. Eine Chance, dass nicht länger Menschen wie Uchida auf sie herabsahen, sie wie eine Person zweiter Klasse behandelten und dachten, sie könnten alles mit ihr machen, da sie schlichtweg ein Niemand war. Shiho wollte, dass sich das ändert. Zu ihrem Erstaunen, zeigte sich Gin sehr entgegenkommend und auch äußerst geduldig, was das anging. Sie hätte nie im Leben erwartet, dass ein Mann wie er, sich Gedanken um ein unbeschriebenes Blatt innerhalb der Organisation machen würde. Der blonde Hüne schien wohl früh erkannt zu haben, welche Qualitäten die junge Wissenschaftlerin besaß und wie wichtig ihre Forschung für die gesamte Organisation war. Ihn als Förderer zu wissen, kam der Rotblonden sehr gelegen. Als Shiho mit der Zeit immer selbstsicherer mit den ihr beigebrachten Techniken wurde, betrat sie heute unerwartet erneut Neuland, als Gin sie nicht wie bisher in die Räume fürs Aikido führte. Er sagte, sie habe in den letzten Tagen bemerkenswerte Fortschritte erzielt, sodass er es für ratsam hielt sie erste Erfahrungen mit Schusswaffen machen zu lassen. So suchte er mit ihr eine der Schießbahnen auf, die auch von anderen Organisationsmitgliedern genutzt wurde. Die meisten von ihnen waren mit Ohrschützern und einem Kaliber ihrer Wahl ausgestattet, mit denen sie auf die Ziele des Parcours schossen. Eine Trennwand, mit besonders dicker Schalldämmung verkleidet, gewährleistete, dass nur ein gedämpftes Wummern an Shihos Trommelfell drang, was sie jedoch erahnen ließ, wie laut es auf der Anlage in Wahrheit sein musste. Gin führte die blutjunge Wissenschaftlerin, die ein paar misstrauische Blicke bezüglich der Anwesenheit ihrer Person erntete, in einen Vorbereitungsraum, indem sie alleine waren und wo man sich in Ruhe Ausstatten konnte. Hinter gepanzerten Glasscheiben blitzte der Rotblonden ein gewaltiges Arsenal der unterschiedlichsten Bewaffnungen entgegen. Vieles davon war erstklassige Militärware, natürlich überwiegend für Projektilmunition. Doch auch exotischere Waffen, wie Pfeil und Bogen, Shuriken und sogar eine Armbrust konnte Shiho sehen. Anscheinend gab es nichts, was die Organisation nicht besaß. Ehe die Wissenschaftlerin den gesamten Fundus in Augenschein nehmen konnte, bekam sie schon etwas Kleines aber Schweres von Gin in die Hand gedrückt. Es war eine Glock 17, Standardausführung. Sie kannte sie aus dutzenden Filmen, die sie in ihrer Zeit in den USA gesehen hatte. Shiho ahnte bereits, was sie damit anfangen sollte. Gin erteilte ihr eine kurze Lehrstunde darin, wie eine Pistole aufgebaut war und wie diese genau funktionierte. Da die rotblonde Frau sich sehr gut Dinge merken konnte, fiel es ihr nicht sonderlich schwer die Bestandteile vom Hahn bis zur Mündung in sich aufzunehmen. Sie wusste aber, dass es bei so etwas nicht bleiben würde. Anschließend brachte Gin ihr bei, wie man beim Schießen zu stehen hat und wie man die Pistole fest in beiden Händen hält. „Eine Waffe ist nur so gut, wie die Person in dessen Besitz sie sich befindet.“, predigte er dabei immer wieder. Erst danach betrat er mit ihr einen separaten Schießstand. Shiho bekam nun ebenfalls Ohrschützer aufgesetzt, worüber sie froh war. Gin selbst verzichtete. Er schien an den Lärm einer Waffe gewöhnt zu sein. Selbst als das Fräulein Miyano ihren ersten jemals abgegebenen Schuss abfeuerte, verzog er, bei dem sich auf der Anlage ausbreitenden Schall, keine Miene. Shiho hingegen hatte das Gefühl die geräuschunterdrückenden Kopfhörer wären nur reine Deko und würden gar keinen Unterschied machen, denn ihr lag danach ein unangenehmer Piepton im Ohr. Das Ziel hatte sie mit ihrem Schuss um Längen verfehlt und auch bei ihren nächsten Durchgängen, hielten sich Shihos Fortschritte so ziemlich in Grenzen. Es schien beinahe so, als würde sie bei ihren Versuchen, die Anweisungen von Gin zu befolgen, gegen sich selbst arbeiten. Für sie ging es hier nicht mehr nur um passives Reagieren. Mit einer Waffe zu schießen war eindeutig aktiver Natur und der rotblonden Frau nicht sonderlich geheuer. Man könnte sich damit zwar auch vor anderen schützen, doch immer mit dem Risiko ein Leben zu beenden, sobald man den Abzug drückte. Sie hegte keinerlei Interesse eine Pistole, wie die die sie derzeit in Händen hielt, jemals in einer Situation, wo es wirklich um Leben oder Tod ging, einzusetzen. Insgeheim war sie ein klein wenig erleichtert, dass ihr die Handhabung mit einer Waffe nicht so recht gelingen wollte. Das war wohl diese eine Sache, die sie von dem Rest der Männer in Schwarz unterschied. „Vielleicht sollten wir es doch lieber dabei belassen. Einen Versuch war es vielleicht wert, aber zu wissen, wie man sich zur Wehr setzt, reicht mir vollkommen aus. Ich bin nun einmal Wissenschaftlerin und keine Kämpferin.“, erklärte Shiho, als sie die unversehrte Zielscheibe vor sich, eine Zeit lang betrachtete. „Oh doch, du bist eine Kämpferin.“, widersprach ihr Gin sofort. „Das war mir schon bewusst, als ich dich das erste Mal sah und auch die letzten Tage über, hast du es mir immer wieder aufs Neue bewiesen.“, fügte er noch hinzu. Shiho drehte sich zu Gin um. Sie sah ihn jedoch nicht an, sondern starrte zu Boden und auf die leeren Patronenhülsen zu ihren Füßen. „Mag ja sein, doch ist das nicht Teil meiner eigentlichen Funktion. Die Organisation braucht mich doch nur für das Gift. Deswegen bin ich überhaupt hier.“ Gin stieß einen Seufzer aus und rückte sich den Hut zurecht, ehe er sie mit seinen Augen fixierte. „Glaubst du ich würde das hier tun, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass du es wert bist?“ Er vergrub eine Hand in seiner Manteltasche, die andere richtete er mit ausgetrecktem Zeigefinger auf die junge Wissenschaftlerin. Langsam sah sie zu ihm auf. „Ich durchschaue dich, Shiho Miyano. Ich sehe das Potenzial, welches du zu verstecken versuchst. Dazu besteht jedoch kein Anlass und das beweise ich dir.“ Gin schritt gemächlich auf sie zu, packte sie dann aber ruckartig an den Schultern und lenkte ihren Blick wieder auf die Schießanlage. Er presste sich von hinten gegen ihren Rücken und war ihrem Körper plötzlich so nah, dass es Shiho völlig aus dem Konzept und ihr Herz zum Rasen brachte. Der Hüne berührte vorsichtig ihre Hüfte und brachte das rotblonde Fräulein erneut in Schussstellung. Er stabilisierte ihre Haltung, während er seine Hände unter ihre Arme legte und diese samt Pistole auf das Ziel ausrichtete. Bevor sie auch nur etwas sagen konnte, hatte er sie einfach in seinen Bann gezogen und hielt sie dort nun fest, wortwörtlich. Während sie so dastanden, über Kimme und Korn geradeaus schauend, stieg Gin der wohlriechende Duft von Shihos weicher Haut in die Nase. Welch betörendes Aroma sie doch verströmte. Gepaart mit ihrem engen Sportdress und der tollen Figur, die sie darin machte, war sie fast unwiderstehlich. Fast. Leise flüsterte er ihr ins Ohr: „Versuch es noch einmal und kämpfe diesmal nicht dagegen an. Lass es einfach geschehen und überlasse den Rest einfach mir.“ Sie spürte seinen warmen Atem an ihrem Hals und wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Heiße und kalte Schauer überzogen ihren Rücken gleichermaßen. Es war ein merkwürdiges, ihr völlig unbekanntes Gefühl. Das lag wohl daran, dass kein Mann zuvor ihr bisher so nahegekommen war, wie Gin in jenem Augenblick. „Schieß“, verlangte er mit einem Raunen. Shiho war wie paralysiert, doch befolgte sie sein Befehl, wie unter Fremdeinwirkung und schoss noch einmal. Die Kugel zischte durch die Luft und schlug in den auf Sperrholz festgemachten Zielkreis ein. Ein direkter Treffer. Die Rotblonde starrte verdutzt auf das Einschussloch im Zentrum der Platte. Sie hatte tatsächlich einen Volltreffer gelandet, obwohl ihr ganzer Körper unter der Einwirkung Gins förmlich gebebt hatte. Sie war so baff, dass sie gar nicht den Blick des blonden Mannes bemerkte und wie dieser diabolisch über ihre Schulter hinweg grinste. „Siehst du. Es steckt in dir.“, waren seine lobenden Worte, als er sich wieder von ihr löste und sich stoisch an eine nahestehende Brüstung anlehnte. Sein Verhalten, als sei nichts groß passiert, ließ Shiho schon beinahe daran zweifeln, dass es diese eine Minute zwischen ihnen überhaupt gegeben hat. Nichts desto trotz war sie immer noch skeptisch, ob der Umgang mit einer Waffe das richtige für sie war, aber zu einem weiteren Durchlauf mit Gins Hilfe erklärte sie sich dennoch bereit. Sie wiederholten die Prozedur noch einige Male, bis es ihr so langsam in Fleisch und Blut übergegangen war und sie weitestgehend alleine das Ziel ins Visier nehmen und abdrücken konnte. Die Rotblonde war nicht in der Lage es zu erklären, doch auf eine gewisse Weise gefiel ihr es. Nicht etwa das Schießen mit der Pistole, sondern vielmehr die Nähe zu dem Mann in Schwarz, welcher bei ihr war. Jemand der ihr nicht total egal zu sein schien. Shiho hätte beinahe ein schlechtes Gewissen, wenn ihre und Akemis Freiheit ihr nicht wichtiger wäre als alles andere. Schlussendlich diente es doch nur einzig und allein ihrem Ziel der Organisation eines schönen Tages den Rücken zuwenden zu können. Und auch wenn ihr das Üben mit einer Waffe in Wahrheit missfiel, so tat sie es dennoch. Wenn sie sich mit Gin gutstellen wollte, was nur von Vorteil für sie wäre, da sie somit künftig eine Verbindung zu den höheren Kreisen der Organisation besäße, so durfte sie -nach außen hin- nicht zu stark gegen den Strom ankämpfen. Letztlich redete sich die junge Wissenschaftlerin ein, dass der Zweck die Mittel heiligte, solange sie nur auf Zielscheiben feuerte. Die Zeit verstrich schneller als üblich und allmählich wurde es für Shiho höchste Eisenbahn, wieder in ihr Labor zurückzukehren. Sie war immerhin lang genug weg gewesen. Nicht, dass sie noch jemand vermissen würde. „Das war… eine wirklich interessante Erfahrung.“, sprach das Fräulein Miyano als sie die Pistole in Gins Obhut übergab. Sie würde es zumindest nicht so schnell vergessen, war ihr Gedanke. „Es ist mir allerdings ein wenig unangenehm, dass mir eine solche Sonderbehandlung zuteilwird. Allein die ganzen abweisenden Blicke, die ich bekommen habe, seit wir hier sind. Es scheint nicht jeder damit einverstanden zu sein.“ „Scher dich nicht um solch unbedeutende Kleinigkeiten.“, beschwichtigte sie Gin. „Das Herabsehen auf Leute mit Potenzial und die Weigerung deren Leistungen anzuerkennen, nur aus dem banalen Grund, dass diese durch ihre Stellung keinerlei Einfluss genießen ist töricht und wenn du mich fragst und auch nicht sehr förderlich.“ „Das sehe ich genauso.“, stimmte ihm die Frau mit den türkisblauen Augen zu. „Ich halte nichts von solchen Herangehensweisen und ich bin davon überzeugt, wir bräuchten mehr Leute, die vom gleichen Schlag sind wie du, Shiho Miyano. Von deiner Schönheit mal ganz abgesehen.“, redete Gin unverfroren weiter. „Oh, d-das ist wirklich sehr aufmerksam.“ Shiho erhielt nicht häufig, nein, eigentlich nie solche Komplimente. Um ehrlich zu sein, bereitete ihr das ziemliche Unbehagen. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte und spürte, wie Gins Worte sie ins Straucheln brachten, was sie jedoch nicht zulassen durfte. Sie musste ihre Fassung wahren. Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen. Shiho war irritiert. Hatte sie etwas Falsches gesagt oder gemacht und Gin womöglich verärgert. Sie setzte einen Schritt auf den blonden Mann zu, welcher ganz ruhig dastand. Als ihr Fuß auf dem Boden aufsetzte, verlagerte er seinen Oberkörper schlagartig nach vorne. Im selben Moment schnellte seine geballte rechte Faust auf die Rotblonde zu. Shiho erschrak. Ein Überraschungsangriff. Ohne groß zu überlegen, formte sie ihre Hände zu einem Kreuz und fing Gins Angriff ein, ehe sie ihn zur Seite hin ableitete. Ihre linke Hand zog sie dabei als erstes wieder nach oben, um keine Lücke in ihrer Deckung zu hinterlassen. Sie versuchte ihren Unterarm nach vorne zu stemmen, um ihn als Barriere zu nutzen und ihr Gegenüber auf Distanz zu lassen. Gin rechnete allerdings mit einem solchen Manöver und packte einfach ihr Handgelenk, welches er mit einem festen Griff umklammert ließ. Shiho war wie gelähmt und nutze ihre freie Rechte nicht, mit der sie sich unter Umständen wieder befreien oder auch zum Gegenschlag ausholen könnte. Doch sie tat es nicht. Sie blickte in Gins Gesicht, der sie mit seinen tiefgrünen Augen und einem zufriedenen Ausdruck bedachte. Shiho begriff so langsam. Er hat nur ein wenig mit ihr gespielt und wollte sie testen. Wahrscheinlich hatte er die Absicht verfolgt zu überprüfen, ob sie sich von etwas Süßholzraspeln ablenken ließ. Nicht mit ihr, dachte sich die Rotblonde. „Gute Reflexe“, lächelte Gin vielsagend und zog sich wieder zurück. Shiho selbst verharrte noch einen Augenblick länger in ihrer Abwehrhaltung, bis auch sie sich wieder entspannte. Gin war wirklich kräftig und ihr erneut so nah gewesen, dass ein seltsames Kribbeln ihren Körper befallen hatte. Was war das nur? Furcht? Respekt? „Genau das ist es, was ich meine.“, merkte der Hüne an, als er sich eine Zigarette anzündete. „Es bedarf mehr Leute, die aus dem richtigen Holz geschnitzt sind. Leute deines Formats. Viel zu lange, hat einer unserer wichtigsten Abteilungen unter der -an Kompetenz mangelnden- Führung des amtierenden Forschungsleiters gelitten. Ein neuer frischer Wind könnte unter Umständen eine Menge bewirken und künftig alles mehr in die von uns gewünschten Bahnen lenken.“ Shiho wusste sofort, wen Gin hier ganz ungeniert anzuprangern versuchte und das gefiel ihr wiederum ganz und gar nicht. „Also ich sehe das anders. Ich finde Pernod macht einen großartigen Job und das sage ich nicht nur, weil er die Leitung inne hat oder…“ „… oder weil er ein Bekannter der Familie ist?“, beendete Gin ihren Satz mit scharfer Zunge. Die junge Wissenschaftlerin verstummte augenblicklich. Sie wich Gins Blick aus. Anscheinend hatte sie sich etwas zu viel herausgenommen. Darüber hinaus hatte sie keine Ahnung gehabt, dass ihre Verbindung zu Pernod so bekannt war. Sie hätte wohl lieber nichts sagen sollen. Gin musterte die junge Frau einen Moment. Ihr Draht zu Pernod schien doch dicker zu sein, als er angenommen hatte. Vielleicht sollte er das Image des alten Mannes ein wenig aufpolieren. „Du erwähntest, dass deine Forschung erste Rückschläge erleiden musste.“, brach Gin die erdrückende Stille, die vorherrschte, nachdem er sich ein paar kräftige Züge an seiner Zigarette genehmigt hatte. „S-So ist es, leider.“, druckste Shiho. Sie war sich nicht sicher, ob Gin ihr den Versuch übelnahm, für den Leiter ihrer Abteilung in die Bresche zu springen. Allein sie kannte die Wahrheit, dass er insgeheim Jahre lang der Organisation ein Schnäppchen schlug, indem er Daten verfälschte oder verschwinden ließ und somit die Entwicklung des Giftes ihrer Eltern gezielt verlangsamt hat. Gin musterte das Fräulein Miyano weiterhin ausgiebig. Seine Mundwinkel zuckten leicht auf. Er konnte ihr Inneres ergründen, als wäre sie ein aufgeschlagenes Buch in seinen Händen. „Mich beschleicht so das Gefühl, als versuche Pernod deine Forschung bewusst in die Länge zu ziehen, wenn nicht sogar zu sabotieren.“ Shiho konnte es bei diesen Worten nicht vermeiden, dass sich ihre Pupillen schlagartig zusammenzogen. Eine Reaktion die Gins geschärfte Sinne nicht verborgen blieb. „D-Das kann ich mir nicht vorstellen?“, lenkte Shiho gegen die Behauptung des Mannes in Schwarz. „Es ist nur so, dass seine übertriebene Engagiertheit bezüglich deines APTX, mich schon ein wenig stutzig macht.“ Shiho horchte auf. „Schon damals hat er angeblich alles in seiner Macht Stehende getan, um das geforderte Gift für die Organisation zu entwickeln, doch war er jedes Mal kläglich gescheitert. Dann betrittst du eines schönen Tages die Bühne und siehe da…“, Gin schnipste mit den Fingern, „…die Entwicklung nimmt wieder rasant Fahrt auf. Je mehr allerdings Pernod als dein Vormund in eurer Abteilung in deine Arbeit interveniert, desto mehr beschleicht mich das Gefühl, dass er dich und deine Forschung ausbremsen will.“ Gin trat an Shiho heran und platzierte einen Finger unter ihrem Kinn, wodurch er ihren Kopf heben und sie zwingen konnte ihn anzusehen. „Sag mir, weißt du etwas davon, dass Pernod sich gegen den Willen der Organisation stellt?“, hauchte er finster. Shiho blieben die Worte im Halse stecken. Hat Gin etwa bereits Wind davon bekommen, was Pernod getan hat und wollte nun prüfen, ob sie eine Mitwisserin war oder nicht? Was die rotblonde Frau aber noch mehr beschäftigte, war Gins Behauptung, Pernod würde auch ihre Arbeit zu sabotieren versuchen. Sie brauchte aber doch das Gift, um ein Druckmittel für sich und Akemi zu erwirken. Kam sie vielleicht deswegen nicht weiter? War Pernod möglicherweise dafür verantwortlich? Würde der engste Freund ihrer Eltern die Freiheit ihrer beider Kinder opfern, nur um zu verhindern, dass das Gift jemals fertiggestellt werden würde? Würde er wirklich so weit gehen, nur weil sie nicht mit seiner Meinung übereinstimmte, alles stillschweigend zu ertragen? „I-Ich glaube nicht daran, dass er so etwas tun würde.“, log Shiho Gin eiskalt ins Gesicht. Ihre Augen waren starr und leer. Sie hatte sich ihre Maske aus Emotionslosigkeit aufgesetzt und hoffte ihr Gegenüber würde ihr ihre Aussage somit abkaufen. Innerlich bebte aber die junge Frau regelrecht vor Anspannung. Gin biss nachdenklich die Zähne aufeinander. „Nichts desto trotz werde ich die Sache im Augen behalten.“, beharrte er, beließ es aber gleichzeitig fürs erste auch dabei. Er setzte wieder einen gelassenen Blick auf und rang sich zu einem schmalen Lächeln. „Kann ich davon ausgehen, dass mit mehr Mitteln und Personal, wir den Fortschritt des Giftes schneller vorantreiben könnten?“ „J-Ja, das wäre denkbar.“, bestätigte Shiho, alles in ihrer Macht Stehende tuend, Gins Fokus von Pernod abzulenken. Ob an Gins Anschuldigung wirklich etwas dran war, dass würde sie dem Forschungsleiter schon selbst fragen, sobald sie wieder zurück wäre. „Nur glaube ich kaum, dass ich in meiner Position ein Team aus Wissenschaftlern leiten könnte.“, ergänzte Shiho. „Einige von ihnen sind schon seit vielen Jahren für die Organisation tätig und wollen sich bestimmt nicht von einem Grünschnabel Anweisungen geben lassen und erst recht nicht von einer Frau.“ Gin schmunzelte belustigt, was man gewiss nicht häufig sah. „Ich gebe zu, wir Männer neigen zu solchen Verhaltensweisen. Sie werden sich jedoch fügen, wenn man ihnen die nötige Autorität gegenüberstellt und diese den erforderlichen Rückhalt von oben genießt.“ „Ich hoffe sie finden jemanden, der diese Position übernehmen kann.“, entgegnete Shiho. >Oh das habe ich bereits<, dachte sich Gin mit einem vielsagenden Blick. „Überlasse das mir. Ich werde alles Erforderliche in die Wege leiten.“, war seine Antwort. Er sah auf seine Armbanduhr, wandte sich von Shiho ab und ging auf den Ausgang der Schießanlage zu. „Lassen sie mich sie jetzt zurück in ihr Labor begleiten, Miss Miyano.“, sprach er in einem unheilvollen Tonfall, ehe er mit einem kraftvollen Schwung die Tür aufstieß. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)