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River under a soiled Sky

von

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Die Einladung

Es ist der 12. Juni anno 99 zur Mittagszeit und wie jedes Jahr verstecke ich mich vor einem aufdringlichen Boten, der versucht, einen Geburtstagsgruß meines zweiten Vaters an mich auszurichten. Diesmal habe ich mich in das abgetragenste Kleid geschmissen, das ich im Saustall meiner Freundin Shine finden konnte und tue so, als ob ich mich mit den anderen um die jungen Kartoffelpflanzen auf unserem Acker kümmern würde. Der immerwährende Dunst ist heute nicht so dicht wie sonst, für Nahrung verdauende Menschen, für die wir uns auf dem Feld abschuften, wohl aber immer noch giftig. Ich kann weit genug sehen, um Silhouetten der Häuserruinen der fünf Kilometer entfernten Stadt erkennen zu können. Die hier so verbreiteten niedrigen, vielastigen Bäume mit kleinen Blättern wachsen bereits aus den Dächern der Gebäude heraus. Fast hundert Jahre Verfall haben den Ruinen ganz schön zugesetzt.

Mike und Nicky grüßen mich, wohl wegen meines Aufzugs, verdutzt, aber freundlich.

Ich grinse die beiden an und erkenne unter ihren locker übergezogenen Kapuzen erheiterte Gesichter. So, wie sie diesen Kopfschutz tragen, taugt er kaum noch als Sonnenschutz, den ich ohnehin als Übervorsicht interpretiere. Es könnte sein, dass die beiden besonders lichtempfindlich sind, wahrscheinlicher ist, dass sie sich als Vampis, wie ich Unsereins gern nenne, damit wohl fühlen.

Die beiden sind bereits vor der Zeitenwende geboren worden und wissen deshalb sehr genau, was die Strahlen der Sonne mit uns anrichten können. Ich sag nur brösel, brösel. Ich dagegen habe weder ein Problem mit Sonnenstrahlung, noch habe ich diesen angeblich so hübschen Stern überhaupt je zu Gesicht bekommen. Der verheerende Zusammenprall mit einem extrasolaren Zwergplaneten und die darauffolgenden Vulkanausbrüche waren schließlich vor meiner Zeit. Jetzt ist die Luft verpestet, bla bla. Das ist langweiler Kram, der auf trockenste Weise in der Schule runter gelabert wird. Über die Zeit, in der so unglaublich viele Leute gestorben sind, redet keine Sau, nicht einmal die Augenzeugen, oder besser insbesondere nicht die Augenzeugen. Wahrscheinlich kann ich froh sein, in diese entspannte Zeit hineingeboren worden zu sein. Das Dumme an der Sache ist, dass ich auch das Funkeln des nächtlichen Sternenhimmels nur noch aus Schulbüchern und Erzählungen der Älteren kenne. Das hätte ich wirklich gerne mal gesehen.

Ich habe kaum zwei Reihen gepflegt, da bemerke ich schon die Annäherung des Grauens. Eine Botin in Anzug und Krawatte, ebenfalls ohne Lichtschutz, weil die feine Hauptstädterin Medikamente gegen UV-Strahlung erhält, marschiert geradewegs quer übers Feld auf mich zu. Na spitze! Eigentlich bin ich ein nachsichtiger Typ, aber dass sie einfach rücksichtslos über die Pflanzen trampelt, geht ja mal gar nicht. Sie versinkt mit ihren Schickimicki Absätzen im lockeren Erdboden und schaufelt damit einige Jungpflanzen heraus. Argh! Mike und Nicky starren erst sie und dann mich an.

“River Lucard?!”, brüllt die Botin schon fast in meine Richtung.

Ach, Kacke! Fehlende Kapuze und Glotzparade hin oder her! Wie kommt die Gute darauf, einen Vampirprinzen bei der Feldarbeit in Frauenkleidern antreffen zu können, Bitteschön? Hab ich ‘nen Tracker, oder sowas?

“Jo”, antworte ich mit gekräuselten Lippen. “Und jetzt, runter vom Feld, aber dalli!”

Sie ignoriert meinen Rüffel, streckt ihr Patschehändchen in meine Richtung aus, in der sie einen versiegelten Brief hält. “Herzlichen Glückwunsch zum 20. Geburtstag, Hoheit. Der hier ist für Euch, mit den allerbesten Grüßen.”

“Meine Antwort ist und bleibt Nein”, blaffe ich der businessmäßig gekleideten Tante entgegen. “Nein, verdammt nocheins.”

Sie zwingt sich ein eklig gekünsteltes Lächeln heraus. Bäh!

“Bitte, River. Euer Vater ist untröstlich, wenn Ihr erneut ablehnt. Überlegt es Euch. Lasst Euch gern von Eurem Ziehvater begleiten.”

Von meinem was?! Geht's noch?

“Alter Verwalter! Wenn einer den Titel Vater nicht verdient hat, dann der Absender dieses Papierfetzens. Euer Despot von einem König hat mich ja nicht mal gezeugt, sondern nur konvertiert. Wie verblendet seid ihr blind über einen bestellten Acker pflügenden Loyalisten eigentlich?”

Sie verbeugt sich tief.

“Verzeiht, Hoheit. Er ist dennoch ebenfalls Euer leiblicher Vater.”

“Tss”, blaffe ich ihr entgegen und reiße ihr den Brief aus der Hand, damit sie sich endlich vom Acker macht, im doppelten Sinne.

“Sag mal, spinnst du?!”, keift es vom Feldweg aus. Ich sehe langes, weißblondes Haar und erkenne Shines liebliches Gekreische. Ich lasse die ignorante Botin stehen und laufe vorsichtig zwischen den Jungpflanzen zu meiner Freundin, die ein übellauniges Gesicht zieht. Merkwürdigerweise fixiert sie mich, anstatt die fleischgewordene Dystopie hinter mir.

“Shine, meine Hübsche! Hast du nach mir gesucht, um mir zum Geburtstag zu gratulieren?”, strahle ich sie an. Bei ihr angekommen, greift sie sich einen meiner rosa Rüschenärmel mit ihren rauhen Arbeiterhänden, dabei ist sie in Wahrheit eine ausgebüchste Prinzessin, der man eine reine Schreibtischtätigkeit nicht übelnehmen würde. Die Gute packt aber viel lieber ordentlich mit an.

“Ursprünglich mal, aber, Schnucki, was stimmt nur mit dir nicht? Hast du ‘ne Ahnung, was du da anhast?”

Ich schaue an mir herab. Meine stramme Männerbrust wird eingeschnürt von einem etwas zu engen Gummizug am Ausschnitt des altrosa farbenen Kleides. Die Falten des Rockes hängen hübsch bis über meine athletischen Beine. Alles schick. Kaum Schmutz dran.

“River, das ist Tears altes Ausgeh-Kleid. Eine der wenigen Sachen, die sie noch von ihrer Mutter hat."

Meine Augen weiten sich. “Scheiße, dein Ernst? Was hatte das dann in deinem Saustall zu suchen!? Wenn sie das sieht, dann…! Sie wird mich hassen! Meine Welt geht unter!”

“Hoffentlich”, blafft mir Shine, vielleicht ein bisschen eifersüchtig, entgegen und läuft schnellen Schrittes in Richtung Bunker. Ich folge ihr schuldbewusst. Shine ist meine beste Freundin, aber Tear … oh, meine Tear ist eine ganz besondere Frau. Sie ist ultra süß, lieb, hat durchdachte Meinungen, die sie aber leider nur zurückhaltend von sich gibt, eigentlich sogar scheu. Ein bisschen depressiv ist sie vielleicht auch, gebeutelt von ihrer Vergangenheit als Mensch, oder treffender, als Sklavin. Außerdem ist sie ängstlicher, als eine Augenweide wie sie sein sollte und, naja, ein bisschen Schizophren ist sie wohl auch. Aber das macht nichts. Sie ist einfach toll, Punkt, aus. Und wie sie duftet … hmm.

“... dann wird sie es gar nicht bemerken, wenn du Glück hast”, führt Shine ihre Erklärung zu Ende, von der ich, wegen meiner gedanklichen Schwärmerei, nicht wirklich etwas mitbekommen habe. Sie bleibt mitten auf dem Feldweg stehen und schnippt laut direkt vor meinen Augen mit ihren Fingern. “Huhu, jemand zu Hause bei dir? Hat mir das winzige Äffchen in deinem Köpfchen zugehört?”

Eine warme Sommerbrise fährt mir erfrischend durch den Rock. Das ist angenehmer, als ich dachte. Shine stöhnt genervt auf. “Du kriegst ohne mich sowieso nichts auf die Kette. Hör jetzt zu! Du wartest draußen, ich hol dir Klamotten und einen Rucksack aus deinem Zimmer, klar!?”

“Hmhm”, bestätige ich. Sie stöhnt erneut und erhöht das Tempo. Es dauert keine Minute, bis wir am teils über-, teils unterirdischen Hauptbunker angekommen sind. Er ist von Feldern umrahmt, die als Nahrungsquelle für unsere Nahrungsquellen dienen. Weitere Bunker sind von hier aus in Sichtweite. Menschen und Vampire leben gemeinsam darin. Wir brauchen sie, so wie sie uns brauchen. Ein symbiotisches Beisammensein - solange die Luft giftig für Menschen ist, tauschen wir quasi Lebensmittel aus. Das läuft halbwegs friedlich ab. In unserem Refugium zumindest, und das ganz ohne Erpresser-Methoden.

Shine öffnet die erste stählerne Schleusentür, verschwindet dahinter und lässt mich mit diesem blöden versiegelten Brief meines in Anführungszeichen Vaters allein zurück. Ich lehne mich gegen den Stahlbeton neben der Metalltür und breche das unsauber gestempelte rote Wachssiegel, auf dem mit Mühe ein Drachen erkennbar ist. Ich hole den gefalteten Brief aus dem dicken Papier heraus, der eine krakelig handgeschriebene Schreibschrift trägt. Ich bin mir fast sicher, dass mein Vater das analoge Schreiben hasst. Pech für ihn, dass ich seine digitale Spionage-Technik ablehne. Technik mag ich nur, wenn sie rein mechanisch ist, wenn sie also keinen Mikrochip enthält. Dann mag ich sie zugegebenermaßen sogar sehr. Wie jedes Jahr klebt einer dieser blöden digitalen Computer-Chips unten auf dem Brief, eingeschweißt in ein durchsichtiges Tütchen. Ich ignoriere ihn und lese.

“Mein Sohn,” startet der Brief und mir kommt die Galle hoch. Ich überfliege den zwei Seiten langen Text voller Gelaber darüber, wie sich das letzte Jahr für die Loyalisten entwickelt hat. Es liest sich wie eine öffentliche Erklärung an seine Untertanen. Dabei spart er natürlich nicht an Lob für sich selbst und seine Taten. Er schreibt, er hätte in meinem Alter bereits die Loyalisten angeführt. Schön für ihn. “Fühl dich nicht schuldig am Schicksal deiner Mutter, bla bla …” Das schreibt er jedes Mal, dabei empfinde ich gar kein Schuldgefühl. Wiederholt er es vielleicht nur deshalb immer wieder, um mir welches einzureden? Ich werde nicht schlau daraus. Die letzten Zeilen lese ich mehrmals. “Du sollst die ganze Wahrheit erfahren, über deine Mutter. Eine Wahrheit, die Alexander und Magna dir nicht erzählen können.” Das ist neu.

Was soll es schon sein, das Papa und Mag nicht über meine Mutter wissen sollen? Immerhin hat Mag meine Mutter konvertiert und sie als eigenes Kind angenommen. Hm, Moment. Wieso sollte das bedeuten, dass sie viel über meine Mutter weiß? Mein Konvertierer bezeichnet sich auch als mein Vater und kennt mich quasi überhaupt nicht. Mit ist klar, dass die Verwandlung vom Menschen in einen Vampir genetisch nachweisbar ist. Außerdem verfügen nur reine Lucards über diese Fähigkeit. Zum Vater sein gehört aber trotzdem mehr, als nur ein paar Gene weiterzugeben.

Ach, ist doch auch egal! Wichtige Dinge hätten mir Papa und Mag sowieso nicht verheimlicht. Blöd ist nur, dass ich jetzt trotzdem ins Grübeln gekommen bin.

Ich kenne meinen Konvertierer. Mir wurde alles über ihn erzählt, was es zu wissen gibt. Sein voller Name lautet Robert-Valentin Lucard. Er ist das jüngste von vier Kindern des Urvampirs. Er ist Mags kleiner Bruder und war schon vor der neuen Zeitrechnung König über das loyale Volk der Vampire. Einfache Menschen zwingt er, uns als Arbeiter und Nahrungsquelle unter pyramidenförmigen Kuppeln zu dienen, die sie weder verlassen können noch dürfen. Er ist ein einsamer und, meiner Meinung nach, total verbitterter Tyrann, der seine Macht skrupellos auskostet. Er ist ein Schurke durch und durch. Wenn ich zu ihm gehe, sperrt er mich womöglich ein, oder tut sonst was. Nein, danke, da bleibe ich lieber hier im autonomen Refugium, wo die Welt noch in Ordnung ist.

Ich schrecke zusammen, als vor mir ein blauer Rucksack auf dem schmalen Betonstreifen auftaucht. Shine grinst mich an.

“Happy Birthday, River.”

Ich versuche mich hinzuhocken, ohne den Rock schmutzig zu machen. Gar nicht so einfach. Dann öffne ich den Rucksack. Darin finde ich ein weißes Shirt und eine graue Hose von mir und, ich glaube, ich sehe falsch, einen Kondensator. Aber nicht irgendeinen, genau den, den ich für die Reparatur meines kaputten Motorrads brauchte und der nicht aufzutreiben war. Das gibt’s nicht. Der absolute Hammer!

“Mein Sonnen-Shine”, rufe ich, springe auf und falle meiner Gönnerin um den Hals. “Licht meines Lebens!”

“Jaja”, wimmelt sie mich ab und dreht seitlich von mir weg. “Als ob ich nicht wüsste, was du noch brauchst. Zieh dich jetzt um!”

“Dich brauche ich, mein Traum von einer schillernden Gorilla-Dame”, trällere ich. Sie verkneift sich ein Lächeln. “Klappe jetzt, Nichtskönner! Nicht mal verstecken kannst du dich ordentlich.”

Ich ziehe mich so um, dass sie mich beobachten könnte, aber sie tut es nicht. Bedauerlich. “Du weißt doch genau, wie ich aussehe”, spiele ich auf unsere kurze Zeit als Pärchen an.

“Mein drei Jahre altes Trauma”, kontert sie. “Ich versuche, es verzweifelt aus meinem Gedächtnis zu löschen.”

“Oooder wir frischen es auf”, entgegne ich und erhalte dafür einen saftigen Klaps auf den Hinterkopf von ihr. "Brutale Gorilla-Dame.”

Geschenke

Shine und ich gehen durch zwei schwere Stahltüren in den Hauptbunker hinein. Das ohnehin schon fahle Licht fällt durch kleine Fenster aus dickem Panzerglas in die Halle. Links und rechts befinden sich kleine Verkaufsstände, an denen Kleidung, Haushaltsmittel und anderer Kram angeboten wird, den man nicht mit Geld kaufen muss, naja, und es auch gar nicht kann. Antrag stellen, bewilligt bekommen, Ware abholen. So läuft das bei uns. Papa und meine Großmutter Mag haben mit Shattered Sky einen autonomen Mikrostaat errichtet, der nicht auf einem kapitalistischen System beruht. Das unterscheidet ihn von allen anderen bekannten Städten in der Außenwelt. Bei uns herrschen weder König noch Geld. Unser aller Lord ist ein altbekanntes Monster namens Bürokratie.

Über die Geldwirtschaft hört man ja wirklich nur Schlechtes, aber unser System ist auch kaputt. Über jeden Bürger, egal ob Mansch oder Vampir, wird penibel Buch geführt. Hast du keinen bewilligten Antrag, kannst du abtraben. Man könnte nun annehmen, dass Shine und ich als Familienmitglieder der zwei Obermuftis ein paar Sonderrechte einstreichen könnten, aber falsch gedacht! Wir haben Vorbildfunktion, ob wir wollen oder nicht. Auch über uns wird Buch geführt, über jeden Schritt, den wir machen, jede Blutration, die wir schlürfen. Meine Herzensdame Tear hat viele dieser bürokratischen Aufgaben übernommen, als sie zu uns kam. Ihr liegt Zettelwirtschaft mehr als uns.

Unser Bunkerkomplex schützt im Übrigen vor mehr als nur Luftverschmutzung und Sonnenlicht. Papa zufolge widersteht er auch Erdbeben und darauf folgende Vulkanausbrüche, Überflutungen und was sonst noch alles passieren könnte - Raketenbeschuss zum Beispiel. Die meisten Leute leben im Erdgeschoss, gearbeitet wird in den Etagen darunter. Technologie gibt es wenig - Licht, fließendes Wasser, Belüftung betrieben mit zugeteiltem Strom für industrielle Anlagen in den Untergeschossen. Die kenne ich ziemlich gut und kann die meisten davon sogar instand halten.

Natürlich kennen wir bei weitem nicht jeden Bürger des Refugiums, aber jeder hier kennt uns und grüßt uns in der Regel auch, egal wohin wir gehen. Wir grüßen Kate vom Blumengeschäft, Mika und Nod vom Klamottenladen, Lenny von der Drogerie und so weiter. So ist das hier schon immer gewesen. Shine, die seit etwas mehr als zehn Jahren bei uns ist, war davon nicht sonderlich überrascht. Als Prinzessin war sie in ihrer Heimatstadt wahrscheinlich ähnlich prominent.

Weit gehen müssen wir nicht, da sich das Separee, in dem Shine, Mag, Papa und ich leben, gleich hinter den Geschäften befindet. Meine Großmutter Mag und mein Papa Alexander sind ein super Team. Sie halten den großen Laden namens Shattered Sky bravourös zusammen. Das Refugium kann den Leuten nicht viel bieten, aber sie wirken zufrieden damit. Aufstände gibt es hier keine, dafür ein friedliches, eintöniges und farbloses Leben …

Shine läuft voraus und reißt unsere Wohnungstür schwungvoll auf. Ich sehe unser bescheidenes Wohnzimmer mit dem gut gepflegten Holztisch und den vier gepolsterten Stühlen, von denen gerade meine engste Familie aufsteht.

“Da bist du ja! Glückwunsch, Riv!”, empfängt mich Mag und umarmt mich überschwänglich. Ihre blonde Bobfrisur fliegt mir voll ins Gesicht, deshalb huste ich ein “Danke”. Meine Großmutter ist einige hundert Jahre alt und wird respektiert wie sonst niemand. Das liegt vielleicht an ihrer hochwürdigen Aura und ihrem vereinnahmenden Lächeln. Obendrein ist sie eine Augenweide. Als sie mich loslässt, ist es Papa, der mich an sich drückt. Auch seine pechschwarze Mähne fliegt mir halb in den Mund. Ekelhaft! “Hab dich auch lieb”, bedanke ich mich, seine Haare aus meinem Mund pustend. Er packt mich an den Schultern, schiebt mich ruckartig von sich, hält mich aber weiter fest.

“Was für ein hübscher Mann aus dir geworden ist”, grinst er mich stolz an. Das bringt Mag dazu, laut aufzulachen. “Lex, dein Sohn ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten!”

“Genau, sag ich doch”, bestätigt er. Alle lachen. Recht hat Mag allemal. Meine Haarfarbe soll mit einem Rotbraun exakt die meiner Mutter sein und meine Augen eine Mischung aus dem Royalblau meiner Mutter und seinem Grasgrün. Die schmale Gesichtsform mit dem etwas markanterem Kinn und den Wangenknochen habe ich dagegen eindeutig von ihm. Ab und zu werde ich deshalb mit Alexander angesprochen, also dem Namen meines Vaters.

“Ich dachte mir”, droht Papa ankündigend. "Nachdem du meine E-Gitarre letzte Woche repariert hast, freust du dich am meisten über ein Geburtrags-Ständchen von mir. Das wird ein unvergesslicher Live-Auftritt.”

“Du verarschst mich”, ist alles, was ich raus bekomme, bevor er sich seine schwarzweiß glänzende Gitarre greift und beginnt, die Saiten zum Schwingen zu bringen. Strom und Verstärker sind angeschlossen und funktionstüchtig, leider. Was habe ich nur getan!?

Der Riff zu Beginn ist noch ganz nett, aber dann fängt Papa an, so was Ähnliches wie zu singen. Ein merkwürdiges Grunzen trifft es eher. “Happy Birthday, my lovely son”, höre ich zwischen unverständlichen rauen Tönen heraus. Shine kommt von hinter mir gesprungen, hebt ihre Hände, an denen sie nur den Zeige- und kleinen Finger ausstreckt, und schmeißt ihre weißblonden langen Haare vor ihr hübsches Gesicht. In einer Gesangspause werfen Papa und sie ihre langen Mähnen im Duett hin und her. Hilflos blicke ich zu Mag, die mich begeistert anlächelt. Ich frage gar nicht erst, warum Papa nicht Klavier spielt. Das hätte mir nämlich tatsächlich gefallen können. Stattdessen warte ich die paar Minuten privates Metal Konzert brav ab.

Die letzten Saiten schwingen auf der Gitarre nach, als Mag anfängt, herzlich zu applaudieren. Mir klingeln die Ohren. Das war der Horror! Papa und Shine grölen noch einmal halb außer Atem “Happy Birthday!”. Ich nicke dankend.

Dass man das alles im halben Hauptbunker gehört haben muss, ist mir mega peinlich, wobei das auch sein Gutes hat. Nun wissen wenigstens alle Bescheid, auch die Verpeilten. Der Gedanke lässt mich selbstzufrieden grinsen.

Nun höre ich es von hinter der Wohnungstür aus vielen Händen applaudieren. Ich öffne die Wohnungstür und staune nicht schlecht über die kleine Traube von Leuten, die sich davor gebildet hat. Sie gratulieren mir und ich bedanke mich. Naja, ist doch schon irgendwie ganz nett.

Zwischen den Leuten erspähe ich die einzige Person, auf deren Gratulation ich mich richtig freue, die meiner geliebten, süßen Tear. Leider kommt sie zwischen all den Leuten so offensiv hervorgehüpft, dass ich Schlimmes ahne. “River, Hase!”, ruft sie, nimmt ihre braune Filzmütze ab und springt mir schwungvoll um den Hals. “Alles Gute auch von mir!”

Ich bedanke mich, aber bleibe verhalten. Aus meiner Freude wird Beklemmung, die mir in der Brust schmerzt. Ach, mein armes süßes Tränchen… Sie lässt lockerer, will aber nicht loslassen. Ich nehme meine Freundin mit in die Wohnung und schließe die Tür mit beschwichtigenden Gesten. Die interessierten Blicke der Leute hätte ich somit endgültig aus unserer Wohnung ausgesperrt.

“Ich freue mich ja so!”, quiekt Tear fröhlich. “Ich hab was ganz Tolles für dich!”

Ich sehe, wie sich Papa die verwirbelten Haare richtet und betroffen einen Namen flüstert. “Sari …”

Shine läuft zu ihrer Freundin Tear, zieht sie von mir weg und nimmt sie ihrerseits fest in die Arme.

“Ist schon gut, Tear. Reg dich nicht auf.”

Kaum ausgesprochen, sinkt die eben noch so überdrehte junge Frau schweigend in Shines Armen zusammen. Ich lasse die beiden gemeinsam in Shines Zimmer gehen, ohne dass ich Tears Gesicht zu sehen bekomme. Ach, wenn ich ihr doch helfen könnte …

“Lassen wir sie eine Weile in Ruhe”, empfiehlt Mag. Wir setzen uns an den Tisch, auf den ich klangvoll den Brief meines Konvertierers klatsche. Die Stimmung ist ohnehin im Keller.

“Seit 5 Jahren infolge”, blaffe ich. Mag lächelt mich weich an. “Riv, wenn du willst, dass es aufhört, dann geh hin.”

Pff, klar sagt sie das. Sie ist parteiisch, wenn's um ihren kleinen Bruder geht. Ich sehe zu Papa, der betrübter nicht aussehen könnte. Viele Jahrzehnte war er engster Berater und Freund meines Konvertierers. Nach dem Erhalt des ersten Briefes erzählte er mir die Geschichte meiner Eltern. Meine Mutter Ellys war die Vampirkönigin und mein Papa der allseits bekannte Freund mit gewissen Vorzügen. Die beiden haben jedenfalls Knickknack und ich entstand. Warum auch immer kam ich als Halbvampir auf die Welt, der es nicht lange gemacht hätte, aber anstatt mich kleinen kranken Bastard zu verstoßen, konvertierte mich der Vampirkönig zum Vollvampir und erkannte mich auch noch als seinen Sohn an. Total schräg, denn das macht ihn zu meinem zweiten Vater. Anfangs war wohl geplant, dass alle zusammen bleiben, aber nach dem Tod meiner Mutter ein paar Monate später, verstieß mich der König mitsamt meinem Erzeuger. Ich vermute ja, dass mir mein royaler zweiter Vater die Schuld für Mutters Tod gab. Papa floh dann mit mir, dem Kuckuckskind, in Mags Refugium, abseits des loyalen Einflussbereichs. Tja, so war das.

Ich beobachte Papas Reaktion, um herauszufinden, was er von der Sache hält. Von ihm kommt rein gar nichts. Er starrt einfach ins Leere und schweigt. Früher sagte er immer, ich müsse selbst wissen, was ich will, aber diesmal wirkt er unsicher. Ich muss ihn ansprechen, damit er mit der Sprache rausrückt, nur leider gefällt mir seine Antwort nicht.

“Shit, sorry, River, aber so langsam solltest du nachgeben. Du kannst dich nicht ewig vor ihm verkriechen. Rova ist ‘n besserer Kerl als du denkst.”

Rova, … das ist Robert-Valentins Kosename … Ich stöhne. Warum versteht mich hier eigentlich keiner?

“Meine Fresse, dieser ach so dufte Kerl hat uns beide rausgeworfen! Mann, ey! Das einzige, was ich von dem will, ist meine Ruhe”, blaffe ich, nehme den Brief, stehe vom Tisch auf und gehe. Dabei bemerke ich, dass ich nicht mein Zimmer anvisiere, sondern Shines. Vielleicht mache ich das, weil Shine ebenfalls ein flüchtiger Adelssprössling ist. Sie ist Mags Großnichte, die es genauso wie ich nicht in diesem illustren Zwangsregime ausgehalten hat. Ich klopfe an ihre Tür und trete in das unordentliche Zimmer ein. Auf dem Bett, dem Stuhl, auf dem Fußboden, auf dem kleinen Schreibtisch, überall liegen farbenfrohe Klamotten, nur das Kleid nicht mehr, das ich heute Morgen stibitzt habe. Es duftet nach Tears Tränen. Das Wortspiel ist kein Zufall. Tear hat sich diesen Namen nämlich passenderweise selbst gegeben, nachdem sie zu uns kam. Allerdings hat sie sich nun bereits wieder gefangen, sitzt mit Shine auf dem Bett und betrachtet mich scheu von unten. Für mich ist sie die hübscheste Frau der Welt, auch wenn sie es durch einen Kurzhaarschnitt zu verbergen versucht. Null Chance, du wunderhübsches Ding!

“Geht schon wieder”, flüstert sie und greift sich dabei in ihre graue Jackentasche. “Ich habe etwas für dich, aber bitte nicht falsch verstehen.”

Während sie eine kleine Schatulle herausholt, denke ich darüber nach, was ich wohl falsch verstehen könnte. Nun bin ich noch neugieriger. Zögerlich reicht sie mir die Hand mit der Schatulle. Ich nehme sie ihr ein bisschen zu ungeduldig ab und klappe sie auf. “Vorsichtig …”, höre ich von Tear, als mich ein filigranes Schmuckstück anfunkelt. Was zur … !

Ich sehe einen schmalen Damenring mit zwei kleinen blauen Steinchen und einer leeren Steichenhalterung. Heftig, denn wenn ich mich nicht irre, besteht dieses kleine Schmuckstück aus einem verbotenen Material. Das würde auch den fehlenden Stein erklären. Diesen Ring kann man unmöglich zu einem Juwelier schaffen.

Das war es, was ich nicht falsch verstehen sollte. Haha, jetzt erst recht, mein hübsches Tränchen. “Ja, ich will”, hauche ich in Tears Richtung, woraufhin sie scheu zur Seite blickt. Ich erkenne ein kleines süßes Lächeln auf ihren Lippen.

“Irre, dieses Material ist ja noch seltener als der Kondensator, den ich beschafft habe!”, staunt Shine und übergeht meinen Scherz damit. Ich nehme den Ring heraus. Er brennt nicht auf meiner Haut. Entweder besteht er aus einem anderen Material, oder ich bin tatsächlich resistent.

Shine betrachtet den Ring, der nun auf meiner Handfläche liegt, mit großen Augen.

“Ist der auch wirklich echt? Darf ich ihn anfassen?”, fragt sie. Ich nicke und greife mit der freien Hand an meinen Gürtel.

“Den Ring, du Blödmann!”, schnauzt sie. Nach einer kurzen Berührung des Rings zuckt sie weg. “Eindeutig Silber”, haucht sie verblüfft. Papa bezeichnet Silber als unser Kryptonit, was auch immer das heißen soll. Es ist das einzige Material, mit dem man Vampire mit Leichtigkeit töten kann. Alle, außer mich, wie es aussieht, denn ich reagiere überhaupt nicht darauf, obwohl ich ein vollwertiger Vampir sein müsste. Mit der Konvertierung hat das nichts zu tun. Tear ist schließlich auch konvertiert und reagiert ganz normal auf Silber. Ich bin nicht normal. Noch verrückter ist, dass ich die Handfläche umdrehen und leicht schütteln kann und der Ring daran kleben bleibt. Wie geht das?

“Gibt ja doch was, das du kannst”, kichert Shine. “Auch wenn es absolut nutzlos ist.”

“Find ich nicht”, murmelt Tear, der ich für das ausgefallene Geschenk danke. “Bist die Beste, Tear. Wollen wir nicht mal zusammen ausgehen?”

Kaum ausgesprochen, wird die Luft im Raum dicker. Shines lodernder Blick gilt mir. Das ist nichts Neues. “Du lässt die Pfoten von ihr!”

Ich hebe die Augenbrauen und grinse. “Weil ich lieber mit dir ausgehen soll?”

“Widerling!”, keift sie. Irgendwas habe ich bei ihr gehörig vermasselt. Warum sonst sollte sie Tear so gluckenhaft vor mir beschützen wollen. Sie ist meine beste Freundin, aber darüber, wo ihr Problem mit einer Beziehung mit mir liegt, will sie mir leider nichts verraten. Das steht unangenehm zwischen uns. Tear selbst äußert sich auch nicht dazu. Ich wechsle das Thema.

“Auch für dich zur Info, Tear. Ich habe wieder eine Einladung vom Obermotz erhalten. Wegen seines Terrors vergeht mir noch die Lust auf Geburtstage. Voll nervig.”

Tear setzt sich ihre braune Mütze wieder auf den Kopf und antwortet gefasst, aber leise: "Schreib ihm doch, dass er damit aufhören soll.”

“Oder repariere das Motorrad und fahr hin”, ergänzt Shine pragmatisch und wirft sich das lockige Haar in den Nacken. “Ich besuche den Vollhonk, der sich mein Vater schimpft, doch auch mehrmals im Jahr.”

Damit steht nur noch die gute Tear auf meiner Seite.

Sie hakt sogar in meinem Namen nach. “Shine, das ist eine Reise ins Unbekannte. Würde dir das keine Angst machen?”

“Doch, schon, …”, zögert die Angesprochene. “... aber wenn ich mitfahre, könnte ich ihn führen.”

Tear wird leiser. “Das wäre ein schönes Abenteuer für euch beide …”

Shine senkt den Kopf, sagt aber nichts weiter dazu. Auch mir ist klar, dass sich Tear ebenfalls gern als Fremdenführerin anbieten würde, aber gerade wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Beide Frauen stammen aus Mensonia, aber ihre Lebensläufe könnten unterschiedlicher nicht sein. Shine steht als Teil der Herrscherfamilie an der Spitze, Tear war ein menschliches Dienstmädchen. Leider weiß ich absolut nichts darüber, was man ihr angetan hat, aber ihre Depressionen haben dort ihren Ursprung. Wahrscheinlich geht Shine deshalb so überfürsorglich mit ihrer Freundin um. Da die Unterhaltung deprimierende Züge angenommen hat, schließe ich sie ab.

“Hab jedenfalls nicht vor, ihn zu besuchen.”

“Wie du meinst”, zuckt Shine mit den Schultern. Ich stehe auf, verabschiede mich und verlasse ihr Zimmer. Nun, wo sich mein Geburtstag im Bunker herumgesprochen haben sollte, werde ich eine Runde drehen und mich ordentlich feiern lassen.

Fernweh

Ich laufe an einer Reihe von hässlichen olivgrünen, grauen und braunen Türen vorbei, hinter denen sich viele winzige Wohnungen verbergen. Im Hauptbunker leben überwiegend Vampis. In den 23 angrenzenden Bunkern sind aber auch einige allein für Menschen vorgesehen. Der gesamte Bunkerkomplex beherbergt derzeit 3.482 Vampire und 7.564 Menschen, oder anders formuliert, wir platzen aus allen Nähten. In der umliegenden Gegend wohnen weitere 332 Vampire, von denen die meisten in der Landwirtschaft tätig sind. In den Pyramidenstädten der Loyalisten leben dagegen zwischen 20.000 und 100.000 Vampire, pro Stadt wohlgemerkt, und eine unbekannte Zahl an Menschen. Flüchtlinge können wir nur in Einzelfällen aufnehmen. Deshalb ist der Standort von Shattered Sky, das ist der Name unserer Bunkerzuflucht, streng geheim.

Ich gehe durch ein farbenfroh bemaltes Treppenhaus eine Etage nach unten. Das bunte Wandbild einer heiteren Familie im Grünen bröckelt, aber nicht im übertragenen Sinne, Familie ist super wichtig, sondern im materiellen Sinne. Ohne passenden Farben können wir das Fresko nämlich nicht restaurieren. Die Webstube lasse ich hinter mir und statte der Nähstube einen Besuch ab. Sie ist nur durch Glas vom Gang abgetrennt, was sie zu einer Art gläsernen Manufaktur macht, soll heißen, dass man den Leuten beim Arbeiten auf die Finger gucken kann. Bei uns ist ohnehin alles Handarbeit. Jeder, ob nun kurzlebiger Mensch oder Vampir, lernt während seiner Schulzeit drei Jahre lang halbtags abwechselnd in jedem der ansässigen Betriebe, was es zu wissen gibt und die Schneiderei mochte ich besonders gern. Eine Frau und zwei Männer sitzen in der Nähstube vor Nähmaschinen, die sie mit Fußpedalen betreiben. Die Namen der Männer kenne ich leider nicht. Die Frau, Helena, bemerkt mich sehr schnell. Sie legt die Hose in ihrer Hand beiseite und winkt mir zu. Ich grinse sie an und öffne die Glastür.

Mit den Worten: “Man munkelt, heute sei dein Geburtstag”, empfängt sie mich. Ich grinse noch breiter. Sie lacht und umarmt mich danach.

“Herzlichen Glückwunsch, Bächlein. Welcher ist es?”

“Der Zwanzigste”, antworte ich und die beiden Männer beginnen zu Lachen. Einer sagt: “Ach, was für ein blutjunger Bursche!”

Helena entlässt mich wieder aus ihrem sanften Griff. Ich stelle mich aufrecht.

“Jap und ich bin gut in Schuss.” Dazu hebe die Augenbrauen zweideutig.

“Und du bist immer noch ein kleiner Aufreißer. Dir ist klar, dass ich so alt wie dein Vater bin.”

Sie kennt nur Alexander, also meint sie ihn.

“Nicht doch”, entgegne ich, während mir bewusst wird, dass sie älter ist, als ich dachte. Sie muss um die hundertfünfzig Jahre alt sein, was für weniger Reinblütige wie sie, etwa Halbzeit sein sollte. Ich kann dagegen sehr, sehr viel älter werden, dem mächtigen Lucard Blut sei Dank. Da einer der Männer in der Näherei kein Vampir ist, sage ich nichts weiter dazu. Allgemein vermeiden wir es, für Menschen unerreichbare Jahreszahlen zu nennen. Gespräche dieser Art führen nur unnötig zu Missmut, was ich nur zu gut nachvollziehen kann.

Helena zeigt mir eine der alten Nähmaschinen, die einen kleinen Defekt hat. Ich bin etwas stolz, dass ich ihn tatsächlich sofort beheben kann. In Gedanken bei der Reise, zu der mich alle drängen wollen, frage ich während der Reparatur in die Runde: “Was glaubt ihr, wie die Welt da draußen so ist?”

“Neblig”, antwortet der menschliche Mann ein wenig fantasielos, aber irgendwie auch nachvollziehbar. Der andere zuckt mit den Schultern, als habe er noch nie darüber nachgedacht. Helena reagiert etwas differenzierter.

“Von dem, was mich interessiert, ist nichts mehr übrig. Ich war früher ziemlich sportbegeistert. Fußball. Schon mal gehört? Elf Spieler auf jeder Seite, die ohne Hände und Arme zu … Nein, so versteht man es nicht. Zehntausende von Leuten trafen sich in riesigen Stadien, um 22 Spieler auf eine Weise anzufeuern, als ginge es um Leben und Tod. Es war mitreißend. Ein unbeschreibliches Gefühl, das ich nie wieder erleben werde. Du verstehst also, wenn ich sage, draußen ist nichts mehr, das mich interessiert.”

“Wow”, hauche ich beeindruckt, ohne mir dieses Spektakel auch nur ansatzweise vorstellen zu können. Ich bringe die Reparatur zu Ende, verabschiede mich danach von ihr und den Männern und setze meine Besuche fort. Bunkertechnik, Stromerzeugung, Wasseraufbereitung und einige weitere Stationen arbeite ich ab. Unser Strom stammt im Übrigen aus leistungsfähigen Solaranlagen. Wir haben sie tonnenweise von der nahegelegenen Ruinenstadt abmontiert und lagern sie auch dort. Strom ist trotzdem knapp, weil nicht viel Sonnenlicht bis zur Erdoberfläche durchkommt.

Die Lebensmittelverarbeitung ist Menschen vorbehalten und die Blutabnahme sowie Aufbewahrung sind geschlossene Bereiche, in die ich nicht einfach so reinkomme. Man besucht beides in der Schulzeit, durchläuft sie aber nicht während der Berufsfindung. Bei mir kam damals heraus, dass ich ein Händchen für Mechanik habe. Ich verstehe mechanische Mechanismen und finde Fehler, die ich oft schnell reparieren kann. Das ist hier im Refugium sozusagen mein Job. Er macht mich beliebt. Ich bin der Typ, der es wieder richtet. Schon deshalb freut sich jeder, mich zu sehen.

Ich habe die Leute während meines Rundgangs immer mal wieder nach der Außenwelt gefragt. Das Desinteresse in der Näherei war symptomatisch. Dazu kamen noch einige Stimmen der offenen Ablehnung. Es scheint, als täten die Bewohner Shattered Skys so, als gäbe es da draußen gar nichts. Ist das eine Form der kollektiven Verdrängung?

Shine hat mir viel über die Pyramidenstadt Mensonia erzählt, meist in einem verächtlichen Tonfall. Der Kapitalismus hat sich tief in die Herzen der dortigen Bewohner gefressen und sie verdorben. Das Schlimmste aber ist die Zweiklassengesellschaft. Einfache Menschen werden dort von unseresgleichen wie Sklaven behandelt. Das ist inakzeptabel.

Nicht eine einzige Person konnte mir auch nur eine gute Sache über die Welt da draußen nennen, also frage ich mich, wieso ich sie mir dann überhaupt erst antun sollte? Die Ausbeutung von Menschen, der abhängig machende Bann der digitalen Technologie, die despotische Macht der Lucard Familie, zu der auch ich gehöre, wie könnte mich der Reiz all dieser Dinge nicht ebenfalls verderben? Das wäre nur natürlich.

Ich halte es für intelligenter, mich vor diesen miesen Einflüssen zu schützen. So sorge ich dafür, dass ich ein langes und gesundes Leben führen werde. Selbstfürsorge ist doch eine super Eigenschaft, oder etwa nicht?
 

Mit diesem Entschluss im Herzen gehe ich zurück zur Wohnung, hole mir den Kondensator, den Shine mir geschenkt hat und mache mich danach auf den Weg nach draußen zu meinem Motorrad. Wieder muss ich Hinz und Kunz begrüßen. Sich heimlich rauszuschleichen ist unmöglich. Ich stemme mich gegen die Stahltür, die schwerer geworden zu sein scheint. Der Nebel ist auch wieder dicker als zur Mittagszeit, doch das stört mich bei der Reparatur nicht.

Zwei fast vollständige, fahrtüchtige Elektro-Motorräder stehen in einem kleinen Holzschuppen neben dem Hauptbunker. Ich fand die beiden vorapokalyptischen Maschinen in einem vergleichsweise top Zustand nebst ihren verstorbenen Vorbesitzern vor fünf Jahren in einem luftdichten Bunker in der nahegelegenen Ruinenstadt. Da dieser Schuppen eigentlich für Ackerwerkzeuge gedacht ist, die überall im Weg herumstehen, schiebe ich das vor kurzem erst frisch lackierte ältere Modell der Motorräder nach draußen. Danach hole ich das Werkzeug.

Ein Motorradkondensator ist das am schwersten zu beschaffende Bauteil, weil jedes Modell einen anderen braucht, es aber am schnellsten kaputt geht. Der, den ich in der Hand halte, muss eine Maßanfertigung gewesen sein. Er sieht jedenfalls nagelneu aus. Den Kondensator zu wechseln, ist dagegen eine der einfachsten Reparaturen überhaupt. Dieses E-Motorrad hat 150 Jahre auf dem metallenen Buckel, ist dank mir aber wieder vollkommen frei von Rost und auch die Mikrochips habe ich entfernt. Einziger Nachteil an der digitalen Abstinenz ist die manuelle Ladesteuerung, aber das bekomme ich schon hin.

Der Einbau geht mir gut von der Hand. Als ich die Maschine anlasse, sehe ich Shine angelehnt am Tor des Schuppens stehen. Sie muss sich von der Seite angeschlichen haben.

“Damit wäre Schritt eins getan”, sagt sie zufrieden und deutet daraufhin in den Schuppen hinein auf das zweite Motorrad. “Ist das da auch schon fahrbereit?”

Ich schüttle den Kopf. “Erstens fehlt dort ebenfalls der Kondensator und zweitens spinnt die Technik, seit ich die elektronische Steuerung ausgebaut habe. Der Motor überhitzt schnell. Ist halt ein neueres Modell als das andere.”

Shine grinst wissend und zaubert eine Sekunde später einen zweiten Kondensator hinter ihrem Rücken hervor.

“Wie lange fährt es, bis es zu heiß wird?”

Ich antworte überlegt. “Eine Stunde, höchstens zwei. Kommt auf einen Test an. Danach muss man eine halbstündige Pause einlegen.”

“Ach, das reicht doch”, ruft sie heiter. “Bau das Teil ein, dann fahren wir ein Stück.”

Okay, spricht nichts dagegen. Da das zweite Motorrad allerdings sehr viel weniger Liebe erfahren hat als das erste, dauert der Einbau etwas länger. Dennoch bekomme ich es ebenfalls problemlos gestartet. Es fühlt sich jedes Mal saugut an, wenn etwas funktioniert, das ich repariert habe. Ich koste den Moment aus und sehe Shine dabei zu, wie sie auf das Motorrad steigt, oder treffender, wie sie unbeholfen auf den Sitz klettert. Wenn sie es will, kann sie ein bisschen eleganter sein, ihr wahres Wesen ist aber der Stolpergorilla, den ich vor mir sehe. Ich muss lachen und steige auf meine ältere Maschine. Das habe ich schon unzählige Male gemacht, nur gefahren bin ich noch nie.

Wir zwei Anfänger beginnen, das Fahren zu üben. Das klappt zum Glück echt schnell. Wir tuckern vorbei an den Feldern und lassen die Bunker hinter uns zurück. Ich habe mir schon unzählige Male vorgestellt, durch die Gegend zu cruisen. Es wirklich zu tun, ist, ungelogen, der absolute Wahnsinn! Der Fahrtwind schmeißt meine halblangen Haare durcheinander, die mir auf die Wangen peitschen. Das hatte ich bei lappigen 20-30 Kilometern pro Stunde überhaupt nicht erwartet. Die bewirtschafteten Felder fliegen so schnell an mir vorbei, dass sie optisch verschwimmen. An leichten Biegungen verliere ich fast den Überblick, weil alles so schnell geht. Ein eigenartiges Gefühl wächst in mir an, das sich mit Verliebtsein vergleichen lässt. Es ist leicht wie das vielzitierte Blatt im Wind. Ich glaube, ich begreife gerade, was Freiheit wirklich bedeutet.

Wir verlassen den Feldweg, der in ein Waldstück mündet. Auch hier existiert ein gut gepflegter Weg. Ich kenne ihn. Er führt zu einem Felsen, von dem aus man das Meer rauschen hören kann. Bis zum Wasser hinuntersehen kann man üblicherweise auch, aber nicht in die Ferne.

Wir halten in der Nähe der Klippe, steigen ab und laufen das letzte Stück bis zum Rand. Gerade in diesem Moment lichtet sich der Nebel für einen Wimpernschlag, sodass er uns einen Blick auf ein kleines Stück des weiten Ozeans erhaschen lässt. Als Kind war ich oft an diesem Ort, aber so weit hinaus aufs Meer konnte ich noch nie sehen. Irre, wie surreal diese Entfernungen erscheinen. So, als sei da draußen wirklich nichts. Der Moment geht vorüber. Nun sehe ich wieder nur noch das Grau des Nebels, rieche die salzige See, sehe und höre die Gischt unter mir.

Shine stellt sich neben mich. Auch sie scheint den Weitblick genossen zu haben. “Du hast noch nie eine Pyramidenstadt gesehen, richtig? Bist du nicht neugierig?”

“Nope”, antworte ich, was sie dazu bringt, leise in sich hinein zu lachen. Danach schweigt sie, was mich wiederum irritiert. Shine ist acht Jahre älter als ich. Im Gegensatz zu mir hat sie schon viel gesehen, kennt die Politik, die Systeme, die Lebensweise der Loyalisten und so vieles mehr aus erster Hand. In ihren Augen bin ich ein Hinterweltler, keine Frage. Einige Zeit lang betrachten wir nur noch die graue Wand vor uns. So langsam erdrückt mich ihr Schweigen. Ich weiß, was sie vorhat. Damit lässt sie ein Gefühl in mir wachsen, das im völligen Kontrast zu unserer Herfahrt steht. Der Druck, den sie aufbaut, schnürt mir die Brust immer weiter zusammen. In meiner Fantasie fragt sie mich, ob ich denn niemals von dieser Insel runter will. Ob ich mein ganzes Leben lang so tun will, als gäbe es die Welt da draußen überhaupt nicht und es macht mich verrückt. Ihre stumme Frage ist Terror! Schlimmer als eine offene, frei gestellte Frage. Ich glaube, das liegt auch an ihrer erwartungsvollen Aura.

Ja, verdammt! Natürlich will ich alles wissen, will alles sehen, alles erleben. Mein Leben ist viel zu lang für ein ewiges Versteckspiel. Das kann doch nicht wahr sein. Lass mich in Ruhe, Shine! Geh mir aus den Gedanken! Hör auf, sie gegen meinen Willen zu kapern! Scheiße! Dann breche ich eben dieses verfluchte Schweigen!

“Ich geb's ja zu, ich hab Schiss, zufrieden?”

Sie tritt etwas näher, ohne etwas zu sagen. Dafür tue ich es.

“Hier bin ich jemand, verstehst du? Hier kann ich was Leisten. Ich bin jemand, der gemocht wird. Die Leute kennen mich. Sie- sie feiern meinen Geburtstag mit mir. Was ist, wenn ich dort alles Kacke finde, oder schlimmer, wenn ich alles geil finde? Was ist, wenn alles, was ich gelernt habe, nichts mehr wert ist? Was ist, … wenn ER mich sieht und … enttäuscht … ist von mir …?”

Fuck! Das war der Kern. Meine Fresse, tut das weh! Ich sehne mich danach, meinem Konvertierer meine Meinung ins Gesicht zu schreien, aber ich habe Angst vor seiner Reaktion. Scheiße!

Ich lehne mich mit meiner an Shines Schulter an und mit einem Mal beginnen die Tränen zu fließen. Es muss Jahre her sein, dass ich das letzte Mal geheult habe. Selbst als sie mich vor drei Jahren abserviert hat, konnte ich das besser verkraften. Dieser Ort und ihr Schweigen haben dieses Gefühl aus mir herausgekitzelt. Das war doch Absicht! Diese Frau ist unglaublich … hinterhältig.
 

Wir fahren zurück durch den Wald und an den Feldern vorbei. Die Hinfahrt war genial, aber nun erlebe ich alles noch viel intensiver. Der frische Wind lässt mich fast abheben.

Zurück beim Bunker stellen wir die Motorräder wieder ab. Als ich den Schuppen verschließe, konfrontiere ich Shine mit meiner Entscheidung.

“Ich tu’s. Ich muss es tun und es wäre mir eine Ehre, wenn du mich führen könntest.”

“Endlich bist du einsichtig”, beginnt sie, aber ich nehme ihr die Möglichkeit, mehr zu sagen.

“Freu dich nicht zu früh. Ich habe auch vor, Tear um ihre Begleitung zu bitten.”

“WIE BITTE?”, platzt es aus Shine heraus.

“Nimm es mir nicht übel, aber Tear hier zurückzulassen, finde ich schlimmer, als ihr meine Begleitung zuzumuten.”

Sie dreht sich von mir weg, doch die Änderung ihrer zuvor noch sehr befreit wirkenden Aura entgeht mir nicht. Sie braucht einen Moment, bis sie entgegnet: “Das finde ich nicht gut.”

“Kann sein”, bestätige ich. “Aber das ist nicht deine Entscheidung, sondern ihre.”

Da ich schnellen Schrittes an Shine vorbei schreite, geht ihr “Aber …” hinter mir unter. Ich betrete den Bunker durch die zwei Luftdrucktüren und zum ersten Mal in meinem Leben fühlt sich das beklemmend an. Die dicken Mauern des Bunkers, das fahle Licht darin. Plötzlich fühlt es sich an wie ein Gefängnis. Puh! Zumindest ist damit klar, dass ich keine Wahl mehr habe. Ich muss es tun. Ich muss mich meinen Ängsten stellen.

Ich klopfe etwas zu forsch an Tears Wohnungstür, die sich direkt neben unserer befindet. Sie öffnet leicht verzögert, ich trete ein und sehe auf dem Tisch in der Raummitte ein schwarzes Tuscheglas, eine Zeichenfeder und Papier liegen. Darüber hat sie unverkennbar eilig Tabellen geworfen, die mit ihrer Arbeit als Buchhalterin zu tun haben. Tear hat eine Neigung zum Akkuraten. Unsauber ausgerichtete Papiere sind unüblich für sie.

Ich kenne einige ihrer Naturzeichnungen von ausgestorbenen Tieren und Pflanzen, die sie geometrisch konstruiert, selbst wenn sie dafür von der Realität abweichen muss. Davon abgesehen, dass sie sehr hübsch sind, macht das ihre Bilder zu etwas Besonderem. Ich habe eine Naturstudie von ihr, die einen Ammoniten im Vergleich zu einer Schnecke zeigt, über meinem Bett hängen. Die Zeichnung ist mein Schaaatzzzz.

Ich stoppe Shine, die mir auf der Spur gefolgt ist, weil sie ebenfalls mitkommen wollte und mich nun entgeistert ansieht. Ich schüttle den Kopf in ihre Richtung und drehe mich dann zur Tür, die ich behutsam hinter mir schließe.

Das hat mich überraschend viel Kraft gekostet. Nun stehe ich alleine in Tears Wohnung und muss mich neu sammeln. Wohl wegen der Zeichnungen wirkt sie wiederum ertappt, was es mir auch nicht leichter macht. Na, los, du Feigling! Trau dich!

Ich atme tief durch.

“Wenn ich die Reise antrete, würdest-”, beginne ich ohne Umschweife, wobei sie mir direkt ins Wort fällt.

“Danke.”

Ich schaue sie verblüfft an und sehe das ergriffene Glitzern in ihren hübschen, rehbraunen Augen.

“Danke, wofür?”, frage ich verwundert und trete verlegen auf der Stelle.

“Dass du mich fragen willst, ob ich dich begleite. Das will ich.”

Noch einmal hole ich Luft, doch wieder spricht sie, statt ich.

“Shine ist dagegen, ich weiß, aber es ist mein Leben und meine Entscheidung.”

Genau das habe ich auch gedacht. Aber Moment, soll das heißen, dass sie wirklich mitkommt? In mir kribbelt alles. Ich kann es kaum fassen und strahle sie an wie ein Volldepp. Ich unterdrücke den Impuls, sie zu knuddeln und bleibe in gebührlichem Abstand stehen. Wie kann mich diese kleine Maus nur so glücklich machen? Das gibt's nicht!

Auch sie lächelt. Es ist nicht ihr überdrehtes Alter Ego Strahlefrau-Lächeln, sondern ein sanftes, ich möchte mir einbilden, zärtliches Lächeln. Wow, das lässt mein von Shine zum Krüppel geschlagenes Herz höher schlagen. Oh, meine süße Knuddel-Tear.

“Ich werd verrückt. Übermorgen brechen wir auf, ja? Okay? Passt dir das?”

“Okay”, bestätigt sie und kichert total niedlich. Das halt ich nicht aus.

Ich verlasse ihre kleine Wohnung mit dem heftigsten Hochgefühl, das ich je hatte. Die Motorradfahrt ist damit schon wieder in den Schatten gestellt. Pah, und Orgasmen sind ein Dreck dagegen. Liebe ist soooo viel krasser. Junge, Junge, schwebe ich auf Wolke sieben. Shine hatte ich damals auch echt lieb, habe ich sie eigentlich immer noch, aber so intensiv habe ich unsere Beziehung nicht erlebt.

Die eingeschnappte Gorilla-Lady steht vor mir und liest mir am breiten Grinsen ab, dass Tear mitkommt. Die Gute zieht ein unzufriedenes Schnütchen, sagt aber nichts. Das will ich als Einverständnis deuten.

Schiffsreise

Ich wälze mich schon die halbe Nacht in meinem Bett herum, das gerade so in mein stockfinsteres Zimmer hinein passt. Es wirkt beklemmend. 20 Jahre lang habe ich mich im Bunker pudelwohl gefühlt und nun plötzlich nicht mehr? Wieso ist meine Reaktion so heftig?

Wieder einmal spiele ich im Kopf durch, was mir alles passieren könnte, was ich alles verlieren könnte, wenn ich mich nach draußen traue. Also rein hypothetisch, denn ich habe so wenig Ahnung, was in der Welt abgeht, dass es mich beschämt.

Am liebsten würde ich mich ablenken, indem ich einen Raum weiter zu Shine gehe, doch sie kann es nicht ausstehen, wenn ich sie nachts besuche, ganz egal, welchen Grund ich dafür haben mag. Ich kenne sie inzwischen seit zehn Jahren. Sie gehört wie selbstverständlich zu unserer zusammengewürfelten Patchwork-Familie, so wie Tear seit drei Jahren. Nur hat sich Tear dazu entschieden, in eine eigene kleine Wohnung neben uns zu ziehen. Manchmal sieht man sie tagelang nicht. Sozialer Kontakt wird ihr schnell zu viel. In diesem Punkt ist sie das exakte Gegenteil von mir.
 

Nach einer unruhigen Nacht konfrontiere ich Papa und Mag mit meiner Entscheidung. Sie wirken auf eine skurrile Weise erleichtert und gleichzeitig verängstigt. Ich vermute, dass das für Eltern ein normales Gefühl sein könnte. Wir setzen uns gemeinsam an den schönen großen Holztisch im Wohnzimmer. Auch Shine setzt sich zu uns. Wir besprechen, welche Route ich nehmen sollte. Mein Weg führt mich mittels Boot, das sie für uns kontaktieren, aufs Festland. Danach ist es eine halbe Tagesreise mit den Motorrädern bis zur Stadt Mensonia, die von Shines Vater Octavian Lucard geleitet wird. Von dort aus brauchen wir zwei Tage bis zur Hauptstadt. Wir müssen also eine Unterkunft finden. Shine meint, dass sie das regeln könne. In der Hauptstadt treffe ich dann auf meinen Konvertierer und dann sehen wir einfach, wie es weitergeht.

Ich packe einige Sachen zusammen, besuche das Archiv, aus dem ich mir handgezeichnete Landkarten besorge und studiere sie genau. Beide Motorräder werden zur Sicherheit generalüberholt. Ich muss mir selbst Mut zureden, aber jetzt ist es zu spät, um den Schwanz einzuziehen.
 

Pünktlich zum Sonnenaufgang brechen wir am nächsten Morgen auf. Shine trägt eine auffällige neongelbe Jacke. Dass nichts Vergleichbares in Shattered Sky angefertigt wird, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Ausgefallene Farben wie diese können wir ja nicht einmal herstellen. Die Jacke muss demzufolge aus der Außenwelt stammen. Zumindest geht mir meine strahlende Shine damit nicht verloren. Tear ist dagegen komplett in Grautönen gehalten, als wolle sie sich hinter ihrer Freundin unsichtbar machen. Ich habe mich in eine karminfarbene Jacke geworfen, die Helena in meiner Lehrzeit speziell nach meinen Wünschen gestaltet hat. Hat sie echt gut gemacht. Diese Jacke ist und bleibt mein liebstes Kleidungsstück.

Ich verstaue unsere Rucksäcke im Fach unter den Sitzen der Motorräder und erwähne beiläufig, wie sich Tear an mir festhalten sollte.

“Und lehne dich auch ein bisschen mit in die Kurven hinein”, ergänze ich, während ich neben mir eine düstere Aura wahrnehme. Shine hat die Hände in die Hüften gestemmt und geht jeden Augenblick in die Luft.

“Auf deinem Motorrad kann sie nicht mitfahren. Das weißt du und tauschen kommt nicht in Frage”, versuche ich sie zu beschwichtigen.

“River Lucard!”, ermahnt sie mich. “Darüber reden wir noch!”

Ich grinse sie an, steige auf und bitte Tear höflich, hinter mir Platz zu nehmen. Sie legt ihre Arme zaghaft um meinen Körper.

“Fester!”, weise ich an. Shine stößt heiße Luft aus ihren Nüstern wie ein altes Ross, sagt aber nichts. Ich lupfte die Augenbrauen in ihre Richtung und fahre langsam los.

“Den Brief hast du dabei, oder!? Mit allem Drum und Dran”, ruft sie mir nach und lässt danach ebenfalls den Motor an.

“Klaro!”, gebe ich zur Antwort.

Diesmal biegen wir im Wald an einer Kreuzung ab, die uns zum Anleger führt. Der Waldboden wirkt ausgelaugt. Heute fällt mir auf, wie viele tote Bäume im Wald stehen. Nicht jede Pflanze kann auf Dauer mit dem wenigen, durch den Nebel gestreuten Licht umgehen. Das schränkt auch die Auswahl der Ackerpflanzen ein, die wir anbauen können. Irgendwie ist alles im Arsch auf dieser Welt, in die ich hineingeboren wurde.

Der Kai liegt in einer wind- und sichtgeschützten Bucht. Erst als wir in die letzte Kurve einbiegen, sehe ich eine hellgraue Yacht darin liegen. Ich weiß, dass hinter dieser Bucht die Ruinen einer großen Hafenstadt liegen, aber die bekomme ich nicht zu sehen. Wir fahren bis zum Rand des gemauerten Liegeplatzes und schieben die restlichen Meter. Ein schwarz gekleideter Mann steht an Bord neben dem Zugang. Ich beobachte ihn beim näherkommen und meine, nicht eine einzige Bewegung an ihm bemerkt zu haben. Außerdem fällt nun auf, dass die Yacht wohl schon bessere Tage erlebt hat. Sie könnte mehr als nur einen neuen Anstrich gebrauchen. Am Heck lese ich verwitterte Buchstaben, die ich zu “Star of the Ocean” zusammensetzen kann.

Shine ruft der Marmorstatue ein herzliches “Haaallo” entgegen. Der Mann reagiert nicht, sondern blickt uns nur weiter aus dem einen Auge an, das nicht von einer dicken Haarsträhne verdeckt wird. Sie läuft mitsamt Motorrad über einen nicht gerade vertrauenserweckenden alten Holzsteg auf das Schiff und stellt uns, bei ihm angekommen, einander vor.

“Das ist mein Onkel Julian und diese beiden sind River und Tear.”

Der suspekt aussehende Mann nickt mir zu und geht danach stumm und ungelenk tiefer in die Yacht hinein. Okay, er lebt also doch. Das will ich mal als gutes Zeichen deuten. Ich schiebe mein Motorrad vorsichtig über die fast schon morschen Holzplanken auf das kleine Schiff.

Darauf angekommen, bin ich zuerst erleichtert und dann überrascht. Halb hinter einem Türrahmen versteckt, beäugt mich ein putziges kleines Kind, hinter dem wiederum eine Frau steht. Wahrscheinlich ist Julian wegen seiner Familie so vorsichtig, was ich dann doch irgendwie verstehen kann. Die Frau kommt schmunzelnd auf uns zu, holt den halb verrotteten Steg ein und verschließt die graue Reling. Ich bedanke mich bei ihr, doch sie spricht mich erst an, als der Motor der Yacht gestartet wird.

“Sehr gerne. Es ist immer aufregend, Prominenz überzusetzen. Bitte entschuldigen Sie die Zurückhaltung meines Mannes.”

Ich lache verlegen. “Aaach, ich bin doch nicht prominent. In Shattered Sky kennt mich zwar jeder, aber darüber hinaus …-”

Ich werde von Shine unterbrochen. “Sie meint mich, du Spatzenhirn!”

“Oh …”

Nun traut sich auch das Kind aus seinem Versteck hervor, ein kleiner Junge. Ich frage ihn nach seinem Alter und er zeigt mir verlegen eine Hand mit drei Fingern. Meine Güte, ist der zum knuddeln. Tear geht an mir vorbei und verwickelt das Kerlchen in ein zuckersüßes Gespräch übers Schifffahren. Das verschafft mir Zeit, seine Mutter, die sich als Fina vorstellt, ein bisschen über die die Welt da draußen auszufragen. Die Yacht ist geräumiger als ich es erwartet habe. Es gibt Stufen nach oben und nach unten. Wir bleiben auf der Etage und gehen in einen der Räume. Darin stehen ein Tisch und bequem aussehende, gepolsterte Bänke, auf die wir uns setzen. Tear kommt gemeinsam mit dem Jungen mit uns.

“Deine Freundin und Maxi verstehen sich ja prächtig”, freut sich Fina. Darauf steigt Shine sofort ein und schickt mir ein freches Lächeln zu.

“Sie kann halt gut mit Kindern.” Jaja, sehr witzig. Ist angekommen. Ich lächle müde und hebe eine Augenbraue.

Danach widme ich mich den ernsten Themen. Mich interessiert besonders, warum die drei nicht in einer der Städte leben.

“Eine Stadt ist kein Ort für ein Kind”, antwortet Fina. “Wenn Sie zum ersten Mal eine betreten, werden Sie es verstehen, River. Das ist übrigens ein sehr hübscher Name.”

“Echt? Ich find ihn super merkwürdig, aber Danke! Meine Mutter hat ihn ausgesucht. Papa hätte mich Juan genannt, nach seinem Vater. Was meinen Sie, hätte das zu mir gepasst?”

Ich sehe im Augenwinkel, wie Shine die Augen verdreht. Irgendwie habe ich das Gespräch weg von dem, was ich eigentlich wissen wollte, hin zu mir gedreht. Das passiert mir eigenartigerweise öfter.

“Juan?”, wiederholt Fina und lacht. “Ja, das passt auch.” Mit Mühe lenke ich das Thema zurück.

“Auf was soll ich in der Stadt Acht geben?”

Die Frau denkt kurz nach. “Vermeiden Sie es, aufzufallen. Tun Sie, was andere tun und schalten Sie dabei Ihr Gewissen ab. Dann werden Sie zurechtkommen."

Ich soll mein Gewissen abschalten? Geht das überhaupt? Ich seufze hörbar, doch ihr fällt noch etwas ein.

“Das wird für Sie wahrscheinlich keine Rolle spielen, aber lassen Sie die Finger von gecrackten Crisps. Die Verwendung von Jailbreaks, Proxies oder Personality Sims wird hart bestraft.”

Nun kneife ich die Augen zusammen. Hä, was?

“Crisps?”, wiederhole ich wie ein Neandertaler, der über eine Hochkultur stolpert.

Fina scheint mich zu verstehen und erläutert: “Achso, also, wenn Sie noch keinen haben, schickt Sie die Einlasskontrolle zuerst zur Meldestelle.”

“Er hat einen”, wirft Shine ein. Sie hat die Arme verschränkt und wirkt abgeklärt. Ich lache gestellt.

“Na, dann ist ja gut.”

Shit, worauf habe ich mich da nur eingelassen? Das alles klingt für mich nach einem schlimmeren Gefängnis als unser Bunker. Zuversicht wird dadurch jedenfalls nicht geweckt.

Fina beschreibt, dass sie es nicht schlecht hatte in Mensonia, ihr Mann Julian aber oft angeeckt sei. Zu seiner Sicherheit und, weil sie ihrem Kind andere Werte vermitteln will, als sie in der Stadt gelehrt werden, ziehen die beiden ein Leben außerhalb vor. Auch das verstehe ich.

Hin und wieder sehe ich durch das Fenster hinter der Frau nach draußen. Nach schätzungsweise gerade einmal zwei Stunden erahne ich bereits Umrisse von Land. Durch den Dunst glaube ich einem brach liegenden alten Hafen zu erkennen, an dessen intaktem Ausläufer wir kurz darauf tatsächlich anlegen. Die Überfahrt war sehr viel kürzer als gedacht. Weit weg scheint unsere Insel nicht zu liegen.

Shine, Tear und ich verabschieden uns von Julian, Fina und ihrem super niedlichen Kind und gehen mit unseren Motorrädern von Bord. Der Steg ist mir nicht geheuer. Ich bin froh, als mein Motorrad Land berührt. Und das ist nicht irgendein Land. Es ist Festland und bin irgendwie enttäuscht. Der Boden fühlt sich genau so an wie der auf der Insel. Er ist kein bisschen fester und, dank des Nebels, sieht die Umgebung auch kein bisschen anders aus.

Shine kennt den Weg. Sie steigt mit jedem Mal etwas geschickter auf die Maschine, lässt sie an und fährt dann langsam voraus. Tear, die immer ruhiger wird, setzt sich hinter mich. Wir folgen der gepflasterten Straße, die sich in einem vergleichsweise guten Zustand befindet. Das macht das Reisen angenehm und wirkt sich positiv auf Shines Motorrad aus, das sich dadurch viel langsamer aufheizen wird, als ich es vermutet hatte. Die Umgebung sieht auch weiter drinnen nicht anders aus als die auf der Insel. Flaches Land mit graugrünen Wiesen, darauf einige stark verästelte Bäume und Büsche. In Sichtweite befinden sich die Ruinen einer Hafenstadt. Die Straße verläuft entlang eines ausgetrockneten Flussbetts. Die Pyramidenstädte müssen ihr Wasser dann wohl genau wie wir mühsam vom Meer auf ihre Felder transportieren und vom Salz befreien.

Nach drei Stunden Fahrt über dieses langweilige Flachland pausieren wir und lassen Shines Maschine abkühlen. Wir setzen uns auf einen umgefallenen Baumstamm am Wegesrand, über den ich mich wundere. Waren Bäume früher wirklich so dick? Auf der Insel verarbeiten wir alles. Uralte Baumstämme liegen da nicht. Während ich unsere Sitzgelegenheit begutachte, ringt sich Tear durch, eine Frage zu stellen.

“Können wir Mensonia eventuell auch auslassen? Ich bin mir noch unsicher, ob ich dort wirklich schon wieder hin kann …”

Shine, die zwischen uns sitzt, streichelt ihrer Freundin beruhigend über den Rücken, überlässt die Antwort jedoch mir.

“Mensonia ist fest eingeplant, sonst müssten wir in der Wildnis übernachten. Shine kann dadurch ihren Familienbesuch für dieses Jahr abhaken und ich lerne eine Pyramidenstadt kennen, bevor wir in die Hauptstadt kommen.”

Sie seufzt ein leises “Okay”, erklärt aber nicht, womit genau sie ein Problem hat. Normalerweise erzählt Tear direkt, was sie denkt oder braucht. Nur bei dieser Sache ist sie verschlossen wie Fort Knox, was auch immer das ist. Sagt man halt so. Ich weiß einfach nicht, wie ich Rücksicht auf Tear nehmen soll, wenn ich nicht weiß, womit sie nicht klarkommt. Nervös werdend, spiele ich mit den Fingern an meinem Silberring herum, den ich von ihr geschenkt bekommen habe und nun um den linken kleinen Finger trage.

“Gibt es einen Ort, den wir meiden sollen?”, frage ich verunsichert. Tear starrt regungslos auf die grauen Pflastersteine unter unseren Füßen. Auch die sonst so allwissend tuende Shine wirkt mit der Situation überfordert. Ich blicke sie auffordernd an. Sie bemerkt es und flüstert daraufhin verzögert zu ihrer Freundin:

“Vielleicht hilft es dir, um mit allem abschließen zu können.”

Tear nickt geistesabwesend. Ich fühle mich hilflos und bin mit diesem Gefühl wahrscheinlich nicht alleine. Vielleicht war es wirklich ein Fehler, sie mitzunehmen.

Tears Unbehagen schlägt sich auf die allgemeine Stimmung nieder, was den zweiten Teil der Strecke anstrengend erscheinen lässt. Nach weiteren zwei Stunden Fahrt bemerke ich einen Helligkeitsunterschied auf der Ebene vor uns, der den Nebel etwas hellgrauer erscheinen lässt.

“Das ist Mensonia”, haucht mir die hinter mir sitzende Tear zu.

Bis zu diesem Augenblick war die Tragweite meiner Reise emotional noch nicht wirklich bis zu mir durchgedrungen. Offen gestanden hatte ich selbst damit gerechnet, dass wir jeden Moment umdrehen und es als netten Ausflug abhaken. Nun, wo die Fremde dieser hell erleuchteten Stadt in reale Sichtweite kommt, begreife ich so langsam, dass vor mir das Abenteuer meines Lebens liegt. Scheiße! Bin ich wirklich bereit dafür?


Nachwort zu diesem Kapitel:
Halli hallo, Elnaro ist zurück mit einem frechen Protagonisten zum liebhaben <3

"River under a soiled Sky" setzt mehr als hundert Jahre nach den Geschehnissen meiner Novel Forced Fortune an. Kennen muss man sie nicht, aber man trifft in dieser Geschichte einige altbekannte Charaktere wieder. Wieso sie nach mehr als hundert Jahren noch leben? Sind halt alles Vampire :D

Ich bin überrascht, wie hoch die Zugriffszahlen von Forced Fortune immer noch sind, obwohl ich die Geschichte fast komplett gelöscht habe und nur noch ein winziger Teil davon online ist. In den Verkaufszahlen der Bücher spiegelt sich das null. xD

Wie auch immer. Hier kommen unregelmäßig weitere Kapitel. :) Viel Spaß und vielleicht kann ich mich über ein paar Kommentare freuen <3 Komplett anzeigen

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