Eternity II - Die Rückkehr des Rächers von Purple_Moon (Auch tot noch gefährlich...) ================================================================================ Kapitel 10: Alles nur unverschämte Beschuldigungen? --------------------------------------------------- Eternity II Kapitel 10: Alles nur unverschämte Beschuldigungen? Irgendwie sahen heute alle Drachen und Draconer so aus, als hätten sie schlecht geschlafen. Einige beschwerten sich nur darüber, dass sie aus irgendeinem Grund kein Auge zugetan hatten, andere erzählten ganz konkret, dass sie von Folter geträumt hatten. Letztere waren meist Seelenleser oder Traumwandler. Auf jeden Fall hatte es niemanden ganz kalt gelassen, und wenn es nur daran lag, dass der Zimmergenosse sich herumgewälzt hatte. Anhand des Inhalts der Träume, und da so viele dasselbe geträumt hatten, vermuteten die ersten bald einen Zusammenhang mit Shisei. Manch einer konnte berichten, dass ihm im Traum jemand die Augen ausstechen oder die Zunge herausschneiden wollte. Einige wären sogar beinahe entmannt worden. Erstaunlicherweise hatten diese Episode auch viele Frauen geträumt. Aber jeder war rechtzeitig aufgewacht, um das Grauen erspart zu bekommen. "Ich habe vor ein paar Tagen auch davon geträumt..." murmelte Hibashi und fasste sich stirnrunzelnd an den Kopf. "Sehr seltsam... Gewiss ist das ein Omen." "Ein böses Omen," stimmte Kyuunan, der Älteste der Seelenleser, zu. "Nicht einmal seit diesem unglücklichen Vorfall wurde so viel davon geträumt." Er ging weiter zu seinem Platz am Tisch der Ältesten. Zu Valerians Überraschung saß an dem Tisch bereits Sensui. Nun ja, der Schwimmer sah eben nur jung aus. Er trug die gleichen Sachen, die der Prinz bisher nur an einer Frau gesehen hatte. Dann sah er zum ersten Mal einen Lichtsänger. Die blonde Frau hatte ein hellgelbes Höschen an und darüber nur eine Weste, die jedoch bis zu den Knien reichte und auf diese Art fast wie ein Kleid wirkte. Nur dass sie aus einem Stoff bestand, der nicht viel dicker war als der des Seelenlesergewandes, so dass es sich kaum lohnte. Die Weste war auf Brusthöhe mit einem feinen Band zugebunden und über und über mit kleinen, glitzernden Sonnensteinen besetzt. Ein zierliches goldenes Diadem, das ebenfalls rundherum diese Steine zeigte, und ein Fußkettchen daraus waren ansonsten ihr einziger Schmuck. Schuhe trug sie keine. Der Vertreter der Donnerflügel war offensichtlich ein Draconer, denn er war ein Greis. Aber er hatte genau wie Hibashi keinen Bart. Valerian vermutete langsam, dass Drachen keinen bekamen. Er hatte noch nie gesehen, dass Eikyuu sich rasierte oder am Morgen Stoppeln im Gesicht hatte. Hatte bei Claudius das viele Gold wie eine persönliche Macke gewirkt, so stellte sich jetzt heraus, dass dies auf die ganze Art zutraf. Sie trugen goldene Ringe, in die Topase eingefasst waren, knielange Hosen aus goldbraunem Leder mit einem Gürtel mit Goldschnallen, die einen Blitz als Symbol dieser Rasse darstellten. Die Sandalen waren aus Leder, jedoch mit goldenen Ornamenten in Form des Blitzes verziert. //"Die Donnerflügel sehen fast aus, als ob sie in den Krieg ziehen! Dieser goldene Kopfschmuck mit den Hörnern... wie ein Helm. Wundert mich, dass sie keinen Panzer tragen, sondern nur dieses goldfarbene Seidenhemdchen."// bemerkte Valerian telepatisch. //"Überhaupt... immer, wenn es Ärger gibt, scheinen sie dabei zu sein. Bei Claudius habe ich das ja noch fast verstanden, er wollte unsterblich werden, weil es keinen unsterblichen Donnerflügel mehr gibt... und aus Gier wahrscheinlich. Aber warum die anderen?"// //"Shisei erinnert sich, dass ein Donnerflügel bei der Zerstörung seines Dorfes dabei war, weißt du noch? Noctivagus hat uns das erzählt. Vielleicht wollten sie Rache, weil Shitai ihren letzten Unsterblichen getötet hat,"// überlegte Eikyuu. //"Aber vorher hat dieser doch einen Ältesten der Rächer ermordet,"// wandte Valerian ein. Eikyuu nickte nachdenklich. Er beobachtete den Windsegler in seiner kurzen, bläulichen Tunika, wie er sich neben den Donnerflügel setzte. Diese Art bevorzugte silbernen Schmuck mit Saphiren. An seiner anderen Seite saß die Älteste der Eisfänge. Der tiefe V-Ausschnitt ihres Obergewandes aus weißer Seide glitzerte mit hellblauem Aquamarin. Als Schmuck trug sie einen Aquamarinanhänger um den Hals und eine silberne Krone, die aus Eiszapfen zu bestehen schien, deren Spitzen nach oben zeigten. An der Stirnseite war natürlich ein weiterer Edelstein eingefasst. Der Nachtgänger war ein großer, magerer Mann. Eikyuu und Valerian bemerkten ihn gleichzeitig. Er gab sich freundlich, doch sein Lächeln erreichte seine Augen nicht. Die Onyxe, die er trug, waren nicht eingefasst, sondern zu einer Halskette und einem Armband aufgefädelt. Sein ärmelloses Oberteil aus schwarzer Seide ließ den Bauch frei, dazu trug er einen engen, knöchellangen Rock aus dem gleichen Material und lederne Halbschuhe. Valerian hatte noch nie einen Mann gesehen, dem ein Rock so ein mystisches Aussehen verlieh. Die schwarzblauen Haare hatte dieser Mann natürlich offen, nur gebändigt von einer Spange über jedem Ohr. "Das ist Arcanus. Soweit ich ihn kenne, ist er ganz in Ordnung," flüsterte Eikyuu seinem Kariat zu. "Er lächelt nicht richtig," entgegnete Valerian. "Meinst du, er könnte der von der Höhle sein? Die Haarfarbe käme hin... auch wenn er vielleicht zu dürre ist." Doch der Seelenleser lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen anderen Nachtgänger, der etwas kleiner, dafür kräftiger war, sonst aber fast genauso aussah. "Sein Sohn, Noctifer." Noctifer sprach kurz mit seinem Vater und begab sich dann zu seinem Tisch. Auf dem Weg dorthin unterhielt er sich mit einem Steinbrecher, erkennbar an der rustikalen, lehmbraunen Lederkleidung. Ihre Betrachtungen wurden unterbrochen, als Arcanus aufstand, die Arme ausstreckte und um Ruhe bat. Alle anderen Vertreter der Clans saßen an seinem Tisch, die restlichen Besucher bei ihren Familien. Der düstere Mann hatte heute den Vorsitz. "Willkommen, Freunde!" begrüßte er die Menge. "Ich bin Arcanus von den Nachtgängern, wie die meisten von euch wissen werden. Bevor ich diese Veranstaltung offiziell eröffne, möchte ich diejenigen von euch, die sich Magier nennen, darauf hinweisen, dass ihre Kunst hier nicht erwünscht ist. Natürlich wird kein Magier deswegen diskriminiert. Der unterste Raum im Turm der Rächer ist wie immer offen für jene, die für die Ermordeten beten wollen. Und betet für Shisei, möge seine Seele Ruhe finden." Er wandte sich dem verschleierten Stuhl zwischen dem Flammentänzer und der Lichtsängerin zu. Schweigen machte sich breit. Nach und nach standen die Anwesenden von ihren Plätzen auf und legten sich die linke Hand in einer Geste der Trauer schräg über die rechte Brust. "Lasst uns für ein paar Augenblicke derer gedenken, die durch einen Fehlgeleiteten aus ihrer eigenen Mitte ausgelöscht wurden, brutal dahingerafft von..." Ein ohrenbetäubendes Klirren schnitt Arcanus das Wort ab. Es wiederholte sich zwölf Mal, ehe an den beiden gegenüberliegenden Seiten des Raumes alle deckenhohen Fenster zersprungen waren. Bunte Glassplitter flogen durch die Luft. Valerian streckte instinktiv die Arme seitlich von sich und errichtete einen Schutzschild über den Anwesenden. Ein wilder Wind fegte durch den Saal und schleuderte den schwarzen Schleier und die roten Bänder vom Stuhl des Rächerältesten. Niemand wollte mit einem der Teile in Berührung kommen. Panik brach aus, während Männer und Frauen dem Stoff auswichen, der immer wieder herumgewirbelt wurde. Nur Valerian bewegte sich nicht vom Fleck, während er seine Magie aufrecht erhielt. Eikyuu stand ruhig neben ihm, doch für alle anderen musste es aussehen, als sei er starr vor Schreck, vor allem, weil eines der roten Bänder am Hals seines Kariat hängen blieb und sich ein Stück des Schleierstoffes um dessen rechten Arm wickelte. Entsetzt versteckten sich Drachen und Draconer unter den Tischen. Sie hatten den Eindruck, einem langen Sturm ausgesetzt zu sein, doch tatsächlich dauerte alles nur wenige Sekunden. So schnell, wie das Chaos begonnen hatte, kehrte auch wieder Ruhe ein, als der Wind auf einmal verebbte. Eikyuu stand immer noch an seinem Platz. Er nahm Valerian den Schleier und das Band ab, während dieser seine Arme sinken ließ, und legte beides in aller Seelenruhe ordentlich zusammen. "Sieht so aus, als wäre jemand nicht ganz einverstanden mit deinen Worten, Ehrwürdiger," sagte er in die Stille hinein. "Ich wäre auch ungehalten, wenn mich jemand fast zweihundertfünfzig Jahre lang in einer Höhle an der Küste von Athrya gefangen gehalten, misshandelt und missbraucht hätte!" Seine Stimme nahm zuletzt an Lautstärke zu. "Sagt mir doch, warum wurde Shisei nicht zu Tode gefoltert, sondern zum Vergnügen seiner Peiniger bis vor wenigen Tagen am Leben erhalten und gequält?" Da niemand seine Sprache wieder zu finden schien, rappelte sich Sensui unter der Tischdecke hervor und sah ihn mit gespieltem Erstaunen an. "Wovon sprichst du, Seelenleser?" Eikyuu war dankbar für das Stichwort. "Davon, dass ich durch einen Zufall dort vorbeikam und Shiseis Gedanken empfing, worauf ich zusammen mit meinem Kariat eine Höhle entdeckte, in der ein zerschundener Mann wie ein Tier gehalten, gefoltert und regelmäßig vergewaltigt wurde!" Die Erwähnung der Vergewaltigungen löste allgemeine Entrüstung aus, selbst wenn sie einen Verbrecher betrafen. "Zuerst wurden wir allerdings von zwei Drachen angegriffen, die wir aufgescheucht hatten," fügte Valerian hinzu, wohlweislich niemanden im Speziellen beschuldigend. "Shisei bettelte um den Tod," fuhr Eikyuu fort. "Wir haben ihm seinen Wunsch gewährt. Doch ich sah seine Erinnerungen und weiß, dass er die Verbrechen nicht begangen hat, derer er angeklagt wurde. Er bat uns, für ihn Rache zu nehmen. Und das werden wir tun. Wir werden jene finden und richten, die ihm das angetan haben, und wir werden herausfinden, wer das Dorf wirklich auf dem Gewissen hat!" Jemand klatschte Beifall. Eikyuu sah sich um und erwartete fast, dass es Noctifer oder einer der Eisfänge wäre, doch es handelte sich um Kyuunan, seinen eigenen Clanältesten. Der Mann blickte todernst, sein grauviolettes Haar ließ ihn noch strenger aussehen. "Tolle Vorstellung, Junge. Aber ich kann nicht dulden, dass du uns mit solchen Geschichten und wilden Anschuldigungen in Verruf bringst. Noch dazu, dass du mit deiner Menschenmagie den Palast verwüstest!" "Das war nicht ich und du weißt es! Aber wenn Valerian nicht gewesen wäre, hätte es viel schlimmer kommen können!" Die Scherben türmten sich da, wo sie an dem Schutzfeld herabgerutscht waren. "Shisei ist vor zweihundertsechsundvierzig Jahren gemäß seinem Urteil an den Folgen seiner Folterungen gestorben," beharrte Kyuunan. "Woher willst du das wissen? Die Seelenleser wurden von der Verhandlung und der Hinrichtung ferngehalten." Eikyuus Blick wich dem des Älteren nicht aus. "Ich wage zu bezweifeln, dass jemand seine Leiche gesehen hat." "Das wird daran liegen, dass sein Leichnam sofort verbrannt wurde," warf Arcanus ein. "Ich war dabei und kann bezeugen, dass es so war." "Hast du seine Leiche gesehen oder nur eine mit Tüchern umwickelte Gestalt, Ehrwürdiger?" hakte der silberäugige Drache nach. "Ich habe Shisei gesehen, als er noch lebte, vor wenigen Tagen," mischte sich Kyuujo ein. "Mein Sohn brachte ihn zu mir und bat mich um Hilfe. Aber der Mann war zu sehr geschwächt." Kyuujo beschrieb genau, wie Shisei ausgesehen hatte. Er machte es so gut, dass manche in den Garten eilten, um sich zu übergeben. Durch die zertrümmerten Fenster war der Weg ja nicht weit. "Gnädige Himmelsmutter!" stöhnte Hibashi. "So wie er es beschreibt, scheint er wirklich Shisei gesehen zu haben!" "Oder er hat die Beschreibung von jemandem, der damals dabei war," widersprach Kyuunan. "Zweifellos nimmt er seinen Sohn in Schutz, was ehrenhaft, aber hier unangebracht ist. Eikyuu, bleibst du bei deinen unsinnigen Anschuldigungen?" "Ich will nur die Wahrheit ans Licht bringen und die wahren Verbrecher bestrafen," teilte der Jüngere ihm mit. Der andere Seelenleser schnaubte verächtlich. "Wenn's weiter nichts ist. Eikyuu, du warst schon immer ein Wichtigtuer. Lernst die Menschenmagie, wirst der Hüter des Schokoladenkelches... wenn ich mir deinen Kariat so ansehe, leuchtet mir jetzt auch ein, wieso. Er ist doch unsterblich, nicht?" "Das haben wir nicht dem Kelch zu verdanken," stellte Valerian klar. "Das kann ich bestätigen, ich habe damals Eikyuus Wunden versorgt," bemerkte Taika. "Ich wüsste nicht, was das mit dem Thema zu tun hat! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du willst davon ablenken!" zischte Eikyuu, allmählich genervt. Ein leises Raunen wurde vernehmbar. Hatte der vorlaute Magier eben wirklich den Ältesten seines Clans indirekt beschuldigt, ein Verbrechen zu verschleiern? "Die Träume von heute Nacht müssen deinen Verstand vernebelt haben," stellte die Eisfangälteste fest. "Denn wenn das nicht der Fall ist, muss ich davon ausgehen, dass du die Versammlung mit Absicht störst. In dem Fall bist du wegen Verleumdung und aufrührerischen Verhaltens zu bestrafen! Kyuujo, ich würde vorschlagen, dass du deinen Jungen schnell zur Vernunft bringst!" Kyuujo rührte sich nicht. "Wenn der Mann, den mein Sohn da angeschleppt hat, nicht Shisei war, wer war er dann? Er war auf jeden Fall ein Drache, somit müssen wir uns so oder so fragen, wer dafür verantwortlich ist." "Ich bin seiner Meinung." Sensui blickte in die Runde. "Ich kenne Eikyuu durch die Mutter meiner Tochter Annemone, die eine Magierin ist. Er hat es nicht nötig, sich durch Geschichten zu profilieren. Warum lasst ihr ihn nicht einfach seine Nachforschungen anstellen, wenn ihr ihm schon nicht helfen wollt?" "Es gibt keinerlei Beweise," widersprach Arcanus. "Oder habt ihr die Leiche des besagten Mannes noch? Gewiss habt ihr den Leichnam bereits verbrannt." Eikyuu nickte. "Natürlich. Er starb bereits vor einer Woche." "Was ist mit der Höhle, in der ihr ihn angeblich gefunden habt?" fragte der Nachtgänger weiter. "Ich habe sie zum Einsturz gebracht." "So, dann hast du also nichts als dein Wort und das deines Vaters, dass es sich so zugetragen hat. Ich schlage vor, dass wir dich auspeitschen und für den Rest des Treffens einsperren, damit du wieder zur Vernunft kommst!" Valerian wollte einschreiten, doch Eikyuu hielt ihn zurück. //"Warte..."// "Ich stimme dem zu, als Oberhaupt der Seelenleser ist es mir sehr peinlich, dass einer der Meinen sich so aufführt," nickte Kyuunan. "Ganz meiner Meinung," schloss sich die Eisfang an, und natürlich auch, wie konnte es anders sein, der Donnerflügel. "Die Traumwandler sind nicht bereit, die Sache einfach so abzuhaken," ließ sich die Älteste dieser Rasse vernehmen. "Wir haben heute Nacht alle denselben schrecklichen Traum gehabt, und nicht nur wir. So etwas können wir nicht als Zufall abtun." "Oh, bitte, jetzt nicht wieder diese Hellsehernummer," stöhnte der Windsegler. "Ich muss allerdings zugeben, dass mich auch interessiert, warum ich in meinem letzten Traum fast meine Eier verloren hätte." "Die Steinbrecher sind dagegen," verkündete deren Vertreter. "Sprich lieber nicht für uns alle, Großvater," hörte man Brunas Stimme. Einige an ihrem Tisch nickten. Die Schöne blonde Lichtsängerin erhob ihre helle Stimme. "Ich wünsche, dass Licht in diese Sache gebracht wird, und ich denke, mein Clan ist derselben Meinung." "Warum stimmen wir nicht einfach ab," schlug der Flammentänzer vor. "Ich bin dafür, dass die Sache untersucht wird, denn ein oder mehrere Vergewaltiger sollten nicht ungestraft davon kommen, selbst wenn das Opfer ein Verbrecher war. Aber ich finde, jeder sollte seine eigene Meinung vertreten." Die restlichen Ältesten nickten und fingen untereinander zu beratschlagen an. Zustimmendes Gemurmel wurde auch an den anderen Tischen laut, bis Arcanus sich vernehmlich räusperte. "Also gut. Seid ihr damit einverstanden, dass wir per Handzeichen abstimmen? Jeder Clan zählt seine Stimmen aus, dann werden sie zusammengezählt." Er wartete auf eventuelle Gegenmeinungen, und als keine kamen, fragte er hintereinander: "Wer ist dafür, dass Eikyuu den Fall untersuchen darf? Wer ist dagegen, dass der Fall untersucht wird? Und wer enthält sich?" Es enthielten sich eine ganze Menge, alle, die sich auf keine Seite stellen wollten, um sich nicht unbeliebt zu machen, jene, die mit der ganzen Sache nichts zu tun hatten und letztendlich die Gleichgültigen. Aber von denen, die eine Meinung hatten, war eine knappe Mehrheit für Eikyuu, sogar aus den Clans, deren Älteste sich gegen ihn ausgesprochen hatten. Der Seelenleser konnte nicht leugnen, dass er darüber erleichtert war, und es ging seinem Kariat nicht anders. Sie merkten, dass Taika zu ihnen hinüberblickte, vermieden es jedoch, ihm irgendein Zeichen zu geben, damit niemand ihn da hineinzog. "Bin ich froh, dass sie dich nicht auspeitschen und einsperren," seufzte Valerian. "Eingesperrt zu sein wäre in der Tat hinderlich gewesen," murmelte Eikyuu. "Alles klar? Du siehst so besorgt aus." "Schon gut. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass sich mein eigener Ältester gegen mich stellt. Sei von jetzt an sehr vorsichtig, Kariat. Wir haben hier einige Gemüter aufgeheizt." Nach diesem sehr unschönen Anfang wurde das Treffen schließlich für eröffnet erklärt und einige andere Punkte besprochen. Das Frühstück verzögerte sich, bis die Scherben weggeräumt waren, und es wurden Freiwillige gesucht, um neue Scheiben zu gestalten. Da nicht wenige von den Drachen diese Kunst beherrschten, fanden sich schnell ein paar, die sich dafür meldeten. Doch vermutlich würde man sich für die nächsten Tage mit etwas Zugluft abfinden müssen, nicht dass sie allzu kalt war. Arcanus veranlasste, dass der Platz der Rächer erneut mit den schwarzen Schleiern und dem roten Band verhüllt wurde. Allerdings fiel beides andauernd wieder herunter, selbst nachdem er persönlich den Schleierstoff mit Hilfe des Bandes am Stuhl festgeknotet hatte. Eikyuu konnte spüren, wie Shisei sich amüsierte. Und der Junge brauchte das, denn seine Gefühle waren erneut in Aufruhr, nachdem man so ausführlich über ihn diskutiert hatte. Nach dem Frühstück gab es erst einmal eine Pause, ehe weitere Diskussionen auf dem Programm standen. Die Anwesenden nutzten die Zeit, um Verwandte und Freunde zu begrüßen, denen sie am Vortag noch nicht begegnet waren. Und manch einer kam zu Eikyuu und Valerian, um ihnen Unterstützung zuzusichern, darunter Sakyuu und Lorna, Taikas Familie, der gesamte Clan der Traumwandler, viele Lichtsänger und etliche andere. Nicht wenige hatten einen oder mehrere Rächer gekannt und als Freunde angesehen. Die Betreffenden wollten natürlich die Wahrheit wissen. Eikyuu beantwortete ihre Fragen so gut er konnte, ohne etwas über Shiseis Wiedergeburt zu verraten. Währenddessen lernte Valerian Kyuusais und Kyuukis Familien kennen und war im ersten Moment überrascht, dass beide einen Mann und mehrere erwachsene Kinder hatten. Es waren insgesamt vier Frauen und drei Männer, aber er konnte sich nicht merken, wer zu wem gehörte. Bei genauerer Überlegung leuchtete ihm das ein: Eikyuu war der jüngste von Choukyuus Kindern, da war es nicht verwunderlich, wenn seine Schwestern schon Nachwuchs hatten. Eigentlich war es eher erstaunlich, dass es so wenige Drachen gab, wo sie doch unsterblich waren. Selbst die Draconer lebten zwar nicht ewig, aber lange. Aber wenn sie sich gegenseitig umbrachten, war das so merkwürdig vielleicht auch wieder nicht. Noch viele weitere Seelenleser stellten sich Valerian vor, aber er konnte sich unmöglich alle ihre Namen oder Verwandtschaftsbeziehungen merken, zumal sie alle so ähnliche Namen hatten. Er traf noch drei weitere Halbgeschwister mütterlicherseits von Eikyuu, einen richtigen Bruder von ihm und vier andere Kinder von Kyuujo sowie deren jeweilige Kinder und Enkel. Einige waren Draconer und sahen älter aus als ihre älteren Verwandten. Valerian schwirrte der Kopf. Hoffentlich machte das nicht jede Sippe mit ihm! Er war richtig froh, als sich alle wieder setzten, um über ein paar Vorkommnisse zu sprechen, die Valerian eher langweilten, und so ließ er seine Gedanken anderweitig wandern. Wie gerne wollte er den Schlaf der verlorenen Nacht nachholen! Die Gelegenheit bot sich leider erst zwei Stunden später, als eine Pause vor dem Mittagessen gemacht wurde. Valerian und Eikyuu schlenderten mit halb geschlossenen Augen zu ihrem Turmzimmer, zu faul, um sich mit Worten zu unterhalten. Aber es ging ja auch anders, und das war sowieso abhörsicherer. //"Denkst du, dass die Schuldigen aus ihrem Versteck gekrochen kommen werden?"// fragte Valerian. Der Drache war nicht ganz sicher. //"Ich schätze schon, aber es kann auch sein, dass sie nicht hier sind. Oder schon tot. Ich habe mit meiner Gabe ein wenig nachgeholfen und allen suggeriert, dass ich die Wahrheit ans Licht bringen kann, wenn sie sich nicht zeigen und mich aufhalten. Das wird nur die ansprechen, die es betrifft. Aber es war vielleicht zu schwach, bei all den Seelenlesern hier kann ich nicht riskieren, dabei erwischt zu werden. Ich konnte spüren, wie Mutter Kyuunan davon abgehalten hat, mit seiner Gabe die Abstimmung zu beeinflussen. Sie ist sehr mächtig, er leider auch. Er ist ihr Vater, wusstest du das?"// //"Aber... dann ist er ja dein Großvater!"// //"Ja. Und er schämt sich dafür. Weil ich als Mensch geboren wurde, weil meine Mutter mich nicht richtig zur Welt bringen konnte und nun keine Kinder mehr bekommen kann, weil ich die Magie gelernt habe... Ich glaube, er hält mich für einen Unglücksbringer. Naja, hast du ja heute gehört. Die halten alle nicht viel von mir, die Ältesten."// //"Aber viele der Jüngeren sind auf deiner Seite."// //"Ja, Kariat. Doch wir müssen aufpassen. Die Gegenseite wird bestimmt nicht untätig sein. Ein paar von denen, die Shisei gefangen gehalten haben, sind sicherlich hier. Wir müssen bald mit Taika reden, vielleicht hat der Kleine inzwischen ein paar erkannt. Aber das heißt nicht, dass wir auch die erwischen, die das Dorf zerstört haben. Denn wenn wir beweisen, dass Shisei all die Jahre missbraucht wurde, ist damit leider seine eigene Unschuld nicht erwiesen, und die Mörder wiegen sich in Sicherheit."// Valerian und sein Drache erreichten ihr gemeinsames Zimmer. Schon als sie um die Ecke bogen, sahen sie, dass etwas nicht stimmte, denn die Tür war offen. Genau genommen bestand sie nur noch aus Holzsplittern, genau wie der Rest der Inneneinrichtung. Die Matratze und das Bettzeug lagen in Fetzen dazwischen, die Buntglasfenster in Scherben. "Sieht aus, als hätte ich bereits erste Erfolge erzielt," bemerkte Eikyuu sachlich. "Fragt sich nur... wo sollen wir jetzt bloß schlafen?" *** Fortsetzung folgt. Namensbedeutung Kyuunan: Japanisch. "Unerwartete Katastrophe", kann aber interessanterweise, mit einem anderen Zeichen geschrieben, auch "Rettung" heißen. Im Japanischen spricht man halt viele Sachen gleich aus... Welches ist wohl die Schreibweise bei unserem Kyuunan?! Noctifer: Lateinisch "Abendstern". Arcanus: Lateinisch. Hab vergessen, nachzusehen ^^°, muss aber was mit Geheimnis zu tun haben. Hab mein Lateinwörterbuch nicht in Trier, deshalb gehe ich immer in eine Buchhandlung und schaue nach. *g* In der Unibib haben wir einen Stowasser (Lateinwörterbuch) von 1917! Ich muss mal rausfinden, wo. Outtakes Zu 9 sind mir keine eingefallen... vielleicht war es ein zu ernstes Kapitel, aber ich bin im Moment auch etwas unkreativ. Hat denn sonst keiner ne Idee? *** Die Outtakes wurden inspiriert von Jacky Chan, der immer welche am Ende seiner Filme bringt. Wenn euch welche zu dieser Episode einfallen, schickt sie mir bitte per ENS. Die lustigsten erscheinen am Ende der nächsten Folge, natürlich mit dem Namen des Erfinders. Danke! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)