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Ro

von

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Part 1 Trainer

Die Wiese liegt still in der Nachmittagssonne. Das hochgewachsene Gras leuchtet in verschiedenen Grüntönen, seine Halme im warmen Licht glänzend. Einzigen Kontrast zu ihrer satten, kräftigen Farbe bilden die weißen, wie Deckweißtupfen hervorstehenden und nektarschwer im leichten Sommerwind schwankenden weißen Blüten. Kränze aus schneeweißen Blütenblättern, die eine gelbe Mitte umschließen. Weit geöffnet und strahlend scheinen sie im Sonnenlicht zu baden. Die Luft steht fast still, das eintönige Summen der Insekten, die die Blumen umschwirren scheint das Einzige zu sein, was sie bewegt. Ab und zu flattert ein kleiner Vogel aus einem Busch auf, oder ein anderer landet in der Wiese. Ein Ort des Friedens, wie es scheint, eine in Sonne getunkte Oase der Stille.

Plötzlich ein Geräusch, etwas wie ein heiseres Quietschen. Ein Schemen erhebt sich aus dem hohen Gras, schnell, schnell und unhaltbar. Der Moment ist gekommen. Ro zieht scharf die Luft ein, springt auf. Ihre Beine sind steif vom langen Hocken. Das Pokémon wirft den Kopf herum, Ro reagiert blitzschnell und weicht seiner Attacke aus. Sie greift an ihren Gürtel, ein leises klacken. Ein Pokéball fliegt durch die Luft, eine rote Wolke. Ein Wesen materialisiert sich, öffnet die Augen, erblickt seinen Gegner. Ro ist angespannt, sie weiß, eine falsche Bewegungvon ihr, und das wilde Pokémon ergriffe die Flucht. Sie beißt sich auf die Lippe, schleicht sich möglichst leise ein paar Schritte näher. Das lilafarbene Pokémon bemerkt sie nicht. Eben erst hat es seinen neuen Gegner entdeckt, Ros Eneco, das ihm kampfbereit gegenübersteht. Ro schüttelt die Haare zurück, befiehlt ihrem Pokémon eine Attacke. Der Gegner weicht aus, aber Ro gewinnt kostbare Zeit, in der sie sich von hinten an das Wesen anschleicht und einen Ball nach ihm wirft. Das Pokémon wird eingesogen, der Ball schwankt, ein, zwei, drei Male. Dann der Moment der Entscheidung. Ros Fingernägel bohren sich in ihre Handflächen.

Der Ball bewegt sich nicht mehr. Ein leises Klicken, das Schloss ist eingerastet.

?Jap!?, jubelt Ro, schnappt sich mit einer Hand den Ball und umarmt mit der freien Cory, das Eneco. Dann lässt sie sich auf den Boden plumpsen und greift sie nach ihrem Notizbuch, um den Fang einzutragen. Cory schmiegt sich währenddessen dicht an ihr Bein, schnurrend. Ro krault ihr den Kopf, zum Dank für ihre Hilfe.

?Ich werde es Zirganha taufen?, erklärt sie. ?Das war ein Zorbiris, ein Geist Pokémon.?

Ro kaut am Ende ihres Stiftes und sinniert vor sich hin. Dann springt sie plötzlich auf. Sie streckt Cory einen erhobenen Daumen entgegen. ?Danke, das hast du wirklich klasse gemacht, Cory!?

Ro ist Trainerin. Ihr erstes Pokémon, das Eneco Cory, fing sie mit zwölf Jahren, jetzt ist sie sechzehn und besitzt ein aus fünf Pokémon bestehendes Team: Außer Cory gehört ein Flurmel namens Meck, ein Absol, getauft Yanuvo, ein Arnemuva genanntes Flunkifer sowie der Neuankömmling Zirganha dazu. Ro ist ein temperamentvolles Mädchen mit kräftigem, orange-roten Haar, das ihr Gesicht umflattert, als besitze es ein eigenes Leben und funkelnden, lebhaften grünen Augen. Sie lebt in der malerischen Stadt Moosbach City, die auf einer Insel im Osten Hoenns liegt. Seit sie ihr erstes Pokémon fing, träumt sie davon, auf eine Pokémonreise zu gehen, wie es so viele Andere in ihrem Alter tun. Die Reise über das Meer jedoch ist lang und beschwerlich, und zudem nicht leicht zu organisieren, da es in Moosbach City keinen Hafen gibt. Dazu kommt, dass sie nicht regelmäßig nach Hause kommen könnte, und das wäre für ihre Mutter, mit der Ro zusammenlebt, sehr schmerzlich. Ro seufzt und nimmt die Ecke ihres Notizbuches, an der sie gekaut hat, aus dem Mund. Moosbach City gefällt ihr eigentlich sehr gut, überlegt sie. Das Meer, das sie liebt, die im Wind rauschenden Bäume, die wunderbaren Wiesen, das schöne Wetter. Es gibt kaum etwas, das dagegen spricht, in dieser Stadt zu leben. Ihre Bewohner sind alle zufrieden hier, und kaum jemand, der einmal die malerischen Küstenstreifen, die langsam und ohne sichtbare Grenze ins Meer übergehen, als seine Heimat gekannt hat, kann sich je vollends davon losreißen. Ja, es ist wirklich schön hier, überlegt Ro auf ihrem Weg zurück nach Hause, zu ihrer Mutter und deren besorgten Blick, wenn sie ihr erzählt, dass sie ein neues Pokémon gefangen hat. So ist es immer. Ihre Mutter sagt nie ein missbilligendes Wort gegen ihre Pokémonleidenschaft, aber insgeheim hofft sie, dass Ro sich so bald wie möglich ein anderes Hobby sucht. Ro weiß das, und es macht sie krank.

Das Haus, in dem Ro und ihre Mutter ihr friedliches Leben führen, ist nicht sehr groß, wird jedoch von einem weitläufigen Garten umschlossen, in dem Ros Mutter die schönsten Blumen züchtet. Zum vom Wein über und über bewachsenen Haus führt ein mit ungleichförmigen Natursteinplatten in warmen Brauntönen geflasterter Weg. Während Ro auf ihr Heim zugeht, überkommt sie plötzlich ein Gedanke. Was könnte jetzt sein, wenn sie nach der Scheidung ihrer Eltern zu ihrem Vater nach Blütenburg City gezogen wäre? Dort, auf der anderen Seite des Meeres, hätte sie Trainer werden können. Sie hätte mit ihrem Pokémon Team losziehen und die Arenen herausfordern können, vielleicht wäre sie zu einem jener Jungtalente geworden, über die Ro jeden Tag neiderfüllt die Berichte im Fernsehen verfolgt. Zwar hat sie noch kaum richtige Kämpfe ausgefochen. Aber sie besitzt das seltene Talent, ihre Pokémon stundenlang konzentriert und gründlich zu trainieren. Ro drückt die Klinke herunter, es ist nicht abgeschlossen. Also hält sich ihre Mutter wahrscheinlich im Garten auf. Aber das kümmert sie gerade wenig. In der kleinen Wohnküche füllt sie ein Schälchen mit Pokémonfutter für Cory und poltert damit die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Ros Zimmer ist größer als die Küche. Ihres und das darunterliegende, gleichgroße Zimmer ihrer Mutter sind die größten Räume des Hauses. Ein großes Fenster an der Westseite zeigt das Meer, Ro sitzt hier manchmal stundenlang und träumt, wenn sie Arbeiten sollte. Träumt davon, das Meer eines Tages zu überqueren, um ihre eigene Pokémonreise anzutreten. An der Nordseite des Zimmers steht das mit Plüsch-Pokémon vollgestopfte Bett, die Ostwand wird von einem Regal ausgefüllt. Neben der Tür steht Ros Schreibtisch, den sie früher für Schularbeiten nutzte, in letzter Zeit jedoch nur noch als Ablage gebraucht. Die Tapeten , die in einem hellen Gelbton gestrichen sind, erwecken den Eindruck von hellem Sonnenlicht, dass in den Raum scheint. Der Boden ist von einem Grasgrünen Teppich bedeckt.

Ro betritt das Zimmer, Cory auf ihren Fersen. Sie stellt den Napf auf den Boden neben der Tür, und Cory macht sich sofort hungrig über das Futter her. Ro lächelt ihr zu, in ihrem Blick schwingt die ganze Zuneigung mit, die sie in den vier Jahren ihres Beisammenseins für das kleine, rosa-gelbe Pokémon erworben hat. Dann legt sie das Säckchen mit ihren Pokébällen auf dem Schreibtisch ab, nur den mit ihrem frisch gefangen Zorbiris behält sie in der Hand. Sie streichelt Cory zum Abschied noch einmal über den Kopf, dann läuft sie die Treppe wieder hinunter. Die Tür fällt krachend hinter ihr ins Schloss, als sie das Haus verlässt.
 

Die wohl nennenswerteste Besonderheit von Moosbach City ist, dass Meer und Land an ihrem Strand tatsächlich miteinander zu verschmelzen scheinen. Der weitläufige Strand ist von vereinzelten Bäumen bewachsen, die noch ins Wasser hineinreichen. Bei Flut ragen nur noch ihre Kronen über die Wasseroberfläche, so dass sie wie ein Unterwasser-Wald aussehen. Ro liebt diesen Strand, besonders am Abend. Im Licht der untergehenden Sonne sehen die Schatten dort aus, als wären sie lebendig. Sie reichen weit hinaus, scheinen nach der höher gelegenen Insel zu greifen. Es sind große, starke Lebewesen, grausam und gerecht. In ihrer Gegenwart kann Ro ihre kleinen Sorgen vergessen und sich unwichtig fühlen. Sie ist nur ein Teil, ein kleiner Teil, so etwas wie ein Zahnrad in einer großen Maschine. Als einzelnes Zahnrad ist sie ein winziges Teil der gigantischen Funktion, die sie nie verstehen wird, nicht zu verstehen braucht. Dennoch ist sie wichtig, denn auch wenn nur ein einziges Zahnrad fehlt, kann die Maschine nicht mehr funktionieren. Das ist, was Ro wichtig macht. Sie ist wichtig, auch wenn sie nicht weiß, für was oder für wen. Vielleicht wird sie im Moment nicht gebraucht, aber es wird ganz sicher irgendwann einmal der Tag kommen, an dem sie nicht ausfallen darf. Dann wird sie da sein, und sie wird tun, wofür sie bestimmt ist.

Ro lächelt bei diesem Gedanken. Vielleicht ist es ja doch ihre Bestimmung, eines Tages Pokémon Meister zu werden. Das kann man nicht wissen.

Sie hat den Platz erreicht. Den großen Felsen, auf dem sie so gerne sitzt. Den Felsen, dessen Schatten so aussieht wie der Kopf eines Magnayen. Das hat sie schon vor langer Zeit, als kleines Mädchen entdeckt. Die anderen Kinder haben es nie sehen können. Anfangs hat sie das gestört. Aber dann kam langsam das Gefühl, ein wunderbares Geheimnis mit dem großen Felsen zu teilen. Er war ihr heimlicher Beschützer. Stark und gerecht. Seit dieser Zeit versucht sie, jeden Abend, wenn der Fels, ihr Magnayen, seinen Schatten wirft, da zu sein. Da zu sein und ihm Gesellschaft zu leisten.

Ro erklimmt die flache Spitze des Felsen mit wenigen, sicheren Griffen und Tritten. Oben ist er abgeflacht, fast wirkt die Stelle wie als Sitzfläche bestimmt. Ein paar Minuten gönnt Ro sich, um den Strand zu betrachten. Den Strand, die Bäume. Den Strand, die Bäume und die Schatten. Die warmen roten, ockerfarbenen und schwarzen Schatten. Die Schatten, die sie sich sicher fühlen lassen. Die Schatten und der Fels am Strand sind ihre Freunde, ihre Vertrauten. Oft spricht sie mit ihnen, erzählt ihnen von ihren Problemen, Sorgen, von ihrem großen Traum. Dann scheinen sie in ihrer unablässigen, unsichtbaren Bewegung zu erstarren und ihren Geschichten zu lauschen. Sie sind gute Zuhörer, und zuverlässige Freunde.

Ro nimmt den Pokéball, den sie mitgenommen hat. Sie entriegelt das Schloss und lässt das Pokémon heraus. Sie weiß, das ist riskant. Ein soeben gefangenes Pokémon sollte man in verschlossenen Räumen zähmen, tat man es in freier Landschaft, war es nicht unwahrscheinlich, dass das Wesen einfach wieder entfloh.

Das Zorbiris materialisiert sich. Wild wirft es den Kopf mit den funkelnden Augen herum, genau so, wie es es auch getan hat, als sie es fing. Der letzte Rest Abendsonne bricht sich in den bunten Steinen an seinem Rücken. Es ist ein wirklich schönes Pokémon.

?Pscht?, macht Ro. Sie spricht leise, um das Wesen nicht zu verschrecken. ?Hey. Erinnerst du dich? Ich hab? dich gefangen.? Wahrscheinlich versteht das Pokémon ihre Worte kaum oder garnicht. Pokémon lernen normalerweise selbst nicht das Sprechen, jedoch besitzten die meisten Arten eine enorme Lernfähigkeit, was das Verstehen von Sprache betrifft. Dennoch verstehen in der Wildnis gefangene Pokémon zu Beginn praktisch nichts.

Das Pokémon senkt den Kopf. Misstrauisch, aufmerksam.

?Ich nenn? dich Zirganha, ist das in Ordnung? Zirganha, so sollst du heißen. Zirganha.?

Ro wiederholt den Namen mehrfach, bis sie sich sicher sein kann, dass das Zorbiris den Sinn ihrer Worte verstanden hat. Es scheint sich ein wenig zu entspannen. Ihr Tonfall ist sanft und freundlich, sie sitzt offen und entspannt da. Dieser Mensch bedeutet keine Gefahr.

?Mein Name ist Ro. Ich bin jetzt deine Trainerin, Zirganha. Wie werden zusammen stark werden?, sagt Ro. Zirganha hat jetzt alle Scheu abgelegt. Sie schaut Ro interessiert und unverholen an, dabei legt sie den Kopf etwas schief. So ist sie richtig niedlich, denkt Ro.

Sie bleibt noch eine Weile mit ihrem neuen Pokémon am Strand. Jede Freundschaft muss einen Anfang nehmen, und für die tiefe Freundschaft zu einem jeden ihrer Pokémon, die Ro anstrebt, braucht es einen gelungenen Anfang. Die Sonne sinkt weiter, und mit zunehmender Dunkelheit wird Zirganhas Körper gasförmiger und durchsichtiger. Ja, sicher, denkt Ro, sie ist ein Geist Pokémon, sie entfaltet nur bei Nacht ihre vollen Fähigkeiten. Als Ro sie in der Wiese entdeckte, war ihr Körper noch fest gewesen. Sie hatte ihn berühren können.

Ro betrachtet Zirganha. Ein bisschen erinnert es sie an das Kindwurm, das sie einmal gefangen hat. Jenes Pokémon war ebenso scheu und misstrauisch gewesen. Allerdings war es ihr damals nicht gelungen, sein Vertrauen zu gewinnen. Sie hatte lange vergeblich darum gekämpft, aber sie konnte seine Abwehrhaltung nicht brechen. Vielleicht, denkt Ro, lag es nur daran, dass sie zu der Zeit noch kaum Erfahrung im Zähmen von Pokémon gehabt hatte. Sie hatte nur Cory besessen, und das Kindwurm war von ihr stärker verletzt worden, als es zum Einfangen nötig gewesen wäre. Das mochte sein abweisendes, ängstliches Verhalten erklären. Dennoch, wenn Ro sich daran erinnert, hat sie immer das Gefühl, eine Chance verpasst zu haben. Wäre es ihr nicht doch noch möglich gewesen, das Pokémon zu zähmen? Dass es entflohen ist, ist ganz sicher auch ihre Schuld gewesen. Sie hatte die Geduld verloren. Fast zwei Stunden hatte sie mit dem Kindwurm gesprochen, es zutraulich zu machen versucht. Aber alles, was sie tat oder sagte schien es noch schlimmer zu machen. Das Pokémon wollte ihr einfach nicht vertrauen. Als sie das begriff, brauste sie auf, vergaß sich. Das Pokémon floh. Und Ro hatte eine einmalige Gelegenheit verpasst, ein sehr seltenes und scheues Pokémon in ihrem Team zu haben.
 

Für Ro ist es nie leicht gewesen, Freunde zu finden. Das mag daran liegen, dass sie kaum Wert darauf legt. Für sie bedeuten ihre Pokémon die besten Freunde.

Als sie noch zur Schule ging, war sie unter ihren Mitschülern als eigentbrötlerisch und einzelgängerisch verrufen gewesen. Zwar versuchte immer wieder einmal jemand, sie als Freundin zu gewinnen, aber Ro merkte für gewöhnlich schnell, dass der- oder diejenige lediglich aus Bewunderung für ihr Trainertalent oder aus purem Eigennutz mit ihr anbändeln wollte. Dann blockte sie ab. Und das wahrscheinlich oft gröber als nötig. Auf diese Weise hatte sie ihr ungnädiges Image erlangt, und so hielt sie es auch. So kam es, dass Ro ihrem Schulabgang freudig entgegen sah. Danach fing sie mir einem Praktikum in der Sternwarte von Moosbach City an, wo auch ihre Mutter arbeitete. Insgeheim aber hofft sie, die Erlaubnis für eine Pokémonreise doch noch von ihrer Mutter zu erbetteln, und das Praktikum dafür abbrechen zu können. Ro hasst die Arbeit in der Sternwarte. Warum, so fragt sie sich Tag für Tag, wollen die Menschen den Himmel erforschen, wo sie doch ihren eigenen Planeten noch kaum kennen? Warum möchte überhaupt jemand wissen, wie die Sterne aus der Nähe aussehen, wo sie doch von fern so viel schöner sind? Dieser unnatürliche Wissensdurst, der jede Romantik zu zerstören scheint, widert sie an. Ihre tägliche Arbeit stimmt Ro oft traurig, verdirbt ihre Laune. Auch in der Sternwarte hat sie keine Freunde. In dem beschäftigten Gewimmel dort hat niemand Zeit, seine Kollegen und Helfer von ihrer menschlichen Seite zu sehen. Als potenzielle Freunde. Alle arbeiten wie Roboter nebeneinander her, und in den kurzen, gezwungenen Gesprächen in der Mittagspause reden sie aneinander vorbei, und das mit täglicher Garantie. Ro ist froh darüber.

Jeden Tag, wenn sie die Sternwarte verlässt, hat sie das Gefühl einer Falle entkommen zu sein. Wie die Maus, die den Käse frisst, jedoch klug genug ist, sich nicht fangen zu lassen. Es ist für sie, als lebte sie in zwei verschiedenen Welten. Auf der einen Seite ist da die Arbeit in der Sternwarte, die sie nie wie ihre Mutter mit hingebungsvoller Ehrfurcht wird lieben können. Auf der anderen Seite ist das Leben mit ihren Pokémon, ihren einzigen wirklichen Freunden und Vertrauten. Das sind die langen, einsamen Stunden am Strand, beschützt vom Wind und den Schatten. Das sind die Stunden, für die Ro morgens aufsteht. Die Stunden, die ihr den Tag bedeuten.

Aber es sind nicht mehr nur ihre Pokémon, die ihr wichtig sind. Da ist Marcel.

Marcel ist immer da, auch wenn er nicht da ist. Marcel ist der erste Mensch, von dem Ro wirklich behaupten kann, mit ihm befreundet zu sein. Marcel ist auch Trainer. Er und Ro kennen sich noch nicht besonders lange. Er zog vor etwas weniger als einem Jahr nach Moosbach City. Anfangs interessierte Ro sich nicht besonders für ihn, er bedeutete ihr nichts. Dann jedoch erfuhr sie, dass er ebenfalls Pokémontrainer sei. Das machte ihn schlagartig interessant für sie. Es gibt nicht viele Tainer in Moosbach City, und nur wenige kommen her, um die starken Zwillings-Arenaleiter der Stadt herauszufordern. Ro versucht immer, sie alle zu kennen. Marcel war von daher besonders interessant für sie, da er sich nicht nur kurz in der Stadt aufhalten würde, sondern von nun an dort wohnte. Dennoch besaß sie nicht den Mut, ihn anzusprechen. Sich mit ihm anzufreunden. Sie wusste nicht, wie man so etwas anfing. Sie wusste nicht, wie man sich mit Menschen anfreundete. Aber das brauchte sie auch gar nicht zu wissen. Denn eines Tages kam Marcel ganz von selber auf sie zu. Ro merkte schnell, dass es gar nicht so schwer war, sich mit ihm zu unterhalten. Schließlich waren sie beide Trainer, hatten also ein gemeinsames Interessengebiet. Seit dem Tag sind Ro und Marcel Freunde. Für Ro bedeutet das eine Menge. Marcel zu sehen, macht sie glücklich. Sie erzählt ihm von ihrem Traum, und er hört zu. Oft sagt er nichts dazu, aber Ro meint in seinen Augen zu lesen, dass er sie versteht.Verstanden werden. Das ist das schöne Gefühl, sich nicht erklären zu müssen. Das ist das Gefühl, das Marcel Ro gibt.

Ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit.
 

Zurück daheim in ihrem Zimmer verstaut Ro den Pokéball, in dem Zirganha sich erneut befindet, wieder in dem kleinen Säckchen. Auch Cory ruft sie zurück in ihren Ball, so wie jeden Abend. Zwar könnte das Eneco problemlos auch so in Ros Zimmer schlafen. Aber Ro ist der Ansicht, dass ihre Pokémon als trainierte Kämpfer, und nicht als Hauspokémon aufwachsen sollen. Auch wenn sie eigentlich klein genug für ihr Zimmer sind, sollen sie es aus Ausnahme, nicht als Selbstverständlichkeit ansehen, außerhalb ihres Balles schlafen zu dürfen.

Ro setzt sich auf ihr Bett, zieht das Notizbuch aus ihrer Tasche. Nach kurzem Blättern findet sie die Seite, auf der sie am Mittag den Fang eingetragen und mit dem heutigen Datum versehen hat. Sie nimmt den Kugelschreiber und setzt ein paar lockere, geschwungene Striche unter die Schrift. Die dreizackigen, großen Ohren. Die funkelnden Augen, die bunten Steine. Ja, so ist es richtig. Das ist ihr Zirganha.

Ro betrachtet die Zeichnung, nachdenklich am Kuliende kauend. Dann zeichnet sie ein Flurmel dazu. Ein Eneco, ein Absol. Ein Flunkifer. Das ist ihr Team. Das sind ihre Partner. Und eines Tages werden sie gemeinsam die Arenaleiter und die Top Vier der Pokémonliga bezwingen.

Das ist Ros Traum. Und es ist auch Marcels Traum. Marcel ist sehr von sich überzeugt. Er ist sich sicher, der beste Trainer werden zu können. Dabei verschwendet er scheinbar keinen Gedanken an all die anderen Trainer, die den selben Traum haben. Ja, er hat wirklich ein sehr gesundes Selbstbewusstsein, denkt Ro. Bei den meisten Anderen hätte Ro das gestört, sie hätte denjenigen als arrogant abgetan. Aber bei Marcel ist das etwas anderes. Ro glaubt selber, dass Marcel seinen Traum verwirklichen kann. Er scheint als Trainer so fähig zu sein. Das Training seiner Pokémon zieht er konsequent durch. Er wählt nur Pokémon mit einem wirklich großen Potenzial für sein Team aus. Seine Kampfstrategie ist auf die unagressivste, überdachteste Weise offensiv, gleitet aber mitten im Kampf zuweilen unbemerkt und sanft in die Defensive über. Seine Kombinationen in zwei-gegen-zwei Kämpfen sind so perfekt, dass es wie ein Tanz wirkt, wenn die Pokémon miteinander antreten. Ro meint, noch nie einen Trainer gesehen zu haben, der so für die Rolle des schnellaufsteigenden Supertrainers geschaffen zu sein scheint. Ihre Bewunderung für diesen Jungen geht sogar so weit, dass sie ihre eigenen Wünsche dafür in den Schatten stellt. Wenn Marcel der Champ würde, so wäre das in Ordnung. Sie muss diese Rolle ja nicht unbedingt einnehmen. Es reichte ihr schon, dürfte sie nur auf Pokémonreise gehen. Ros Gedanken beginnen erneut, sich im Kreis zu drehen. Seufzend steckt sie das Notizbuch wieder ein. Sie ist müde, und morgen muss sie arbeiten. Es ist Zeit, schlafen zu gehen.
 

Es ist heiß. Die Sonne scheint mit einer unerhörten aufdringlichkeit durch die großen Fenster und erhitzt die Räume. Die Menschen darin beginnen zu schwitzen, ein beleibter Mann vor einem Computer in Ros Nähe schnauft regelmäßig und laut vor sich hin. Auf seiner Stirn haben sich große Schweißtropfen gebildet, und sein weißer Kragen ist vor Feuchtigkeit grau. Man könnte meinen, er fließe gleich auseinander, denkt Ro. Die Schrift auf dem Bildschirm verschwimmt vor ihren Augen. Kaum zu glauben, dass man Menschen bei dem Wetter eine solch überflüssige Arbeit tun lässt. Ro umklammert die Maus fester. Die Hand auf der Tastatur will nicht mehr die richtigen Tasten treffen.

Der beleibte Mann sieht zu ihr herüber, seine kleinen Augen sind missmutig zusammengekniffen. Ro erinnert sich mit erschreckender Plötzlichkeit dessen, dass sie als Praktikantin praktisch die niedrigste Stellung einnimmt. Das heißt, ihr haben hier alle etwas zu sagen, und sie keinem. Rasch schaut sie wieder auf den Bildschirm, versucht sich auf das Sortieren der Teleskopaufzeichnungen zu konzentrieren. Der Kerl hat doch genauso wenig Lust auf das Zeug, wie ich, denkt Ro. Es gibt echt Leute, die haben ihren Spaß daran, andere zu schikanieren.

Als sie ihr Praktikum begann, rebellierte sie noch gegen diese Art von Befehlen. Das brachte ihr allerdings lediglich noch mehr Ärger und ein sehr unangenehmes Gespräch mit ihrem Vorgesetzten ein, so dass sie es bald sein ließ. Am einfachsten ist es, den Arbeitstag einfach an sich vorüberziehen zu lassen. Einfach alles machen, was ihr aufgetragen wird. Ohne Widerrede oder Nachfrage, dann kann sich auch niemand beschweren.

Ro atmet auf, als sie die Sternwarte an diesem Tag verlässt. Heute war es wirklich besonders schlimm, denkt sie. Das heiße Sommerwetter sorgte allgemein für Missstimmung, die sich auf Ro entlud.

Nachdem sie ihre Tasche nach Hause gebracht hat, macht Ro sich auf den Weg zum Strand. Das ist nicht weit, vielleicht hundert Meter. Heute ist sie besonders unruhig. Sie setzt sich nicht wie gewöhnlich auf ihren Felsen, um sich mit ihren Pokémon zu unterhalten und etwas auszuspannen. Statt dessen lässt sie die Pokémon unbeaufsichtigt miteinander spielen. Sie beginnt, am Spülsaum entlangzuwandern. Der Sand knirscht unter ihren Schuhen. Die von den Schreien der Wingull erfüllte Luft duftet herrlich nach Meer. Das ist jener unverkennbare Geruch nach Salz und Seetang. Er steigt in Ros Nase und scheint alle ihre Sorgen wegspülen zu wollen.

Ein Geräusch.

Ro dreht sich herum. Im ersten Moment sieht sie nichts, dann bemerkt sie, dass außer ihren Fußabdrücken noch eine weitere Spur in den Sand gedrückt ist. Die Abdrücke sind größer als die ihren. Während sie noch auf den Boden sieht, tritt jemand von hinter dem ihr nächststehenden Baum hervor.

Marcel. Ro erkennt ihn sofort. Er ist groß, größer als die zierliche Ro, und schlank. Sein kurzgeschnittenes Haar ist blond. Er kommt auf sie zu, sie grüßt ohne es zu merken.

?Hi?, sagt er. ?Ich wusste, dass du hier bist.? Ro kann nicht anders, sie lächelt ihn an. Er ist charmant, aber auf eine ganz seltsame Weise, denkt sie.

?Woher??, fragt sie, obwohl sie es weiß. Sie hat nichts weiter zu sagen. ?Daher?, meint Marcel, seine Stimme klingt ein bisschen ungeduldig. Er weiß, dass sie es weiß, und es nervt ihn, dass sie trotzdem fragt. Er ist jetzt an ihrer Seite. Ro geht weiter. Sie schaut auf den Boden. Auf den Sand, der ihre beiden Fußspuren zeigt. Nebeneinander.

Sie spürt eine schwere Berührung im Nacken. Marcel hat den Arm um ihre Schultern gelegt. Ro hält die Luft an. Was soll sie jetzt tun? Was erwartet er von ihr? Warum macht er das? Was bedeutet das? Fragen, alle Fragen. Nicht auf einmal.

?Ich hab? deine Pokémon gesehen. Vorn, bei deinem Felsen. Hast du keine Angst, dass sie dir weglaufen? Oder jemand sie fängt?? Ro blickt auf. Sein Gesicht ist so nah, sie sieht direkt in seine Augen. Sie senkt die Augen schnell wieder, zuckt die Schultern.

?Sie laufen nicht weg. Und es kommt niemand her.?

?Und was ist mit mir??

Marcel lächelt. Ro kann es nicht sehen, aber sie weiß es. Warum reden sie über sowas? Kümmert er sich wirklich darum? Oder sagt er das nur so? Was soll sie nun antworten? Nicht alle Fragen auf einmal, langsam.

?Ach, du würdest es doch noch nicht mal schaffen, die zu entführen.? Das klingt gar nicht so verachtend, wie es eigentlich sollte. Ro kann ein Grinsen nicht unterdrücken. Ein Lachen. Sie sind jetzt ein ganzes Stück gegangen, Marcels Arm liegt immernoch in ihrem Nacken. Sie will das garnicht. Sie und Marcel sind doch nur Freunde. Oder?

?Ha, das denkst du! Aber so scheiß Pokémon brauch? ich garnich?!? Marcel spielt mit. Das Spiel gefällt Ro nicht. Sie hat das Gefühl, Marcel wolle ihr etwas sagen. Etwas Anderes.

?Warum hast du mich überhaupt gesucht??, fragt sie. Immer auf die direkte Art, das ist am besten.

?Ey, ich hab? dich nich? gesucht. Ich bin hier zufällig!? Er spielt immer noch.

?Dann hättest du grad nicht gesagt, du wusstest, dass ich hier bin.?

?Nja doch!?, macht Marcel. Vollkommen unlogisch. Ro wartet.

?Ich muss dir was sagen.? Und schon rückt er damit heraus. Ro lächelt in sich hinein. Hatte sie es doch gewusst.

?Was?n??

?Ich geh? in drei Wochen auf Pokémonreise. Meine Eltern haben?s mir erlaubt.? Ro erstarrt. Wie beiläufig er das sagt! Hat er denn keine Ahnung, was das für sie bedeutet? Doch, hat er. Er will wissen, wie sie reagiert. Vielleicht stimmt es nicht. Marcel erfindet sich oft sowas zusammen. Da steckt man nie dahiner, ob es stimmt oder nicht. Er will sie testen. Er will herausfinden, was es für sie bedeutet, wenn er geht. Ja, das wird es sein. Aber Ro wird sich keine Blöße geben.

?Au, cool. Dann wirst du Champ!?, sie lacht, streckt beide Daumen nach oben und zwinkert ihm zu. Ihre Reaktion ist übertrieben unemotional, er wird es merken. Er ist nicht dumm. Sie hat es wieder falsch gemacht.

Marcel geht nicht auf das Spiel ein.

?Jah?, macht er. Er schaut sie nicht an, er sieht auf den Boden. Auf seine und ihre Fußspur. Nebeneinander.

?Ich will aber nicht weg von dir.?

Wieder erstarrt Ro, die sich gerade erst zu entspannen begonnen hat. Erneut stürmen Fragen über Fragen in ihren Kopf. Sie drängt sie alle zurück. Das ist ihr nicht wichtig. Das sind Marcels gefühle. Sie mag ihn, er ist ihr bester Freund. Mehr nicht. Mehr nicht.

?Jah?, macht Ro. Nicht mehr. Sich verstecken, sich verbergen. Am besten unsichtbar werden. Aber nichts verraten, nichts sagen, nicht mehr als das. Nicht mehr.

?Jah?, echot Marcel sie. In einem freundlich-verächtlichen Tonfall. Ist das gut? Ist das schlecht? Marcel nimmt den Arm von ihren Schultern. Obwohl der Abend sommerlich warm ist, fühlt sich die Stelle wo er gelegen hat kalt an. Ro hebt den Kopf, schaut ihn an. Er schaut weg. Dann spricht er wieder, dieses Mal ist seine schöne Stimme ernst.

?Komm mit mir.?

Okay, okay, denkt Ro, ich hab Hallus, ich bild?s mir ein, ganz klar.

Sie knufft Marcel in die Seite. Er dreht den Kopf wieder zu ihr, schaut sie an. Ja, er ist da, er ist echt. Er hat das grad wirklich gesagt. Und er hat es auch nicht erfunden. Aber das geht nicht. Das geht nicht!

?Ich darf nicht, das weißt du doch.? Sie versucht, beiläufig zu klingen. Emotionslos. Das ist garnicht so einfach. Sie klingt traurig. Sie ist auch traurig. Marcel lächelt ihr zu. Wieder dieses Lächeln. So sieht er eigentlich richtig süß aus, denkt Ro. Und muss selber lächeln.

?Wenn ich dabei bin, lässt deine Mutter dich bestimmt. Bestimmt!?

Ro glaubt das nicht.
 

Ro betritt das Haus nicht, sie stürmt es. Auf dem Weg vom Strand herauf und den Gartenweg entlang liefert sie sich ein Wettrennen mit ihren Pokémon. Die Vorstellung, mit Marcel auf Pokémonreise zu gehen macht sie glücklich, beflügelt sie buchstäblich. Es ist nicht wahrscheinlich, dass ihre Mutter ihr die Erlaubnis gibt. Aber das kümmert sie nicht, sie verdrängt es. Marcel hat Recht. Wenn er dabei ist, muss ihre Mutter es ihr einfach erlauben. Schließlich macht das gleich mehrere ihrer Argumente unwirksam. Ja, Ro wird es schaffen. Sie wird mit Marcel losziehen. Gemeinsam. Nebeneinander.

Ro erreicht die Tür. Yanuvo, der direkt neben ihr lief, bremst. Auch Zirganha hält an. Cory und Arnemuva, die langsamsten, erreichen sie gerade erst, Meck sitzt auf Ros Schulter. Ro steckt den Schlüssel ins Schloss und schließt auf. Sie betreten das Haus, aus dem ihnen eine angenehme Kühle entgegenwallt. In der Küche brennt Licht.

?Mama??, ruft Ro. ?Hier bin ich!?, kommt die gedämpfte Antwort. Ro betritt den Raum, das Pokémonrudel im Schlepptau. Ihre Mutter, eine kleine und kompakte Frau mit kurzen, roten Locken, sitzt am Küchentisch. Sie wirft den Pokémon einen kurzen, kritischen Blick zu. Dann sieht sie Ro an. Lächelt, grüßt. Ro geht zum Schrank, holt ein Glas heraus, gießt sich Wasser ein. Trinkt. Ruhig bleiben. Nicht direkt raus damit. Ihre Mutter soll sie doch ernst nehmen. Sie stellt das Glas ab, dreht sich herum. Lehnt sich leicht gegen die Ablage.

?Ich hab? grad Marcel am Strand getroffen?, beginnt sie. Ihre Mutter sieht von der Zeitschrift auf, in der sie gelesen hat. Sagt nichts. Gut.

?Er hat mir erzählt, dass er in drei Wochen eine Pokémonreise antritt.?

Ihre Mutter runzelt die Stirn. Augen zu und durch, denkt Ro.

?Er hat mich gefragt, ob ich ihn begleiten möchte.? Und raus damit.

Das Stirnrunzeln ihrer Mutter verwandelt sich in Sekundenschnelle in das altbekannte, abweisende Gesicht. Ros Herz sinkt. Also doch nicht.

?Ro! Wie oft haben wir nun schon darüber gesprochen? Du solltest eigentlich wissen, was ich dazu sage.?

Entmutigt. Aussichtslos. Ob sie aufgeben soll? Nein, das wäre dumm.

?Aber mit Marcel ist es doch etwas Anderes, Mama!?, sprudelt sie heraus. Nein, beherrschen. Ruhig und ernst sprechen. ?Schau mal, du müsstest dir dann nicht mehr so viele Sorgen machen, und ich wäre auch nicht mehr allein.?

Das Gesicht ihrer Mutter wirkt wie aus Stein. Sie möchte zu diesem Thema nichts mehr hören. Sie ist zu Faul, ihre vorgefasste Meinung zu ändern. Ro ist zornig. Sie lässt sich nichts anmerken.

?Bitte. Denk wenigstens noch mal darüber nach.?

Ihre Mutter antwortet irgendetwas. Ro hört nicht zu, sie kennt diese Sprüche alle schon. Sobald ihre Mutter geendet hat, verlässt sie den Raum. Aber jetzt ist sie nicht mehr bereit, zu akzeptieren. In drei Wochen wird sie mit Marcel losziehen, und nichts kann sie daran hindern.
 

Marcel ist seltsam. Irgendwie ist er seltsam. Gestern war er noch so freundlich zu ihr, da hat er noch den Arm um ihre Schultern gelegt und gesagt, er wolle nicht weg von ihr. Oder so etwas ähnliches. War es das? Sie meint, noch seine Stimme in ihren Ohren nachklingen zu hören. Aber als sie ihn am nächsten Tag sah, war er ganz anders. Jetzt ist es Abend, wieder. Der Tag ging schneller herum als sie es gewöhnt ist. Die ganze Zeit, während der Arbeit und danach, hatte sie in Gedanken von ihrer großen Reise geträumt. Und sie hatte es kaum erwarten können, Marcel zu sehen. Als sie ihm dann aber begegnete, war er ganz anders als am Vorabend. Sie erzählte ihm, was ihre Mutter gesagt hatte, aber schien ihn nicht zu interessieren. Sie sagte, sie wolle dennoch mit ihm kommen, aber er reagierte gleichgültig. Sie versuchte, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, aber er ging nicht darauf ein. Und wärend der ganzen Zeit sah er ihr nicht einmal richtig in die Augen. Das tut weh. Es schmerzt Ro, dass ihm gleichgültig ist, was ihr so viel bedeutet. Hat er sie nicht immer so gut verstanden? Warum tut er es jetzt nicht? Warum hat er sie nicht angesehen? Da kommt ihr ein Gedanke. Vielleicht ist es ihm peinlich? Vielleicht schämt er sich für das, was gestern war. Vielleicht kann er nicht dazu stehen. Ach, verdammt, denkt Ro, was erfind? ich mir hier bloß zusammen? Wozu kann er nicht stehen? Da gibt es nichts.

Nach ihrem Gespräch mit Marcel war sie so aufgewühlt gewesen, dass sie um sich zu zerstreuen stundenlang mit ihren Pokémon trainiert hatte. Bis sie alle so erschöpft waren, dass sie kaum noch einen Fuß (oder eine Pfote) vor den anderen setzten konnten. Ro hat es gut getan, und das gilt wohl auch für ihre Pokémon. Sie müssen stark werden, schließlich wird das bald gefordert sein. Das hat Ro sich geschworen. Bei ihrer Trainerehre. Denn Ro ist Pokémon Trainer, und sie ist stolz darauf.

Part 2 Verliebt

Ro trainiert hartnäckig. Tag für Tag. Sie ist entschlossen, dem Widerstand ihrer Mutter zu trotzen, und auch Marcels plötzliches abweisendes Verhalten wird sie nicht von ihrem Vorhaben abhalten können. Nie ist sie der Erfüllung ihres großen Traumes so nahe gewesen. Jetzt gibt sie nicht mehr auf. Nie wieder.

Sie möchte Marcel das sagen, aber in letzter Zeit fürchtet sie sich davor, ihm irgendetwas anzuvertrauen. Sie weiß nicht, was er denkt, und sie kann es auch nicht erraten. Der Gedanke daran erfüllt sie mit einer tiefen Niedergeschlagenheit. Ihr Leben scheint aus der Bahn zu laufen. Die Zeit fliegt an ihr vorrüber, und der Tag von Marcels Abreise rückt ständig näher. Ro hat ununterbrochen das Gefühl, Chancen zu verpassen, zu spät zu kommen. Noch nicht einmal die offensichtlichen Erfolge des Trainings mit ihren Pokémon können ihr mehr Zufriedenheit geben. Sie geht ihrer Mutter aus dem Weg, will erst wieder mit ihr über das kritische Thema sprechen, wenn sie eine Lösung gefunden hat. Eine sichere Methode, sie zu überreden. Aber das ist gar nicht so einfach. Je mehr Ro über dieses Thema nachgrübelt, umso weniger will ihr dazu einfallen. Schließlich hält sie es nicht mehr aus, mit ihrem Problem alleine zu sein.

Es ist Nachmittag. Die Sonne beginnt bereits zu sinken und ganz Moosbach City scheint aufzuseufzen, als die heraufziehende Abendkühle es von der drückenden Hitze des Tages befreit. Ro schlendert den von mit Blumen angefüllten Wiesenstreifen begrenzten Weg entlang. Die Straßen von Moosbach City haben keine Namen, weil es keine richtigen Straßen sind. Niemand hier besitzt ein Auto. Deshalb sind die Hausnummern durchgehend und unabhängig von der Straße, in der die Häuser stehen. Manche Häuser stehen noch nicht einmal in einer Straße. Das von Marcel und seinen Eltern liegt beinahe am Ende des bewohnten Bereiches der Insel. Ro erkennt es schon von weitem. Es gehört zu den wenigen nicht von irgendwelchen Pflanzen berankten Gebäuden der Insel. Die Hausfront ist in einem sehr hellen Grün gehalten, während Tür- und Fensterrahmen in einem knalligen Orange gestrichen sind. So knallig, dass es fast in den Augen wehtut, hinzusehen. Das Haus strahlt eine derartige Freundlichkeit aus, dass es einen einfach nur glücklich stimmen kann. Oder geht es nur Ro so? Obwohl sie Marcel manchmal abholt, ist sie noch nie darin gewesen. Auch jetzt soll sich das nicht ändern.

Ro klingelt. Die Tür öffnet sich, Marcel steht darin. Er grüßt.

?Hi?, sagt Ro. ?Magst du was rauskommen??

?Klar?, antwortet Marcel. ?Moment.?

Er verschwindet kurz in der Wohnung. Dann kommt er zurück, schließt die Haustür hinter sich. Ro führt ihn aus dem Vorgarten hinaus, in Richtung des östlichen Ortsausganges.

?Weißt du?, beginnt sie, ?ich würde dich echt gern begleiten.? Sie sieht zu Marcel auf. Er lächelt sie kurz an.

?Jah?, macht er.

?Möchtest du das eigentlich wirklich???, platzt Ro heraus. Ihr ist zu viel von ihrem inneren Schwanken anzuhören, denkt sie.

?Klar, hätte ich das sonst gesagt?!? Erleichterung. Marcel. Marcel, der es ernst meint. Er ist wieder da. Ro atmet auf, ein Stein fällt ihr vom Herzen. Ihr Atem geht auf einmal viel, viel leichter. Was für ein gutes Gefühl!

?Meine Mutter erlaubt es mir nicht. Aber ich will nich? aufgeben!?, erklärt Ro. Stürmisch. Soll er doch wissen, wie es ihr geht!

?Find? ich gut?, sagt Marcel.

Sie haben eine der großen Wiesen erreicht, die Ro für ihr Training nutzt. Marcel setzt sich auf einen pilzbewachsenen Baumstamm, der mitten darin liegt. Ro zögert kurz, setzt sich dann neben ihn.

?Was soll ich ihr sagen? Wie kann ich sie überreden?? Sie sieht auf ihre Hände. Marcel weiß bestimmt Rat. Er muss Rat wissen. Er will sie doch bei sich haben. Er ist ihr Retter, dieses eine Mal.

?Scheiß doch drauf, was deine Mutter sagt.?

?Na toll, und wie stellst du dir das vor?? Er muss ihr doch helfen können. Ro fürchtet sich. Fürchtet sich davor, dass er keinen Rat wissen könnte.

?Komm einfach mit mir. Du muss? nich? immer so lang rumfragen, tu es einfach. Sag? deine Mutter einfach, ich geh? mit Marcel und basta.?

?Aber das geht doch nicht, oder? Ich mein?, ich bin noch nicht volljährig, ich darf nicht machen, was ich will. Meine Mutter hat da eine Menge mitzureden.?

Marcel sagt nichts. Er sitzt eine Weile einfach nur so da. Vorgebeugt, die Hände leicht ineinander gefaltet auf seinen Knien liegend. Ro verspürt das unangekündigte, impulsive Verlangen, seine langfingrigen Hände in die ihren zu nehmen. Rasch sieht sie weg. Er soll es nicht merken. Dann spricht Marcel wieder.

?Ach, ich glaub? nich?, dass sie dir das echt verbietet. Warte noch was ab. Sie wird es schon noch erlauben.?

?Und wenn nicht??, fragt Ro. Was ist, wenn alles nichts hilft? Wenn sie hier bleiben muss, und Marcel fort geht?

?Dann ist das Pech?, meint Marcel schulterzuckend. Ro ist etwas vor den Kopf gestoßen, bis ihr einfällt, dass sie sich von Marcels Verhalten nicht mehr abschrecken lassen wollte. Er meint das nicht so. Er will nur ihre Reaktion sehen, oder er mag einfach nicht sagen, was er wirklich denkt. Sie lächelt.
 

Es sind nur noch wenige Tage bis zu Marcels Abreise, als Ros Mutter ihr die Erlaubnis gibt. Sie tut es so plötzlich, dass Ro kaum glauben mag, dass nicht mehr dahinter steckt. Aber eigentlich ist das nicht besonders wichtig, Hauptsache ist, dass Ro die Erlaubnis hat. Sie läuft sofort zu Marcel, um ihm davon zu erzählen. Es ist Sonntag morgen, Ro hat frei. Nachdem sie Marcel die Neuigkeit jubelnd überbracht hat kehrt sie nach Hause zurück, um alles Nötige vorzubereiten. Das Erste, was sie mit Befriedigung erledigt ist, das Schreiben an die Sternwarte zu verfassen, dass erklärt dass sie ihr Praktikum abbricht. Fast möchte sie vor Glück heulen, kann aber nur ununterbrochen lachen. Der Gedanke an die bevorstehende Reise mit Marcel löst ein wohliges Kribbeln in ihrem Bauch aus. Ro lächelt vor sich hin, als sie auf dem Boden ihres Zimmers kniet und in ihren Regalen nach Dingen wühlt, die sie mitnehmen will. Neben ihr liegt ihr großer Trainerrucksack aus grasgrün gefärbtem Leder. Den hat ihr Vater ihr einst zum zwölften Geburtstag geschickt. Sie hat nie wirklich Verwendung für ihn gehabt, aber jetzt ist sie froh, ihn zu besitzen. In der kleinen, vordere Tasche hat sie bereits eine Anzahl von Pokébällen verstaut. In die zweitgrößte Tasche stopft sie gerade einen Trank und verschiedene heilende Kräuter. In der größten Tasche befinden sich ihr Notizbuch, ein Zeichenblock, ein Mäppchen mit verschiedenen Stiften so wie einige Kleidungsstücke zum Wechseln. Die Beeren- und Die TM-Tasche sind noch leer.

?Ro!?

Ihre Mutter ruft vom Treppenansatz aus nach ihr. Ro geht zur Tür.

?Telefon für dich?, sagt ihre Mutter und reicht ihr den Hörer, als sie herunterkommt. Ro nimmt ihn entgegen und kehrt damit in ihr Zimmer zurück.

?Ja??

?Hallo, Ro, ich bin?s?, sagt eine tiefe, volltönende Stimme am anderen Ende der Leitung.

?Papa, hi!?, sagt Ro. Sie fragt sich, warum er anruft. Er meldet sich nur selten bei ihr, Weihnachten und an ihrem Geburtstag, aber nie nur einfach mal so. Manchmal ärgert sie das, aber für gewöhnlich kümmert es sie nicht.

?Deine Mutter hat mich gerade angerufen.? Ro reißt kurz ungläubig die Augen auf. Das allerdings ist wirklich ungewöhnlich.

?Sie hat mir erzählt, dass du eine Pokémonreise antrittst. Sie hat mich gebeten, dir zumindest zeitweise mein Haus anzubieten, falls du keine Lust mehr darauf haben solltest.?

Oh, sie hätte es sich denken können! Natürlich hat wieder etwas dahinter gesteckt, als ihre Mutter Ro die Erlaubnis gab. Sie ist wütend.

?Danke, nett von dir, aber ich glaube kaum, dass es dazu kommt?, sagt Ro kalt.

?Ich wollte es nur anbieten, damit du es weißt. Man kann so etwas niemals vorher wissen, merk dir das.? Ihr Vater schlägt den typischen Eltern-Tonfall an, der eigentlich heißen soll: Pass ja auf, was du sagst, und widersprich mir bloß nicht.

Ro hat gerade absolut keine Lust, sich die Laune verderben zu lassen.

?Ist gut. Tschö Papa.? Ohne auf seine Antwort zu warten legt sie auf.
 

Der Tag ist gekommen. Schon am Morgen singt Ro im Bad laut vor sich hin. Sie steht vor dem Spiegel und bindet ihr Haar zu zwei hoch am Kopf mündenden Zöpfen. Jeder soll ihr ihre Fröhlichkeit ansehen können. Sie trägt eine weiße Caprihose und ein hellgrünes Top. Ihre Gestalt im Spiegel wirkt frisch, ein bisschen bewegt sie sich wie jemand, der jahrelang gefesselt war. Froh, auch nur einen Fuß vor den Anderen setzten zu dürfen. Als sie die Treppe hinuntereilt breitet sie die Arme aus als seien es Flügel, die sie jeden Moment abheben und zum weiten Himmer hinaufgleiten ließen.

Ihre Mutter lächelt sie an, aber sie hat dicke, graue Ringe unter den Augen. Ob sie wohl geweint hat, weil ich weg gehe?, fragt Ro sich mit einem Anflug schlechten Gewissens. Aber das ist nicht so wichtig, der Gedanke verfliegt schnell.

?Ich hab? dir ein paar Brote gemacht?, sagt ihre Mutter und reicht ihr eine Papiertüte. Ro bedankt sich und verstaut sie in ihrem Rucksack. Dann nimmt sie ihr Portemonai von der Küchenablage. Sie öffnet es kurz, um sich zu vergewissern, dass ihr Trainerpass sich darin befindet. Ja, alles in Ordnung. Zufrieden steckt sie es ein. Dann schultert sie den Rucksack und verabschiedet sich mit einer Umarmung von ihrer Mutter, deren Augen jetzt tatsächlich in Tränen schwimmen. Ro schenkt ihr ein letztes, glückliches Lächeln.

Sie trifft Marcel auf halbem Weg. Er hat ebenfalls einen großen Rucksack geschultert. Zusammen gehen sie zum Ufer herunter. Cory sitzt auf Ros Schulter, die restlichen Pokémon befinden sich innerhalb ihrer Pokébälle im Beutel, der griffbereit an ihrer Hüfte baumelt. Die Morgensonne scheint wärmend und liebevoll auf sie herab. Ro hebt den Kopf und blinzelt in das Licht. Im Stillen dankt sie allen Mächten des Himmels, die ihr beigestanden haben mögen. Nie hätte sie geglaubt, dass ihr Traum sich schon so bald verwirklichen würde.

?Mh, mist, dann bin ich an meinem Geburtstag garnich? zu Haus, dann gibt?s keine Geschenke?, sagt Marcel.

?Ich schenk? dir was?, erklärt Ro. ?Wie alt wirst du??

?Sechzehn.? Ro sieht zu ihm auf. ?Hey, ich bin ja älter als du! Ich bin schon sechzehn!?, lacht sie. Marcel mustert sie. ?Du siehst aus wie zwölf?, stellt er gnadenlos fest. Ro kichert.

?Naja, hab? halt kleine Eltern?, meint sie.

?Nicht nur wegen der Körpergröße.?, sagt Marcel. Ro schaut kurz verdutzt drein. Dann sagt sie: ?Ach, das liegt jetzt sicher an den Zöpfen.? Sie greift einen und wickelt die weichen Haare um ihre Finger.

?Vielleicht?, erwidert Marcel.

Sie sind am Ufer angelangt. Dort wartet ein Motorboot auf sie. Ro weiß von Marcel, dass ein Freund seines Vaters sie nach Graphitport City bringen wird. Da das ein ziemlich weiter Seeweg ist, werden sie einen Zwischenstopp in Flossbrunn, der schwimmenden Stadt machen.

Sie betreten das Boot. Marcel grüßt den Kapitän freundlich, sie wechseln ein paar Worte. Er stellt ihm Ro vor, und der stämmige, bärtige Mann wirft ihr einen prüfenden Blick zu. Dann geht er zu seinem Platz hinterm Steuerrad. Das Boot setzt sich stockend in Bewegung. Ro sieht sich an Deck um.

Die Bodenplatten bestehen aus klarlackiertem, hellen Holz. Die Reling ist hellgrün gestrichen. Alles macht einen sehr sauberen Eindruck.

Ro tritt an die Reling. Ihr Blick ruht auf dem sich langsam entfernenden Strand von Moosbach City, ihrer Heimatstadt. Wie lange wird es dauern, bis sie ihn wiedersieht? Sie fühlt ein kleines, unangenehmes Nagen ganz tief im Magen. Sie schüttelt sich.

Plötzlich fällt ein Schatten über sie. Marcel steht hinter ihr. Er stützt sich mit beiden Händen auf die Reling, sie ist dazwischen. Ro spürt, wie sie leicht rot wird. Warum macht er auch immer so etwas? Sie kneift die Lippen zusammen. Warum ist sie so verkrampft? Das soll doch eine schöne gemeinsame Zeit werden. Sie sollte froh sein, dass sie Marcel jetzt ganz für sich allein hat. Aber warum will sie ihn für sich allein haben?

?Guck mal, man kann die Fische sehen?, sagt Marcel. Ro senkt ihren Blick auf die schäumenden Wellen, die laut gegen den Schiffsrumpf schlagen. Ja, tatsächlich, im klaren, azurblauen Wasser sind dunkle Schemen zu erkennen, die schnell hin und her flitzen.

Sie streckt zeigend die Hand aus. ?Guck mal, da war ein Garados!?

Sie hört, wie Marcel hinter ihr verächtlich mit der Zunge schnalzt. Wie nah er ist! Sie kann seinen Atem warm in ihrem Nacken spüren.

?Nein, Garados leben im Süßwasser.?

Ro lässt niedergeschlagen die Schultern hängen. Sie hat es nicht gewusst. Er war wieder schlauer, gewiss hält er sie jetzt für dumm und unfähig.

?Ich bin echt doof?, sagt sie.

?Ach, quatsch.?

?Warum??

?Du bist gar nicht doof.?

?Warum nicht?? Dieses Spiel gefällt Ro.

?Du sollst dich nicht so runtermachen. Ich find? das nicht gut.?

?Weshalb denn?? Fragen, immer nachfragen. Wenn sie fragt, wird er antworten. Dann kann er nicht schweigen. Sie will nicht, dass er schweigt, sie will seine Stimme hören.

?Weil ich dich sehr mag.? Marcels Worte klingen etwas gepressst. Er spricht ein bisschen kindlicher als sonst. Ro bleibt einen Moment lang die Luft weg. Ihr Gesicht glüht. Sie ist froh, dass Marcel hinter ihr steht und es daher nicht sehen kann. Sie sagt nichts mehr, fragt nichts mehr. Sie weiß nicht, was es da noch zu fragen gibt. Oder vielleicht will sie die Antworten nicht wissen. Oder auch beides, das ist gar nicht so wichtig. Sie versucht, den Moment festzuhalten. Marcels Nähe. Marcels Worte, die die warme, salzige Luft zum schwingen brachten. Wie die Ringe eines in ein Wasserbecken geworfenen Steines meint Ro ihre Bedeutung sich ausweiten zu sehen. Eine lange Reihe Dominosteine scheint in ihrem Kopf umzufallen, bis die gesamte Struktur ihres Denkens, ihres Seins sich durch Marcels Worte verändert hat.

Der Tag verfliegt schnell. Ro steht die meiste Zeit an der Reling, träumen auf das Meer hinausblickend. Eine ganze Weile steht Marcel neben ihr, den Arm um ihre Schultern gelegt. Ro fühlt sich fiebrig, sie ist so tief in wirre Gedankengänge verstrickt, dass sie außer Marcels Berührung nichts mehr wahrnimmt. Da ist etwas ganz neues, ein Gefühl, dass sie nicht verstehen und vielleicht nicht akzeptieren mag.

Es dämmert bereits, als sie Flossbrunn erreichen. Ro hat schon viel von dieser märchenhaften Stadt gehört. Sie liegt mitten im Meer, aber nicht auf festem Land. Es sieht beinahe so aus, als würden ihre kleinen, spitzdachigen Häuser, die nur durch schmale Stege verbunden sind, einfach auf dem Wasser schwimmen. Aber Ro weiß, dass sie auf einer Kolonie von Corasonn erbaut sind. Corasonn sind Korallen-Pokémon. Die wildlebenden Exemplare bewegen sich nur als Jungtiere von der Stelle. Wenn sie dann einen Ort gefunden haben, an dem sie sich festsetzen können, klammern sie sich aneinander fest und bilden Kolonien. Manche Inseln, so wie die Zinnoberinsel in Kanto, waren ursprünglich eine sehr alte Corasonn-Kolonie. Aus den toten Pokémon wuchs das Land. Ro gefällt diese Vorstellung. Das Land gibt den Pokémon Leben, und im Gegenzug wird aus den Pokémon wieder Land.

?Alle Mann von Bord!?, ruft der Kapitän fröhlich. Marcel packt seinen Rucksack und balanciert gekonnt über das ausgelegte Brett auf die Plattform, auf der das Pokémoncenter steht. Ro folgt ihm. Wie alle Häuser der Stadt ist auch das Pokémon Center aus leichtem Holz gebaut. Steinhäuser wären zu schwer, sie würden womöglich die Plattformen einreißen.

Ro und Marcel betreten das Gebäude. Der Kapitän bleibt auf dem Boot. Nachdem sie ein Zimmer für die Nacht gemietet haben ? da es sie billiger kommt, teilen sie sich eines ? stellen sie ihre Rucksäcke dort ab.
 

?Es sieht gar nicht so spät aus, wie es ist?, sagt Ro. Sie und Marcel sitzen am Rande der Pokémon Center-Plattform und lassen die nackten Füße ins warme Wasser hängen. Ihre Schuhe und Socken liegen neben ihnen. Ro blickt auf die Sonne, die in weiter Ferne im Wasser zu versinken scheint.

?Das ist, weil es im Sommer erst so spät dunkel wird?, antwortet Marcel ihr.

?Jah...?

Ro spürt wie die kleinen Wellen sanft ihre Zehen umspülen. Im Himmel über ihnen ziehen Wingull und andere Vogelpokémon, die Ro noch nie zuvor gesehen hat, ihre Runden. Ab und zu stößt eines vom Himmer herab, um einen Fisch aus dem Wasser zu holen. Das zappelnde, glitschige Wesen wehrt sich nach Kräften, verschwindet aber trotzdem mit grausamer Garantie im Schnabel des geflügelten Pokémon. Der Anblick stimmt Ro traurig und nachdenklich. Sie wendet den Blick ab. Sie ist müde, ihre Augen scheinen zufallen zu wollen. Aber Marcel denkt wohl noch nicht ans schlafen Gehen, also sagt sie nichts. Sie betrachtet Marcels Profil. Seine Augen sind auf das Meer gerichtet. Woran er wohl denkt. Ro verspürt den plötzlichen Drang, ihn zu berühren. Sie verlagert ihr Gewicht, lehnt sich zur Seite und legt den Kopf auf seine Schulter.
 

Es ist jetzt wirklich spät, aber Ro kann nicht schlafen. Sie liegt auf dem Rücken in dem weichen Bett und schaut zum Fenster hinaus, in den sternenübersäten Himmel. Es ist unheimlich still geworden, in ganz Flossbrunn scheint sich nichts mehr zu regen.

Das Fenster ist gekippt. Ab und zu dringt ein kühler Luftzug durch die Öffnung und streichelt sacht ihr Gesicht. Ro hört, wie Marcel in dem Bett auf der entgegengesetzten Seite des Zimmers sich auf die andere Seite wälzt. Ihre Wangen beginnen in der plötzlich wiederkehrenden Erinnerung an den Abend zu glühen. Unruhig dreht sie sich auf den Bauch und drückt das Gesicht tief ins Kissen. Ihre Schultern heben und senken sich im Rhythmus ihres schwer gehenden Atems. Was ist das nur für ein Gefühl? Obwohl Marcel mehrere Meter entfernt ist, meint sie seine Gegenwart körperlich zu spüren. Sie ist allgegenwärtig und wichtiger als alles Andere. War das schon immer so? Har Ro bei Marcel immer dieses überwältigende Gefühl verspürt? Diesen Drang, zu berühren, zu beschützen? Sie weiß es nicht, auf ein Mal verschwimmt die Erinnerung an die alten Tage in Moosbach City. Sie sieht nur noch Bilder, aber die Erinneung an ihre damaligen Emotionen und Gedanken bleibt ihr verschlossen.

Ro presst beide Hände gegen die Brust. Sie fühlt das dumpfe Pochen, das sich nicht beruhigen will. Ihre geschlossenen Augen sind voller Tränen, auch wenn sie eigentlich nicht so recht weiß, warum. Wie kann das sein, dass ihr eigenes Herz ihr plötzlich so fremd ist? So fern, so fern und unerreichbar.

Nein.

Der Gedanke ist ganz leise und unbemerkt gekommen, aber jetzt durchdringt er Ro wie ein Pfeil. Ihr Herz ist nicht fern, es ist in diesem Zimmer. Es ist bei Marcel.

Ro öffnet die Augen. Langsam und weit. Wie hat ihr das entgehen können? Wie hat sie übersehen können, was sich in ihrem eigenen Herzen abspielte? Wie, so fragt sie sich, ist es gekommen, dass sie ihre Liebe erst jetzt entdeckt? Ihre Liebe, ihre Liebe zu Marcel. Ro ist sich jetzt sicher. Das ist es, was sie in Wahrheit mit Marcel verbindet. Und sie hat es nicht gemerkt! Erst Marcel konnte ihr die Augen öffnen. Durch seine Gefühlsbekundung hatte er einen langsamen Prozess des Begreifens in Bewegung gesetzt, durch den Ro jetzt zu dieser Einsicht gelangt ist. Aber warum nur war es Ro nicht möglich gewesen, es selbst zu erkunden? Vielleicht hat sie einfach mehr Zeit gebraucht.

Ro dreht sich wieder auf den Rücken. Das Kribbeln in ihrem Bauch ist jetzt stärker denn je, aber sie will es nicht. Es hat so einen bitteren Beigeschmack. Irgendetwas drängt sich zwischen Ro und das Gefühl, dass sie gerade erst entdeckt hat.

?Ich will nicht?, flüstert Ro. Sie drückt ihre Hände gegen das Gesicht. Versucht, sich vor sich selbst zu verstecken. Heiße Tränen rinnen zwischen ihren Fingern hindurch, unaufhaltsam.

Angst.

Ro hat Angst vor dem Gefühl, vorm Verliebtsein.

Part 3 Reise

Das ist der schönste Tag in meinem Leben, denkt Ro. Sie ist noch nie so glücklich gewesen, da ist sie sich sicher. Die Sonne scheint vom wolkenlosen Himmel und lässt die verregnete und von zweifelnden, drückenden Gedanken durchsetzte Sommernacht schnell in Vergessenheit geraten. Fast ist es, als habe jemand mit einem riesigen Schwamm einmal über die Welt gewischt und sie von allen belastenden Dingen gereinigt. Ros Gedanken, die sich in der Nacht rastlos um einen Punkt gedreht hatten waren zur Ruhe gekommen, als sie an diesem Morgen erwachte. Die Erkenntnis jedoch, das Neue, das sie im Dunkel ihres Herzens entdeckt hat, ist geblieben. Aber sie schmerzt nicht mehr. Ro braucht Marcel nur anzusehen und ihr wird klar, dass es nicht nötig ist, sich so viele Gedanken zu machen. Das, was wirklich wichtig ist, braucht nicht in Worte gefasst und nicht verstanden zu werden. Man muss es nur erkennen, um es zu besitzen.

Es war gerade erst hell geworden, als sie das Boot erneut betraten. Ro war noch ziemlich verschlafen, Marcel jedoch wirkte wach wie immer. Bald verlor auch Ro ihre Müdigkeit. Jetzt sind sie bereits seit einer halben Stunde unterwechs. Ro und Marcel sitzen im Schneidersitz nebeneinander an Deck, mit dem Rücken gegen die Begrenzung gelehnt. Obwohl es sehr warm ist spürt Ro Marcels Körperwärme, und sie spürt sie gerne. Schon seltsam, wie wenige Tage ihre Wahrnehmung von ihm so verändern konnten. Und seit der letzten Nacht scheint diese Veränderung ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Ro kann weder Blick noch Gedanken von Marcel fortlenken. Aber im Gegensatz zu den Gefühlen, die sie nachts gehabt hat, findet sie es jetzt nicht schlimm. Im Gegenteil, sie findet es schön. Es ist ein so von Grund auf positives Gefühl, dass es nur schön sein kann, denkt sie. Sie lächelt in sich hinein.

?Es ist dir sehr wichtig, ein guter Trainer zu werden, oder??

Ro sieht Marcel an. Er schaut ihr in die Augen. Ro erschrickt, versucht aber, nicht weg zu schauen. Wie es kribbelt in ihrem Bauch!

?Jap. Aber das ist nicht mehr das Wichtigste?, erwidert sie lächelnd.

?Was ist denn das Wichtigste??, fragt Marcel. Er lächelt zurück.

?Wichtiger ist, dass du bei mir bist!? Und raus damit. Insgeheim möchte Ro sich am liebsten laut auslachen.

?Warum bin ich wichtig??

Ro senkt den Blick, es gelingt ihr nicht, ihm länger in die Augen zu sehen.

?Weiß nich?, bist es einfach?, murmelt sie. Marcel senkt den Kopf zu ihr hinunter, er zieht die Augenbrauen hoch.

?Hä??

?Nichts!? Ro schleudert den Kopf in den Nacken und schüttelt das Haar aus dem Gesicht. Dann schenkt sie Marcel ein breites Grinsen. Sie ist so glücklich! Glücklich, Marcel zu haben, glücklich, nicht allein zu sein, glücklich, dass sie hier in der Sonne sitzen und das Leben genießen darf. Ro ist glücklich, für den Augenblick leben zu dürfen, und nicht ständig in die Zukunft denken zu müssen. Es ist, als sei sie ein neuer Mensch, denkt sie und lächelt.

Ein bisschen ist das so wie damals, als sie und Marcel sich kennenlernten. Oh, so lange ist es noch gar nicht her, aber Ro kommt es wie eine Ewigkeit vor. Da hat es diese Zeit gegeben, in der ihr Umgang mit Marcel so anders war. Sie hat ihn damals noch kaum gekannt, sie wusste nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Sie war unsicher, meinte jedes Wort abwiegen zu müssen und schämte sich oft wegen irgendwelchen Kleinigkeiten. Marcel ist es nie so gegangen, wie Ro zurückblickend erkennt. Er war von Anfang an so ungezwungen, wie Ro es zu sein gelernt hat. Und nicht nur das hat er sie gelehrt. Durch ihn hat sie allmählich gelernt, über sich selbst zu lachen. Eine Eigenschaft, die wertvoller ist als man denken mag. Dadurch wurde Ro immer lockerer und ungezwungener im Umgang mit Marcel, bis die Zeit sie aneinander schweißte. Wenn zwei Menschen oft miteinander zu tun haben, auch wenn nur über eine kurze Zeitspanne, kennen sie sich bald gut genug und akzeptieren einander so weit, dass sie sich voreinander nicht mehr verstellen müssen. Wenn dieser Zustand nicht erreicht wird, kann eine Freundschaft niemals entstehen.

Ros Vertrauen zu gewinnen ist nie für jemanden leicht gewesen. Aber Marcel hat es erst garnicht offen versucht. Gerade weil sein Umgang mit ihr so oberflächlich war, begannen sie irgendwann aneinander zu wachsen und sich gegenseitig viel anzuvertrauen. Und obwohl Marcel jede Oberflächlichkeit so leicht fällt, weiß Ro, dass es ihm Schwierigkeiten bereitet, offen über seine Gefühle zu sprechen.

Und Ro geht es nicht anders. Seit dem frühen Morgen, als sie gemeinsam aufgestanden sind, wartet sie auf eine Gelegenheit, ihm von dem zu erzählen, was ihr in der Nacht klar geworden ist. Aber das ist gar nicht so einfach, wie man meinen sollte. Immer, wenn sie meint, der Moment sei gekommen, fängt Marcel plötzlich an, über etwas anderes zu reden, oder sie hält im letzten Moment doch die Luft an und sagt es nicht. Sie weiß einfach nicht, wie sie anfangen soll. Alle Worte, die sie sich dafür zurechtgelegt hat, scheinen ihr auf einmal lächerlich. Sie fürchtet sich vor Marcels Reaktion.

?Fhh?, macht Ro, schlingt die Arme um ihre Knie und lässt den Kopf darauf sinken. Was das für ein Gefühl ist! Nur wegen Marcel... Nur weil er da ist... Wie kann das sein? Ro möchte die Augen schließen und den Augenblick für immer einfrieren. Sie wartet. Wird Marcel etwas sagen? Wird er sie berühren? Ihre Haut kribbelt.

Dann hört sie, wie Marcel aufsteht. Er geht zum Kapitän, Ro kann die beiden ein paar Worte wechseln hören. Sie hebt ihren schweren Kopf und schaut über ihre Knie hinweg zu Marcel hinüber.

Er trägt kurze, blaue Jeans, aus denen oben eine graue Boxershorts herauslugt und ein ärmelloses Shirt. Jetzt dreht er sich wieder zu ihr herum, und sie schaut schnell weg, um nicht den Eindruch zu machen, dass sie ihn beobachtete. Warum eigentlich nicht? Es ist doch so, oder? Das ist eine ganz neue Art zu denken für Ro, die sie ziemlich gewöhnungsbedürftig findet. Woher weiß sie eigentlich, dass sie in Marcel verliebt ist? Woran hat sie das erkannt? Wirklich, das ist nicht einfach, denkt Ro. Wenn man verliebt ist, dann weiß man es einfach. Dieses Gefühl kommt und geht wann und wie es will, und genau das macht es ja so problematisch.

Marcel lehnt sich über die Reling und spuckt ins Meer. Ro steht auf, stellt sich neben ihn.

?Bald kommen wir in Graphitport City an?, sagt er.

?Da gibt es einen Markt.? Ro sagt einfach das erste, was ihr dazu einfällt.

?Nja?, macht Marcel. ?Aber keine Arena. Wir bleiben da nich? lang, wir ziehen direkt weiter nach Malvenfroh City, dann können wir Walter herausfordern.?

Walter ist der Arenaleiter von Malvenfroh City, Ro kennt ihn aus dem Fernsehen. Er kämpft mit Elektro Pokémon.

?Aber ins Meer-Museum gehen wir doch noch, oder??

?Näh, das kostet ja Geld!?

?Ach komm, die paar Pokédollar muss dir das doch wert sein!?, meint Ro. ?Das is? doch interessant! Ich find? jedenfalls schon.?

?Na gut, wenn du das willst?, murrt Marcel.

?Klasse!?, jubelt Ro und klatscht strahlend in die Hände. Marcel dreht den Kopf und lächelt sie so freundlich an, dass Ro meint, im nächsten Moment vor lauter Glück und Verliebtheit einfach abzuheben.
 

Der Strand ist riesig und von einem warmen, leuchtenden Gelb, das einen scharfen Kontrast zum azurblauen Meer bildet. Rote, blaue und güne Sonnenschirme scheinen wie Pilze alle paar Meter aus dem Boden gewachsen zu sein. Horden von kleinen Kindern wimmeln zwischen ihnen herum und stürzen sich von Zeit zu Zeit, die Schwimmreifen um ihren Hüften fest umklammernd, ins Wasser. Dabei veranstalten sie ein unheimliches Gekreische, das der Szenerie einen Hauch von Hektik verleiht.

Ro springt als Erste an Land. Marcel folgt ihr sogleich, nachdem er sich vom Kapitän verabschiedet hat. Auch Ro winkt dem Mann noch einmal zu, dann dreht sie sich herum und streckt die Arme wie Flügel weit von sich. Tief einatmend betrachtet sie Graphitport City, das in der hellen Mittagssonne einladend und fröhlich vor ihnen liegt. Eine Welle des Glücks durchflutet sie. Das ist der wahre Beginn ihrer Reise, und nie, nie will sie diesen Moment vergessen. Sie dreht sich zu Marcel herum und strahlt ihn an.

?Komm, lass uns gehen! Ich freu mich ja so!? Auch Marcels Blick ruht einen Moment auf der Stadt, deren Häuser hinter dem weitläufigen Strand aufragen. Dann wandert er über Ros Gesicht, und obwohl seine Lippen sich nicht bewegen, meint Ro seine Augen lächeln zu sehen. Gemeinsam überqueren sie den Strand. Er ist ganz anders, als der Stand von Moosbach City, denkt Ro. Sogar der Sand ist anders...und die ganze Atmosphäre. Aber dazu ist sie ja losgezogen ? um Neues kennen zu lernen. Sie lächelt stumm in sich hinein.

Das anziehendste an Graphitport City ist für die Meisten Touristen und Trainer auf Durchreise der große Markt der Hafenstadt. Er befindet sich noch vor der eigentlichen Stadt, bildet also praktisch die Grenze zwischen Strand und Stadt. Die vielen Stände werden von ihren Inhabern jeden Morgen auf einem großen, kopfsteingepflasterten Platz erbaut. Als Ro und Marcel ihn betreten, herrscht ein ziemliches Gedränge auf dem Markt. Ro klammert sich an Marcels Arm, um ihn in der lärmenden Menge nicht zu verlieren. Die Luft ist von den unterschiedlichsten Gerüchen erfüllt. Als sie an einem Blumenstand vorbeigehen, wallt ihnen ein Schwall von Düften entgegen, von einem anderen Standt dringt der Geruch frisch gegrillter Würstchen zu ihnen herüber. An manchen Ständen werden Trainerutensilien verkauft, die Marcel allesamt fachkundig untersucht, ehe er etwas kauft.

Ro schaut sich mit staunenden, weit geöffneten Augen um. Wie viel es hier zu sehen gibt! Von einem Stand kommt sie gar nicht mehr los. Auf einem weißen Plastiktisch türmen sich Berge von kleinen, originalgetreuen Stofftier-Pokémon. Ro ist fasziniert von der kleinen, plüschenen Nachbildung eines Eneco. Marcel will weitergehen, er zupft an ihrem T-Shirt.

?Komm, Ro!? Er klingt etwas gereizt. Sie will nicht, dass er ungeduldig wird. Daher legt sie das kleine Stofftier rasch wieder zurück an seinen Platz und will weitergehen. Aber nun bleibt Marcel auf einmal stehen. Er scheint bemerkt zu haben, was Ros Aufmerksamkeit so fesselte. Ro sieht, wie er das Stoff-Eneco nimmt und dem Verkäufer zeigt. Dann gibt er eine Münze. Ehe Ro es sich versieht, drückt er es ihr in die Hand. Einen Moment behält er ihre Hand in seinen, dann lässt er sie los. Ro blickt mit großen Augen zu ihm auf.

?Für mich??, fragt sie ungläubig.

?Ja, für dich.? Marcel äfft ihren Tonfall nach. Ro muss auf einmal lachen, aber gleichzeitig möchte sie weinen. Sie umklammert Marcels Geschenk fest mit beiden Händen. Sie weiß nicht, was sie sagen soll, sie weiß nicht, was sie tun soll. Obwohl sie vor Glück nur lächeln kann, sind ihre Augen voller Tränen. Marcel sieht sie an. Er lächelt nicht, aber er sieht ihr ganz tief in die Augen. Ro hält diesem Blick nicht stand und sieht zu Boden. Eine Träne tropft von ihrer Wange.

?Was ist los??, fragt Marcel. ?Warum weinst du denn?? Seine Stimme klingt wirklich besorgt, das hört Ro trotz des Lärms rings herum. Für sie haben alle anderen Menschen aufgehört zu existieren, in diesem Augenblick gibt es nur sie und Marcel, der sich zu ihr herunterbeugt.

?Nichts?, sagt Ro. Es ist, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und die Welt wieder in die Angeln gehoben. Ro nimmt plötzlich überdeutlich die an ihnen vorrüberströmenden, rempelnden und sie interessiert musternden Menschen wahr. Sie reißt sich zusammen und zwingt sich, das Plüsch-Eneco noch immer gegen ihre Brust gedrückt, weiter zu gehen. Dabei wagt sie es nicht, sich wie zuvor an Marcels Arm zu hängen. Obwohl sie ihn doch liebt, fürchtet sie ihn auch. Sie fürchtet, was passieren könnte, wenn sie den Kontakt zu ihm sucht. Sie fürchtet, was er tun würde, sie fürchtet, was sie tun würde. Ro ist schwindelig, in ihrem Kopf dreht sich alles. Sie nimmt kaum wahr, als sie in einen Mann hineinläuft, der daraufhin seine Einkaufstasche fallen lässt. Marcel packt ihren Arm und zieht sie zu sich herüber, so dass sie nicht auch noch eine der über den Boden kullernden, frischen Tomaten zertritt. Der Mann ruft ihnen aufgebracht etwas hinterher, aber Marcel zieht sie schnell weiter. Sie sieht ihn an und erkennt, dass er lacht. Ro fragt sich, was da so witzig ist, aber ehe sie mitbekommt, warum, ist sie selbst am lachen. Das Lachen schüttelt sie, erst ist es ein bisschen hysterisch, aber dann wird es zu einem richtigen, einem ehrlichen Lachen. Alle Spannung, die sich in den Momenten der Ernsthaftigkeit gebildet hat endlädt sich, und Ro spürt, wie ihr unheimlich leicht ums Herz wird. Wie schön das ist, an Marcels Seite zu lachen! Sie beruhigt sich erst nach mehreren Minuten wieder. Auch Marcel ist vor lauter lachen ganz rot geworden. Richrig süß sieht das aus, denkt Ro. Auch ihre eigenen Wangen glühen und ihr Atem geht schnell, aber sie nimmt es kaum wahr. Jetzt hakt sie sich bei Marcel ein, und es ist ihr egal, was passieren wird. Denn egal was passiert, es wird richtig sein, so wie es passiert, da ist Ro sich sicher. Marcel lächelt sie an. Seine Hand gleitet an ihrem Arm hinunter und schiebt sich warm in die ihre. Ro drückt sie kurz und lächelt zu ihm hoch. Er lächelt zurück, und in Ros Bauch beginnt eine ganze Horde von Tauben wie wild zu flattern.
 

Der Rest des Tages zieht in unaufhaltsamer Schnelle an ihr vorrüber. Obwohl Ro wünscht, er möge ewig dauern, rinnen die kostbaren Sekunden wie Sand durch ihre Finger. Das fröhliche Lächeln will nicht mehr von ihrem Gesich weichen, und auch Marcel scheint glücklich zu sein. Wie seltsam das ist. Marcels Befinden ist ihr wichtiger als das eigene. Bestimmt ist das nicht gut, es macht sie so verletzlich. Aber wie sehr sie auch versucht, sich das klar zu machen ? es will ihr einfach nicht gelingen, dieses Gefühl als schädlich anzusehen. Heißt es deswegen, das Liebe blind macht? Ist damit diese Uneinigkeit zwischen Verstand und Gefühlen gemeint? Ro weiß es nicht. Aber es ist ihr auch ziemlich egal. Das einzige, was zählt, ist der Augenblick.

Der Abend kommt, und Ro und Marcel beziehen erneut ein Zimmer im örtlichen Pokémon-Center. Ro widmet ihren Pokémon, die in den vergangenen zwei Tagen kaum aus ihren Bällen heraus gekommen sind eine Weile, spricht mir ihnen und füttert sie.

Vor dem schlafen Gehen unterhalten Ro und Marcel sich noch darüber, dass sie möglichst bald ein paar Trainer herausfordern müssen, um an etwas Geld zu kommen. Marcel erklärt ihr lachend und wortreich, wie er seine Gegner platt machen wird. Ro lacht ein unheimlich befreites Lachen und Marcel lächelt sie erneut an. Aber auch diese Stunde vergeht schnell, und draußen beginnt die Sonne zu sinken. Ro steht minutenlang am Fenster, die Ellenbogen auf das Fensterbrett und den Kopf in die Hände gestützt und sieht zu, wie die heraufziehende Nacht das letzte Tageslicht schluckt. Dann geht sie ins angrenzende Badezimmer, zieht sich um und kriecht unter die leichte Bettdecke. Marcels Bett ist weniger weit von ihrem entfernt als es in Flossbrunn der Fall gewesen ist. Aber Ros Furcht vor dieser Nähe hat sich tief in ihr Inneres zurückgezogen, sie ist kaum noch zu spüren. Ro lächelt, dann fällt ihr etwas ein. Sie greift nach Marcels Geschenk auf dem Nachttisch neben ihrem Bett und umschließt es zärtlich mit beiden Händen. In der Erinnerung an die unverstandenen Tränen, die sie am Mittag wegen ihm vergossen hat wird ihr Lächeln noch glücklicher.

?Marcel?? Sie spricht, ohne den Kopf vom Kissen zu heben. Sie liegt auf dem Rücken, die Hände mit dem Stofftier auf der Brust liegend, und schaut zur Decke hoch. Aus dem Augenwinkel sieht sie, wie Marcel sich leicht im Bett aufrichtet, um zu ihr hinüber zu sehen.

?Was denn??, fragt er.

?Danke?, sagt Ro.

Marcel stützt den Kopf auf eine Hand und sie weiß, dass er sie verständnislos mustert.

?Wofür denn das jetzt??

?Für dein Geschenk. Ich hab? mich noch nicht bedankt. Ich war so verwirrt, weißt du.?

Ro sieht immernoch lächelnd zur Zimmerdecke hoch. Wie leicht es ihr jetzt fällt, das zu sagen. Es macht ihr nichts mehr aus.

Marcel wälzt sich herum und gibt so etwas wie ein genervtes Seufzen von sich, das wegen dem Kissen vor seinem Mund etwas erstickt klingt. Er sagt nichts.

?Warum hast du mir das gekauft??, fragt Ro. Diese Frage stellt sich ihr schon die ganze Zeit.

?Weil es dir gefallen hat?, antwortet Marcel.

?Einfach so?? Ro ist etwas ungläubig, und nun dreht sie sich doch zu Marcel herum. Auch er rollt sich wieder auf die Seite und blickt ihr über den Abgrund zwischen ihren parallel stehenden Betten hinweg in die Augen.

?Einfach so?, äfft er sie nach. Ro lächelt und er lächelt zurück.

?Du bist voll nett, weißt du?!?, sagt Ro, und vor Freude lacht sie schon wieder ein bisschen.

?Nö?, macht Marcel, aber sie sieht selbst im Halbdunkel noch, dass er ein kleines bisschen rot angelaufen ist. Von neuem stumm und glücklich in sich hinein lächelnd schließt sie die Augen und umarmt ihr Kissen, das Stoff-Eneco immernoch in der rechten Hand. Sie lauscht auf Marcels leise Atemzüge, und als sie sie nach einer Weile ruhiger werden hört merkt sie, dass auch sie selbst bereits im Halbschlaf vor sich hin dämmert.
 

Der nächste Tag beginnt mit Regen. Als Ro morgens aufwacht prasselt er aufs Dach und bildet einen dichten Vorhang vor dem Fenster. Ro hat sich aufgesetzt, um hinaus sehen zu können. Sie gähnt und streicht sich die Haare aus dem Gesicht.

Marcel, der noch immer schläft, murmelt irgendetwas ins Kissen hinein. Ro blickt zu ihm herüber. Sofort beginnt ihr Herz schneller zu schlagen. Ein unheimlich warmes Gefühl erfüllt ihren gesamten Körper. Ro führt unvermittelt die rechte Hand ans Gesicht und streicht gedankenverloren über ihre eigenen Lippen. Dann schüttelt sie heftig den Kopf, dass ihr das Haar ums Gesicht flattert und versucht, wieder klare Gedanken zu fassen. Plötzlich hellwach hüpft sie aus dem Bett, legt eilig die Decke zurecht und geht dann ins Badezimmer. Sie ist früh wach geworden, und da Marcel noch schläft hat sie genug Zeit, um ausgiebig zu Duschen und sich die Haare zu waschen. Danach putzt sie, einen Frotteehandtuch-Turban auf dem Kopf, die Zähne und bürstet ihr Haar anschließend glatt. Zum Trocknen lässt sie es offen.

Als Ro das Badezimmer verlässt liegt Marcel immernoch im Bett. Aber an seinem weniger entspannten Gesichtsausdruck erkennt sie, dass er schon mehr oder weniger wach sein muss. Lächelnd geht sie zu seinem Bett, beugt sich über ihn. Ihr Kopf ist jetzt ganz nahe bei seinem, und ihr Herz klopft laut.

?Aufstehen?, sagt sie ihm ins Ohr. ?Es regnet, ich glaube, das es könnte heut echt ungemütlich werden, wenn wir weiterziehen wollen.?

Marcel seufzt schlaftrunken und setzt sich langsam auf. Er streckt sich und mustert sie aus zusammengekniffenen, wässrigen Augen. Ro lächelt ihn an und wünscht ihm einen guten Morgen. Während Marcel müde ins Badezimmer taumelt befreit sie ihre Pokémon aus ihren Bällen und geht hinunter in den Empfangsraum des Pokémoncenters, um Futter für sie zu kaufen. Als sie, fröhlich vor sich hin summend, wieder im Zimmer angelangt ist, ist Marcel angezogen und wirkt gar nicht mehr müde.

?Hey?, sagt er als sie den Raum betritt und dreht sich zu ihr herum. Er steht am Fenster, durch das nun trübes Licht scheint. Er lächelt, sie lächelt. Komisch, denkt Ro, in letzter Zeit lächeln wir uns fast mehr an als dass wir miteinander reden. Sie füllt zwei Näpfe mit Pokémonfutter, und Cory springt von ihrer Schulter, um sich den anderen Pokémon anzuschließen, die sich bereits hungrig um die Näpfe drängen.

?Ey, Arnemuva, nicht drängeln, lass Yanuvo auch noch was!?, mahnt Ro. Wie lächerlich das anmutet ? Yanuvo ist das größte ihrer Pokémon, und dennoch hat es einen so sanften Charakter, dass das etwas verschlagene Flunkifer ihm das Futter wegfrisst.

Plötzlich wird Ro bewusst, dass Marcel sie beobachtet. Sie blickt auf, aber er sieht weg. Ro geht aus der Hocke hoch und tritt zu ihm herüber.

?Was werden wir machen, wenn es nicht aufhört zu regnen??, fragt sie ihn.

?Warten wir erstmal ab, wie das Wetter noch wird?, meint Marcel. ?Ich muss meine Pokémon auch noch füttern...? Er geht zur Tür, und im Vorrübergehen berühren sich ihre Arme. Ro hat den zwingenden Eindruck, dass er sie mit Absicht streift, aber ihr fällt nichts zu sagen ein. Dann ist es vorbei, er hat das Zimmer verlassen und sie hört, wie er mit schnellem Schritt den Flur durchquert und dann die Treppe hinunterhastet. Ro nutzt den unbeobachteten Augenblick, um das Plüsch-Eneco von ihrem Nachttisch zu nehmen, es mit einem Kuss zu versehen und anschließend in die Tasche zu stecken.

Es hört auf zu regnen. Noch vor den Mittagsstunden verziehen sich die grauen Wolken und hinterlassen einen zwar eher schmutzig-weißen statt blauen, aber immerhin weniger unheilverkündenden Himmel. Ro und Marcel verlassen, über den Wetterwechsel zutiefst erleichtert, das Pokémoncenter und machen sich auf den Weg aus der Stadt hinaus. Wie Ro bald erkennt gibt es auch hier wie in Moosbach City eine Menge Natur, die jedoch zu großen Teilen aus wild wachsenden Wiesen besteht, die für die wilden Pokémon unbehelligt gelassen werden. Zwischen den Wiesen sind breite Wege angelegt, auf denen sich eine Menge unterschiedlichster Leute bewegen. Direkt hinter Graphitport City befinden sich zwei große Seen, die glitzernd und still daliegen. Ro ist verzaubert vom Anblick des Schilfs, in dem an ihren Ufern noch die Regentropfen aufblitzen.

Wie sie auf einer Karte, die am Ortsausgang hängt ablesen können, führen zwei Wege nach Malvenfroh City. Der eine bleibt ihnen versperrt, da es sich dabei um einen Radweg handelt, der die beiden Seen mittels einer langen Brücke überquert. Da sie diesen Weg ohne Fahrrad nicht gehen können, schlagen sie den Beschwerlicheren ein, der sich zwischen den Seen hindurch schlängelt. Und dann treffen sie die ersten Trainer.

Ros Herz macht einen kleinen Hüpfer, als ihr einfällt, dass dies ihre ersten echten Herausforderungen sein werden. Der erste Schritt, den sie in ihr wahres Trainerleben macht...wie aufgeregt sie ist! Dennoch wagt sie es zunächst nicht, jemanden herauszufordern, und wird auch nicht angesprochen. Sie sieht Marcel zu, wie er gleich mehrere Trainer hintereinander besiegt, ohne eine Pause einzulegen. Sie verfolgt die Kämpfe mit stetig wachsender Bewunderung für Marcels Talent. Aber das ist nicht das einzige, was sie dabei fühlt. Als sie all diese anderen Trainer sieht, versetzt ihr das einen Stich. Irgendwie ist ihr niemals so richtig bewusst gewesen, dass es so viele Trainer wie sie gibt, die alle den gleichen Traum verfolgen und alle ihr Bestes geben. Wie soll sie denn da mithalten können? Um wirklich erfolgreich zu sein, muss sie doch besser als alle anderen sein. Aber kann sie das, besser als alle sein?

Marcel ist zu seiner Höchstform aufgelaufen. Erhitzt beendet er den dritten oder vierten Kampf. Dann kehrt er zu Ro zurück, die währenddessen Meck zum Training gegen ein paar wilde Pokémon hat kämpfen lassen.

?Und jetzt Pfund!?, befiehlt sie. Das Flurmel versetzt dem kleinen, grünen Frizelblitz einen letzten Hieb, der es verschreckt fliehen lässt. Ro lobt Meck, lässt sie in den Pokéball zurückkehren und dreht sich zu Marcel herum. Er grinst ihr zu und sie gehen weiter. Eine ganze Weile wandern sie ausgelassen plaudernd nebeneinander her, ohne dass ihnen weitere Trainer begegnen. Dann lässt sie ein plötzlicher Ruf innehalten.

?Hey, ihr da! Seid ihr Trainer?!?

Ein Junge im Teenager-Alter steht vielleicht fünf Meter entfernt unter einem ausladenden Busch und schreit sich die Seele aus dem Leib.

?Ja, sind wir?, ruft Marcel bedeutend leiser zurück.

?Dann fordere ich dich heraus?, schreit der Junge zurück, während er auf Ro zugeht. Ro presst sich unvermittelt lachend die Hände gegen die Ohren.

Der Junge bleibt in wenigen Metern Entfernung von ihr stehen. Ein Pokémon, das bisher in seinem Schatten versteckt gewesen sein muss, kommt hervor und stellt sich Ro entgegen. Das Geschöpf ist klein, stämmig und wirkt etwas gedrungen. Seine vier kurzen Beine enden in kleinen Pfoten mit scharfen, ausfahrbaren Krallen. Auf einem nur ansatzweise vorhandenem Hals sitzt ein kurzschnäutziger Kopft mit kleinen, in beständiger Bewegung befindlichen schwarzen Ohren. Die überdimensioniert erscheinenden, großen Augen sind von einem leuchtendem Dunkelgelb, das sich von der schwarz-grauen Färbung des dichten Felles scharf abgrenzt.

Das Fiffyen knurrt leise, sein ganzer Körper ist reaktionsbereit gespannt. Ro betrachtet es noch einen Moment lang interessiert, dann gibt sie Cory, die auf ihrer Schulter sitzt, ein Zeichen, auf das hin sie zu Boden springt und sich dem Gegner stellt.

?Fiffyen, Tackle!!?, schreit der Junge in ohrenbetäubender Lautstärke. Die empfindlichen Ohren von Ros Eneco zucken.

Das Unlicht-Pokémon geht Sprungbereit in die Hocke und stürtzt sich dann unter vollem Körpereinsatz auf die kleinere Cory. Sie wird zurückgeschleudert, fängt sich aber mit katzenhafter Flinkheit wieder und führt im fließenden Übergang die nächste Attacke aus.

?Duplexhieb!?

Corys massiger Schweif schlägt in einer solchen Geschwindigkeit auf den Gegner ein, dass er kaum mehr auszumachen ist. Das Fiffyen kneift jaulend den Schwanz ein, weicht aber nicht zurück.

?Finte!?, brüllt sein Trainer ihm zu. Ro überlegt einen Moment, ob sie den Kampf für unfair erklären soll, weil ihr Pokémon durch den Lärm, den ihr Gegner verursacht nicht richtig kämpfen kann. Dann schüttelt sie über sich selbst lachend den Kopf und konzentriert sich erneut voll auf den Kampf. Aber in dem kurzen Moment der Unaufmerksamkeit hat sie bemerkt, dass Marcel sie von der Seite her interessiert beobachtet. Etwas nervös ballt Ro kurz die Fäuste und öffnet sie dann wieder. Jetzt muss sie gewinnen.

Das Fiffyen ist vom Feld verschwunden. Einen Augenblick lang denkt Ro, es sei geflohen, aber dann huscht ihr Blick über das Gesicht des Jungen, das einen siegessicheren Ausdruck zeigt. Das muss ein Zug von ihm sein, er will sie verwirren.

?Cory!?, ruft Ro. ?Du kannst es wittern!?

Das Eneco reckt folgsam das Schnäuzchen und beginnt, zu schnüffeln. Just in dem Moment jedoch erscheint das Fiffyen plötzlich scheinbar aus dem Nichts hinter ihm und greift es mit dem Hieb einer krallenbewehrten Tatze an. Cory lässt ein Kreischen hören und stürzt.

Der Junge gibt einen so lauten Jubler von sich, dass Ro meint, ihre Ohren müssen gleich abfliegen.

Cory rappelt sich schnell auf, aber ehe sie angreifen kann, hat das Fiffyen sie zum zweiten Mal getacklet. Ro überlegt fieberhaft, was sie dem entgegenzusetzen hat. Aber dann entdeckt sie etwas, das ihr neuen Mut verleiht: Das gegnerische Pokémon ist gar nicht so unverletzt und frisch, wie es den Eindruck macht. Sein Atem geht schnell, und seine Beine zittern. Der Kampfesmut des Fiffyen ist nur ein Bluff, in Wahrheit ist es nahezu erschöpfter als Cory.

?Cory, den Ruckzuckhieb!?

Das Eneco wirft den Kopf herum, mustert sie einen Moment aus verschlagen zusammengekniffenen Augen, um dann in pfeilschneller Geschwindigkeit herumzufahren und anzugreifen, ehe das Fiffyen reagieren kann. Dieses Mal erwischt sie den Gegner voll, er kracht hart auf den Boden auf und bleibt regungslos liegen, nur seine Brust hebt und senkt sich noch mit seinem schweren Atem. Ein leises Jaulen ist zu hören.

In Erwartung eines noch lauteren Brülls der Niederlage steckt Ro sich beide Zeigefinger in die Ohren. Aber der Junge scheint vor Schreck verstummt zu sein. Fassungslos starrt er sein besiegtes Pokémon an. Dann stammelt er irgendetwas unverständliches, klaubt das Fiffyen vom Boden auf und stolpert davon, nachdem er Ro das Preisgeld in die Hand gedrückt hat. Ro sieht ihm leicht konfusioniert hinterher, nicht wissend, ob sie lachen oder den Kopf über ihn schütteln soll. Erst, als der Junge ihrer Sicht entschwunden ist, hockt sie neben Cory nieder und streichelt ihr über den Kopf.

?Hast du gut gemacht?, lobt sie. Cory schnurrt und kneift genüsslich die Augen zusammen. Ro zieht ihren Rucksack aus, nimmt eine Tube heraus und bestreicht die Wunde, die das Fiffyen bei dem Angriff aus dem Hinterhalt hinterlassen hat mit der pflegenden Salbe. Marcel tritt zu ihr. Ro sieht auf, direkt in seine Augen. Sie erschrickt und schaut wieder weg. Dann nimmt sie sich zusammen und sieht ihm erneut ins Gesicht. Aber er schaut sie schon gar nicht mehr an. Statt dessen hat er sich hinuntergebeugt und betrachtet Corys Verletzungen. Er runzelt die Stirn.

?Das sieht übel aus?, meint er und zieht einen Fellstreifen mit Daumen und Zeigefinger auseinander. Ro sieht, dass dazwischen ein tiefer, blutiger Kratzer klafft. Erneut erschrickt sie. Marcels Gesichtsausdruck ist angespannt. Konzentriert untersucht er die Wunde, dann nimmt er eine Flasche mit klarem Wasser aus seinem Ruckdack und wäscht sie damit aus.

?Du musst aufpassen, dass kein Dreck reinkommt, sonst entzündet es sich?, erklärt er Ro. Sie dankt ihm verlegen.

?Ich habe nicht gut gekämpft?, murmelt sie. ?Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass sie so verletzt wurde...?

Marcel sieht sie an, und einen Moment lang glaubt sie, er werde ihr Recht geben. Aber dann wird sein Gesichtsausdruck sanft und er sagt: ?Nein, Ro, das ist schon in Ordnung. Dein Pokémon hat sein Bestes gegeben, um den Gegner zu schlagen. Hättest du es zurückgezogen, wäre es beleidigt gewesen. Pokémon wollen nicht immer kämpfen, aber wenn sie einmal entschlossen sind, einen Kampf zu bestreiten, wollen sie entweder siegen oder besiegt werden. Aber es widerstrebt ihnen, aufzugeben.?

Ro sieht Marcel an, und obwohl seine Augen so vor Überzeugung strahlen, mag sie seine Worte nicht glauben.

?Aber...wenn sie dabei...verletzt werden? So wie Cory, oder mehr, was ist denn dann? Wollen sie das auch?? Ihre Stimme stockt, weil sie noch während des Sprechens über ihre eigenen Worte nachgrübelt. Obwohl sie kaum etwas sehen, sind ihre Augen weit offen.

?Ja, das wollen sie?, sagt Marcel. ?Hast du gedacht, Pokémon Kämpfe seien Spiele? Nein, Ro das ist Ernst.?

Nein, denkt Ro. Das stimmt nicht! Was Marcel da sagt ist Unsinn. Das stimmt nicht... Etwas daran stimmt nicht...

?Aber dann müssten die Pokémon von starken Kämpfern doch noch viel mehr verletzt werden, wenn sie gegeneinander antreten?! Aber das ist nicht so! Das ist nicht so!?

Marcel stutzt nicht, er ist auch nicht überrascht. Hat er darauf wirklich eine Antwort?

?Nein, du siehst das falsch. Gerade weil schwache Pokémon nicht so viele Mittel haben, verletzen sie sich im Kampf stark, manchmal sogar gefährlich. Starke Pokémon können einander besiegen, ohne sich wirklich zu verletzten. Je stärker ein Pokémon wird, desto wichtiger werden defensive Kampfstrategien. Schwache Pokémon kämpfen für gewöhnlich in einem unheimlich aggressiven Kampfstil, sie besiegen einander, indem sie sich verletzen. Wenn starke Pokémon gegeneinander kämpfen, besiegen sie sich häufig, indem sie sich erschöpfen. Dabei werden Selbstschutz-Attacken mit steigendem Level immer bedeutender.?

Ro blickt nachdenklich an Marcel vorbei ins Leere. Ihre rechte Hand streichelt das Eneco, das sie in ihren Armen hält. So ist das also? Pokémon müssen einander verletzen... Aber...warum? Warum ist das so? Warum kann es nicht einfach nur ein harmloses Spiel sein? Plötzlich kneift Ro die Augen fest zusammen und schüttelt heftig den Kopf.

?Nein! Das glaube ich nicht!?, ruft sie erstickt. Dann hält sie inne, sitzt ganz still. Ein Gedanke drängt sich ihr auf, eine hartnäckige, unverscheuchbare Wahrheit.

Kämpfe sind niemals friedlich.

Egal, wie sehr sie ihre Pokémon liebt und sich deren Wohl wünscht, sie werden kämpfen und verletzt werden, und viele Menschen werden in ihnen nie etwas anderes als Kampfmaschinen sehen. Das ist ihr Schicksal, dem sie sich ergeben müssen. Auch wenn meine Pokémon für mich Freunde sind, denkt Ro, so habe ich ihren Weg gewählt, und ich habe den Weg des Kampfes gewählt. Ich hätte auch mit ihnen als Hauspokémon zusammenleben können, aber ich wollte nicht. Ich wollte sie trainieren, wollte ihr Potenzial voll herausarbeiten, wollte stolz auf sie sein. Daher habe ich Kämpfer aus ihnen gemacht. Ihnen meinen Ehrgeiz aufgezwungen. Vielleichtt wünschen sie sich in Wahrheit keines von beidem. Mag sein, dass es ihnen widerstrebt, als Hauspokémon zu leben. Aber vielleicht ist auch der Kampf nicht ihre wahre Natur. Welches Pokémon hat je selbst wählen können? Und könnten sie es, für was würden sie sich entscheiden, welche neuen Möglichkeiten würden sie sich eröffnen?

Vor ihrer Ankunft in Malvenfroh City treffen sie noch mehrere andere Trainer. Ro gewinnt zwei weitere Kämpfe, ohne dass eines ihrer Pokémon zu schaden kommt. Aber dann, als sie gegen ein Mädchen kämpft, das ihre Pokémon so rücksichtslos körperliche Attacken einsetzen lässt, dass Ro kaum mit ansehen kann, wie Meck vor Schmerz das Gesicht verzieht, kann sie plötzlich nicht weiter kämpfen. Einmal mit dem Zweifeln angefangen, kann sie es nun nicht mehr lassen. Sie ruft ihr Pokémon zurück und zahlt dem Mädchen den Siegesbetrag. Dann geht sie schnell, den Blick zu Boden gerichtet weiter. Als Marcel sie fragt, warum sie aufgegeben hat, weiß sie keine Antwort.

Und dann treffen sie auf Katte und seine Freunde. Katte ist ein kleiner, braunhaariger und blauäugiger Junge, der einen überdimensioniert wirkenden Trainerrucksack mit sich schleppt und allesamt zu weit erscheinende Kleider trägt. In seiner Begleitung befinden sich ein Mädchen und ein anderer Junge; beide jedoch halten sich im Hintergrund. Als er auf sie zu kommt denkt Ro zuerst, Katte wolle einen von ihnen herausfordern. Aber er grinst nur, und lässt sie nacheinander einschlagen.

?Hey! Ich bin Katte!?, sagt er und macht den fröhlichen Eindruck einer Schüssel gezuckerter Erdbeeren. Ro kann ihn nur verdutzt anschauen. Marcel hingegen reagiert gelassen und so normal, dass sie einen Moment lang glaubt, die Beiden kennen sich.

?Hi. Ich bin Marcel?, sagt er, und dann zeigt er mit dem Daumen auf Ro: ?Das ist Ro.?

Ro schreckt zusammen, dann reißt sie sich am Riemen und lächelt Katte zu. ?Hi?, meint sie, aber es klingt irgendwie gepresst.

?Auch Trainer?? Katte versenkt beide Hände tief in den Taschen seiner schlabberigen, grauen Hose.

?Jau.? Komisch, denkt Ro, wie Marcel mit ihm redet. So ganz anders als mit mir.

?Woher??

?Seegrasulb City. Wir haben unsere Reise gerade erst begonnen ? und ihr??

Katte grinst erneut breit und fröhlich.

?Ich komm von Blütenburg City. Hab auch noch kein? Orden ? naja.? Wieder dieses Grinsen. Ro beginnt, den kleinen Kerl echt symphatisch zu finden. Aber es stört sie doch, dass sie so daneben steht, während die Jungen sich unterhalten. Ihr fällt einfach nichts ein, was sie sagen könnte ? und Kattes Begleiter anzusprechen traut sie sich nicht. Ro seufzt tief und resigniert. Sie ist zu feige, ja... Dann ist das halt so. Aber sie wird es ändern. Gewiss.

?War eigentlich allein unterwechs?, erzählt Katte. ?Aber dann hab ich die Beiden hier getroffen, und nu sin? wir zu dritt. Ihr saht so?n Bisserl Orientierungslos aus, drum dacht ich mir, ihr könntet euch doch uns anschließen, hm?!?

Ro bleibt kurz die Luft weg. Nein! Sie und Marcel, als Team, zu zweit, auf ihrer Reise! Niemand da, der ihr Marcels Aufmerksamkeit raubt! Lass es nicht zu Ende sein...

Aber Marcel hat schon genickt.

?Wenn ihr in die selbe Richtung zieht, klar?, meint er. Ro ballt langsam und fest die Fäuste. Dann entspannt sie ihre Finger wieder. Ach, ist das alles dumm von ihr. Warum ärgert sie sich so darüber, dass ihre Gruppe anwächst? Wie unsozial sie ist... So will sie doch garnicht sein. Und bestimmt fände Marcel das ziemlich bescheuert, wenn er wüsste, wie egoistisch sie denkt.

Plötzlich merkt Ro, dass Marcel und Katte und auch das Mädchen in dessen Begleitung sie erwartungsvoll ansehen. Der fremde Junge ist damit beschäftigt, einen seiner Schuhe zu binden, aber auch er sieht kurz fragend zu ihr auf.

Ro streicht sich nervös die Haare aus dem Gesicht.

?Ehm... Ist was?? Sie kommt sich unheimlich blöd dabei vor, aber was kann man da schon machen?

Marcel schlägt mit einem klatschenden Geräusch eine Hand vor die Stirn.

?Mann! Woran hast du nur jetzt wieder gedacht?!? Ro schaut erschreckt drein, aber dann sieht sie zu ihrer Erleichterung, dass er sie angrinst.

?Ich hab gefragt, ob das okay is, wenn wir mit Katte und den Anderen zusammen weiterziehen?, wiederholt er die Frage. Ro kann jetzt nicht lügen. Sie kann doch nicht in deren Gegenwart sagen, dass sie nicht mit den Anderen zusammen weiterziehen will, sie kann doch nicht sagen, dass sie lieber mit Marcel alleine sein will!

?Ja, klar!? Ro zwingt sich zu einem Lächeln.

?Krass?, meint Katte. Dann zeigt er auf das Mädchen, dass hinter ihm steht.

?Das ist Nora?, erklärt er. Nora hat langes, offenes schwarzes Haar und hübsche, braungelbe Augen. Sie trägt ein leichtes, lilafarbenes Sommerhemd und eine schwarze, abgeschnittene Jeans. Sie lächelt Ro zu und sieht dabei unheimlich hübsch aus.

?...und das ist Yato?, sagt Katte. Der Junge an seiner Seite Zieht seine Schleife fest und erhebt sich.

?Hey zusammen?, grüßt er in die Runde und hebt dabei lässig die Hand. Sein Lächeln ist breit und hat einen ironischen Unterton. Ros Blick wandert von seinem dichten, mittelblonden Haarschopf zu den großen, unheimlich grünen Augen und einen Moment lang meint sie, nie einen so hübschen Jungen gesehen zu haben. Yatos Kleidung ist unauffällig und angepasst, heraus sticht nur ein grünes Schweißband an seinem rechten Handgelenk.

Ro wirft Marcel von der Seite her einen Blick zu, dann betrachtet sie die Gruppe als Ganzes. Nein, denkt sie, so schlimm wird es schon nicht werden. Auch, wenn ich Marcel jetzt teilen muss, mit diesen dreien werden wir bestimmt unseren Spaß haben. Und unwillkürlich lacht sich über ihre eigene Verbocktheit.

Plötzlich stößt eine Faust in ihre Schulter und Ro zuckt zusammen. Sich herumdrehend blickt sie in Yatos hübsches Gesicht.

?Was gibt?s da zu lachen??, fragt er. Ro erwidert den Knuff.

?Wenn ich?s dir jetzt sagte, hättest du auch was zu lachen, aber weil du mich gehauen hast, sag ich?s dir nich?, meint sie und streckt ihm die Zunge heraus. Yato lacht hönisch und gespielt. ? Ha, ha, bist du lustig?, macht er ironisch. Dann zeigt er ein echtes Grinsen und lässt von ihr ab.

Ey, denkt Ro, mit dem Kerl zusammen könnte es sogar so richtig spaßig werden. Sie grinst zurück und bewundert verstohlen Yatos makellos weiße Zähne.
 

Ros Leben scheint erneut eine jähe Wendung genommen zu haben. Und das innerhalb so kurzer Zeit. Entgegen Ros anfänglichen Befürchtungen erweist sich das Reisen in der Gruppe als weit lustiger und auch sehr viel lockerer. Zwar verhält Marcel sich Ro gegenüber wie erwartet in Anwesenheit ihrer neuen Freunde vollkommen verändert. Aber manchmal ist Ro regelrecht dankbar für diese Fügung, da sie die ständige Anspannung zwischen ihnen kaum noch ertragen konnte.

Sie verbringen mehrere Tage in Malvenfroh City. Wie gehabt wohnen sie im Pokémon-Center, dieses Mal jedoch teilt Ro sich gezwungener Maßen ein Zimmer mit Nora, während Marcel mit Katte und Yato in einem schläft. Während dieser Zeit erkunden sie ausgiebig die Umgebung und trainieren ihre Pokémon in den Wiesen sowie beim Kampf gegen andere Trainer, von denen es hier geradezu zu wimmeln scheint. Ro erkennt schnell, dass Yato ein wahres Naturtalent im Pokémon-Kampf ist. Er beendet seine Kämpfe meist unglaublich schnell, und dennoch tragen seine Pokémon kaum Verletzungen davon. Seine Kampftechnik gleicht der eines Tigers, der sich zunächst ungesehen und mit unendlicher Geduld an sein Opfer anschleicht, um es dann in Windeseile zu überfallen und niederzuringen. Wenn Ro ihn beim Kämpfen beobachtet, vergisst sie häufig vor Faszination, ihren Mund zu schließen.

Was Ro aber am meisten imponiert ist, dass Yato dabei kein bisschen arrogant ist. Wenn er einen Gegner besiegt hat, nimmt er grinsend das Preisgeld entgegen und ruft sein Pokémon zurück, ohne irgendein verletzendes Wort fallen zu lassen. Häufig macht er Witze über sich selbst oder wirft Bemerkungen in die Runde, die die gesamte Gruppe zum lachen bringen. Yato besitzt die kostbare Fähigkeit, trübe Tage zu erhellen und traurige Mienen zu verwandeln. Diese Fähigkeit ist es, die Ro eine tiefe Bewunderung für ihn fühlen lässt.

Auch Nora und Katte sind eifrige Kämpfer, auch wenn sie noch nicht einmal einen Abglanz von Yatos Talent besitzen. Dabei nimmt Nora die Sache viel ernster als Katte, der nicht nur das Leben, sondern auch einen jeden Kampf als ein Spiel anzusehen scheint. Dabei ist es immer wieder überraschend, wenn er einen Kampf verliert, den Gewinner aber dennoch so strahlend anlächeln kann, dass man den Eindruck hat, die Beiden seien alte Freunde. Insgesamt hat Ro den Eindruck, in eine wirklich nette Gruppe hineigeraten zu sein. Einzig störend dabei ist für sie die Tatsache, dass sie sich kaum integriert fühlt. Mag sein, dass es an ihr selbst liegt ? vielleicht strengt sie sich einfach nicht genug an. Sie ist es einfach gewöhnt, Gruppen von außen zu beobachten, und nun findet sie sich plötzlich selbst in einer wieder. Die Anderen sind ihr selbst nach so kurzer Zeit bereits ans Herz gewachsen, besonders Yato, dessen Art einfach liebenswert ist. Aber wie soll sie es anstellen, dass auch sie Ro als Freundin sehen? Oder tun sie das bereits? Sie weiß es nicht. Sie weiß es nicht, und sie hat keine Ahnung, wie sie es herausfinden soll. Es drängt sie danach, mit Marcel darüber zu sprechen, aber sie kann ihn einfach nie allein antreffen. Und vor den Anderen wäre ihr das peinlich ? sie will schließlich nicht von ihnen für einen Jammerlappen gehalten werden. Obwohl sie das doch ist. Außerdem fürchtet sie, die Freunde könnten erkennen, dass sie in Marcel verliebt ist, und das möchte sie auch nicht. Wo sie es ihm doch noch nicht einmal selbst gesagt hat. Auch das ist etwas, was sie sich seit einer Weile vorgenommen hat. Aber es will ihr einfach nicht gelingen. Wann soll sie es ihm sagen, und wo? Sie weiß ja noch nicht einmal, wie sie es ihm sagen soll. Krampfhaft versucht sie Nacht für Nacht, sich eine passende Situation auszumalen, grübelt, wie Marcel reagieren könnte und was sie dann täte... Aber immer wieder verlieren sich ihre Gedanken in der Dunkelheit, bilden ein verknotetes Wirren und gehen allmählich in Träume über, in denen sie sich daheim in Moosbach City am Strand wiederfindet, wo sie vergeblich versucht, einem Felsbrocken ihre Liebe zu erklären.
 

Ich bin schlecht, denkt Ro. Schlecht, schlecht, schlecht. Sie hat erneut einen Kampf aufgegeben, aus Furcht, ihr Pokémon könne zu sehr verletzt werden. Und das Schlimmste ist, dass die ganze Gruppe ihr dabei zugesehen hat. Yato, der eine zwar aufmunternt gemeinte, aber dennoch schmerzhaft hönische Bemerkung machte. Nora, die nur ein spöttisches Lachen für Ro übrig hatte. Marcel, dem sie nicht in die Augen zu sehen wagte, und Katte, der aufgekratzt zu erklären versuchte, wie er den Kampf an ihrer Stelle gewonnen hätte. Ro hat es nicht mehr ertragen können. Sie hat sich von der Gruppe abgesetzt und ist ins Pokémon-Center zurückgekehrt, wo sie sich auf das Bett schmeißt und den Kopf mit den Armen bedeckt. Warum, warum nur? Sie will doch nur dazugehören, aber sie kann nicht so kämpfen wie die Anderen, sie kann noch nicht einmal ihr Verhalten an sie anpassen. Entweder, sie ist übertrieben aufgekratzt und einfach nurnoch nervig, oder aber sie ist viel zu ernsthaft in Momenten, in denen alle anderen ihren Spaß haben. Aber nie, nie macht sie es richtig. Ro ist verzweifelt, so verzweifelt. Warum können die Anderen so locker sein? Warum können sie so normal miteinander umgehen, als ob sie sich schon seit Jahren kennen? Und warum, warum kann sie das nicht?

Sie liegt jetzt schon seit mehreren Stunden so da. Langsam beginnt sie schläfrig zu werden, ihr Körper ist jetzt ganz entspannt und in ihren Beinen und Armen breitet sich ein warmes, wohliges Kribbeln aus, ausgehend von der Stelle, an der Cory sich dicht gegen ihren Körper gedrückt eingerollt hat. Das Tageslicht scheint durch das hohe Fenster und kitzelt ihre Wangen, aber das stört sie nicht. Wenn sie jetzt schläft, braucht sie sich keine Sorgen zu machen.

Ein lautes Trampeln auf der Treppe reißt Ro aus dem Halbschlaf. Im nächsten Augenblick hört sie, wie die Tür geöffnet wird und jemand das Zimmer betritt. Ro regt sich etwas, bringt aber nicht die Kraft auf, sich aufzusetzen oder auch nur den Kopf zu heben um zu sehen, wer gekommen ist.

?Ro!?, ruft Noras Stimme. Sie klingt etwas besorgt, aber freundlich.

?Ro, was ist, schläfst du?? Jetzt ist die Stimme dicht an ihrem Ohr, Ro spürt, wie die Matratze des Bettes sich herabsenkt, als Nora sich darauf niederlässt.

Langsam zieht Ro ihre Arme zu sich heran und stützt sich darauf, um hoch zu kommen. Dann sitzt sie und sieht in Noras dunkles Gesicht. Sie reibt ihre Augen und blinzelt ins Licht.

?Nora?, murmelt sie. Ihre Stimme ist verschlafen und heiser.

?Ich hab? dich gesucht. Warum bist du zurück gegangen??, sagt Nora.

Ro schaut ihr nicht in die Augen, unfähig zu antworten. Nora wendet ihren Blick nicht von ihr. Ro spürt, wie er besorgt auf ihrem Gesicht ruht.

?Wegen dem Kampf, den du aufgegeben hast? Ist es das??

Ro erinnert sich an Noras spöttisches Lachen und beschließt, ihr nichts von dem zu sagen, was sie fühlt. Aber Noras nächste Worte lassen diesen Entschluss zu nichts verpuffen.

?Tut mir Leid, dass ich dich ausgelacht hab?. Das war nich bös gemeint, ehrlich. Und Yato hat?s auch eigentlich nett gemeint. Wirklich, das ist halt seine Art.?

Endlich schaut Ro ihr wieder in die Augen.

?Jah...?

Nora lächelt und sieht dabei unheimlich hübsch aus. Ihre schwarzen Haare trägt sie wie schon an dem Tag, als sie sich kennen gelernt haben offen.

?Du hast wirklich schöne lange Haare?, sagt Ro. Nora nimmt eine Strähne ihres Haares zwischen die Finger, betrachtet sie kurz nachdenklich und wirft sie dann über die Schulter.

?Naja?, lacht sie, ?Eigentlich hätte ich lieber kurze Haare. Wenn sie so lang sind, gehen sie einem eigentlich die meiste Zeit auf die Nerven. Aber ich kann mich einfach nicht dazu überwinden, sie schneiden zu lassen. Es hat so lange gedauert, bis sie so lang gewachsen waren...? Ihr Blick schaut in die Ferne, und Ro fragt sich unvermittelt, mit was für einer Zeit sie kurze Haare verbinden mag.

?Ich hätte auch oft gern lange Haare?, meint Ro. ?Aber mich nerven die auch wirklich unheimlich, darum hab? ich sie immer so kurz. Aber es ist auch irgendwie schade, sie immerzu wieder abzuschneiden. Mit langen Haaren kann man so viele Frisuren machen, und ich mach? das eigentlich ziemlich gern. Aber man kann halt nicht alles haben ? und vielleicht will man ja immer genau das, was man gerade nicht hat.? Ro lächelt, und urplötzlich fällt ihr auf, wie ungezwungen sie sich auf einmal mit Nora unterhält.

?Naja, du hast wahrscheinlich Recht. So werden wir wohl ewig unsere Haarlänge behalten, wir entscheidungsschwachen Weiber?, sagt Nora, und beide brechen in Lachen aus.

Dann schaut Nora zum Fenster und scheint plötzlich eilig zu werden.

?Oh, komm, wir müssen zu den Anderen. Die wollen doch morgen weiter ziehen, und darum gehen sie jetzt in die Arena.?

Ro erschrickt. Die Arena! Aber nein, sie hat schon mehrere Kämpfe gegen andere Trainer aufgegeben, wie soll sie es da mit einem Arenaleiter aufnehmen können?

Nora sieht sie wieder an, dann sagt sie: ?Komm, deshalb bin ich dich ja holen gekommen. Marcel meinte, du wollest es ganz gewiss auch in der Arena versuchen.? Sie lächelt ihr aufmunternd zu und Ro kann einfach nicht anders als zu nicken und sich vom Bett hochzuhieven. Marcel erwartet es von ihr, also wird sie es auch schaffen. Denn sie muss es schaffen! Ach, wenn das nur so einfach wäre, wie es sich anhört...

Sie treffen die Anderen vor der Arena. Katte erklärt bereits großspurig, wie er Walter plattmachen wird, und Yato steht schweigend aber mit einem versunkenen Grinsen da, das nichts Gutes verheißen kann. Marcel winkt ihnen schon von Weitem zu, und Ros Herz macht einen kleinen Hopser.

?Hey!?, ruft Marcel ihnen entgegen. ?Jetzt wird?s ernst, Ro! Ich freu mich schon auf den Kampf!? Lachend klopft er Ro auf die Schulter, und sie grinst ihm gezwungen zu. Insgeheim versucht sie, einen großen Kloß hinunterzuschlucken, der plötzlich in ihrem Hals festzusitzen scheint.

?Ja?, bringt sie mühsam hervor. Marcel hält inne. Nora, Yato und Katte stehen bereits im Eingang der Arena und unterhalten sich über den Arenaleiter. Ro sieht schluckend und von einem unerklärten Schuldgefühl erfüllt in Marcels Gesicht.

?Wenn wir hier fertig sind, musst du mir erzählen, was los ist?, sagt Marcel. Richtig ernst schaut er drein. Ro hat das Gefühl, er könne ihr in die Seele sehen, aber es macht ihr nichts aus. In diesem Moment wohnt sie in seinen geliebten Augen, und sie wünscht, er möge nie vorrüber ziehen. Aber es ist das Selbe wie jedes Mal; Marcel lächelt ihr kurz aufmunternd zu, dann dreht er sich herum und geht zu den Anderen. Ro, jetzt ungesehen, schnappt kurz nach Luft, als seie sie gerade mehrere Meter getaucht, und presst beide Fäuste gegen ihr Herz.

Yato ist der Erste, der gegen Walter antritt. Wie nicht anders zu erwarten, gewinnt er den Kampf auf seine übliche, bescheidene Weise. Danach ist Marcel an der Reihe. Nachdem Walter seine Pokémon hat heilen lassen, stellt er sich dem zweiten Gegner. Der etwas beleibte und in die Jahre gekommene, aber äußerst symphatische Arenaleiter kämpft mit vollem Einsatz, aber auch Marcels Strategie hat er nicht viel entgegenzusetzen. Ein zweites Mal verliert er. Ro ist von einem seltsamen Stolz erfüllt, als sie Marcel während des Kampfes beobachtet. Wie hübsch er ist! Wie ruhig er bleibt, obwohl Ro doch genau weiß, dass er im Inneren leidenschaftlich mit seinen Pokémon miteifert. Seine Pokémon gehorchen den Befehlen perfekt, setzen ihre Attacken präzise ein und scheinen dabei auch noch die gleiche Gemütsruhe zu bewahren wie ihr Trainer. Ja, denkt Ro, Marcel taugt wirklich zum Champ. Und ich an seiner Seite. Ich an seiner Seite...

Nach dem Kampf gratuliert sie Marcel. Aber als sie beobachtet, wie Katte sein Glück versucht, wächst der Kloß in ihrem Hals auf mindestens die doppelte Größe an. Katte, obwohl er Walters Strategie jetzt von Zuschauen kennt, scheint nur Fehlgriffe zu tun. Falsche Pokémon. Falsche Attacken. Nein, denkt Ro, so hat das keinen Sinn. Warum sieht Katte das nicht? Und warum kann er trotzdem noch über sich selbst lachen? Was für eine bewundernswerte Eigenschaft. Wie schön und hell das Leben sein muss, wenn man so leicht über alles hinwegkommt.

Dann hat Katte verloren. Die Entscheidung kommt schnell und nicht überraschend. Katte kehrt, sich verlegen am Kopf kratzend zu der Gruppe am Rand des Kampfplatzes zurück.

?Will noch einer??, ruft Walter, der seine Pokémon versorgt, zu ihnen herüber.

Und plötzlich spürt Ro vier Blicke auf sich ruhen. Am meisten brennt der Marcels, denn sie weiß, dass er erwartungsvoll und gutmütig ist.

?Warum nicht du, Nora??, murmelt Ro.

Nora schüttelt lachend den Kopf.

?Ach, nein. Ich bin noch nicht so gut... Ich will lieber noch was trainieren, ehe ich es in Arenen versuche.? Sie lächelt Ro zu. ?Na los, Ro, du bist doch ein echt klasse Trainer. Na komm!?

Aber Ro schüttelt den Kopf. Ihre Handflächen sind nass vor Schweiß, aber sie kann ihre Angst nicht ignorieren. Es gibt genau zwei Möglichkeiten. Entweder, sie versucht sich im Kampf und enttäuscht Marcel. Oder sie gibt bereits im Vorraus auf und enttäuscht Marcel. Also hat sie eigentlich gar keine Wahl... Ihren Pokémon zuliebe jedoch hat sie die zweite Möglichkeit gewählt.

?Ich mag auch nich?, stößt Ro die Worte heraus. Sie starrt zu Boden. Plötzlich spürt sie eine schwere, warme Berührung auf ihrem Haarschopf. Sie sieht auf und erkennt durch einen Schleier aus trotzigen und verzweifelten Tränen, dass Marcel die Hand auf ihren Kopf gelegt hat. Er lächelt wieder, dieses Mal ist er nicht ernst. Aber dieses Lächeln ist anders, es kommt von Herzen und gilt nur ihr. Es löst eine unglaubliche Wärme in ihrem Körper.

?Ist schon okay?, murmelt Marcel ihr zu. Ro merkt, dass er von den Anderen möglichst nicht gehört werden will. Der Kloß in ihrem Hals ist auf einmal ganz weich, und sie schluckt ihn einfach herunter. Es ist, als wäre ein riesiger Backstein von ihrem Herzen gefallen. Es ist okay, hat Marcel gesagt. Okay. Okay. Okay. Ro bringt ihrerseits ein Lächeln zustande. Es ist okay. Sie braucht sich keine Sorgen zu machen. Marcel ist nicht enttäuscht von ihr, er wird sie auch weiterhin mögen. Auch, wenn sie als Trainerin nicht gut ist. Auch, wenn sie nicht einmal gegen einen der schwächeren Arenaleiter antreten will. Auch, wenn sie Angst hat... Aber sie muss doch keine Angst haben. Warum sollte sie Angst haben, wo doch Marcel da ist, um sie zu beschützen? Warum sollte sie sich vor einer Niederlage fürchten, wenn er an ihrer Seite ist? Aber wie erbaulich das auch klingen mag, die Wahrheit ist doch, dass sie als Trainer schlecht ist. Sie wird ihren Traum nie verwirklichen können. Nicht einmal ansatzweise.

Und jetzt gelingt es Ro nicht länger, den Gedanken zu verscheuchen. Zwei dicke, heiße Tränen rollen ihre Wangen hinab, und benetzen ihre Lippen.
 

Es ist Nacht, die letzte Nacht, die sie in Malvenfroh City verbringen. Der Abend brachte erleichternde Kühle. Aber obwohl die Sonne längst hinter dem Horizont verschwunden ist und den Himmel im Fensterviereck schwarz gefärbt hat, kann Ro nicht schlafen. Eine Weile sitzt sie aufrecht, die Knie umklammert und gedankenverloren leicht vor- und zurückschwankend in ihrem Bett. Dann schleicht sie sich vorsichtig, um Nora nicht zu wecken aus dem Raum, in der Hoffnung, unten im Aufenthaltsraum Ablenkung zu finden. Aber als sie in dem dunklen Flur ein paar Schritte in Richtung Treppe getan hat, kommt ihr eine Gestalt entgegen. Ro kneift die Augen zusammen, aber in der Dunkelheit kann sie nicht mehr als einen schwarzen Schemen erkennen. Die Gestalt geht an ihr vorbei, dann bleibt sie plötzlich stehen.

?Ro??, fragt Marcels Stimme.

?Ja?? Ro schaut immernoch mit weit geöffneten Augen in die Dunkelheit, obwohl sie ohnehin nichts erkennen kann.

Marcel nähert sich ihr wieder, sie kann seine Schritte hören. Dann fühlt sie etwas warmes, eine Hand auf ihrer Schulter.

?Es ist dunkel. Ich kann dich gar nicht sehen.?

Ro schluckt beklommen, sie sagt nichts.

?Hast du Angst vor der Dunkelheit??, fragt Marcel. Seine Hand bewegt sich von ihrer Schulter fort, er legt beide Arme um sie, hält sie von hinten umarmt. Ro ist froh darum, dass er ihre Röte nicht sehen kann.

?Manchmal?, flüstert sie.

Marcels Kopf beugt sich zu ihrem hinunter, sein Gesicht ist neben ihrem, sie kann seinen warmen Atem fühlen.

?Wenn du dich zu fürchten beginnst, darfst du nicht schneller gehen, und auch nicht anfangen zu rennen. Dann wird deine Furcht immer größer werden. Du musst stehen bleiben. Dreh dich nicht herum. Du musst lernen, dir selbst zu glauben, dass nichts hinter dir ist.?

Marcel spricht leise und mit sanfter Stimme. Ro weiß überhaupt nicht mehr, wie ihr geschieht.

?Aber besser ist es?, fährt Marcel fort, ?du fürchtest dich gar nicht. Aber das kann niemand von dir erwarten oder verlangen... Es ist nicht schlimm, sich vor etwas zu fürchten, Ro. Nur dumme Menschen haben vor gar nichts Angst.?

Seine Wange berührt einen Moment die ihre, und ein wohliger Schauer durchfährt Ro.

?Aber ich habe zu viel Angst?, murmelt sie.

?Nein, es ist gut, dass du Angst hast. Deine Angst ist eine Stütze, sie ist gesund und wichtig, denn sie zeigt dir deine eigenen Grenzen. Du musst kein guter Trainer sein, Ro. Viel wichtiger ist, dass du deine Pokémon liebst und gut behandelst.?

Marcel löst sich langsam von ihr. Sobald ihre Körper keinen Kontakt mehr haben, fühlen sich die Stellen, die er berührt hat, ungemütlich kalt an. Ro schaudert erneut. Sie greift nach Marcels Hand und hält sie mit ihren beiden umklammert. Sie spürt, wie sein Blick in der Dunkelheit nach ihr sucht.

?Ich... Ich werde mich nicht mehr vor der Dunkelheit fürchten! Ich werde... Ich werde lernen, und dann brauche ich mich nicht mehr zu fürchten!?

Seine Hand entwindet sich ihrem Griff.

?Marcel, ich...?, stammelt Ro.

?Was denn?? Seine Stimme ist ruhig. Zu ruhig. Bedeutet es ihm denn gar nichts? Er spielt doch nicht nur mit ihr? Nein, das kann nicht sein.

?Nein... Nichts...?

Ro dreht sich herum, stolpert den Flur entlang und zurück in ihr Zimmer. Sie hat es nicht sagen können. Wieder hat sie es nicht sagen können. Sie wollte ihre Gefühle für ihn ausdrücken, aber sie konnte es nicht. Warum fällt ihr das so schwer? Es sind doch nur drei Wörter... Warum war da diese plötzliche Angst? War auch das eine Stütze? Soll sie es ihm vielleicht nicht sagen? Aber...warum? Erwidert er ihre Liebe denn nicht? Nein... Das kann nicht sein! Sie war sich doch so sicher. Wo ist diese Sicherheit jetzt? Wo war sie in dem Moment, als sie es Marcel sagen wollte? Wo war die Sicherheit, wo war ihr Mut? Ach, denkt Ro, ich bin nicht nur schlecht, ich bin auch noch schwach. Ich bin ein verachtenswertes Etwas, einfach nur dumm. Von wegen, Stütze. Marcel mag das glauben, Marcel mag so von mir denken. Aber es ist doch alles nur Fassade, es ist doch alles nur Schwindel. In Wahrheit habe ich nicht im Geringsten das Potenzial zu einem guten Pokémontrainer, in Wahrheit sind selbst meine Nerven zu schwach für einen Kampf, in Wahrheit fürchte ich mich vor der Dunkelheit, weil ich dumm und ängstlich bin. Aber das soll sich ändern. Ich will Marcels Vertrauen nicht enttäuschen, ich kann sein mitleidiges Gesicht nicht ertragen. Ich will nicht, dass er mich bemitleiden muss. Ich will auf einer Stufe mit ihm stehen, auch wenn ich nie wie er sein werde. Ich will mich nicht mehr vor den Anderen ducken, ich will stark werden. Ich will eine Persönlichkeit haben dürfen, ich will mir nicht länger selbst die Anerkennung der Anderen rauben. Ich werde mich nie wieder vor der Dunkelheit fürchten. Ich werde nicht mehr weglaufen, ich werde langsam und zielstrebig einen Fuß vor den anderen setzen, ohne mich umzudrehen. Ich werde keinem Hindernis ausweichen, ich werde meinen Weg gehen, egal, was passiert.

Ro umklammert stumm das Kopfkissen. Dieses Mal weint sie nicht. Ihr Entschluss, stark und unabhängig zu werden, steht fest. Und obwohl sich eine tiefe Niedergeschlagenheit in ihr ausgbreitet hat, fühlt sie auch eine ganz kleine, aber große Wärme spendende, helle Flamme in ihrem Herzen brennen, entzündet durch Marcels Worte, seine Berührung. Seine Zuneigung bedeutet ihr so viel. Und dass er sich Gedanken um sie macht ist wie ein Geschenk. Ist es doch das, was wir alle und wünschen. Wer möchte nicht, dass die ihn brauchen, die er braucht. Schon an Marcel denken zu dürfen ist für Ro etwas wunderbares. Bisher hat sie immer darauf gewartet, dass Dinge geschahen, die sie glücklich machten und nach denen sie sich gesehnt hat. Aber jetzt soll damit Schluss sein. Ab sofort will Ro kämpfen. Sie will um ihre Liebe kämpfen und um die Anerkennung in der Gruppe. Sie will dafür kämpfen, überall so angenommen zu werden, wie sie ist. Denn Ro möchte sich nicht mehr verstellen, sie möchte endlich allen gegenüber ungezwungen das sein dürfen, was sie ist. Und sie wird ihre ganze Kraft aufbringen, um das durchzusetzen.
 

Am nächsten Tag bricht die Gruppe in Richtung Süden auf. Nachdem sie eine Nacht in einer kleinen Unterkunft auf der Strecke verbracht haben, durchqueren sie den feurigen Pfad, um die Wüste zu umgehen. Für die nächste Nacht kommen sie in dem kleinen Hotel einer alten Dame unter. Danach wandern sie durch den beständigen Ascheregen am Fuße des Schlotberges weiter nach Laubwechselfeld. Trotz ihrem frisch gefassten Entschluss gelingt es Ro immer weniger, sich in die Gruppe zu integrieren. Und das, obwohl sie nun von allen Mitgliedern wirklich gut behandelt wird. Yato benimmt sich allen gegenüber kumpelhaft freundlich, Katte hat ohnehin für jeden ein Lächeln übrig, und zwischen Nora und Ro wächst sogar langsam eine Freundschaft heran. Aber Ro ist einfach zu krampfhaft auf Marcel fixiert ? immer muss sie ihn ansehen, selbst wenn sie in ein Gespräch mit einem der Anderen verwickelt ist, versucht sie jedes seiner Worte aufzuschnappen, ist unaufmerksam. Immer öfter vergisst sie Dinge zu tun oder zu sagen, immer öfter geht sie einfach schweigend vor sich hin, den Blick in Marcels Nacken und dennoch weit weg, fern, fern im Land ihrer Träume. Sie sucht noch immer nach Momenten, in denen sie Marcel ihre Liebe gestehen könnte, aber es will sich einfach keiner finden. Und wenn er sich findet, scheint er so schnell wieder vorrüber zu sein, dass Ro noch nicht einmal Zeit hat, den Mund zu öffnen. Obwohl sie jetzt jeden Tag zusammen sind, scheint er viel weiter von ihr entfernt zu sein, als es noch vor so kurzer Zeit in Moosbach City der Fall gewesen ist. Der Tag, an dem er den Arm um ihre Schultern gelegt hat und mit ihr den Strand entlang gegangen ist wirkt in so weite Ferne gerückt, dass Ros Gedanken ihn kaum noch erreichen können. Und wenn, dann wagt sie es kaum, die Erinnerung daran zu berühren, aus Angst, auch sie könne die Wärme, die sie einst ausstrahlte verlieren. Es ist für Ro so unheimlich schwer geworden, mit Marcel zu reden. Und um so eifersüchtiger macht es sie, zu sehen, wie ungezwungen und fröhlich Nora sich mit ihm unterhält. Ja, denkt Ro verbittert, die Beiden verstehen sich wirklich gut. Wahrscheinlich geben sie ein sehr viel besseres Paar ab als Marcel und ich. Ein paar Tage lang denkt sie tatsächlich, dass es zu so etwas kommen könnte. Bis dann etwas sie davon überzeugt, dass dem nicht so ist.

Seit ihrer Ankunft in Laubwechselfeld ist eine Woche vergangen. Mittlerweile sind sie weitergezogen und haben den Steilpass hinunter nach Bad Lavastadt genommen. Ro hat zögerlich wieder damit begonnen, gegen andere Trainer zu kämpfen und auch einige Erfolge verzeichnen können. Die Jungen der Gruppe planen, die Arenaleiterin Flavia herauszufordern, und verbringen ganze Tage mit hartem Training am Steilpass. Nora und Ro haben währenddessen eine Menge Zeit, um zu zweit etwas zu unternehmen oder in den heißen Quellen zu baden. Dort sind sie auch heute. Nora hat ihr langes, glänzendes schwarzes Haar hochgesteckt und trägt einen eng anliegenden, blutroten Badeanzug. Sie ist eine richtige Schönheit, denkt Ro. Daneben muss sie mit ihrem grasgrünen Bikini wie ein wahres Mauerblümchen aussehen. Ist schon klar, warum Marcel ihr so wenig Aufmerksamkeit schenkt, wenn ein so hübsches Mädchen in der Nähe ist. Niedergeschlagen lässt sie sich tief in das warme Wasser sinken. Sie sitzt mit dem Rücken an den Beckenrand gelehnt. Nora hat die Ellenbogen darauf gestützt und breitet gerade ein großes Badetuch über ihre Kleider, um sie vor Spritzern zu schützen.

?Der is? ja süß!?, sagt sie plötzlich. Ro dreht sich desinteressiert herum und entdeckt, dass Nora ihren Talisman in der Hand hält, das Stoff-Eneco. Marcels Geschenk. Sie nimmt es ihr aus der Hand und streichelt zärtlich darüber.

?Das hat Marcel mir geschenkt?, sagt sie.

?Ah so. Darum ist es so wichtig, stimmt?s??

Ro spürt, wie das Blut in ihre Wangen schießt. Aber wozu lügen? Ist ja doch egal, denkt sie.

?Ja.?

Nora lächelt.

?Du solltest gut darauf aufpassen?, sagt sie, ?denn es ist die Erinnerung an einen schönen Tag. Auch wenn einmal alles schief laufen sollte, du brauchst es nur in die Hand zu nehmen, und sofort wirst du wieder das Glück dieses Tages spüren. Es ist wichtig.?

Sie nimmt Ro das kleine Stofftier wieder ab und birgt es vorsichtig wie einen kleinen Vogel in ihren Händen.

?Ich bin mir sicher, dass das hier eine sehr schöne Erinnerung bewahrt. Du solltest wirklich acht geben, dass du es nie verlierst.?

Nora steckt das Eneco unter das Handtuch. Ro weiß nicht so recht, was sie sagen soll. Aber Nora scheint ihre Gedanken zu ahnen, oder aber sie liest sie in ihrem Gesicht.

?Ich glaube, dass du Marcel ziemlich wichtig bist?, sagt sie. ?Er spricht zwar nicht gern darüber, aber ich merke das doch. Ihm ist das einfach etwas peinlich... Jungen mögen weiß ich wie cool und gelassen wirken, dahinter verbergen sich oft mehr Gefühle, als man glauben will.?

Ro betrachtet nachdenklich und traurig die Wasseroberfläche. Warum sagt Nora das? Will sie ihr Mut machen? Aber ist es nicht Nora, die zwischen Ro und Marcel steht?

?Und was ist mit dir? Bist du Marcel nicht wichtig??, fragt sie. Dann beißt sie sich auf die Zunge. Das hat sie nicht sagen wollen. Wie kann sie nur ihre Gefühle so offen zur Schau tragen?

Nora sieht sie verblüfft an. Dann lächelt sie. Schon wieder.

?Oooh... Also das ist es? Das glaubst du? Nein, Ro ? ich bin nicht in Marcel verliebt. Und er nicht in mich, das wüsste ich!? Sie lacht. ?Okay? Ist es jetzt okay? Mach dir nicht immer so viele Sorgen, Ro!?

Ro weiß nichts zu erwidern. Sie ist zwar auf der einen Seite dankbar für Noras tröstende Worte, aber auf der anderen scheinen ihre Sorgen nur noch weiter zu wachsen, wenn sie sie ausspricht. Ro beginnt, sich unbehaglich zu fühlen. Das Wasser ist zu kalt und die Luft zu warm. Die schneeweißen Wolken, die sich von Zeit zu Zeit vor die Sonne schieben wirken in ihren Augen grau und hässlich. Ihr Leben hat sich verändert, die Welt steht auf dem Kopf und mag sich nicht mehr in ihre ursprüngliche Stellung drehen.
 

?Ey, Ro, kämpfst du auch?!?

Ro fährt erschrocken zusammen, als Yato sie in die Seite knufft.

?Was??, fragt sie. Einen Sekundenbruchteil später wird ihr klar, dass das ein Fehler war.

?Na, wo warst du wieder mit deinen Gedanken? Heee??? Yato grinst breit und hinterlistig.

?Ey, Marcel, frag doch ma die Ro, was sie grad über dich gedacht hat!!?

?Huuuii?, lässt Katte hören.

Ro kneift kurz die Augen zusammen. Dann ruft sie: ?Is? ja gar nich? wahr, ey! Nur weil du immer gleich an was perverses denkst, muss das ja bei mir nich? genauso sein!?

Yato macht ein gespielt verblüfftes Gesicht.

?Hä? Wieso pervers? Wer sagt denn sowas? Ich meinte doch nur, dass du Marcel sicher gerade sagen wolltest, dass sein Schnürsenkel offen ist.?

Marcel und Ro schauen gleichzeitig auf Marcels gut verschnürte Schuhe, bemerken dann gegenseitig ihre Blicke und müssen beide kichern. Ro holt mit der rechten Hand aus und versetzt Yato einen ordentlichen Knuff in die Seite.

?Jetzt ist aber mal gut hier, he! Jetzt schlägst du auch noch um dich, da stehst du wohl drauf?!?, sagt er ohne eine Miene zu verziehen aber in triefend ironischen Tonfall.

?Joah, Yato?, grinst Nora. Ro, die resignierend beschließt, ab jetzt zu schweigen, fällt auf einmal auf, dass außer ihr alle hier einen Heidenspaß zu haben scheinen. Warum muss es ihr auch so schwer fallen, einfach locker zu sein?

?Kämpfst du denn auch, oder nicht??, reißt Marcels Stimme sie aus ihren Gedanken.

?Naja-?, beginnt sie.

?Wenn du nicht willst, dann lass es einfach?, sagt Marcel. ?Nora kämpft ja auch nicht ? dabei hätte sie sogar eine gute Chance, sie kämpft doch gar nicht schlecht. Niemand zwingt euch dazu, und das ist gut so.? Ro ist dankbar, dass er ihr so deutlich sagt, was er darüber denkt. Dass er sie nicht im Zweifel lässt.

?Ich werde nicht kämpfen?, sagt Ro. Dann fügt sie leise, so dass nur Marcel es hören kann, hinzu: ?Ich fürchte mich nicht mehr vor der Dunkelheit.?

Er reagiert nicht.

Die Kämpfe verlaufen gut. Marcel, Yato und Katte besiegen die Arenaleiterin Flavia und erringen den Hitzeorden. Yatos Kampf ist wirklich sehenswert, aber Ros Gedanken sind ganz woanders, wärend sie seine klugen Züge und überraschenden Angriffe beobachtet. Sie ist froh, dass auch Nora den Kampf nicht aufnehmen will. So ist sie wenigstens nicht die Einzige, die die ganze Zeit über tatenlos am Rand steht und zuschaut. Aber darüber sollte sie vielleicht nicht froh sein ? schließlich will sie lernen, ihren eigenen Weg zu gehen. Sie braucht doch die Kraft nicht, die ihr andere geben können. Sie hat ihre eigene Kraft, die Kraft ihrer Träume, die in ihr schlummern. Die Kraft ihrer Wünsche, zu deren Erfüllung sie lernen muss, stur geradeaus zu gehen, ohne Haken für Andere zu schlagen. Die Kraft ihrer Individualität. Ro ist Ro, und das ist ihre Kraft, ihre eigene Magie. Sie muss aufhören, in Gedanken nach Marcel zu rufen, wenn sie Trost braucht oder sich schlecht fühlt. Sie will nur noch ihren eigenen Namen rufen ? denn nur sie selbst kann ihr helfen, ihr das geben, wonach sie wirklich verlangt: Sicherheit. Sicherheit darüber, was sie ist. Sicherheit darüber, wohin sie geht. Sicherheit darüber, was sie will. Die eigenen Wünsche zu erkennen kann schwierig und schmerzhaft sein. Aber wer einsichtig ist, wird lernen, sich selbst zu vertrauen. Wer nicht darauf vertraut, sich seine Wünsche erfüllen zu können, wird irgendwann aufhören zu wünschen und das Leben einfach an sich vorrüberziehen lassen. Man muss sein Schicksal in die eigene Hand nehmen. Wer immer in Richtung Horizont geht, wird ihn nie erreichen. Aber er wird daraus lernen. Niemand kann alles. Aber jeder kann etwas, und indem man sich in allem einmal versucht, wird man eines Tages wissen, was man kann, und was nicht. Das Vertrauen in sich selbst kann man nur dann erringen, wenn man sich objektiv einschätzen gelernt hat. Ro will alles über sich selbst lernen, um stark werden zu können. Stark dort, wo sie stark werden kann. Und wenn es nicht der Kampf ist ? das bedeutet nicht das Ende ihres großen Traumes. Es ist, als wäre Ros Trainerreise zu einer Reise zu sich selbst geworden. Sie hofft, sich eines Tages zu finden.

Part 4 Allein

Was ist nur aus Ros Traum geworden? All die Wünsche, die sie hegte, all ihr Ergeiz ? untergegangen, in dem einen weit stärkeren Gefühl. Wenn sie mit Marcel zusammen ist, ist ihr das egal. Aber wenn Ro nachts wach liegt und mit sich allein ist, dann überkommt sie oft ein unglaublich bitteres Gefühl. Wie, so fragt eine kleine, bohrende Stimme in ihrem Kopf, kann sie alles, was ihr wichtig ist einfach vergessen, nur weil sie in Marcel verliebt ist? Warum sollten sich ihre Wünsche den seinen unterordnen? Was treibt sie dazu, ihm auf Teufel-komm-raus so hinterherzulaufen ? ihm so blind zu vertrauen? Sie setzt viel zu hohe Erwartungen in ihn. Nur, weil er ihr jetzt so viel bedeutet, muss er doch nicht gleich ein Übermensch sein. Natürlich ist sie bereit, ihm alle Fehler zu verzeihen und will auch seine Mängel lieben ? aber auch das ist nicht die richtige Einstellung. Vollkommen gespalten, aber nicht das Eine und nicht das Andere ist richtig. Kann es denn überhaupt richtig sein? Was bedeutet ihr das überhaupt? Das Verliebtsein? Oder er? Ro versteht es nicht, versteht sich selbst nicht. Ein einziges Chaos in ihrem Kopf, ein Knäul aus Gedanken, das sie nicht berühren mag, um es zu entwirren. Zu viele schmerzhafte Wahrheiten. Zu viele Fragen. Warum muss sie immer fragen? Warum kann das Leben für sie nicht so einfach sein wie es für die Anderen ist? Oder haben sie auch solche Probleme wie sie und zeigen es nur nicht? Ro, die bäuchlings in ihrem Bett liegt, fährt sich mit den Fingern durch die Haare. Es ist warm, sehr warm. Kleine Schweißperlen haben sich auf ihrer Stirn gebildet. Die Geräusche der Nacht dringen durch das dünne Glas der Fensterscheiben. Ein anderes Zimmer, in einem anderen Pokémoncenter. Sie sehen alle gleich aus, und für Ro bedeuten sie alle das selbe.

Von dem zweiten Bett her kommen die leichten, gleichmäßigen Atemzüge Noras. Ro kann sich nicht vorstellen, dass auch sie manchmal nachts wach liegt und so sehr von Sorgen geplagt wird, dass sie nicht schlafen kann. Sie kann sich nicht vorstellen, dass auch Nora Liebeskummer haben und unglücklich sein kann. Warum kann ich mir das nicht vorstellen, fragt Ro sich. Warum fällt es mir so schwer, mir Nora in meiner Situation vorzustellen? Sie hat doch auch ein Herz zu verlieren! Sie ist doch genau wie ich!

Nein... Nora ist nicht wie sie. Plötzlich erkennt Ro, was sie bis jetzt übersehen hat. Nora ist nicht oberflächlich. Ihr jedoch gelingt es, im Gegensatz zu Ro, glücklich zu sein. Die gute Seite zu sehen. Es gibt immer eine gute Seite, man muss sich nur darauf verstehen, ihren Glanz durch all das Dunkel hindurch zu sehen. Ro hat das nie gelernt. Sie kann es nicht. Dabei scheint es doch so einfach zu sein. Nora wirkt so ausgelassen und sorglos. Ro könnte genau so sein. Eigentlich sollte sie sogar glücklich sein, fällt Ro ein. Schließlich weiß sie, dass Marcel sie mag. Oder mehr sogar: Dass er sie möglicherweise liebt. Sie hat keinen Grund, hier so kreuzunglücklich zu liegen. Warum hat sie das vorher nie gesehen? Der Gedanke daran lässt sie sofort ruhiger werden. Eine federleichte Zufriedenheit macht sich in ihr breit, und langsam beginnt sich auch die Müdigkeit einzustellen. Wie einfach das doch ist. Jetzt kennt sie Noras Geheimnis. Ro möchte über sich selbst lachen.
 

Wieder Regen. Das Wasser fällt in Strömen vom Himmel und in solcher Schwere, dass sich keine Tropfen mehr bilden. Kleine Bäche laufen am Fenster hinunter. Ab und zu lässt ein Windstoß die Wassermassen dagegen prallen, was einen unheimlichen Lärm verursacht.

Draußen ist es warm. Auch der Regen ist warm. Das fühlt sich seltsam an, denkt Ro. Gerade ist sie noch mit den Anderen beim Training außerhalb der Stadt gewesen, als es zu nieseln und bald darauf zu schütten begann. Die Gruppe hat mittlerweile Metarost City erreicht. Als der Regen einsetzte, kehrten sie erst gemächlich und später im Laufschritt zum Pokémoncenter zurück. Es war ein wunderbares Gefühl, durch den warmen Regen zu laufen. Zwar trieften Ros Kleider und Haare bei der Ankunft, aber das machte ihr nichts aus. Im Grunde ist sie sogar dankbar für die Abwechslung. Das Training mit ihren Pokémon kommt ihr jetzt manchmal langweilig vor. Zwar braucht sie sich dabei nicht zu fürchten, dass ihre Freunde verletzt werden, aber irgendwie fehlt ihr der Zweck bei der Sache. Ihr Traum ist dahin, sie ist nicht in den Arenen angetreten und fechtet kaum Kämpfe aus. Früher ist die Vorstellung, einmal Pokémon Meister zu werden ihre Motivation gewesen, aber die fehlt ihr nun völlig.

Ro hängt ihre nassen Sachen über die Bettkante. Sie hat sich mit einem Handtuch trocken gerieben und andere Kleider angezogen, aber ihre Haut fühlt sich noch immer feucht an. Der Raum liegt bis auf das Prasseln des Regens in vollkommener Stille. Cory hat sich auf dem Fensterbrett eingerollt und döst vor sich hin. Nora ist nicht da. Ro weiß, dass sie mit Katte und Yato im Aufenthaltsraum ist, unten. Wenn sie ganz leise ist, kann sie ihr Lachen hören. Ros Augen sind ausdruckslos, ihr Blick leer. Nora. Nora, die gesagt hat, dass sie nicht in Marcel verliebt ist. Nora, die Ro anlächelt und trösten will. Nora, die als Einzige zu merken scheint, wenn Ro Sorgen hat. Sie ist Ro eine Freundin geworden, aber gleichzeitig fürchtet Ro, ihr zu viel anzuvertrauen. Was weiß denn Nora schon von dem, was in ihr vorgeht? Nora, die sich so gut mit Marcel versteht. Ro ist eifersüchtig, unheimlich eifersüchtig. Zuerst hat sie das Gefühl gar nicht erkannt. Aber es wurde immer stärker und stärker, so dass sie irgendwann nicht mehr darüber hinweg sehen konnte. Es ist ein Brennen im Herzen. Kein Kneifen oder Stechen. Ein Brennen. Und es ist das furchtbarste Gefühl, das Ro je gehabt hat. Welches Recht hat denn sie, auf Nora eifersüchtig zu sein? Auf Nora, die sich Mühe gibt und damit Erfolg hat. Aber Ro tut nichts, sie wartet einfach darauf, dass ihr alles in den Schoß fällt. Aber niemand hat das Glück gepachtet. Ro nicht. Und auch Nora nicht. Um glücklich zu sein, muss man etwas für sein Glück tun. Warum gelingt es Ro nicht? Warum kann sie nur warten?

Es klopft an der Tür. Cory schreckt mit einem leisen Miauen aus ihrem Dösen auf und macht einen Satz vom Fensterbrett auf Ros Schulter.

?Ja??, sagt Ro.

Die Tür öffnet sich, und Marcel tritt ein. Auch er hat seine Kleider gewechselt, aber das Haar klebt ihm noch feucht am Kopf.

?Hey?, sagt Ro und lächelt ihn an.

?Hi?, macht Marcel und lässt sich auf ihr Bett sinken. Weil Ro nicht so dumm mitten im Raum stehen bleiben mag setzt sie sich neben ihn.

?Wo sind die Anderen??, fragt sie. Sie weiß es. Warum kann sie mit Marcel nicht genau so normal reden wie mit allen anderen? Warum weiß sie nie etwas zu sagen, wenn er mit ihr spricht... Warum fragt sie so dumme Sachen?

?Unten.?

?Und was machst du hier??

?Ich komm dich besuchen.? Marcel grinst. Ro grinst zurück. Cory springt von ihrer Schulter auf ihren Schoß und blinzelt zu Marcel hoch. Ro krault sie im Nacken. Marcel beginnt ebenfalls, sie zu streicheln, dann lässt er seine Hand neben ihrer liegen.

?Was ich dich eigentlich fragen wollte?, beginnt Marcel. Er klingt ein bisschen unsicher und nervös. ?Warum guckst du immer so traurig? Du lachst in letzter Zeit gar nicht mehr.?

Ros Herz macht einen kleinen Hüpfer. Er hat es bemerkt!, denkt sie. Er hat es bemerkt, es ist nicht an ihm vorbeigegangen. Er achtet doch auf mich... Ich bin ihm nicht egal!

?Ich weiß nicht...?, sagt sie. ?Es ist alles so doof. Ich wollte der beste Trainer werden, und jetzt kann ich nicht mal kämpfen. Ich bin schwach und dumm!?

Sie lässt den Kopf hängen. Vielleicht nur, um nicht in Marcels Augen sehen zu müssen. Er mustert sie stumm und ernst, und das kann sie nicht ertragen.

Jetzt bewegt er sich wieder. Sie sieht auf. Marcel hat seine Hand von Corys Fell gehoben. Er legt sie auf ihre Wange und lässt sie eine Sekunde da. Ro schießt das Blut in den Kopf, und ein Schauer fährt ihr über den Rücken. Dann nimmt Marcel seine Hand wieder weg. Abermals greift Ro danach, so wie sie es auch an dem Tag getan hat, als sie sich im dunklen Flur begegneten. Sie schiebt ihre Finger zwischen seine und schaut zu ihm auf. Sie will noch etwas sagen, aber ihre Kehle ist trocken und sie bringt kein Wort mehr heraus.

?Ist das so schlimm??, fragt Marcel. ?Willst du lieber wieder zurück nach Moosbach City?? Er schaut besorgt.

?Ich will nicht, dass du traurig bist, aber du sollst nicht zurückgehen!?, sagt er in gequältem Tonfall. Spielt er das nur? Oder meint er es ernst?

Ro schüttelt ihren schweren Kopf.

?Nein...?, sagt sie. ?Nein. Ich will nicht zurück. Aber ich weiß gar nicht, was ich hier eigentlich soll. Mit euch... Euch guten Trainern...? Ihre Stimmt stockt etwas, sie weiß nicht, wie sie ihre Gedanken ausdrücken soll.

?Ach, Ro?, sagt Marcel. ?Du bist doch dumm. Das ist doch voll egal! Meinst du wirklich, uns interessiert das, ob du ein guter Trainer bist? Ach Quatsch, ist doch viel wichtiger, dass du nett bist und wir zusammen Spaß haben. Alles Andere ist egal!?

?Aber das kann ich doch auch nicht!?, begehrt Ro auf. Ihre Hand drückt die Marcels. Seine Finger sind warm und trocken.

?Wir haben doch garnicht zusammen Spaß. Ihr habt Spaß, aber ich bin zu blöd, um mich euch wirklich anzuschließen! Und ich kann mich auch mit den Anderen nicht richtig anfreunden! Ich bin dumm, dumm!? Sie kneift die Augen kurz zusammen und schüttelt die Haare aus dem Gesicht. Was sie sagt, ist wahr, sie sagt es nicht um Marcels Mitleid zu erregen. Sie will nicht, dass er sich Sorgen um sie macht... Oder will sie es doch? Das weiß sie nicht, aber sie weiß, dass sie seine Hilfe nicht braucht. Er kann ihr nicht helfen, weil sie sich bei diesem Problem nur selbst helfen kann.

Marcel sieht sie immernoch mit dem selben besorgten Gesicht an.

?Das stimmt nicht?, sagt er leise. ?Das stimmt nicht. Du bist nicht blöd. Und wenn du mit den Anderen nicht klar kommst oder dich mit ihnen nicht wohl fühlst hast du immernoch mich.?

Ro beruhigt sich augenblicklich, und es wird ihr warm ums Herz. Wie kann es nur sein, dass Marcel es immer wieder schafft, alles wieder einzurenken?

Sie lässt seine Hand los, sich des Kontaktes plötzlich intensiv bewusst werdend. Marcel lächelt nur und umarmt sie kurz mit dem einen Arm. Dann steht er auf.

?Ich muss zu den Anderen. Ich wollte Katte noch was fragen...?, erklärt er. ?Und jetzt bist du nicht mehr traurig, okay??

Ro zieht einen fröhlichen Schmollmund. ?Befiehlst du mir das??

?Ja?, sagt er. ?Das ist ein Befehl. Los. Glücklich sein. Und lächel mich gefälligst an. Das gilt für immer.?

?Macho?, lacht Ro. Er lächelt breit. ?Ja. Und was sagst du jetzt?!?

Dann verässt er den Raum. Er ist weg, aber das Gefühl seiner Gegenwart hat er zurückgelassen. Ro drückt die Hand, die er gehalten hat gegen ihr Gesicht. Sie zieht tief die Luft ein. Ihr ist, als habe sie während ihres gesamten Gesprächs keinen Atemzug getan. Cory, die beim Zufallen der Tür erneut ein Miauen von sich gegeben hat, springt bei der Bewegung von ihrem Schoß und lässt eine schnell kälter werdende Stelle zurück. Ro schlingt beide Arme um ihren eigenen Körper. Warum ist ihr so seltsam zumute? Warum ist sie nicht glücklich? Haltlos glücklich... So glücklich, wie Marcel sie sehen will? Warum will er sie so sehen? Ro weiß, was all die gesprochenen Worte bedeuten, aber die Erkenntnis bleibt ihrem Herzen verschlossen. Obwohl ihr Geist gerade die letzten Teile eines Puzzles zusammenfügt, kann sie nicht glauben, was es ergibt. Wenn es die Wahrheit ist... Warum sagt Marcel es nicht?

Im nächsten Moment schimpft Ro sich kindisch und dumm. Wenn es die Wahrheit ist, warum sagt sie es nicht?!

Wenig später geht sie zu den Anderen hinunter in den Aufenthaltsraum. Dort ist es angenehm kühl und eine fröhliche Athmosphäre herrscht. Ros Blick, der nach Marcel sucht, findet ihn sofort mit Katte auf einer Bank sitzend und Listen von irgend etwas vergleichend. Beim Öffnen der Tür hat er aufgeblickt und lächelt ihr nun kurz zu. Dann senkt er den Blick wieder, ehe Ro das Lächeln erwidern kann.

?Ro!?, ruft Nora. Ro dreht den Kopf nach links und erkennt Nora und Yato. Die Beiden sitzen auf niedrigen Hockern an einem kleinen Tisch. Ein paar ihrer kleineren Pokémon spielen zu ihren Füßen miteinander. Cory gesellt sich sofort schnurrend zu ihnen. Zögerlich setzt Ro sich neben Nora.

?Puh, ist das nass draußen?, meint sie. Nora wirft einem Blick zum Fenster, hinter dem noch immer der Regen niedergeht.

?Absolut?, sagt sie. Yato verzieht das Gesicht.

?Es pisst wie aus Kannen?, quäkt er. Ro grinst ein bisschen.

?Is wenigstens ne Abwechslung?, sagt sie. ?Letzte Nacht war?s so heiß, dass ich gar nicht schlafen konnte.?

?Mmmh?, macht Nora. Ro schaut sie erschreckt an. Hat sie vielleicht doch nicht geschlafen? Hat sie mitbekommen, wie Ro sich plagte? Nora bemerkt ihren Blick nicht.

?Ich war gestern irgendwie voll müde, hab geschlafen wie ein Stein.?

Ro ist erleichtert. Sie will nicht, dass Nora sie für schwach hält.

Yato gähnt. ?Das könnt ich jetzt auch.?

?Um die Uhrzeit? Ha, und das, obwohl du beim Training praktisch nichts getan hast!?, wirft Nora ihm lachend vor. Das stimmt, bemerkt Ro plötzlich. Yato hat die ganze Zeit nur herumgewitzelt und sich kaum mit seinen Pokémon beschäftigt.

?Sei du bloß ruhig, immerhin bin ich gut genug, um in Arenen zu kämpfen, ja?!? Komisch, denkt Ro. Obwohl sich ihre Worte nach einem Streit anhören, lachen sie beide und nehmen es nicht ernst.

Nora bedenkt Yato mit einem abschätzenden Blick. Dann sagt sie: ?Nur weil ich es noch nicht versucht habe, heißt das nicht, dass ich schlecht bin.?

Yato gibt ein gespieltes, höhnisches Lachen von sich und belässt es dabei. Dann wendet sich ihr Gespräch anderen Dingen zu. Ro versucht angestrengt, sich möglichst daran zu beteiligen und sich gleichzeitig natürlich zu geben. Marcel will, dass sie glücklich ist. Solange sie mit der Gruppe nicht richtig klar kommt, kann sie nicht glücklich werden. Aber das hängt alles an ihr. Ro ballt die Fäuste unterm Tisch. Wenn das nur so einfach wäre, wie es sich anhört. Aber bei wie vielen Dingen hat sie das schon gedacht? Alles ist so schwer, wie man es sich macht. Ja, denkt Ro, ich werde es anpacken und ich werde es schaffen.

Jemand knufft sie in die Seite. Ro blickt auf. Yato grinst sie an.

?Ey, sei nicht so langweilig!?

?Ich bin nicht langweilig?, sagt sie. ?Ich hab nur nachgedacht.?

?Überlass das denken den Pferden. Die ham den größeren Kopp.? Er zieht eine Fratze und zwinkert. Ro lacht.

?Ich geh mal gucken, was die andern Beiden da machen?, sagt Nora und steht auf. Auch Ro wäre gerne zu Marcel gegangen. Aber alleine hat sie sich nicht getraut und so aussehen als liefe sie hinter Nora her will sie auch nicht. Also bleibt sie mit Yato sitzen, der sich soeben damit zu beschäftigen begonnen hat, den Pokémon Futter wegzunehmen und sie dann mit kleinen Kunsttücken darum betteln zu lassen.

?Dein Eneco is? ja langweilig?, meint er. Ro beugt sich etwas hinunter, um unter die Tischplatte sehen zu können. Anders als die anderen Pokémon spielt Cory nicht mit sondern sitzt nur da und leckt sich das Fell. Ro streichelt ihr kurz über den Kopf.

?Cory ist halt nicht dumm?, sagt sie. ?Sie lässt das nicht mit sich machen.?

Yato schaut kurz nachdenklich, dann grinst er wieder.

?So, meinst du? Aber es ist ein Eneco, und seinem Jagtinstinkt wird es nicht trotzen können. Jetzt schau mal, wie es springen wird!?

Er nimmt einen Brocken Trockenfutter und wirft ihn niedrig über dem Boden ein Stück. Cory zuckt kurz zusammen, dann schenkt sie dem über das Parkett kullernden Stück einen verächtlichen Blick. Mit einer blitzschnellen Bewegung haut sie mit der Tatze nach Yatos Hand, dann geht sie langsam und gelassen zu dem Futterstück und frisst es genüsslich auf.

?Aaauh?, jault Yato. Auf seiner Hand zeichnen sich drei Rote Linien ab, aus jeder quillt ein kleiner Blutstropfen. Ro verkneift sich ein Kichern.

?Tja?, macht sie.

?Mistvieh!!?, schimpft Yato.

?Selbst schuld?, erklärt Ro. ?Cory ist halt schlauer als du meinst.?

Cory maunzt und lässt ihre Augen verschmitzt zu Ro aufblitzen. Ro lächelt ihr zu. Sie hätte das nicht mit ihrem Pokémon gemacht. Sie kennt Cory mittlerweile einfach gut genug, um zu wissen wie sie auf so etwas reagiert.

Yato ist, immernoch fluchend, aufgestanden und zur Tür gegangen. Ro vermutet, dass er den Kratzer erst einmal sauber waschen will. Sie fühlt sich nicht schuldig, schließlich hat sie ihn gewarnt. Ro nimmt Cory auf ihren Schoß und streichelt sie versunken. Auf der anderen Seite des Raumes lachen Nora und Marcel gemeinsam über etwas, das Katte gesagt hat. Jetzt sitzt Ro hier und ist wieder alleine. Traurig sieht sie ihren eigenen Händen dabei zu, wie sie automatisch Corys Fell gegen den Strich und dann wieder glatt bürsten. Cory ist bei ihr und ihr treu gewesen, egal, was passierte. Sie ist immer die Einzige gewesen, mit der Ro die stillen Stunden am Strand teilen mochte, denn nur sie schien Ro zu verstehen. Aber in Wahrheit möchte Ro das nicht. In Wahrheit möchte sie von allen verstanden werden, oder von niemandem. Und manchmal möchte sie einfach mit sich allein sein. Dann wünscht sie, sie könne die Zeit anhalten, so dass nichts mehr geschähe und sie für den Rest ihres Lebens in der sich nicht verändernden, vergangenen Wirklichkeit, gemeinsam nur mit ihren Gedanken verweilen könne. Plötzlich überkommt Ro eine beißende Sehnsucht nach Moosbach City. Nach dem Strand im Sonnenuntergang, nach den immer gleichen Tagen des Trainings, der felsenfesten Sicherheit des abendlichen warmen Essens. Ja, sogar nach der eintönigen und langweiligen Arbeit in der Sternwarte. Das war zumindest ein Ort, an den sie gehörte. Hier fühlt sie sich so fehl am Platz wie eine Tennissocke in einem Schrank mit teuren Ballkleidern.
 

Er schaut sie nicht an. Er schaut sie nicht an. Und er schaut sie nicht an. Er beachtet sie nicht einmal. Er spricht nur mit den Anderen. Er hat sie am Morgen sogar kaum gegrüßt. Ro ist dem Verzweifeln nahe. So oft ihr Blick den seinen sucht, muss sie erkennen, dass er nicht bewusst ausweicht. Er denkt einfach nicht daran, in ihre Richtung zu sehen. Das kann sie nicht ertragen, das tut so weh! Als hätte er sie vergessen... Sie will nicht, dass er sie vergisst. Auch wenn es nur einen Moment lang ist.

Sie sind auf dem Weg nach Blütenburg City. Dort gibt es auch einen Arenaleiter, Norman. Katte, Marcel und Yato unterhalten sich schon die ganze Zeit über über ihn. Nora geht mitten unter ihnen und wirft hin und wieder etwas ein. Die Sonne brennt vom Himmel und der Boden ist staubtrocken. Keine Spur ist mehr von dem Regentag geblieben, der nun schon drei Tage zurückliegt. Und Ro hat das Gefühl, als seie auch etwas anderes als das Wasser im goldenen Sonnenlicht einfach verdampft. Warum ist Marcel so kalt ihr gegenüber? Warum sieht er sie nicht an? Sie versteht es einfach nicht. Ob ihm peinlich ist, was er zu ihr gesagt hat? Was sich zwischen ihnen abgespielt hat? Aber das kann sie sich kaum vorstellen. In den vergangenen Tagen ist das Gefühl, sie sei ihm egal ins Unerträgliche gestiegen. Sie hält es kaum noch aus. Aber was kann sie schon tun? Nichts, außer abzuwarten, ob sich etwas ändert. Aber Ro ist das Warten Leid. Sie will endlich wieder eine Sicherheit haben. Sie braucht eine Sicherheit. Aber wer wird sie ihr geben können? Sie muss sich selbst Sicherheit geben. Sie muss ihre eigene Sicherheit sein. Entschlossen stapft Ro hinter den Anderen her. In Gedanken ruft sie sich selbst, ihren eigenen Namen. Ruft sich an, glücklich zu sein. Glücklich und unabhängig. Warum sollte sie von Marcels Launen abhängig sein? War nicht noch vor kurzem er es, der um sie rang? Wie hat sie zulassen können, dass der Spieß sich dermaßen wendete? Der Gedanke ist unangenehm und zwickt, aber Ro kann ihn nicht verdrängen. Und sie will es auch nicht, denn wenn sie sich selbst helfen will, muss sie lernen, ehrlich zu sich zu sein. Kann es sein, dass sie sich nur wegen seiner offensichtlichen Zuneigung zu ihr in ihn verliebt hat? Dass sie,nachdem sie diese nicht mehr fürchtete, begann, sich Hoffnungen zu machen... Dass das der Auslöser für ihre Gefühle war? Aber das hieße, dass diese Gefühle in Wahrheit nur Heuchelei sind. Das kann sie nicht glauben. Verwirrt schüttelt Ro die Haare aus dem Gesicht. Dabei verirrt sich ihr Blick, der seit einer Weile ohne etwas zu sehen auf dem vorrüberziehenden Boden vor ihren Füßen ruht und begegnet Kattes Augen. Der kleine, quirlige Junge mit dem ins Gesicht eingebrannten Lächeln schaut zum ersten Mal seit sie ihn kennt ernst. In seinen blauen Augen liegt ein fragender Ausdruck. Ro senkt den Blick wieder. Wie wenig sie Katte kennt... Aber es scheint fast so, als sorgte er sich um sie. Ro schaut wieder zu ihm hin, aber Katte hat sich Nora zugewandt und spricht mit ihr, worüber auch immer. Nein, denkt Ro. Es ist Neugier, mehr nicht. Wir kennen uns doch gar nicht, warum sollte er sich um mich sorgen? Aber dann fällt ihr ein, dass das gar nicht stimmt. Sie und Marcel sind jetzt bereits eine ganze Weile mit Katte, Yato und Nora unterwegs, und mittlerweile kennen sie sich eigentlich alle ganz gut. Ro geht einfach davon aus, dass sie sich nicht kennen, und deshalb wird sich für sie nie etwas daran ändern.

Sie durchqueren den Blütenburg Wald. Eigentlich ist es ein kleiner Wald, aber die Bäume stehen stellenweise so dicht an dicht, dass kein noch so kleines Bisschen Sonnenlicht den Boden berührt. Obwohl es Hochsommer ist ist es hier feucht und kühl, und eine unheimliche Stille herrscht. Selbst das Geräusch ihrer Schritte wird von dem nassen Moos geschluckt, dass große Teile des Bodens bedeckt. Die schlagartig veränderte Athmosphäre drückt, und selbst Yato und Katte führen ihre Gespräche nur noch in gedämpften Tonfall. Immer wieder begegnen ihnen wilde Pokémon, die aber so scheu sind, dass sie von den Meisten kaum mehr als ein nasses Schnäutzchen oder eine im Dickicht verschwindende Schwanzspitze sehen. Ro ist froh um die Stille, die so dominierend ist, dass sie alle anderen Eindrücke und Wahrnehmungen einfach wegzuwischen scheint. Aber lange hält dieser Zustand nicht an, denn sobald sie etwas tiefer in den Wald eingedrungen sind, begegnen ihnen andere Trainer, die kämpfen wollen. Die Jungen sehen das als willkommene Möglichkeit, für den Kampf gegen Norman zu trainieren und auch Nora hat ihren Spaß. Ein weiteres Mal fühlt Ro sich ausgeschlossen. Sie steht daneben, während die Anderen lachen. Verbittert versucht sie, das Gefühl des ausgeschlossen-Seins zu ignorieren. Sie streichelt Cory in ihren Armen und erinnert sich in der verzweifelten Hoffnung, er möge wiederkehren, an den Tag, als sie mit Marcel den Markt in Graphitport City besuchte. Aber obwohl es eine so schöne Erinnerung ist, schmerzt sie. So ist es doch immer, denkt Ro. Sich an das Schöne zu erinnern schmerzt mehr als alles was traurig oder schlimm war zusammen. Zu wissen, dass man etwas für immer verloren hat, tut weh, sehr weh.

?Hey?, sagt eine Stimme neben ihr. Ro dreht den Kopf und erkennt Katte. Sie steht abseits der Gruppe, die Yato bei einem Kampf anfeuert. Er muss zu ihr gekommen sein. Sie sagt nichts.

?Was ist los??, fragt Katte.

?Nichts?, antwortet Ro prompt und nicht sehr überzeugend. Katte wartet ihre Antwort kaum ab. Er lächelt. ?Marcel ist komisch?, meint er.

?Hä??, macht Ro. Ihre Stimme klingt seltsam. Aber das ist ihr jetzt auch egal. Was Katte ihr wohl zu sagen hat?

?Du denkst, dass er dich nicht leiden kann, stimmt?s?? Ro weiß wieder nichts zu sagen, und mittlerweile kommt sie sich echt blöd vor. Erneut wartet Katte nicht auf Antwort.

?Das is nich wahr, weißt du? In Wahrheit mag er dich ziemlich. Aber ich glaube, dass ist ihm peinlich oder so. Vielleicht ist es für dich ziemlich bescheuert, dass Nora, Yato und ich bei euch sind.?

Ro senkt den Blick. Ja, denkt sie. Ja. Aber das kann sie ihm doch nicht sagen!

?Ich mag euch?, murmelt sie. Katte lacht kurz und ehrlich auf.

?Danke. Ich mag dich auch, und Nora und Yato mögen dich auch. Aber das ist etwas anderes, nicht wahr? Ich glaube, das und vieles anderes würdest du bedenkenlos dagegen eintauschen, mit Marcel allein sein zu können.?

Jetzt kann Ro wirklich nichts mehr sagen. Jedes Wort wäre ein Fehler. Sie kann es nicht leugnen. Wer würde das schon glauben? Aber sie kann es auch nicht zugeben, das fürchtet sie. Stumm drückt sie Cory fester an sich. Das Pokémon gibt ein vorwurfsvolles Fauchen von sich, entwindet sich ihrem Griff und springt zu Boden. Ro schlingt schützend die Arme um ihren eigenen Körper.

?Du darfst nicht traurig sein wegen Marcel?, sagt Katte. ?Er weiß einfach nicht, was er will.?

?Ja, vielleicht?, krächzt Ro. Sie ist den Tränen nahe, obwohl sie selbst nicht so recht weiß, warum. Was Katte ihr da sagt klingt so plausibel. Sie möchte es auch gerne glauben. Aber selbst wenn sie es glauben könnte, würde ihr das nicht helfen. Warum auch immer Marcel das tut, was er tut, er verletzt sie damit. Jetzt hat sie drei Tage lang geglaubt, er wolle nichts mehr von ihr wissen. Und dann kommt wieder von einer anderen Seite die Nachricht, er möge sie sehr, wolle es aber nicht zeigen. Ro kann dieses ewige Hin und Her nicht mehr ertragen. Niemand könnte lang mit diesen heftigen und unvermeidlichen Gefühlsschwankungen leben. Ich bin zu schwach, denkt Ro. Ich kann das nicht aushalten, nicht länger! Sie hat das Gefühl, ihr ganzer Körper würde im nächsten Moment in tausend Teile zersplittern. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Sie weiß nicht, was sie denkt. Weiß nicht, was sie fühlt und nicht was sie will. Was weiß sie überhaupt noch? Was ist denn noch sicher in ihrem Leben? Es gibt ja doch nichts mehr, worauf sie sich verlassen könnte. Nichts mehr, und niemanden mehr. Marcel, der nicht weiß was er will. Nora, aus der Ro noch immer nicht so richtig schlau wird. Yato, mit dem man nicht ernsthaft reden kann. Und Katte, der Ro so fremd ist. Sie alle gehören in eine Welt, die nicht Ros Welt ist. In eine verlässlichkeitenlose Welt der Unsicherheiten, der Oberflächlichkeit und des Fremdseins. Ro hat genug von dieser Welt gesehen, um für sich entscheiden zu können. Sie weiß jetzt genauer denn je, dass sie nicht hierher gehört. Noch hat sie nicht herausgefunden, wohin sie gehört. Aber ihr Leben ist noch lang, und sie wird viel Zeit haben, um nach ihrer eigenen Welt zu suchen. Nur muss sie dafür den Mut aufbringen, andere Welten hinter sich zurückzulassen. Ro rafft sich zusammen und schenkt Katte ein Lächeln, aber im Stillen hat sie einen Entschluss gefasst.
 

Es ist ihre letzte Nacht. Dies ist das letzte der immer gleich aussehenden Zimmer in den immer gleich aussehenden Pokémoncentern, in dem sie eine Nacht verbringt. Ro weiß das sicher, denn sie hat es sich vorgenommen. Den Anderen hat sie nichts davon gesagt. Sie würden es ihr nur schwerer machen. Oder eben nicht. Beides würde wehtun. Mehr noch, als es jetzt schon weh tut.

Es ist dunkel im Zimmer. Wie immer, wenn sie nicht schlafen kann, liegt Ro auf dem Rücken. Sie spürt die Hitze der Sommernacht nicht. Und auch den Wind, der in den Blättern der großen Birke vor dem Fenster raschelt hört sie nicht. Sie hört nur das Rauschen ihres Blutes und spürt ihren Herzschlag. Vielleicht ist sie schon im Halbschlaf, und fühlt sich deshalb so komisch. Das weiß sie nicht. Ihre Gedanken gehen seltsame Wege. Mal kann sie ihren Geist nicht von den Erinnerungen an Moosbach City lösen, mal kann sie sich nicht davon abhalten, sich an die Nacht in Flossbrunn zu erinnern. Das Bild eines großen Wingull, dass einen beinahe noch größeren und noch zappelnden Fisch herunterwürgt füllt ihren Kopf, während die Wellen um ihre Zehen spülen und Marcels Stimme sagt, dass es im Sommer erst spät dunkel wird. Sie sieht noch einmal die Sonne im Meer ertrinken und spürt Marcels warme Schulter. Seine Wärme, die ihr Seele zu verschlingen droht. Und auch das Gefühl der schlaflosen Stunden jender Nacht ist auf einmal wieder da. Jetzt weiß sie wieder, wie warm ihre Tränen waren. Die Sicherheit, etwas schlimmes sei passiert... Die große, große Trauer, die sie sich damals nicht erklären konnte...

Ein heiseres Schluchzen steigt in Ros Kehle hoch. Um sich zu beruhigen dreht sie sich auf den Bauch. Das Gesicht zwischen ihren Armen verborgen spürt sie noch immer ihren Herzschlag. Aber plötzlich sind auch die Geräusche der Nacht wieder da. Ro ist jetzt hellwach.

?Nora??, fragt sie in das Dunkel hinein.

?Mmh?, antwortet eine verschlafene Stimme. Gut, denkt Ro. Sie ist noch wach.

?Wie hast du Katte eigentlich kennen gelernt??

Nora antwortet nicht sofort auf die Frage. Ro hört, wie sie sich unruhig bewegt.

?Er war eines Tages... Einfach da?, sagt sie dann zögerlich.

Einen Moment kehrt Schweigen ein, dann fährt sie fort:

?Ich komme aus Rosaltstadt, weißt du. Das ist gar nicht weit von Blütenburg City... Von hier. Yato wohnte in Wurzelheim, das ist echt ein ätzendes kleines Kaff. Weiß gar nicht, wie er?s da ausgehalten hat.?

Ro hört, wie sie sich am Kopf kratzt. Noras Stimme ist jetzt fest und gar nicht mehr verschlafen.

?Wir kannten uns schon früher. Irgendwann sind wir dann zusammen losgezogen. Man sieht es Yato nicht an, aber er ist ein bisschen ehrgeizig. Ich glaube, er möchte es hoch hinaus schaffen.? Nora lacht leise.

?Mir ist das eigentlich nicht so wichtig. Aber ich hab ihn trotzdem begleitet. Und dann trafen wir Katte. Er kam von hier und wollte genau wie wir gen Osten nach Graphitport City gehen. Da war er wohl noch nicht stark genug, um gegen Norman zu kämpfen...?

Sie legt eine Pause ein. Ro lauscht stumm. Warum, fragt sie sich, weiß sie selbst nur so wenig über Nora, Katte und Yato? Weil sie nie gefragt hat? Nora spricht leise weiter.

?Er war so fröhlich. Und nie hatte er etwas zu meckern. Er kam einfach auf uns zu und von da ab war er dabei. Ich habe ihn sofort gemocht. So geht es wohl den meisten. Aber ich glaube, es gibt irgendeinen Grund, aus dem er die Menschen so um sich schart. Irgendwas muss ihm mal passiert sein. Ich hab das Gefühl, er will, dass alle glücklich sind, um sich selbst vor irgendwas zu schützen. Er erzählt nie etwas von sich, und er lacht immer. Aber einen Menschen, der immer glücklich ist, gibt es nicht.?

Wieder schweigt Nora. Ihre Worte hallen in Ros Kopf wider. Nora hat Recht. Auch hinter Kattes Fassade, hinter seinem fröhlichen Lächeln verbergen sich Gefühle. Warum braucht Ro immer erst jemanden, der ihr das zeigt? Fehlt ihr die Menschenkenntnis, um es selbst zu erkennen? Oder ist sie einfach zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt?

?Ich glaube, Katte ist ein sehr guter Mensch?, sagt Ro nachdenklich.

?Ja?, erwidert Nora ernst.

Dann sagen sie beide lange kein Wort mehr. Ro trauert ein wenig darum, Katte und auch Nora und Yato nie wirklich kennen gelernt zu haben...

Und dann schläft sie, ohne es richtig gemerkt zu haben irgendwann einfach ein. Ihr Schlaf ist traumlos und dennoch erfüllt mit ängstlicher Erwartung des kommenden Tages, der alles verändern soll.
 

Nora schläft noch. Ihr hübsches Gesicht ist so glatt und entspannt, dass sie wie ein dunkler Engel wirkt. Und die weißen Kissen, in denen ihr Kopf ruht sind Wölkchen der Unschuld, denkt Ro. Das ist ihr Abschied von Nora. Möglicherweise wird Ro sie niemals wiedersehen... Und in jedem Fall ist ihre Freundschaft an diesem Punkt wohl mehr oder weniger beendet. Der Gedanke schmerzt, aber Ro, die sich versprochen hat, nicht mehr vor sich wegzulaufen, denkt ihn dennoch zu Ende. Nora wird weiter dem Weg folgen, der für Ro nicht der richtige war. Sie werden sich auseinanderleben. Aber sie wünscht Nora viel Glück auf ihrem Weg und hofft, ihre Träume mögen eines Tages wahr werden. Schweren Herzens wendet Ro den Blick von der schlafenden Nora. Es ist noch sehr früh. Vor dem Fenster geht soeben die Sonne auf. Ro ist bereits angezogen und hat ihren Trainerrucksack geschultert. In der linken Hand hält sie ihren Talisman. Er soll ihr Mut geben. Sie schluckt. Jetzt heißt es Abschied nehmen. Auf dem Fensterbrett hat sie einen Zettel zurückgelassen, auf dem steht dass sie ihre Reise alleine fortsetzen wird. Mehr nicht. Ro weiß selbst nicht so genau, warum, aber sie möchte ihre Entscheidung nicht näher erklären. Und mit niemandem möchte sie darüber reden. Etwas schlecht fühlt sie sich schon dabei, sich einfach wie eine Katze ohne Schwanz wegzuschleichen, während alle noch schlafen. Aber sie kann Marcel nicht in die Augen sehen. Er würde sie nur davon überzeugen, dazubleiben. Oder aber es wäre ihm ganz egal. Und das wäre noch schlimmer. Lieber möchte Ro ihre Illusionen behalten. Manchmal ist es leichter, mit einer Lüge zu leben als mit der Wahrheit.
 

Es ist, als habe ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Und immer wieder muss Ro sich daran erinnern, dass sie selbst es gewesen ist... Dass sie es war, die sich alle Heimat nahm. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist. Und sie weiß nicht mehr, was sie will. Aber am allerwenigsten weiß sich, wohin sie soll. Seit sie das Pokémoncenter verlassen hat sind mehrere Stunden vergangen. In einem kleinen Fast-Food Laden hat sie gefrühstückt, dann ist sie aufs Geratewohl in die Straßen der Stadt hineingelaufen, immer darauf bedacht, möglichst weit vom Pokémoncenter und Normans Arena wegzubleiben, um keinem der Anderen über den Weg zu laufen. Jetzt hat sie sich also erfolgreich von der Gruppe abgesetzt. Aber was nun? Wenn sie ihre Reise allein fortsetzen will, muss sie gegen viele Trainer kämpfen. Von ihrem Geld ist nicht viel übrig, und in letzter Zeit ist immer nur so wenig dazugekommen, dass sie kaum die Miete für das Zimmer bezahlen konnte. Aber das ist nur eine Möglichkeit für sie, weiterzumachen. Sie kann auch etwas ganz neues anfangen. Vielleicht etwas, das ihr mehr liegt als kämpfen... Wenn sie es schaffte, sich allein bis zurück nach Malvenfroh City durchzuschlagen, könnte sie vielleicht in der dortigen Pokémon Pension arbeiten. Sie könnte Pokémon-Züchter werden... Bei diesem Job brauchte sie zumindest nicht zu kämpfen. Aber auch dieser Gedanke erfüllt Ro mit wenig Begeisterung. Wonach sie sich eigentlich sehnt ist, nach Moosbach City zurückzukehren. Aber so kann sie ihrer Mutter unmöglich unter die Augen treten; wenn sie ohne einen Orden und nach so kurzer Zeit zurückkehrte wäre das für sie der Beweis, dass sie immer Recht hatte, wenn sie behauptete das Trainerleben sei nichts für Ro. Sie mag sich die Wahrheit ja kaum selbst eingestehen. Natürlich, ihre Mutter hatte Recht. Der Kampf ist nichts für sie, und das Trainerleben auch nicht. Und dazu kommt, dass sie jetzt allein ist. Ja, Ro ist allein, und dieses Mal wird keiner da sein, um sie wieder aufzubauen.

Part 5 Wieder allein

?Die inneren Mauern lassen sich nicht ohne genügend ehrliche Überzeugung einreißen?

(29.11.2003)

Aber Ro ist anders. Ro hatte statt Überzeugung den Mut zu handeln.
 

Ro schaut von ihrem Zettel zu dem Haus, vor dem sie steht. Ja, die Adresse stimmt... Hier also lebt ihr Vater. Es widerstrebt Ro, aber sie hat keine andere Wahl. Ihr Vater hat ihr Unterkunft angeboten, und nun nimmt sie das Angebot eben an. Warum sollte das so schlimm sein? Aber in der Erinnerung daran, wie sie ihren Vater am Telefon abgespeist hat, dreht sich ihr der Magen um. Was wird er sagen, wenn sie jetzt vor seiner Tür steht? Ro schluckt, und dann geht sie entschlossen auf die Tür zu. Was auch immer er sagen wird, wenn sie nicht zu ihm geht muss sie zu ihrer Mutter zurückkehren, und das kann sie nicht.

Ro klingelt. Keine Reaktion. Einen Moment lang denkt sie, niemand sei zu Hause. Sie weiß nicht, ob sie darauf hofft oder es fürchtet. Dann hört sie, wie sich Schritte der Tür nähern. Sie öffnet sich. Nicht ihr Vater steht darin, sondern eine Frau. Sie ist blond, wirkt etwas aufgetakelt und wäre hübsch, wenn ihre Mundwinkel statt nach unten nach oben zeigen würden.

?Ehm... Hallo!? Ro ist verlegen. Wer ist das? Und was soll sie sagen?

Die Frau sieht sie fragend und irgendwie auch missbilligend an.

?Ist... mein Vater da??, fragt sie zögerlich. Die Miene der Frau hellt sich ein klein wenig auf, aber vielleicht bildet sie sich das auch nur ein.

?Komm rein?, sagt sie barsch. Ro tritt ein, und sie schließt die Tür hinter ihr. Sie steht in einem dunklen Flur, auf dessen anderer Seite eine Tür zu einem hell erleuchteten und gemütlich wirkenden Wohnzimmer offen steht. Ein leichter Parfümgeruch liegt in der Luft. Ro stellt verwundert fest, dass das Innere des Hauses so gar nicht nach ihrem Vater aussieht.

Die blonde Frau ist eine Treppe zur Rechten zwei Stufen emporgestiegen und ruft nun hinauf.

?Arne!? Einen Augenblick geschieht nichts, dann antwortet die Stimme von Ros Vater.

?Was gibt?s?? Sie klingt gedämpft, als lägen mehrere Türen zwischen ihm und der Treppe.

?Komm mal runter!!? Die Stimme der Frau ist eine Art hohes Kreischen. Wenn es nicht so unhöflich wäre, würde Ro sich die Finger in die Ohren stecken.

Sie hört, wie eine Klinke heruntergedrückt wird und sich knarzend eine Tür öffnet. Das Ende der Treppe befindet sich hinter einer Windung, so dass Ro ihren Vater noch nicht sehen kann. Aber sie hört noch etwas anderes neben seinen schweren Schritten. Ein Trappeln, das schnell die Stufen herunterkommt. Und ehe Ro es sich versieht hat sich etwas auf sie gestürzt. Sie fällt rücklings gegen die Wand. Eine rauhe, warme Zunge leckt ihr über das Gesicht, die Frau gibt ein angewidertes Ieksen von sich. Und plötzlich weiß Ro, was los ist.

?Regis!!?, jubelt sie und umarmt das Pokémon heftig. Dann hält sie es mit beiden Händen auf Abstand. Das Magnayen mustert sie liebevoll aus gelben Augen. Ro hat alles um sich herum vergessen. Es ist Regis. Er ist es wirklich.

?Ich hab dich vermisst?, flüstert sie ihm ins Ohr.

Regis war immer das Hauspokémon ihrer Eltern. Er wuchs zusammen mit Ro auf. Anfangs war er noch ein Fiffyen, aber er wuchs und irgendwann entwickelte er sich. Ro liebte ihn über Alles, und sie untenahmen viel gemeinsam. Aber als ihre Eltern sich scheiden ließen, nahm ihr Vater ihn mit...

?Rocar!?

Ro hebt den Kopf. Ihr fällt wieder ein, wo sie ist. Und warum sie hier ist. Etwas verlegen und mit einem ängstlichen Blick zu der unbekannten Frau rappelt sie sich auf. Ihr Vater lächelt sie an und Ro erwidert das Lächeln, wenn auch leicht widerstrebend.

?Kommst du uns also doch besuchen?, sagt er. Er erinnert sich also noch genau so gut an das Telefonat wie sie... Ro schämt sich ein wenig.

?Ja... Ich hab mich von unserer Gruppe getrennt... Ich dachte, ich könnte vielleicht eine Weile bei dir wohnen?, sagt Ro in möglichst neutralem Tonfall. Ihr Vater mustert sie kurz.

?Klar doch. Das ist Marga, meine Freundin. Marga, das ist meine Tochter Rocar.?

Seine Freundin also. Na toll, denkt Ro. Mit der Furie zusammen zu wohnen stellt sie sich nicht gerade angenehm vor.

?Hallo?, sagt Marga steif.

?Hi?, sagt Ro.

Und das sollten für die kommenden Wochen die einzigen freundlichen Worte sein, die zwischen ihnen fielen.

Die erste üble Erfahrung, die Ro mit Marga macht ist, dass diese ihren Vater praktisch voll unter Kontrolle hat. Zwar ist es deutlich, dass er von Anfang an versucht, Ro ein angenehmes Leben zu bieten. Aber er, der bei Ros Erziehung einige Jahre verpasst hat, kennt sich weder mit ihren Bedürfnissen aus, noch weiß er, wie viel Hilfe er von ihr erwarten darf. Marga nutzt diese Wissenslücke schamlos aus, indem sie ihm diktiert, Ro beinahe die ganze Hausarbeit aufzuhalsen. Ro startet kaum den Versuch, sich dagegen aufzulehnen, und da ihr ohnehin nicht viel anderes zu tun bleibt hat sie sich nach ein paar Tagenan die Arbeit gewöhnt und verrichtet sie klaglos. Irgendwie kann sie Marga schon verstehen. Wahrscheinlich hatte sie gerade eine schöne gemeinsame Zeit mit ihrem Freund verbracht, als plötzlich dessen Tochter auftauchte, unangemeldet bei ihnen wohnen wollte und alles auf den Kopf stellte. Kein Wunder, dass sie mich so schnell wie möglich wieder loswerden will, denkt Ro traurig. Aber solange sie nicht weiß, wo sie hin gehen soll, kann sie nicht weg von hier. Ro ist niedergeschlagen und verzweifelt. Alles scheint schief zu laufen für sie. Sie ist aus Not und unwillig zu ihrem Vater gegangen, und unter den spitzen Bemerkungen und dem angewiderten Blick Margas lässt es sich dort kaum aushalten. Und schlimmer noch sind für sie die stummen, hilflosen und verzeihungsheischenden Blicke ihres Vaters. Aber das unerträglichste ist Margas Abneigung gegen Pokémon. Schon Regis duldet sie kaum, und Ros Pokémon will sie gar nicht im Haus sehen. Da aber Ro nicht deswegen ihre Freunde vernachlässigen will, kommt es, dass sie bald das Training wieder aufnimmt. Es ist die dritte Woche ihres Aufenthalts bei ihrem Vater. Ro ist sich inzwischen ziemlich sicher, dass Katte und seine Gruppe sich nicht mehr in der Stadt aufhalten. Sie braucht kaum zu fürchten, ihnen beim Training zu begegnen... Ein paar Tage verbringt sie immer mehrere Stunden außerhalb der Stadt. Wenn sie danach zurück kommt hat sie immer das Gefühl, Marga seie froh um die Zeit gewesen, die sie im Haus allein mit Ros Vater verbringen konnte. Zum Training nimmt Ro auch Regis mit, der ihr etwas träge geworden zu sein scheint.

Marga arbeitet abends in einem Lokal. Ros Vater hingegen ist Schriftsteller und daher die meiste Zeit daheim. Allerdings hockt er oft stundenlang in seinem Büro. Überhaupt scheint Ro das der einzige Ort zu sein, an den er wirklich gehört. Das ganze Haus ist penibel sauber und ordentlich gehalten, es wirkt unbewohnt. Außerdem hängt überall der Geruch nach Margas äußerst geschmacklosen Rosenperfüm in der Luft. Nur das Büro von Ros Vater ist nicht von Marga dominiert. Dort herrscht Chaos; über den Boden liegen Bücher, bekritzelte Blätter, Stifte oder CDs verstreut, und auch auf dem Schreibtisch sieht es nicht besser aus. Ro wundert sich tatsächlich oft darüber, wie ihr Vater eigentlich in all der Unordnung noch genug Konzentration zum Tippen aufbringen kann. Das Zimmer, das Marga Ro zugewiesen hat ist klein und enthält kaum etwas außer ihrem Bett, einem Schrank und einem Nachttisch. Jedesmal, wenn Ro abends etwas in ihr Notizbüchlein einträgt oder eine Zeichnung kritzelt fehlt ihr ein richtiger Tisch mit Stuhl, aber ins Wohnzimmer setzen mag sie sich auch nicht.

Einmal blättert Ro an einem solchen Abend zufällig die Seite in ihrem Notizbuch auf, auf der sie in Moosbach City ihr Team skizziert hat. Sie reißt die Zeichnung heraus und zerknüllt das Blatt. Damals glaubte sie noch an ihren großen Traum. Aber das ist lange her... Damals dachte sie wirklich, sie könne Champ werden. Wäre sie doch nur dort geblieben und hätte weiter geträumt! Der Traum hätte sie glücklicher gemacht als dessen Verwirklichung es vermochte.

Am nächsten Tag sind ihre Pokémon nach dem Training so erschöpft, dass Ro sich mit Cory und Regis an ihrer Seite auf den Weg zum Pokémoncenter macht. Obwohl die Sonne lacht ist es nicht besonders warm. Ro, die die Hände in den Taschen ihrer Jeans vergraben hat, geht still und in Gedanken versunken ihren Weg. Ein ganz unsommerlicher Wind weht ihr ins Gesicht und lässt ihre zu zwei hohen Zöpfen geflochtenen Haare nach hinten flattern. Vereinzelt reißt er Blätter von den Bäumen, die sich, zu kleinen Häufchen zusammengeweht, im Rinnstein sammeln. Ros Blick folgt ihnen, ohne sie zu sehen. Ihr Kopf ist leer. Sie fürchtet sich davor, an Marcel zu denken. Aber es gibt einfach nichts, was seine wichtige Position in ihren Gedanken ersetzen mag. Nichts von dem, was sie tut, scheint noch Sinn zu machen. Kein Ziel, auf das sie hinarbeiten, kein Wunsch, um dessen Erfüllung sie kämpfen könnte. Keine ungeklärten Fragen, die sie sich zu stellen erlaubt...

Sie erreicht das Pokémoncenter. Sofort geht sie zur Theke und grüßt die Schwester freundlich. Sich größte Mühe gebend, nicht zu dem Tisch herüberzuschauen, an dem sie mit Nora und Yato gesessen hat, als alles noch anders war, übergibt sie ihre Pokémon. Die Schwester steckt die Pokébälle in das Reanimationgsgerät und aktiviert es. Dann dreht sie sich mit einem leichten Stirnrunzeln wieder zu ihr herum und mustert sie einen Moment unschlüssig. Dann fragt sie: ?Sag mal, bist du vielleicht Ro??

Ro ist nickt überrascht. Was ist denn jetzt los?

?Ah.? Die Miene der Schwester hellt sich auf. ?Dann hab ich was für dich...? Sie dreht sich erneut herum und kramt aus einer Ablage etwas hervor, was nach einem abgerissenen Fetzen Papier aussieht. Sie hält es Ro strahlend entgegen und meint: ?Ich hab?s nicht gelesen... Bin froh, dass du noch hier aufgekreutzt bist. So?n Junge hat mir das gegeben.?

Ro bedankt sich und nimmt das Papier an sich. Sie vermeidet es, einen Blick darauf zu werfen. Ihr Herz klopft schnell und schmerzhaft, es mag ihr nicht gelingen, ruhig zu bleiben. Sie nimmt ihre Pokébälle zurück und verabschiedet sich. Ihre Hände umklammern immernoch fest den Papierfetzen, aber sie wagt es nicht, die daraufgeschriebene Botschaft zu lesen. Wie dumm sie sich anstellt... Wer sagt ihr denn überhaupt, dass es nicht von jemand ganz anderem ist, als sie meint? Aber andererseits... Von wem sollte es schon sein? Sie kennt doch gar keinen.

Regis neben ihr lässt ein Kläffen hören. Sie blickt hinab und entdeckt, dass er und Cory sie erwartungsvoll mustern.

?Uh... ihr habt ja Recht, ich sollte es einfach lesen?, sagt sie und lächelt etwas über sich selbst. Trotzdem dauert es noch einen Moment, ehe sie sich überwinden kann, den Blick auf das Papier zu senken und die unsauberen, hastig geschriebenen Zeilen zu entziffern.
 

Hey Ro! Biste doof? Warum bist du weggegangen? Ich hab doch gesagt, es ist nicht schlimm, wenn die Andern besser sind als du und so. Und dass ich dich brauche. Es ist immernoch ein Bisschen so. Wir gehen jetzt zurück nach Malvenfroh City und dann nach Baumhausen City. Komm wieder zu uns.

Marcel
 

Fast wäre Ro gegen einen Laternenpfahl gelaufen. Im letzten Moment aber entdeck sie ihn und weicht aus. Sie zerknüllt das Papier. Dann glättet und faltet sie es sorgsam. Dieser Idiot, denkt sie. Idiot, Idiot, Idiot. Sie soll zurückkommen, sagt er. Er braucht sie, sagt er. Aber was weiß er denn? Weiß er, warum sie sich von der Gruppe getrennt hat? Hat er eine Ahnung, was ihr jedes Wort bedeutet hat, dass er zu ihr sprach? Wenn er es wüsste hätte er sich nicht so kalt ihr gegenüber verhalten. Denn das ist doch das Letzte gewesen, was geschah bevor sie wegging. Das war doch der Grund, aus dem sie wegging. Er ist es gewesen, der ihr befahl, glücklich zu sein. Sie wollte ihn nicht enttäuschen, aber wenn sie bei ihm geblieben wäre, hätte sie nicht glücklich werden können. Gewiss, so ist sie auch nicht glücklich geworden. Aber sie hat doch immerhin einen ersten Schritt getan. Einen ersten Schritt, ihr Leben zu verändern. Einen ersten Schritt, ihn zu vergessen...

Aber nun drängt er sich mit Gewalt wieder in ihr Leben, in ihren Kopf zurück. Nun zwingt er ihr seine schmerzhafte, erinnerungsschwere Existenz erneut auf. Hätte sie den Zettel doch in den nächsten Mülleimer gepfeffert. Ohne ihn zu lesen. Wäre sie doch nur stark genug gewesen, den schwierigen aber hoffnungsvollen Weg zu wählen. Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr. Sie hat Marcels Zettel gelesen und ist von ihm in ein totales Gefühlschaos gestürtzt worden. Und nun... Wird sie sich entscheiden müssen. Und es ist eine Entscheidung, die unglaublich schwer fällt. Obwohl sie jetzt schon weiß, was sie tun wird.

Zurück im Hause ihres Vaters angelangt geht sie sofort in ihr Zimmer und lässt sich auf?s Bett sinken. Sie ignoriert Marga, die ihr mit gefälschter, zuckersüßer Stimme hinterherruft, ob sie nicht Lust habe, den Abwasch zu machen. Und sie ignoriert es auch, als Marga einen Blick in ihr Zimmer wirft und quietscht, sie solle das ?stinkende rosa Vieh? gefälligst in seinen Ball sperren. Ro nimmt Cory schützend in ihre Arme und schließt die Augen. Wenn sie doch einfach all dem entfliehen könnte. Wenn sie doch wieder frei sein könnte... Aber wenn sie zu den Anderen zurückginge, würde sie das auch nicht frei machen. Wann ist sie jemals frei gewesen? Doch... Es hat solche Tage gegeben... Die Tage, die sie allein mit Marcel verbrachte. Da war sie frei. Einzig geplagt von der Not, ihm sagen zu wollen was sie fühlte, gab es damals nichts, was sie einengte. Wie dumm sie da war. Sie hätte wissen müssen, dass es nicht so bleiben konnte. Sie hätte schon da sehen müssen, dass sich bald alles verändern würde. Aber sie hat es nicht gesehen. Statt die Gelegenheit zu nutzen hat sie die Zeit an sich vorrüberstreichen lassen und darauf gewartet, dass er etwas tat, was die Veränderung herbeiführte. Die Veränderung, die sie wünschte. Aber er tat nichts dergleichen. Sie selbst hätte handeln müssen. Aber statt dessen führte sie sich wie ein kleines Mädchen auf. Vielleicht hat er einfach mehr von ihr erwartet. Aber sie war nicht fähig, den Erwartungen gerecht zu werden... Wann, denkt Ro, habe ich eigentlich jemals etwas richtig gemacht?

Aber dann nimmt sie sich zusammen und gibt sich Mühe, das viele unnütze Selbstmitleid zu vertreiben. Vielleicht hat sie bis jetzt alles falsch gemacht. Aber dann hat sie jetzt die Chance, etwas richtig zu machen. Es wieder gut zu machen.

Aber sofort drängen sich ihr wieder entmutigende, aber allzu ehrliche Gedanken auf. Sie weiß ja doch, was sie tun wird. Sie wird hier bleiben... Es fehlt ihr einfach an Mut, um die andere Möglichkeit zu wählen. Marcel wiederzusehen würde bedeuten, mit all dem konfrontiert zu werden, was sie wochenlang zu verdrängen versucht hat. Wahrscheinlich wäre es besser. Nichts wird dadurch gut, dass man es vergisst. Aber sich dem, was am meisten schmerzt, freiwillig und schutzlos zu stellen braucht nicht nur eine gehörige Portion Mut, sondern auch etwas Selbstbewusstsein. Und das ist es doch, was Ro fehlt. Vor ihrem eigenen Leben und sich selbst fliehend ist es ihr bisher nie gelungen, sich von einer besseren Lösung zu überzeugen.

Aber in Ros Gedanken hat ein kleines, Zuversicht spendendes Gefühl zu wachsen begonnen. Ein warmes Etwas, das ihr beständig zuflüstert: Warum versuchtst du es nicht? Tu es doch einfach, tu es...

Als Ro sich von der Gruppe trennte gelang es ihr zum ersten Mal, etwas aus eigener Entscheidung heraus zu tun. Zwar war es auch Angst, die sie von den Anderen fort trieb. Aber es war der Anfang von dem, was sich jetzt in ihr zu regen beginnt. Ro ist selbstständiger geworden. Und sie weiß jetzt: Um es zu schaffen, muss man es nur versuchen. Es war ein Fehler, von Anfang an davon auszugehen, dass sie bei ihrem Vater bleiben würde. Auf diese Weise hat sie sich immer den Mut genommen. Dabei gehört doch scheinbar so viel gar nicht dazu, einfach das Andere zu tun... Die Möglichkeit, die die unwahrscheinlichste zu sein scheint zu wählen. Was Ro tun wird ist doch keine Entscheidung ihres Schicksals. Es liegt in ihren eigenen Händen, und sie kann es nach Belieben wenden. Das zu erkennen kostete Ro mehr Zeit und Überwindung, als sie jemals angenommen hätte. Aber nun, da sie es erkannt hat, wird sie nicht mehr vor ihrer eigenen Angst klein beigeben. Sie wird tun, wovor sie sich fürchtet. Und sie ist sich sicher, dass es nicht nur das Richtige sein wird, sondern dass es ihre Angst vor der eigenen Wahl für immer beheben wird.
 

Von Blütenburg City kommt man am schnellsten nach Malvenfroh City, indem man gen Osten durch Rosaltstadt geht und auf der Route hundertunddrei das Meer überquert, dessen schmaler Arm dort ein Stück weit ins Land hineinreicht. Auf der anderen Seite gelangt man indem man weiter in östliche Richtung geht zum Beginn des Radweges Graphitport City ? Malvenfroh City. Ro, die immer noch kein Fahrrad besitzt, muss erneut den Überlandweg gehen, auf dem sie und Marcel vor scheinbar so langer Zeit Nora, Yato und Katte trafen. Auf dem Weg dort entlang geht ihr der verschlossene, aber dennoch nicht ganz unterdrückt erleichterte Gesichtsausdruck Margas nicht aus dem Kopf. Es war richtig, zu gehen. So werden alle glücklicher sein. Ro, die jetzt wieder etwas vor hat. Marga, die wieder mit ihrem Freund alleine ist. Und ihr Vater, der nicht mehr zwischen ihnen Beiden stehen und hilflos zu schlichten versuchen muss. Auch er war erleichtert, als sie ging. Das weiß Ro. Aber sie nimmt es ihm nicht übel. Schließlich weiß sie, dass es nicht daran liegt, dass er sie nicht mag oder etwas in der Art. Es ist sogar so, dass die Zeit, die Ro in seinem Haus verbracht hat, bewirkte, dass sie nicht mehr ganz so kalt ihm gegenüber ist. Nun versteht sie, dass sie für ihn einfach zu einer Vergangenheit gehörte, die er lieber hinter sich lassen würde. Aber solange er sich für sie verantwortlich fühlen muss, kann er das nicht. Endlich hat Ro erkannt, dass es für ihn schwerer ist, als sie immer meinte. Zwar hat er sich kaum einmal bei ihr gemeldet und ihr nur sein Haus als Unterkunft angeboten, weil er sich dazu gezwungen fühlte, aber das hat mit seinen persönlichen Gefühlen für sie nichts zu tun.

Als sie im Pokémoncenter von Malvenfroh City nach Kattes Gruppe fragt, erfährt sie, dass diese am Vortag von dort weitergezogen sind. Klar, denkt Ro, wer weiß, wann Marcel den Zettel geschrieben hat... Sie glaubt nicht, dass die Anderen genau wie sie den schnellsten Weg nach Malvenfroh City genommen haben. Solange sie noch zur Gruppe gehörte jedenfalls blieben sie immer ziemlich lange in jeder Stadt und nahmen sich für alles eine Menge Zeit, insbesondere natürlich für das Training. Da es bereits dämmert nimmt Ro sich von ihrem letzten Geld ein Zimmer im Pokémoncenter und verspricht sich, am nächsten Tag gegen ein paar Trainer zu kämpfen, um wieder etwas zu verdienen.

Und nun liegt sie doch wieder in einem der immer gleichen Betten in einem der immer gleichen Zimmer. Und es macht ihr mehr aus, als sie gedacht hätte, dieses Mal allein zu sein. Das ganze Zimmer scheint laut die Erinnerungen herauszuschreien, die für Ro an ihm haften. Aber davon will sie sich nicht mehr irritieren lassen. Traurig lächelt sie in sich hinein und versucht, dennoch ruhig zu schlafen.

Der nächste Morgen kommt und Ro ist froh, weiterziehen zu können. Tatsächlich trifft sie auf dem Weg gen Norden nach Baumhausen City ein paar Trainer, gegen die sie kämpft und gewinnt. Eine große Hilfe ist ihr dabei Regis, das neue und letzte Mitglied ihres Teams. Ihr Vater gab ihn ihr mit, als sie ihn verließ. Zunächst dachte Ro, er wolle ihn nur loswerden. Aber dann meinte er zu ihr, er hänge zwar eigentlich sehr an dem Pokémon, aber bei ihm ginge es ihm eigentlich nicht besonders gut. Seit Ro da sei jedoch sei Regis viel fröhlicher und das Training mit ihr täte ihm so gut, dass sie ihn doch mitnehmen solle. Wenn sie es auch nicht zeigte, Ro freute sich sehr darüber. Im Stillen hatte sie Regis bereits dafür bemitleidet, dass er bei Marga zurückbleiben müsse, während sie wegging. Ihn, der sich bereits an ihre Anwesenheit gewöhnt hatte, verließ. Aber nun gehen sie entgegen Ros Erwartungen einen gemeinsamen Weg.

Bis Baumhausen City ist es ein langer Weg, und als der Abend anbricht hat sie kaum die Hälfte zurückgelegt. Zum Glück erreicht sie die auf dem Weg liegende Wetterstation, bevor es dunkel wird. Dort bittet sie um Unterkunft für die Nacht, die ihr auch gewährt wird. Man erlaubt ihr, in einem zur Zeit unbewohnten Personalzimmer zu schlafen.

Am nächsten Tag bricht sie früh auf. Gegen Mittag beginnt es zu regnen, und Ro zieht die Kapuze ihrer Sommerjacke über. Nur wenige Trainer sind bei diesem Wetter unterwechs, und keiner hat Lust darauf, seine Zeit mit einem Kampf zu verschwenden. Einsam marschiert Ro durch Matsch und nasses Gras. Cory und Regis hat sie zum Schutz gegen den Regen in ihre Bälle gerufen. Ihre Füße sind trotz Schuhe feucht. Vom Kapuzenrand fallen schwere Tropfen in unregelmäßigen Abständen auf ihr Gesicht hinunter, rollen ihre Nase hinab und kühlen ihre Lippen oder verfangen sich in ihren vor Nässe schweren Wimpern. Ro merkt kaum, wie das Wasser nach und nach unter ihre Kleidung dringt und ihren ganzen Körper einzufangen scheint. Sie hat sich etwas in den Kopf gesetzt, und dieser Regen wird sie nicht davon abhalten können, es durchzuführen. Wenn sie auch nur einen Tag verplempert kann es sein, dass sie die Anderen deswegen in Baumhausen City knapp verpasst und ihnen weiter nachlaufen muss. Stur und mit zusammengepressten Lippen geht sie immer weiter und wird immer nasser. Erst als sie ihrem Ziel bereits ziemlich nahe ist, beginnt der Himmel wolkenloser zu werden. Der Regen lässt nach und die Sonne kommt allmählich wieder hervor. Je näher Ro ihrem Ziel kommt, desto aufgeregter wird sie. Immer drängender wird die Frage, ob ihre Entscheidung wirklich die richtige war. Aber den Weg zurück hat sie sich verbaut ? sie kann nicht wieder zu ihrem Vater gehen. Schon allein wegen Margas Gesichtsausdruck. Sie hat ihr Schicksal gewählt, und damit muss sie jetzt leben. Entschlossen schreitet sie weiter aus. Egal, was auf sie zukommen mag, sie kann es jetzt nicht mehr verhindern. Sie kann nicht noch einmal wählen.
 

Ro prustet und schüttelt ihr vor Regenwasser triefendes Haar aus. Endlich ist sie im trockenen und hellen Pokémoncenter angelangt. Draußen nieselt es noch immer etwas vor sich hin. Aber selbst im Halbdunkel dieses verregneten Tages liegt eine seltsame Schönheit auf der Stadt Baumhausen City. Ihre Häuser, die sämtlich in den Kronen großer und uralter Bäume errichtet sind, zeigen keine anderen Farben außer vielfältigen Braun- und Grüntönen. Brücken aus mit dicken, ockerfarbenen Kordeln zusammengebundenen Holzscheiten spannen sich zwischen ihnen. Wer auf anderem Weg von einem zum anderen gelangen will hat keine andere Wahl als sich durch Flecken wildgewachsenen Waldes zu schlagen. Das Pokémoncenter und der Supermarkt sind die einzigen, fehl am Platz wirkenden Gebäude, die auf der Erde errichtet sind. Ro ist froh darüber, als sie sieht, wie die Baumhäuser im Wind hin und her schwanken.

Bevor Ro sich darum kümmern kann, ob die Anderen sich noch in der Stadt befinden, lässt sie erst einmal ihre Pokémon heilen. Und dann beantwortet sich ihre Frage von selbst...

?Ro!?

Die Gerufene fährt herum. Aber ehe sie es sich versieht, fällt Nora ihr um den Hals. Aber dann löst sie sich schnell wieder von ihr.

?Oh, bist du nass! Sag bloß, du bist durch diesen Regen gelaufen?!?

Aber Ro bringt keine Antwort heraus. Sie lächelt nervös. Gerade hat sie aus dem Augenwinkel eine hochgewachsene, blonde Gestalt mit drahtigen Bewegungen entdeckt, die mit zwei anderen am Treppenaufgang steht, von wo Nora gerannt gekommen ist...

Sie sieht Marcel an und ihr Herz macht ohne Vorwarnung einen taumelnden Purzelbaum rückwärts. Sie bekommt kaum Luft. Aber Ro weiß, jetzt muss sie etwas sagen...

?Hallo?, macht sie atemlos und verlegen lachend. Jetzt ist es auch egal, denkt sie. Sie hat getan, wovor sie sich fürchtete. Jetzt können ihr auch die kleinen Peinlichkeiten egal sein. Jetzt braucht es ihr nichts mehr auszumachen, was die Anderen über sie denken. Jetzt kann sie machen, was sie will...

?Oh, komm, zieh dich erst mal auf meinem Zimmer um!?, sagt Nora und betrachtet sie kurz lächelnd. Komisch, denkt Ro, während sie die Treppe hinaufsteigen. Es ist, als hätte sie mich vermisst. Und dann muss sie lächeln. Also war es doch richtig von ihr, zurückzukommen. Schon allein deswegen.

Als sie endlich wieder trockene Sachen am Leib hat und zusammen mit Nora, Yato, Katte und Marcel, der ihr beim Hereinkommen flüchtig zugelächelt und ihr Herz noch mehr zum Hüpfen gebracht hat, in Noras Zimmer sitzt, ist Ro sich zum ersten Mal sicher, das Richtige getan zu haben. Zwar scheint sie immer noch nicht wirklich dazu zu gehören, aber hier geht es ihr doch trotzdem besser. Solange sie nicht zurück nach Moosbach City kann ist das wohl die beste Lösung.

?Warum bist du eigentlich weggegangen??, fragt Yato mit einem interessierten Blick. Gerade hat sie erzäht, dass sie die Wochen bei ihrem Vater verbracht hat.

Ro zuckt die Schultern und versucht, nicht zu Marcel zu sehen. Das wird ihr Geheimnis bleiben... Sie würden es ja doch nicht verstehen.

Dann sieht sie doch zu Marcel. Aber er sieht sie nicht an. Gerade hat er Nora zugelächelt. Mit dem gleichen Ausdruck in den Augen, mit dem er Ro vor ein paar Minuten angelächelt hat. Das versetzt ihr einen Stich. Und schon geht es wieder los, denkt sie traurig. Das macht mich krank.

?Ich find?s gut, dass du wieder da bist?, verkündet Nora. ?Es ist echt scheiße, nur mit Jungs rumzulaufen.? Und sie grinst Yato frech an.

?Meinst du vielleicht, wir hätten das nicht scheiße gefunden, mit dir rumzulaufen??, gibt der zurück und grinst ebenfalls.

?Naja, dann ist es doch besser, wenn Ro da ist und diese Furie von uns ablenkt?, meint Katte.

?Wieso Furie??, fragt Ro mit einem verständnislosen Blick.

?Oh?, macht Yato bedeutungsvoll.

?Hehe?, macht Nora.

Marcel schweigt.

Katte, der sich angesichts dieser uninformativen Äußerungen scheinbar zu einer Erklärung gezwungen sieht, sagt: ?Sie hat Marcel eine Ohrfeige verpasst.?

?Jaah...?, macht Marcel und reibt sich in Erinnerung daran die Wange.

Ro blickt immernoch verwirrt drein. Und irgendwie fühlt sie sich ausgeschlossen. Aber sie weiß, dass das dumm von ihr ist. Wenn sie selbst die Gruppe verlässt, muss sie auch damit leben können, dass diese ohne sie etwas erlebt.

?Warum denn??, fragt sie.

Noras Grinsen wird augenblicklich zu so etwas wie einem halb zornigen, halb schadenfrohen Lachen.

?Das erklär ich dir später?, sagt sie.

Sofort schaut Marcel alamiert an.

?Das erklärst du ihr nicht?, sagt er drohend. Und ernst. Zu ernst. Ro schwant Übles. Klingt ganz so, als ginge es dabei um sie.

?Ha, ich erklär ihr, was ich will, und wenn du dir nicht noch eine fangen willst sei lieber still?, sagt sie, und ihr Lachen klingt irgendwie kalt und falsch.
 

Komisch, wie gut es sich anfühlen kann, etwas zurück zu haben, vor dem man geflohen war. Seltsam, wie viel einem Menschen bedeuten können, in deren Gesellschaft man unglücklich war. Aber wie wenig Ro ihre eigenen Gefühle versteht, es ist ihr egal. Die Hauptsache ist doch, dass sie sich jetzt wohler fühlt. Und das tut sie, wenn sie auch ihr Unwissen über das Geheimnis, das Nora und Marcel offensichtlich teilen, unangenehm bedrückt.

Ro teilt ein Zimmer mit Marcel und Yato, während Nora und Katte in einem schlafen. Es ist eine ganze Weile her, dass sie das letzte Mal mit Marcel in einem Raum geschlafen hat, erinnert sie sich. Damals hat seine Nähe sie nervös gemacht. Heute macht sie sie verrückt. Und als die Nacht kommt und in düsterer Bestimmtheit den Regen hinwegwischt, erinnert Ro sich wieder an den Grund, aus dem sie die Gruppe verließ. Gequält schließt sie die Augen und versucht, an nichts zu denken. Aber der eine schwere Gedanke hat eine ganze Kette losgetreten, so dass jetzt Bilder, Erinnerungsfetzen und unausgesprochene Ängste wie in einem Karussel in ihrem Kopf herumschwirren. Ro wimmert leise und dreht sich in ihrem warmen Bett auf die Seite. Ihre weit geöffneten und an die Dunkelheit gewöhnten Augen machen zwei Gestalten in den anderen beiden Betten aus. Die Yatos liegt still. Seine Brust hebt und senkt sich in regelmäßigen Abständen. Er schläft, denkt Ro. Außer ihr können wahrscheinlich alle schlafen. Natürlich. Von ihrer Rückkehr ist sicherlich keiner so aufgewühlt wie sie selbst. Schon will sie die Augen schließen und weiter zu schlafen versuchen, als sie entdeckt, dass Marcel im Bett an der Wand gegenüber aufrecht sitzt. Sofort ist Ro so hellwach, wie wirklich nur sein Anblick sie machen kann. Ihr Herz macht den vertrauten Hüpfer und ihr Atem geht augenblicklich etwas schneller und unregelmäßig. Sie kneift kurz ihre Augen zusammen und verwünscht sich selbst. Warum ist sie so kindisch? Wie kann sie ihn nur so anhimmeln? Aber nein, mit kindisch sein hat das doch nichts zu tun. Im Gegenteil. Sie himmelt ihn ja nicht wegen seiner Eigenschaften an, sondern mag seine Eigenschaften, weil sie ihn mag. Wie auch immer, am besten wäre es wohl, sie vergäße all das möglichst schnell. Denn mittlerweile glaubt Ro kaum noch daran, dass Marcel sie liebt. Sie scheint ihm nicht egal zu sein, aber das leidenschaftliche Gefühl vom vergehenden Sommer ist gewiss nicht geblieben. Ja, an jenem Tag, an dem er sie fragte, ob sie ihn auf seiner Reise begleiten wolle, da steckte mehr hinter seinen Worten. Das weiß sie. Aber jetzt scheint es doch etwas anderes zu sein...

Marcel sitzt immernoch da. Ro fürchtet sich davor ihn anzusprechen, aber gleichzeitig hat sie das untrügliche Gefühl, dass er sie beobachtet. Sie kann nicht so tun, als ob sie schliefe. Sie mag ihn nicht betrügen... Und welche Chancen mag diese Nacht bergen?

?Hey, du??, fragt Marcel.

Aus dem Gedankenwust gezogen schreckt sie zusammen.

?Mmh??, macht sie. Sie weiß, ihre Stimme würde verschlafen und belegt klingen, darum sagt sie lieber nichts.

?Warum bist du weggegangen??

?Weiß nich?, nuschelt Ro. Die Wahrheit kann sie ja schlecht sagen. Wegen dir. Wie klänge das denn?

?Und warum bist du zurückgekommen??

?Ts?, macht Ro.

?He??, fragt er.

?Wegen deinem dummen Zettel vielleicht?!?, eklärt sie widerwillig.

?Warum war der dumm? Ich hab? das ernst gemeint!?, sagt er schmollend. Ro muss lächeln. Klar ? er kriegt sie sowieso immer wieder rum. Wegen ihm ist sie zurückgekehrt. Er war es immer, der ihr Mut machte. Und er war es immer, wegen dem sie sich gut oder schlecht fühlte. Wenn sie lachte, lachte sie wegen ihm, wenn sie weinte, weinte sie wegen ihm. Wie hat sie denken können, sie könnte ohne ihn leben?

?Ja, vielleicht...?, sagt sie leise.

Yato gibt ein leises Seufzen von sich und brabbelt irgendwas in sich hinein. Marcel und Ro lachen gleichzeitig leise und gutmütig auf. Ro wirft Marcel über Yato hinweg ein strahlendes Lächeln zu, und obwohl er es im Dunkeln wohl kaum sehen kann, scheint er es zu erraten. Ro spürt das Funkeln seiner Augen, als er sie anblickt. Sie drückt die Hände aufs Gesicht und lässt sie wieder sinken.

?Du??, fragt sie die Nacht, die zwischen ihnen in der Luft hängt und lauert.

?He??, antwortet Marcel.

?Du hast schöne Augen.?

?Aha.?, meint er skeptisch. Hört sich an, als hielte er mich jetzt für völlig durchgeknallt, denkt Ro. Aber so schlimm ist das auch nicht. Soll er doch, Hauptsache ist doch, dass er überhaupt mit ihr redet. Dass er ihr sein Lächeln schenkt. Und in diesem Augenblick tut das Bild von dem Marcel, der Nora anlächelte, nicht mehr so weh.
 

?Ach, so schlimm ist es auch wieder nicht?, sagt Nora. Aber damit hat sie immernoch nicht gesagt, was eigentlich los war. Und das beim dritten Anlauf für eine Antwort auf Ros Frage.

?Geht es mich nichts an??, fragt Ro. Vielleicht ist es ja eine Sache zwischen Marcel und Nora. Aber das würde es keineswegs besser machen. Warum sollte Nora Marcel ohrfeigen? Bisher haben die beiden sich doch nur gut verstanden.

?Oh, und ob es dich was angeht?, sagt Nora zornig. Dann seufzt sie resignierend. ?Na gut, ich sag?s dir. Aber sei nicht so traurig deswegen, er hat?s sicher nicht so gemeint.?

Das hilft Ro gerade gar nicht. Sie will es bloß endlich wissen.

?Also??, fragt sie.

?Der meinte, seit du weg seist würde bessere Laune herrschen, weil du eh allen bloß auf den Geist gegangen wärst.?

Ro weiß einen Moment lang überhaupt nicht, was sie jetzt davon halten soll. Sie hat schon so oft erlebt, dass Marcel über Nacht seine Einstellung zu ihr drastisch zu ändern schien, dass sie so etwas kaum noch überrascht. Ob er es wirklich nicht ernst gemeint hat? Sorgen drängen sich ihr auf, und ihr scheint, als würde Nora mit ihrem besorgten Gehabe das ganze höchstens dramatischer erscheinen lassen, als es ist. Marcel redet viel Mist, wenn der Tag lang ist, tröstet Ro sich in Gedanken. Dann fällt ihr etwas ein.

?Und deswegen hast du ihn gehauen??, fragt sie Nora verblüfft. Diese scheint noch etwas mehr in Rage zu geraten.

?Aber hallo! Sowas kann der doch nicht über dich reden!?, verkündet sie empört.

?Danke?, grinst Ro.
 

Nur Geschichten, die das Leben selbst schreibt, nehmen mehrfach die gleiche Wendung. Da man aber an Geschichten gewöhnt ist, die nicht das Leben geschrieben hat, geht man selten davon aus, dass überhaupt die Möglichkeit einer sich wiederholenden Wendung besteht. Ro hätte es wissen müssen. Sie hätte es wissen müssen, als sie das tat, was sie nicht tun wollte. Und sie hätte es wissen müssen, als das gute Gefühl sie zu verlassen begann. Das gute Gefühl, das sie bei ihrer Rückkehr aufgrund der Aufmerksamkeit der Anderen empfand. Es war schneller verschwunden als sie jemals geahnt hätte. Schon am nächsten Tag schien ihr wieder alles wie früher zu sein. Auf ein Mal fällt ihr wieder ein, warum sie die Gruppe verließ. Nun erinnert sie sich wieder an das Gefühl, das sie hatte, als sie sich unversehens abseits der Gruppe wiederfand und alle bis auf sie ihren Spaß haben sah. Als Marcel sie nicht mehr ansah... Sie hatte lange um ihr verlorenes Vertrauensverhältnis getrauert, und dann war sie doch zurückgekehrt. Und warum? Weil sie trotzig das tun wollte, was sie nicht tun wollte. Nein, es war nicht richtig, denkt Ro. Sie sitzt mit Cory in ihren Armen und Regis zu ihren Füßen auf ihrem Bett. Auf Yatos Bett gegenüber sitzen Katte, Yato und Marcel und unterhalten sich lautstark über alles mögliche. Sie sind ziemlich fröhlich, und eigentlich macht es Ro Spaß sie zu beobachten. Aber es schmerzt auch, denn sie kann nicht anders als sich ausgeschlossen zu fühlen. Sie müsste jetzt auch da sitzen und mitreden, so wäre es jedenfalls richtig. Sie bräuchte nur aufzustehen, und sich dazuzugesellen. Aber es gelingt ihr immernoch nicht, sich zu integrieren. Warum hätte sich das auch ändern sollen, während sie bei ihrem Vater war? Nein, so wie es ist ist es schon logisch. Das hätte sie auch wissen müssen. Ro lächelt. Na gut, denkt sie. Dann eben nicht. Das war meine zweite Chance, und ich hab es wieder vermasselt. Jetzt ist der letzte Zug abgefahren, jetzt muss ich aufgeben.

Und dann versucht sie, ein Spiel daraus zu machen, damit es nicht ganz so weh tut. Wenn Marcel ihr vor dem schlafen gehen noch fünf mal in die Augen sieht und mindestens drei Sätze mit ihr spricht, bleibt sie.

Er sieht ihr nur zwei mal in die Augen und sagt nichts weiter als ?Gute Nacht?.
 

Am nächsten Tag erklärt Ro bereits morgens, dass sie nach Moosbach City zurückkehren wird. Nora sieht wirklich so aus, als würde sie es bedauern. Katte äußert lautstark, dass sie das Trainieren trotzdem nicht aufgeben soll und Yato brummt nur ein ?Tschüß? heraus, lächelt ihr dann aber zu.

Marcel sagt gar nichts. Als Ro noch einmal alle zum Abschied umarmt, drückt sie ihn einen Moment fest an sich. Da er ja ein ziemliches Stück größer ist als sie, kann sie dabei den Kopf an seine Brust legen. Bevor sie sich zum Gehen umwendet lächelt sie ihn noch einmal strahlend an, und ihr Lächeln ist ehrlich. Ihr letztes so strahlendes ehrliches Lächeln für eine ganze Weile.

Und dann ist Ro allein, wieder allein.

Part 6 Heimkehr

Der Strand sieht aus wie immer, und ob des so vertrauten Anblickes wird Ro das Herz schwer. Immer hat sie Heimweh nach Moosbach City gehabt, aber jetzt, wo sie zurück ist, macht diese ihre Heimat sie nur noch unglücklicher. Es ist Mittag als sie die Fähre verlässt, und die Sonne steht hoch am Himmel. Dennoch ist es nicht besonders warm, und Ro trägt eine lange Hose. An dem Tag, an dem sie damals mit Marcel gemeinsam die Stadt verließ, war es schon früh morgens heiß gewesen. Schließlich war es ja Hochsommer. Ro reckt das Kinn ein wenig und lässt sich den angenehm kühlen Wind um die Wangen streichen. Er ist feucht und fegt nun ganze Haufen von herabgefallenen, regennassen Blättern mit sich. Es ist Herbst, denkt Ro. Es ist Herbst. Aber wann ist es Herbst geworden? Und warum hat sie das nicht bemerkt? Plötzlich ist sie da, die nächste Jahreszeit, und die Stunden des Sommers sind so weit entfernt. Aber wie, und vor allem wann, konnten sie sich so weit entfernen? So lange kann es doch noch nicht her sein, dass Marcel ihre Hand hielt... im Dunkel? Ro fühlt sich von der Zeit überrannt. Und eines wird ihr jetzt klar: Dass Marcel sich von ihr abwandte, ist einzig und allein ihre Schuld. Wenn sie nur bemerkt hätte, dass die Zeit nicht still stehen würde... Wenn sie bloß genug Vorrausschau besessen hätte, um zu erkennen, was ihr drohte... Am liebsten würde sie einfach hier und jetzt zusammenbrechen und nicht wieder aufstehen. Niedergedrückt von der Last ihrer Schuld, verwelkend in selbstauferlegten Strafen... Aber statt dessen geht Ro einfach weiter geradeaus und unbeirrbar den leicht ansteigenden Weg entlang. Moosbach City ist herbstlich braun-golden gefärbt, und normalerweise ist das ein Anblick, der Ro sentimental und glücklich stimmt. Aber jetzt macht er sie nur noch sehr viel trauriger. Sie möchte nicht weitergehen, möchte nicht das Haus sehen, das immer ihr zu Hause war, möchte nicht mit ihrer Mutter sprechen müssen. Aber jetzt ist es endgültig zu spät für sämtliche Umentscheidungen, sagt sie sich immer wieder. Bevor sie Zeit hatte, sich vorzubereiten und sich zu überlegen, was sie sagen soll, steht sie vor ihrer Haustür und ist bereits dabei, sie aufzuschließen. In dem Moment kommt ihre Mutter um die Hausecke gebogen. Sie ist eindeutig im Garten damit beschäftigt gewesen, Blätter zusammenzufegen, denn sie trägt nicht nur eine erdverschmierte grüne Gartenschürze, sondern hält außerdem einen Rechen in der linken Hand. Ros Mutter ist Linkshänderin, und sie verpasst selten eine Gelegenheit, darauf hinzuweisen. Manchmal denkt Ro, dass .sie mehr dadurch behindert wird als ihre Mutter selbst, da beispielsweise für gewöhnlich im ganzen Haus keine Rechtshänderschere zu finden ist, und Ro daher mittlerweile gelernt hat, perfekt mit Linkshänderscheren umzugehen. Und das ist nur ein Beispiel.

Ro schüttelt ihren Kopf, dass ihr die offenen Haare lose ums Gesicht fliegen und sie sie hinter die Ohren stecken muss. Warum denkt sie jetzt an so etwas? Kurz darauf entwindet sie sich der stürmischen Umarmung ihrer Mutter, die daraufhin mit glühenden Wangen loszubrabbeln anfängt. Ro bekommt kaum etwas von dem mit, was sie sagt. Das Einzige, das sicher zu ihr durchdringt ist, dass ihre Mutter sich über ihre Rückkehr freut.

?Hi Mama?, sagt Ro. Vielleicht war es nicht laut genug. Vielleicht war es auch nicht fröhlich genug. Auf jeden Fall verpasst es ihrer Mutter einen Bremser. Sie tritt zwei Schritte zurück und mustert ihre Tochter kritisch. Dann fragt sie: ?Geht es dir nicht gut??

?Doch?, bringt Ro heraus.

?Du bist gewachsen?, sagt sie.

Ro nickt.

?Deine Haare sind auch länger geworden.?

Ro nickt wieder und streicht eine orangerote Strähne, die tatsächlich bis über ihre Schultern reicht, zurück.

Der Blick ihrer Mutter ist scharf und durchdringend, ihr wird nichts entgehen. Nur Ros gebrochenes Herz, das wird sie vor ihr verbergen. Nicht genau wissend, warum, will Ro nicht, dass sie darum weiß.

?Ich bring? meine Sachen hoch?, murmelt Ro, versucht ein aufmunterndes Lächeln und flüchtet die Treppe hinauf in ihr grün-gelbes Zimmer. Dort schmeißt sie ihren Trainerrucksack in eine Ecke und wirft eine Decke darüber, um ihn nicht mehr sehen zu müssen. Sie schließt die Tür und lauscht einen Moment lang, ob ihre Mutter ihr folgt. Aber sie scheint zu spüren, dass Ro jetzt weder reden noch Gesellschaft haben möchte.

Sie setzt sich auf den Boden neben das Bett und sieht sich vorsichtig um.

Ihr Zimmer sieht noch genau so aus, wie bei ihrer Abreise. Der Schreibtisch ist unordentlich, hier und da fliegen noch Unterlagen und Berichte von ihrer Arbeit an der Sternwarte herum. Der Rest des Zimmers wirkt aufgeräumt und gemütlich. Erneut versetzt es Ro einen Stich, und dieses Mal lässt sie ihr Gesicht auf das Bett sinken und schluchzt hemmungslos. Sie schlingt ihre Arme um ihre Taille und drückt sich selbst so lange, bis sie keine Luft mehr bekommt und einen erstickten Laut von sich gibt.
 

Es will Ro nicht gelingen, in ihren Alltag zurück zu finden. So vertraut ihr das Leben in Moosbach City scheint, so fremd ist es ihr doch auch wieder. Und jeder der Orte, die ihr immer ihre Heimat bedeutet haben, ruft nur einen noch größeren Schmerz in ihr hervor. Sie vermisst Marcel. Sie vermisst auch die Anderen, und sie vermisst das Leben als Trainer, in der Freiheit. Aber am meisten vermisst sie die Möglichkeit, zu wählen, auch wenn sie diese bisher immer nur falsch gebraucht hat.

Ro sitzt am Strand, unter dem Baum, hinter dem Marcel an jenem Abend hervorgetreten war, bevor er sie fragte, ob sie ihn begleiten wolle. Die Erinnerung ist so unglaublich frisch, und dennoch furchtbar fern. Es ist Ros eigene Zerrissenheit, die sich in diesem verkehrten Zeitempfinden wiederspiegelt, das weiß sie. Und sie muss lernen, damit fertig zu werden. Deshalb ist sie hergekommen.

Ro schaut auf das Meer hinaus. Das Wasser ist schwarz. Es ist dunkel, obwohl es noch gar nicht so spät ist. Denn der Sommer ist vorbei, jetzt ist es Herbst, und es wird früher dunkel. Ro schließt die Augen. Zwei Tränen rollen ihre Wangen hinab. Wo mag Marcel jetzt sein? Lacht er wohl gerade? Ob er wenigstens manchmal noch an sie denkt? Ro zwingt sich, die Augen wieder zu öffnen. Das braucht sie nicht zu wissen. Das ist egal. Das muss ihr egal sein. Aber nein, so einfach geht es nicht. Die Finger von Ros rechter Hand klammern sich wie krampfhaft um etwas. Ro hebt die Hand an ihr Gesicht und drückt sie dagegen. Sie hält einen Zettel, ein kleines, zerrissenes Stück Papier. Eine Botschaft, wie an dem Tag, als sie zur Gruppe zurückkehrte. Sie kam heute morgen an, ein Vogel-Pokémon brachte sie. Und seit dem hält Ro sie in der Hand. Das letzte Mal, als sie gerade ihren Frieden zu finden begann, hat eine solche Botschaft sie zurückgerissen. Sie will nicht, dass das wieder passiert. Aber zugleich hat sie es bis jetzt nicht über sich gebracht, sie wegzuwerfen. Vielleicht ist sie gar nicht von Marcel, denkt sie. Vielleicht ist sie von Nora, oder von meinem Vater. Die wären mir sicher böse, wenn ich ihnen nicht antworten würde.

Aber dann schüttelt sie wieder heftig den Kopf. Nein! Dieses Mal wird sie sich nicht selbst weich kriegen. Die Finger, die das Papier umklammern, zittern. Wieder schließt sie ihre Augen. Das Papier in ihren klammen Fingern fühlt sich warm an. Aber das ist ihre Wärme, nicht die Marcels. Abrupt steht Ro auf.

Ich bin stark, denkt sie. Ich brauche niemanden, ich brauche nur mich selbst. Ich kann auf alles verzichten, wenn ich nur will. Ich kann alles vergessen, wenn ich nur will. Ich kann Marcel vergessen. Seine Wärme. Sein Lächeln. Und auch seine Liebe. Wenn ich nur will. Wenn ich mir nur genug bin.

Sie streckt beide Hände dem Meer entgegen, das eineinhalb Meter unter ihr gegen die Küste spült. Dann reißt sie die rechte Hand hoch und löst ihre Finger. Das Papierstück wird sofort vom kalten Herbstwind fortgerissen und zusammen mit den verdorrten Blättern des Sommers auf Nimmerwiedersehen vom Meer verschlungen.

Ro holt tief Luft.

?ROOOOOOOOOOOOO!!!?, schreit sie auf das Meer hinaus. Dann schwankt sie, fällt fast um. Im letzten Moment kann sie sich an den Baum klammern. Das ist ein Neuanfang, das weiß sie. Dieses Mal ist es wirklich ein Neuanfang. Vielleicht wird sie Marcel nie ganz vergessen können ? aber das braucht sie nicht. Sie hat ja sich selbst, sie kann sich ja selbst Sicherheit geben. Sie muss auf niemanden mehr warten. Und ab sofort wird sie nurnoch in die Zukunft blicken. Sie weiß noch nicht, was sie machen will. Vielleicht wird sie die Arbeit an der Sternwarte wieder aufnehmen. Vielleicht wird sie auch Pokémon-Züchter. Oder sie sucht sich etwas ganz neues. Etwas, das sie ausfüllt und sie glücklich macht. Jetzt kann sie das noch nicht wissen, aber das muss sie auch nicht. Sie wird genug Zeit haben, sich zu entscheiden. Sie wird nichts tun müssen, das sie nicht tun will. Sie wird sich von nichts und niemandem mehr abhängig machen. Und irgendwann wird sie das Gefühl haben dürfen, irgendwohin heimgekehrt zu sein.
 


 


 

Und so ging die Geschichte einer Liebe, die keine Liebesgeschichte war, schließlich zu Ende. Aber wie dem Sommer, der so bald verging, irgendwann ein neuer folgen wird, so ist auch dieses ?Ende? nicht endgültig...
 

?Ro?

Ende



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Askeryna
2004-09-11T15:59:09+00:00 11.09.2004 17:59
Noch gar kein Kommi?
Ich hab die Geschichte auf pokemon-club.ch gelesen und sie hat mir sehr sehr sehr gut gefallen!!! *nick nick* Schade nur, dass sie hier noch keiner zu lesen gehaben scheint... oder vielleicht warn einige einfach zu faul dafür *g* Wer weiß... ^^;
Würd mich freun, wenn du auch noch andere Geschichten hier veröffentlichst!

Kiwara-san


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