Eternity II - Die Rückkehr des Rächers von Purple_Moon (Auch tot noch gefährlich...) ================================================================================ Kapitel 4: Drachengeist ----------------------- Hallo! Gute Nachrichten! Ich habe Eternity II fix und fertig und werde denmächst wohl wöchentlich aktualisieren. Kapitel 5: Drachengeist Während Noctivagus seinen Urgroßvater zum Festland zurückbrachte und Shisei sich in die obere Etage von Eikyuus Baumhaus zurückzog, informierten Kyuujo, Eikyuu und Valerian den restlichen Elementarkreis. Auch Sensui, der Vater von Annemone, wurde in das Geheimnis eingeweiht, weil er durch seine zufällige Anwesenheit mitbekommen hatte, dass etwas im Gange war. Valerian, der noch nie einen männlichen, vollblütigen und erwachsenen Schwimmer gesehen hatte, starrte ihn eine Minute lang fasziniert an. Der Mann hatte wasserblaue Augen und grünlich-blondes Haar, das wellig auf seine Schultern fiel, und statt normalen Ohren etwas, das aussah wie Flossen. Seine Haut war extrem blass, weil er selten in die Sonne kam, und er war sehr schmal für seine Größe. Als Kleidung hatte er sich lediglich ein Tuch umgebunden, um seine Blöße angemessen zu verdecken. Von allen Drachen waren die Schwimmer diejenigen, die sich am wenigsten um das scherten, was die Menschen Anstand nannten. Sensui hätte kein Problem damit gehabt, ganz nackt zwischen den anderen zu wandeln. Die Schwimmhäute zwischen seinen Fingern verschwanden, wenn er eine Weile an Land war, wie Valerian es von Annemone kannte, aber das Wesen war auch so noch erstaunlich genug. Es musste schwer für einen Schwimmer sein, unter Menschen zu leben, da seine Gestalt ihn immer verriet. Außerdem konnten sie nur eine begrenzte Zeit ohne Wasser aushalten. Als Valerian endlich merkte, dass er dastand und glotzte, als hätte er noch nie einen verwandelten Drachen gesehen, entschuldigte er sich verlegen bei Sensui und versuchte, dem Gespräch wieder zu folgen. Da alle mitbekommen hatten, was zwischen Sensui und Valerian ablief, diskutierten sie kurz über den Plan, den angehenden Allmeister in den Drachenbannen zu unterrichten, und der Schwimmer erklärte sich bereit, dabei zu helfen. Danach breitete sich für eine Weile Schweigen aus, da alle über das nachdachten, was geschehen war und was noch geschehen musste. Später am Tag, als Noctivagus bereits zurück war, verließ Shisei mit Eikyuus Hilfe das Baumhaus, um die anderen kennen zu lernen. Er ließ sich durch nichts anmerken, was er mit Noctivagus vereinbart hatte, nur der Schattenmagier war auffällig still, obwohl er auch sonst nicht viel sprach. Shisei trug nach wie vor eine Robe von Eikyuu, und Kyuujo hatte einen Verband um seine leeren Augenhöhlen gelegt, da der Entstellte den anderen den Anblick ersparen wollte. Sein verfilztes Haar war so gut wie möglich von allen Knoten befreit worden. Doch nichts konnte darüber hinwegtäuschen, wie mager der Mann war, und er schreckte zusammen, wenn sich ihm jemand zu leise näherte. Eikyuu konnte es kaum mit ansehen. Weil er Teile von Shiseis Erinnerungen kannte, wusste er um die Angst, dass jedes Geräusch einen Besucher ankündigen konnte, der gekommen war, um ihn zu quälen. Auch Eikyuu hatte in seinem Leben schon mehr als eine Folterkammer von innen gesehen. Aber niemals hatte man ihn länger als ein paar wenige Tage festhalten können. Auch konnte er sich glücklich schätzen, eine ungewöhnlich hohe Schmerzgrenze zu haben, so dass körperliche Folter ihn nicht so leicht brechen konnte. Das traf nicht auf alle Drachen zu. Gegen Mittag entschuldigte er sich und suchte den Strand auf, um den fremden Erinnerungsfetzen zu entgehen, aber es gelang ihm nicht wirklich. Valerian folgte ihm und legte ihm tröstend einen Arm um die Schultern. "Du darfst dich nicht in seinen Gedanken verlieren," warnte der Schwarzhaarige seinen Meister. Der Seelenleser lehnte sich schutzsuchend gegen ihn. "Ich weiß. Aber ich habe diese Erinnerungen jetzt nun einmal. In Shiseis Gegenwart kann ich sie nur schwer zurückdrängen. Es ist, als wären meine schlimmsten Alpträume Realität geworden..." Eikyuu setzte sich seufzend, als ob das Stehen ihm zu schwer fiele. Valerian wich nicht von seiner Seite, und für einen Moment hielt er ihn einfach nur an sich gedrückt. Er hatte seinem Geliebten schon mehrmals geholfen, seine Verletzungen zu heilen, und Eikyuu hatte das immer sehr leicht genommen. Aber jahrelang seinen Peinigern hilflos ausgeliefert zu sein, während die Welt einen für tot hielt, war etwas ganz anderes. "Drachen betrachten es als schlimmes Verbrechen, jemanden zu vergewaltigen," sagte Eikyuu in das entstandene Schweigen hinein. "Jeder Drache, der ein bisschen Ehre in sich hat, würde so etwas nicht tun, auch wenn er sonst kein Problem damit hätte, seine Feinde zu foltern oder zu töten. Mit wem man sich paart, ist die letzte Entscheidung, die ein Drache für sich beansprucht und die ein Drache seinem Opfer gewähren würde. Weil nämlich bei der Paarung theoretisch ein Leben gezeugt werden kann, und das gegen den Willen eines Weibchens zu tun, ist für uns auf einer Stufe mit dem gewaltsamen Auslöschen eines Lebens. Viele betrachten es sogar als noch schlimmer, weil viele Todesarten, selbst Morde, nicht so erniedrigend sind wie eine Vergewaltigung, bei der das Opfer mit der Schande weiterleben muss." "Ich habe in den Büchern darüber gelesen. Ein Drache würde sich nicht umbringen, wenn ihm das angetan wurde, nicht wahr?" "Nein, niemals, denn wir betrachten auch Selbstmord als Verbrechen. Selbstmörder werden als feige und unehrenhaft angesehen, und man sagt, dass ihre Seelen keine Erlösung finden. Es ist etwas anderes, wenn man einen Kranken oder Verletzten von seinem Leiden erlöst. Wenn ich Shisei gestern getötet hätte, hätte das jeder verstanden, denn er war in einem würdelosen, elenden Zustand. Ein Drache leidet sehr darunter, wenn er entstellt und vergewaltigt wurde und unter Leuten sein muss, die es wissen. Wenn einer von uns im Sterben liegt und nicht mehr gerettet werden kann, gilt es als gnädig, ihm einen würdevollen Tod zu gewähren und ihn nicht krank und hilfsbedürftig auf das Ende warten zu lassen." Valerian bekam es mit der Angst. "Kyuu... wir werden uns mit den Kerlen abgeben müssen, die das getan haben. Wenn sie nicht vor diesen Dingen zurückschrecken, traue ich ihnen alles zu..." Er zog seinen Geliebten fester in seine Arme. Zwar sprach er seine Ängste nicht aus, aber der Drache wusste auch so, was er dachte. Eikyuu erwiderte die Umarmung. "Du wirst mich nicht verlieren, Val. Auch nicht in dem unwahrscheinlichen Fall, dass mich jemand schändet. Weil ich weiß, dass du mich trotzdem lieben würdest. Und dafür danke ich dir." Er konnte Valerians Erleichterung deutlich spüren. Natürlich war es unwahrscheinlich, dass ein Magier wie er solch einem Verbrechen zum Opfer fiel. Aber es war nicht unmöglich. "Ich habe Angst," gab Eikyuu zu. "Ich habe es dir nie gesagt, Val, aber damals, als mich Claudius und Gladys in ihrer Gewalt hatten... Naja, ich wusste, dass Varenor mir nichts tun konnte, aber Claudius war begierig, mir seine Macht zu demonstrieren. Er hatte Skrupel, aber wenn sein Plan aufgegangen wäre, hätte er die vermutlich schon bald überwunden. Und vor seinen menschlichen Gefolgsleuten hat mich nur deren Furcht vor meinem giftigen Blut geschützt. Ich kann mich gut verstellen, aber tief in meinem Herzen hatte ich Panik, dass etwas schief gehen könnte und ich als Spielzeug meiner Feinde enden würde. Und jetzt habe ich wieder Angst, weil ich weiß, dass wir es mit Gegnern zu tun bekommen werden, die diese Skrupel nicht haben. Meine Seelenlesergabe kann mich schützen, aber nicht immer." "Sie haben das mit Shisei gemacht, weil er als Verbrecher zum Tode verurteilt war und alle dachten, er sei tot. Denkst du, dass sie auch vor dir nicht zurückschrecken würden?" hakte Valerian nach. "Selbst wenn sie nicht wussten, dass er unschuldig ist, war es ein Verbrechen, ihm das anzutun. Es wäre möglich, dass die wahren Täter und jene, die Shisei misshandelten, nichts miteinander zu tun haben. Ich werde die Wahrheit herausfinden. Mit dir an meiner Seite." "Natürlich." "Ich fürchte allerdings wirklich, dass wir uns dadurch zu Zielscheiben machen. Wir wissen nicht, wie weit diese Sache geht, also müssen wir gut aufpassen. Am liebsten würde ich dich zu Hause lassen..." "Vergiss es! Ich lasse dich nicht allein. Kyuu, ich hab' dich noch nie so fertig erlebt. Wenn ich irgendetwas tun kann..." Eikyuu seufzte schwer und schmiegte sich vorerst einfach bequem an ihn. "Darauf komme ich gewiss zurück..." *** Auf der Insel war Shisei an diesem Tag das Hauptgesprächsthema, und natürlich seine geplante Wiedergeburt. Alle überlegten, ob sie eine geeignete Frau kannten, doch keine zwölf Stunden später war Shisei tot. Man fand ihn spät abends auf einer Lichtung, mit dem Kopf auf Elizas Schoß. Auf seinem Gesicht war ein schwaches Lächeln der Erlösung. Neben Eliza stand ein leerer Tonkelch, den sie selbst gemacht hatte. "Er sagte mir, ich müsse die Todesart wählen und ausführen," flüsterte sie. "Das Gift, das ich ihm gab, wirkte rasch und ließ ihn ohne Schmerzen einschlafen." "Das ist gut. Schmerzen hatte er genug," sagte Eikyuu. "Liza... Danke." "Man tut, was man kann," lächelte sie. Natürlich war es nicht einfach irgendetwas, ein Kind zu gebären, noch dazu einen Drachen. Einen Volldrachen. Doch Eliza nahm es leicht. "Ich bin eine Frau, also kann ich es tun. Ich wollte ihm helfen. Und außerdem... das habe ich nie jemandem gesagt... kann ich keine Kinder bekommen. Wir haben beide etwas von diesem Handel. Auch wenn Shisei nicht mein Blut in sich tragen wird." Die Gruppe stand betreten um sie herum. "Wir hatten ja keine Ahnung..." murmelte Patrizia. Die Erdmagierin zuckte die Achseln. "Was soll's. Dafür werde ich ein ganz besonderes Kind haben." Shiseis Körper wurde noch in der Nacht verbrannt und seine Asche über dem Meer ausgestreut. Alle Spuren, dass der letzte Rächer je hier gewesen war, gab es somit nicht mehr. Die Freunde trauerten nicht lange, schließlich war Shisei nicht wirklich tot. Und es durfte kein Außenstehender etwas merken. Elizas Schwangerschaft würde kaum Aufsehen erregen. Erstens verbrachte sie kaum Zeit auf dem Festland, somit hatte sie fast ausschließlich mit dem Elementarkreis Kontakt. Zweitens wusste niemand von ihrer Unfruchtbarkeit. Drittens würde das Kind erst nach einer längeren Zeitspanne als neun Monaten zur Welt kommen. Alle würden glauben, dass die Zeugung zu spät stattgefunden hatte, als dass es sich bei dem Kind um den Rächer handeln konnte. Es gab ein anderes Problem: Das Drachentreffen. Keiner der anderen Drachen durfte es erfahren. Daher beschloss Nimburia, nicht mit Annemone an dem Drachentreffen teilzunehmen, damit nicht etwa ein Seelenleser die Gedanken des Kindes las. Die Kleine war noch nicht ausreichend geübt darin, ihre Gedanken abzuschirmen. Valerian dachte nun doch darüber nach, auch zu Hause zu bleiben. Doch Eikyuu meinte, dass er gut genug war. "Nur ich kann dich so leicht durchschauen, weil du mir gegenüber keine Vorsicht walten lässt," grinste der Magier. "Hast du dir überlegt, was du zu dem Treffen anziehen willst? Du kannst da nicht in deiner Magierkluft auftreten." "Gehe ich recht in der Annahme, das menschliche Magie da verboten ist, obwohl viele Drachen und Draconer auch Magier sind?" Eikyuu nickte. "Komm, ich fliege mit dir zum Festland und lasse dir was Angemessenes schneidern. Wenn wir gleich losfliegen, sind wir nach Sonnenaufgang die Ersten in Santiras Laden." Valerian nahm die Gelegenheit, mit Eikyuu zu fliegen, gerne wahr. Er hoffte, dass dieses Mal nicht wieder etwas dazwischen kam. Während der Allmeister und sein Schüler sich auf den Weg machten, nahm Noctivagus Eliza beiseite. "Liza, ich habe Shisei geschworen, für die Sünden meines Vorfahren an ihm zu büßen. Ich werde für ihn da sein, und wenn es mein Leben kostet. Wenn es also irgendetwas gibt, womit ich dir helfen kann, lass es mich wissen." Die Magierin nickte und legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. "Bevor er das Gift trank, erzählte er mir von eurer Unterhaltung. Ich glaube, er weiß sehr zu schätzen, was du für ihn tust." "Ich bin mir noch gar nicht so sicher, was das eigentlich ist." Sie hob eine Augenbraue, fragte aber nicht nach. Der Schattenmagier begab sich zu seinem Wohnzelt im Wald, einer stabilen Konstruktion für den langfristigen Gebrauch. Er bewohnte es zusammen mit Kaji, doch der Junge hielt sich von ihm fern, um ihm Zeit zum Nachdenken zu lassen. Alle wussten, dass die Sache Noctivagus mindestens genauso mitgenommen hatte wie Eikyuu. Hibashi war wieder auf dem Festland und erinnerte sich an nichts, dafür hatte Noctivagus sein Gespräch mit dem Rächer noch umso besser vor Augen. Zwar hatte er selbst noch nicht gelebt, als das Dorf der Rächer zerstört und später Shisei dafür verurteilt worden war, aber er kannte viele, die beim Prozess dabei gewesen waren. Als er seinen Urgroßvater zurückgebracht hatte, waren ihm erste Gerüchte über die eingestürzte Höhle zu Ohren gekommen. Offenbar konnte sich das keiner erklären, auch hatte sich nie jemand gefragt, ob eigentlich etwas in der Höhle war. Vielleicht hatte ein Verschleierungszauber jeden Interessierten davon abgehalten. Noctivagus seufzte und ließ sich auf sein Schlaflager sinken. Er blickte sich nervös um, kam sich irgendwie beobachtet vor. Aber er war allein, außerdem war auf der ganzen Insel niemand außer dem Elementarkreis... "Noctivagus." Er schreckte hoch, als eine geisterhafte, kindliche Stimme seinen Namen sprach. Mitten im Raum flackerte ein seltsames Licht auf und nahm die durchscheinende Gestalt eines zehn bis zwölfjährigen Kindes in einem einfachen, bräunlichen Wollgewand an. Der Junge hatte rückenlanges, schiefergraues Haar, das nach Tradition der Rächer erst in seinem fünfzehnten Lebensjahr erstmals geschnitten werden würde. Eine Tradition, die sehr unzeremoniell gebrochen worden war, nachdem man ihn ins Gefängnis geworfen hatte. "Starr mich nicht so an, Noctivagus," lächelte Shisei. "Hast du noch nie einen Geist gesehen? Ah, natürlich nicht, du bist kein Rächer." Er betrachtete den Draconer eingehend. "Auf dir liegt ein Schattenzauber. Warum versteckst du deine Schönheit?" Noctivagus fing sich allmählich wieder. "Oh. Ich bin das schon so gewohnt, dass ich den Zauber gar nicht mehr ablege. Er lässt mich mysteriöser erscheinen und verbirgt vor den Menschen, dass ich ein Draconer bin." Der Magier erhob sich, nur um sich auf die Knie fallen zu lassen. "Das also habt Ihr damit gemeint, dass ich Euren Geist hüten soll." "Es ist erfrischend, dass mich jemand sieht und dass ich einmal nicht meinen eigenen entstellten Körper sehe. Immer, wenn ich bewusstlos war, konnte ich sehen, was sie mir angetan hatten. Meine eigene unsterbliche Hülle widerte mich an, doch sie töteten mich nicht. Ich konnte es nicht selbst tun. Rächer betrachten Selbstmord als Sünde, mehr noch als andere Drachen. Und vielleicht war es Schicksal. Ich wurde unschuldig verurteilt für die Auslöschung meiner Art, doch ich werde derjenige sein, der sie zurückbringt." "Das werdet Ihr, bei meinem Drachenblut." "Noctivagus, hör damit auf." "Was? Womit?" "Vor mir zu knien und mich mit Ihr anzureden. Das schafft eine Distanz zwischen uns wie zwischen einem Herrn und seinem Diener. Ich will das nicht. Meine Kindheit wurde mir von einem Tag auf den anderen entrissen, und ich war zwei Jahrhunderte lang allein mit meinen Peinigern. Mein Körper konnte nicht richtig heranwachsen, und meine Seele ist immer noch ein Kind. Ich brauche eher einen Vater als einen Diener." Der Junge streckte die Hand nach Noctivagus aus, doch er konnte ihn nicht berühren. Seine Hand hatte keine Materie. Der Magier erhob sich unsicher. "Ich wäre gewiss nicht geeignet, Euer... dein Vater zu sein." "Deine Meinung zu dem Thema spielt keine Rolle. Du bist zur Zeit alles, was ich habe. Niemand außer dir kann mich sehen. Eikyuu wird mich wahrscheinlich spüren, er ist ein Seelenleser und er kennt mich. Vielleicht kann ich mich ihm sogar verständlich machen. Aber nur mit dir kann ich so reden, als wäre ich lebendig." "Aber du bist lebendig, in Eliza." "Ja. Aber du beherbergst meinen Geist. Dummerweise weiß selbst ich nicht ganz genau, was das für Folgen haben wird, obwohl jedes Rächerkind von klein auf in den Geheinmissen seiner Art unterrichtet wird." Shisei blickte sich unsicher in dem Zelt um und umarmte sich selbst, als würde er frieren. "Ich kann noch gar nicht richtig fassen, dass endlich alles vorbei ist. So sehr war ich an die Schmerzen gewöhnt, dass es mir wie ein Traum erscheint, was hier passiert. Daran habe ich schon nicht mehr geglaubt. Jeden Tag hoffte ich, sie würden mich versehentlich umbringen, oder vielleicht vergessen, mir Essen zu bringen. Aber sie achteten gut darauf, dass ich weiterlebte..." Noctivagus blickte betreten auf seine Füße. "Wirst du... also... In den Augen eines Rächers, wird die Schande, die man dir zugefügt hat, auch noch in deinem neuen Leben fortbestehen?" Der Junge schüttelte den Kopf. "Nein. Mein Körper wird als unberührt betrachtet werden, aber ich werde mich erinnern... Es wird deine Aufgabe sein, mich stark genug zu machen, bevor ich meine Erinnerungen wieder finde. Du musst mir beibringen, dass nicht jedes Geräusch im Dunkeln mir Schmerzen und Demütigungen bringt." Shisei blickte Noctivagus flehend an. "Das kannst du doch tun, nicht wahr?" Der Schwarzhaarige musste lächeln. "Wenn nicht ich, wer dann? Ich werde dich lehren, die Schatten zu deinen Verbündeten zu machen. Möchtest du im Dunkeln sehen können?" Der junge Rächer nickte. "Das wäre fantastisch!" Seine Augen strahlten in kindlicher Begeisterung. Sie waren smaragdgrün, stellte Noctivagus fest. Ein hübscher Junge, und sicher wäre er ein gut aussehender Mann gewesen. Der Magier verspürte plötzlich das Bedürfnis, dieses arme Kind, dessen einzige Bezugsperson er momentan war, in die Arme zu schließen. Es ging nicht, das wusste er, doch er trat vor und hielt seine Arme so, als könnte er den Jungen berühren. "Du wirst noch viel mehr für mich tun müssen," murmelte Shisei. Er erbebte, als er zum Schein umarmt wurde, ließ es jedoch geschehen, da er sich nach der Geborgenheit sehnte. "Wenn ich meine Art in die Welt zurückbringen soll, muss ich dafür sorgen, dass meine Kinder geboren werden. Doch ich weiß über die Paarung nichts anderes, als dass sie wehtut." Noctivagus tat einen zitternden Atemzug. Er hatte wirklich eine schwere Aufgabe vor sich. "Das wird sich finden. Hab keine Angst. Im Moment musst du daran noch nicht denken. Wenn du geboren wirst, werden wir deine Peiniger gefunden und bestraft haben. Niemand wird dir mehr wehtun." "Findet sie schnell, Noctivagus. Wenn ich jetzt nicht mehr da bin, suchen sie sich vielleicht einfach einen anderen Jungen." Dieser Gedanke war noch gar niemandem gekommen, aber er hatte zweifellos seine Berechtigung. Was sollte ein paar Sadisten davon abhalten, sich einfach ein neues Opfer zu suchen? Wenn sie es gewohnt waren, jemanden zu ihrer Verfügung zu haben, um ihre Gelüste zu stillen, wurde das vielleicht zur Sucht, die auch weiterhin befriedigt werden wollte. Wer konnte schon sagen, wie groß diese Verschwörung wirklich war und wer alles eingeweiht war? Und war Shisei nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, sprich, in der Folterkammer, in der er hatte sterben sollen, oder steckten die wahren Täter, die das Dorf der Rächer zerstört hatten, auch in der ganzen Sache mit drin? Da würden sie wohl bis zu dem Drachentreffen warten müssen. Das war die beste Gelegenheit, jemanden ausfindig zu machen, und vorher sollte lieber kein Staub aufgewirbelt werden. Shiseis Gestalt flackerte und begann, sich aufzulösen. "Ich muss dich für heute verlassen, Noctivagus. Meine Kraft reicht noch nicht lange aus." "Schlaf gut," flüsterte der Draconer. "Schlaf ohne Angst." Er sah noch, wie dem Jungen Tränen über das lächelnde Gesicht liefen, dann war der Geist verschwunden. *** In den folgenden Tagen war Valerian wie immer sehr beschäftigt, doch mit anderen Dingen als sonst. Noctivagus, Eikyuu, Kyuujo und Sensui übten mit ihm die Drachenbanne. Da Annemones Vater ein Schwimmer war, mussten sie es am Strand tun. Valerian hatte nun Gelegenheit, sich den Wasserdrachen in seiner wahren Gestalt anzusehen. Schwimmer waren längliche Geschöpfe, die man auf den ersten Blick für Seeschlangen halten konnte. Sensui hatte einen flossenähnlichen Kamm auf dem Rücken, der bis auf die Mitte des Kopfes reichte und drohend aufgestellt oder flach angelegt werden konnte. Seine Schuppen glänzten grün und gelblich, teilweise türkis. Natürlich waren Schwimmhäute zwischen seinen Zehen. Seine Beine sahen an dem langen Körper kurz aus, diese Drachenart bewegte sich im Wasser meistens schlängelnd vorwärts. Sie atmeten aber wie Wale durch Lungen und nicht durch Kiemen. Valerian bekam bestätigt, was er schon gelesen hatte: dass Schwimmer an Land kamen, um ihre Eier abzulegen, und dann das entsprechende Gebiet scharf bewachten, bis die Jungen schlüpften. Wie Schildkröten vergruben sie die Eier im wärmenden Sand. Valerian sah Sensui an und konnte sich nur schwer vorstellen, wie er kurz nach dem Schlüpfen ins Meer gerobbt war. Aber die Drachen konnten nicht im Wasser schlüpfen, weil die Gefahr des Ertrinkens zu groß war. Die Eierschale ließ sich oft nicht so leicht knacken. "Manche Drachen glauben, dass es Unglück bringt, wenn ein Drache als Mensch geboren wird, weil er sich nicht aus einem Ei in die Welt kämpfen muss," bemerkte Kyuujo im Laufe des Gesprächs mit einem Seitenblick auf seinen Sohn. Dieser hob ungerührt eine fragende Augenbraue. "Du würdest das nicht sagen, wenn du jemals eine menschliche Geburt miterlebt hättest. Ist es nicht so, dass viele Eltern ihren Kindern helfen, die Schale zu zerbrechen? Da hat es ein Mensch schwerer." "Ich *habe* menschliche Geburten miterlebt. Du hast es dir leicht gemacht." "Fang nicht wieder damit an." Valerian blickte verwundert zwischen den beiden hin und her. Eikyuu merkte es und ließ sich zu einer Erklärung herab. "Bei meiner Geburt ging etwas schief. Sie mussten meiner Mutter den Bauch aufschneiden, um mich herauszuholen. Sie kann seitdem keine Kinder mehr bekommen." "Oh." Valerian wusste nicht recht, was er jetzt sagen sollte. Doch Kyuujo klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter. "Mach dir nichts draus, sie nimmt es locker. Aber ich erwarte, dass du meinen Sohn gut pflegst, von der Sorte gibt es keinen neuen mehr." "Vater!" Kyuujo grinste. "Ist doch so." Nun verstand Valerian, warum Kyuujo so gerne wollte, dass sich Eikyuu eine Frau nahm. Wahrscheinlich hatte er noch Kinder mit anderen Frauen, vielleicht sogar weitere mit Choukyuu, aber Eikyuu musste er für besonders gut gelungen halten. Der ehemalige Prinz wusste, dass Kyuujo stolz auf seinen Sohn war, auch wenn er das nie zugeben würde. Valerian beherrschte bereits den Trick, einen Drachen in seine Menschengestalt zu zwingen. Sie ließen es ihn üben, bis er es trotz Gegenwehr Seitens des Drachen schaffte. An dieser Stelle war Sensui sehr frustriert, denn er war es, der dabei als Verlierer dastand. Im Gegensatz zu den anderen hatte er nämlich keine menschliche Magie, um sich zu wehren. Die Gruppe nahm die Gelegenheit wahr, ihn üben zu lassen, wie man sich gegen den Zauber wehrt. Kyuujo hielt sich aus dieser Übung heraus und drohte jedem, der auf dumme Gedanken kam, mit seelenleserischer Impotenz. Da sie ihm das ohne weiteres zutrauten, beließen sie es dabei. Aus irgendeinem Grund wollte er sich nicht verwandeln, vielleicht war es seine alte Vorsicht vor Drachentötern. Er selbst behauptete, es seien ja genug andere da, so dass er nicht gebraucht wurde. Sodann lernte Valerian, wie man einen Drachen in Menschengestalt dazu brachte, seine wahre Gestalt anzunehmen. Vorsichtshalber schlugen sie Kyuujo gar nicht erst vor, das Versuchskaninchen zu spielen. Der Mann beschränkte sich darauf, Valerian zu erklären, was er tun sollte, manchmal führte er es auch vor, aber er ließ es nicht an sich ausprobieren. Vielleicht war er einfach zu stolz, sich vor den anderen nackt zu zeigen, obwohl Drachen da viel freizügiger waren als Menschen. Sensuis Drachenkopf sah ihnen vom Meer aus zu, wie Valerian erst Noctivagus, dann Eikyuu in Drachen verwandelte, ohne dass sie versuchten, es zu verhindern. Somit hatte der junge Magier kein Problem damit. //"Verwandle uns wieder zurück,"// schlug der Flammentänzer vor. Valerian nickte und führte den entsprechenden Zauber aus, wie er es gelernt hatte. Er rechnete nicht mit Schwierigkeiten, doch sein Bann wurde abgeblockt und verpuffte wirkungslos. Gleichzeitig stieß Eikyuu einen hohen Schrei aus, einen geradezu panischen Laut. Kyuujo sprang reaktionsschnell vor und sprach den Zauber aus, der ihn in die Menschengestalt zurück zwang. Dieses Mal klappte es. Er wollte seinem Sohn zu Hilfe eilen, wich dann jedoch vor ihm zurück. "Valerian! Versuch du es, er wehrt mich unbewusst ab! Dich wird er vielleicht an sich heranlassen!" Valerian verstand, was Kyuujo meinte. Eikyuu hatte eine abweisende Aura um sich, wie sie ein Seelenleser wohl erschuf, wenn er in Ruhe gelassen werden wollte oder wenn er sich fürchtete und sich zu schützen versuchte. Auch ein Bannbrecher kam dagegen nicht an. Valerian näherte sich ihm trotzdem und wehrte sich gegen das Verlangen, sich von ihm zurückzuziehen. Eikyuu stand keuchend vor ihm, die Augen wie in wilder Panik aufgerissen, ohne dass er seine Umgebung bewusst wahrnahm. "Kyuu. Hörst du mich?" Der Allmagier blinzelte und wandte ihm seinen Blick zu. "V-Val?" Valerian nahm ihn in die Arme und sprach beruhigend auf ihn ein. Die Umstehenden tauschten verwirrte Blicke aus. Eikyuu war nicht mehr derselbe, seit er Shisei gefunden hatte, aber allmählich machten sie sich ernsthaft Sorgen. "Es tut mir Leid. Ich habe das automatisch getan," murmelte Shisei, nur für Noctivagus hörbar. Bei hellem Tageslicht war der Geist nur schwer vor dem hellen Sandstrand zu erkennen. //Du... kannst den Drachenbann einfach so abwehren? Als Geist?"// staunte der Schattenmagier, wobei er von selbst seine Menschengestalt annahm. "Er war nicht sehr stark," meinte der Rächer achselzuckend. "Aber es scheint, dass Eikyuu meine Tat bemerkt hat, und das muss irgendetwas bei ihm ausgelöst haben. Ich habe mich erschrocken, weil ich gerade erst dazugekommen bin... vielleicht hat er das gespürt." Der Junge versuchte, lässig zu klingen, aber Noctivagus erkannte, dass die Sache ungewollte Erinnerungen in ihm wachgerufen hatte. "Ich hab'... für einen Moment gedacht, dass jemand hinter mir her ist, um mir Gewalt anzutun..." sagte Eikyuu leise. "Fremde Erinnerungen?" vermutete Valerian. Eikyuu nickte. "Möglicherweise. Lasst uns für heute Schluss machen... bitte." Valerian legte ihm seinen Umhang um und begleitete ihn zum Baumhaus. Seine Gegenwart half dem Seelenleser, denn dieser hatte absolutes Vertrauen zu seinem Geliebten. Noctivagus blickte ihnen unsicher nach. "Sie haben mich auf diese Art vom Himmel geholt," hörte er Shiseis Stimme. "Zwei Männer auf einem Donnerflügel. Sie waren stark mit den Drachenbannen, und ich nur ein Kind. Aber es kamen noch mehr, und auch andere von uns wurden so gefangen. Wir wurden vollkommen überrascht. Als sie mich wegbrachten, konnte ich die Schreie hören und das Feuer riechen..." Der Junge sank schluchzend in die Knie. Noctivagus bedauerte es wieder einmal, dass er den Geist nicht berühren konnte. Er wollte ihm Trost spenden, doch er konnte es nur mit Worten. Und so suchte er nach seiner Kleidung, während er telepatisch auf Shisei einsprach. //"Es ist keine Schande, Angst zu haben. Erzähl es mir. Vielleicht ist es danach besser. Die ganze Zeit musstest du das in dich hineinfressen, das kann nicht gesund sein. Um stark zu sein, musst du erst diese Schwäche überwinden, so gut du kannst... auch wenn das vielleicht niemals vollständig möglich sein wird..."// Er setzte sich in der Nähe in den Sand. Shisei blickte ihn weinend an. "Willst du das echt hören?" "Es wird dir besser gehen, wenn du darüber sprichst," wiederholte Noctivagus. Zumindest hoffte er es. "Sie... sie haben mich weggebracht und eingesperrt... Ich kann mich nicht genau erinnern, aber ich war ein paar Tage gefangen, bevor sie mich zu der Folterkammer brachten... Eine alte Frau in einem großen Saal behauptete, dass ich mein Dorf zerstört habe. Aber das stimmt nicht! Dann haben mir die Männer, die mich gefangen hatten, gesagt, dass alle anderen tot sind, und dass ich lieber mitspielen soll, damit ich zu ihnen gehen dürfte. Ich wollte nicht, schließlich bin ich ein Rächer. Rächer sterben nicht, ohne ihre Familie zu rächen! Aber es hat so wehgetan..." Noctivagus merkte erst, dass ihm Tränen über das Gesicht liefen, als Kyuujo ihm eine Hand auf die Schulter legte. "Ist bei dir alles in Ordnung?" "Uh... ja, ich bin nur... etwas mitgenommen in letzter Zeit." "Nicht nur du, wie mir scheint. Ich weiß, dass du einer von Eikyuus besten Freunden bist. Aber mach dir keine Sorgen um ihn, es geht ihm bestimmt bald wieder besser." Noctivagus nickte und hoffte, dass der Seelenleser den Geist nicht bemerkte. Er war sicher, dass ihm irgendetwas aufgefallen war, aber Kyuujo wusste offenbar nicht, was das war. So konnte es auf die Dauer nicht weitergehen... *** Fortsetzung folgt. Outtakes zum letzten Kapitel gibt es nicht, da war irgendwie nichts, wozu mir ein Witz einfällt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)